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Erinnerungen an Gunter Otto: Ästhetische Rationalität – Schlüssel zum Kunstverständnis? Hamburg University Press Kunstpädagogische Positionen 17 Günther Regel

Erinnerungen an Gunter Otto: Ästhetische Rationalität ...hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2008/42/pdf/HamburgUP_KPP17_Regel.pdf · Aussöhnung zwischen systemkonformen und system-

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Erinnerungen an Gunter Otto: Ästhetische Rationalität – Schlüsselzum Kunstverständnis?

Hamburg University Press

Kunstpädagogische Positionen 17

Günther Regel

EditorialGegenwärtig tritt die Koppelung von Kunst & Pädagogik,Kunstpädagogik, weniger durch systematische Gesamt-entwürfe in Erscheinung, als durch eine Vielzahl unter-schiedlicher Positionen, die aufeinander und auf die Geschichte des Faches unterschiedlich Bezug nehmen.Wir versuchen dieser Situation eine Darstellungsform zu geben.

Wir beginnen mit einer Reihe von kleinenPublikationen, in der Regel von Vorträgen, die an derUniversität Hamburg gehalten wurden in dem Bereich,den wir FuL (Forschungs- und Le[ ]rstelle. Kunst –Pädagogik – Psychoanalyse) genannt haben.

Im Rahmen der Bildung und Ausbildung von Stu-dierenden der Kunst & Pädagogik wollen wir Positionenzur Kenntnis bringen, die das Lehren, Lernen und die bildenden Effekte der Kunst konturieren helfen.

Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

Günther RegelErinnerungen an Gunter Otto: Ästhetische Rationalität – Schlüssel zum Kunstverständnis?Festvortrag zur Eingliederung der »Sammlung Otto« indie Bibliothek des Fachbereichs Erziehungswissenschaftder Universität Hamburg am 7. Februar 2002hrsg. von Karl-Josef Pazzini,Andrea Sabisch, Wolfgang Legler,Torsten Meyer

Kunstpädagogische Positionen 17/2008Hamburg University Press

Ob es eine gute Idee war, ausgerechnet mich zu dieserRede zu bitten, das muss sich erst noch erweisen. Ich willmir nämlich erlauben, eine leicht übersehbare, wahr-scheinlich auch kaum bekannt gewordene Seite der Verdienste Gunter Ottos zu würdigen, und das aus einersehr persönlichen, vielleicht für manch einen sogar zuvertraulichen Sicht. Und so fürchte ich, mindestens allediejenigen enttäuschen zu müssen, die eine auch nureinigermaßen angemessene Anerkennung und Bewer-tung seines Lebenswerkes erwarten und dabei womög-lich insbesondere an seinen originären Beitrag zur Weiterentwicklung der Kunstpädagogik denken, seiner – wie er es selbst formulierte – Theorie des »Lehrens undLernens zwischen Didaktik und Ästhetik«.

Sein Lebenswerk, denke ich, lässt sich aber daraufnicht reduzieren. Dazu gehört sehr viel mehr. Das schließtnicht zuletzt auch die Herbeiführung und Gestaltung derBeziehungen zu anderen ein, zu seinen Schülern und Mit-arbeitern, zu Kolleginnen und Kollegen in der altenBundesrepublik und – erlauben Sie mir, das besondershervorzuheben – auch zu Kunstpädagogen in der ehema-ligen DDR und in den heutigen neuen Bundesländern.Was Gunter Otto dabei geleistet hat, ohne davon vielAufhebens zu machen, das übersteigt bei weitem, was indieser Hinsicht, zumindest soweit mir das bekannt ist,von anderen eingebracht worden ist.

Vorbei und vergessen, mag da vielleicht manch einerdenken. Und in der Tat, man müsste dieser Seite seinesWirkens heute wohl keine besondere Aufmerksamkeitschenken, wäre da nicht von ihm etwas unterstützt undbefördert worden, was jenem Prozess der substanziellenErneuerung der künstlerisch-ästhetischen Erziehungzugute kam, den Kunstpädagogen aus dem OstenDeutschlands selbst und aus eigenem Antriebe ins Werksetzten und dabei anknüpften an das dort entstandeneund offiziell gemaßregelte kunstpädagogische Konzept,das auf die Vermittlung der Kunst als Kunst hinaus willund sich der ideologischen Bevormundung widersetzte.

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Diese Seite seines Wirkens ein wenig zu erhellen,das will ich im Folgenden versuchen. Dass dabei, was ins-besondere seine fachliche Position betrifft, die selbstver-ständlich auch ins Spiel kommen soll, wenn auch nur amRande, nicht nur Analogien und Parallelen, sondern auchDifferenzen zur Sprache kommen werden, das ist kaumzu vermeiden und durchaus so auch gewollt, denn dasgehört nun einmal zur Lauterkeit der Aufarbeitung einesStückes heterogener deutsch-deutscher kunstpädagogi-scher Fachgeschichte aus der Perspektive eigener Erfah-rungen und eigenen Erlebens.

Die Schwierigkeiten bei diesem Unterfangen sinderheblich. Es gab bekanntlich in der Zeit des Kalten Krie-ges und selbst unter den Bedingungen der Entspannungs-politik, also insgesamt über mehr als vier Jahrzehnte,keine offiziellen Beziehungen zwischen der Kunstpäda-gogik in der Bundesrepublik und der in der DDR. Darunterlitten auch die privaten Kontakte, denn sie wurden vonden ostdeutschen Machthabern nicht nur nicht gern ge-sehen, sondern geradezu als Gefahr für ihr geschlossenesund ideologiegesteuertes Gesellschaftssystem erkanntund dementsprechend unterbunden, im Verlaufe derJahre mit unterschiedlicher Intensität, abhängig jeweilsvon der politischen Großwetterlage und dem damit ein-hergehenden kultur- und bildungspolitischen Kalkül. Soschrumpften und erstarben schließlich allmählich nichtnur die persönlichen Kontakte zwischen Kunstpädagogenhüben und drüben, sondern, schlimmer noch, es gingenauch die gegenseitige Wahrnehmung und das Interessefüreinander mehr und mehr verloren.

Aber es gab eben auch Ausnahmen, die freilich nicht an die große Glocke gehängt wurden. Gunter Ottowar eine solche Ausnahme, und ich war einer seinerPartner im Osten. Selbst, wenn ich mich bemühen will,bei der Erhellung unserer Beziehungen nicht selbstge-recht zu sein und im Hintergrund zu bleiben, so kann ich doch nicht umhin – und dafür bitte ich Sie um Nach-sicht –, soweit unbedingt nötig auch über meine Rolle

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dabei zu sprechen. Denn wäre nicht auch mir an dieser Verbindung sehr gelegen gewesen, aus ganz verschiede-nen Gründen, dann hätte sie nicht, wenn auch mit deut-lichen Zäsuren, über nahezu vier Jahrzehnte Bestandgehabt. Ich will gerne zugeben, dass mein Interesse andieser Beziehung wie auch an den Kontakten zu anderenFachkolleginnen und Kollegen in der Bundesrepublik undim Ausland, gerade auch im »nichtsozialistischen Wäh-rungsgebiet«, wie es nach der DDR-Sprachregelung hieß,also im westlichen Ausland, nicht ganz uneigennützigwar. Aus fachlichen Gründen ohnehin, um den Anschlussan die internationale Entwicklung nicht zu verlieren, aberauch aus Gründen, die mit der Unfreiheit und Bespitze-lung in der DDR zusammenhingen.

Meiner Erfahrung nach gab es in der DDR drei Stra-tegien, wie man sich als ambitionierter Andersdenkender,als einer, der die offizielle Politik der herrschenden Polit-bürokraten als Verrat am Ideal eines freiheitlichen, demo-kratischen Sozialismus begriff, verhalten konnte. Die einebestand darin, möglichst alle Verbindungen zum Westenzu meiden, am besten auch die zu seinen eigenen Ver-wandten. Das kam für mich selbstverständlich nicht inFrage. Die andere Strategie: alle Kontakte zu verheimli-chen oder mindestens zu verschleiern. Wer sich in solchein riskantes und »verlogenes« Doppelleben treiben ließund das durchstehen wollte, der musste über Erfahrun-gen in der konspirativen Arbeit verfügen und möglichstbesser sein als die Stasi, und die war darin bekanntlichverdammt gut. Auch das lag mir nicht. Blieb also die drit-te Möglichkeit: seine Westbeziehungen und seine kriti-sche Haltung nicht zu verbergen, sondern sie im Gegen-teil offen zu legen und wie selbstverständlich zu behan-deln, ohne damit freilich zu prahlen und immer auchbedenkend, wie weit man dabei gehen konnte. EinePortion Schwejkscher Schlitzohrigkeit konnte da durch-aus hilfreich sein.

Meine kalkulierte, mitunter geradezu demonstra-tive Offenheit ist den Politbürokraten und der Stasi

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selbstverständlich nicht entgangen, und sie waren desÖfteren drauf und dran, mir das noch mehr heimzuzah-len, als sie es ohnehin schon getan haben. Sie sahen inmeinem Verhalten bald eine dreiste Provokation, baldeine abgefeimte List und manchmal wohl auch einekaum überbietbare Naivität. Das hat zwar nicht dazugeführt, dass die restriktiven Maßnahmen in meinemFalle ausgesetzt oder gelockert wurden, aber immerhinwurden mein häufiger Protest wie auch meine andauern-den Verstöße gegen Auflagen hingenommen, was ohnemeine intensiven Westkontakte, die in diesem Falle zueiner Art Schutzschild wurden, ganz sicher nicht der Fallgewesen wäre.

Und so war die Beziehung zwischen Gunter Ottound mir eben alles andere als exemplarisch in dem Sinne,dass sie eine aus der Menge gleichartiger Beziehungengewesen wäre, sondern sie war in gewisser Weise ehereinzigartig und insofern bezeichnend für das, was trotzaller Willkür, trotz aller Schikanen und Behinderungeneben doch möglich war an Kontakten zwischen Fach-kollegen hüben und drüben, in unserem Falle von Fach-kollegen, die, und ich sage das sehr wohl mit Bedacht, imVerlaufe der Jahre Freunde wurden.

Ich will im Folgenden wenigstens ein paar Beispielefür Gunter Ottos diesbezügliches Wirken zur Sprachebringen. Beginnen will ich mit einer Episode, die für seinedie deutsch-deutschen Beziehungen betreffende Hal-tung, wie ich finde, charakteristisch war. In der Zeit der»Wende«, im Herbst 1989 – an die deutsch-deutscheVereinigung war da noch nicht zu denken –, damals, alsTäter und Opfer oder sagen wir es weniger dramatisch,als sich bislang der Partei blind ergebene Vertreter desDDR-Systems und deren dissidierende Kritiker erstmalssozusagen auf gleicher Augenhöhe begegneten, da kames zu einem unerwarteten Zusammentreffen zwischenmir und einem meiner ehemaligen Mitstudenten. Wirhatten jahrzehntelang keinen Kontakt miteinander,wussten aber um unsere ganz und gar unterschiedlichen

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Entwicklungsgänge. Er hatte in der DDR eine steileKarriere gemacht. In herausragenden Positionen, erstviele Jahre als Rektor einer Pädagogischen Hochschuleund später, bis zum desaströsen Ende der DDR, als Direk-tor des Zentralinstituts für Lehrerweiterbildung, hatte er,in dieser Sache quasi als rechte Hand von Frau Honecker,die Verantwortung getragen für die ideologische undpolitische Indoktrination, die die Lehreraus- und dieLehrerfortbildung weitgehend beherrschten.

Der Friedrich Verlag, und Gunter Otto war dabei derSpiritus rector, hatte die Absicht, eine Zeitschrift, das sogenannte »BRDDR Lehrermagazin« DIALOGE zu gründen.Das sollte in dieser bewegten und bewegenden Zeit ost-und westdeutsche Pädagogen zusammenführen und zueinem Forum der Begegnung und der produktiven Ge-spräche werden. Zur Vorbereitung hatte die Verlags-leitung eine Reihe namhafter west- und ostdeutscher Pädagogen eingeladen. Und darunter war eben auchmein Spezi, jener hochrangige DDR-Pädagogikfunktionär,der offensichtlich vorhatte, wie er das gewohnt war, vonvornherein kräftig mitzumischen und zu sagen, wo eslangzugehen habe.

Als wir in dieser deutsch-deutschen Runde unver-hofft aufeinander trafen, verschlug es mir fast dieSprache. Was sollte ich tun? Gute Miene machen zubösem Spiel, einfach mitmachen und hinnehmen, dasssich Repräsentanten der heruntergekommenen DDR-Pädagogik zu Wortführern aufschwingen und als flinke»Wendehälse« Einfluss gewinnen würden auf Konzeptund Inhalt der Zeitschrift und damit womöglich auf dieganze zu erwartende Diskussion um die DDR-Pädagogik?Das, so ging es mir durch den Kopf, durfte nicht sein, alsoentschloss ich mich, nach kurzer Verständigung mitGunter Otto, gleich zu Beginn offen und im Beisein allermein Veto einzulegen und meine Mitarbeit, bevor sierichtig begonnen hatte, aufzukündigen für den Fall, dassder fragliche DDR-Funktionär weiterhin dabei sein würde.Große Betroffenheit und ein Anflug von Ratlosigkeit

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war die Folge, bis Gunter Otto die Initiative ergriff und vorschlug: beide Kontrahenten sollten sich doch erst ein-mal eine Weile zurückziehen und prüfen, ob wenigstensein Gespräch über die Vergangenheit zwischen ihnenmöglich sein würde.

Dazu kam es dann auch wenige Tage später. GunterOtto hat das lange Gespräch – das dann in der erstenNummer der DIALOGE unter dem Titel »Lebensgeschichteund Lehrerleben in der DDR – Ein kontroverser Dialog«abgedruckt wurde – einfühlsam und mit großer Zurück-haltung moderiert. Dabei hat er sich wohl leiten lassenvon einem Satz von Peter Schneider, ein Satz, der damalsfür viele Intellektuelle in Ostdeutschland wichtig war, vorallem deshalb, weil sie sich an ihn wie an einen Stroh-halm klammern konnten: »Ich halte das Recht zumUmdenken und folglich auch das auf Irrtum und Widerruffür eines der vornehmsten Menschenrechte.« Das warauch meine Meinung, wohlgemerkt aber unter dem Vor-behalt, dass derjenige, der von diesem Recht Gebrauchmacht, sich zunächst einmal bekennt und mit seinemfrüheren Verhalten tatsächlich auch kritisch auseinan-dersetzt. Und genau daran mangelte es und mangelt esübrigens bei manch einem bis heute.

Brücken zu bauen und die Auseinandersetzung undAussöhnung zwischen systemkonformen und system-kritischen ostdeutschen Pädagogen hilfreich zu beglei-ten, das war damals – wenn ich das recht sehe – eineSeite der Mission, der sich Gunter Otto verpflichtet fühl-te. Die andere Seite sah er darin, die Zusammenführungder west- und der ostdeutschen Pädagogen zu befördernund einer überstürzten Einverleibung der ostdeutschenSchule in das bundesdeutsche Bildungssystem kritisch zu begegnen. Das wurde ganz deutlich auch in dem wesentlich von ihm formulierten Vorwort der Heraus-geber der DIALOGE. Dort heißt es: »Obwohl es – wie vielehier wie dort meinen – um die Schule in der DDR katastrophal steht, kann die Lösung nicht darin liegen,das Bildungssystem der BRD einfach zu übertragen.

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Es muss widersprochen werden, wenn die Schule der BRD in der DDR für besser gehalten wird als in der BRDselbst. […] Eines Tages müssen die Schulen in der (heuti-gen) DDR und in der (heutigen) BRD mehr gemeinsameGrundlagen, Merkmale und Ziele haben als jetzt. Diese[neue – G. R.] deutsche Schule kann nur ein Produktgemeinsamen Nachdenkens sein. […] Wir können einan-der raten und voneinander lernen.«

In diesem Sinne hat Gunter Otto in den ereignis-reichen Wochen und Monaten der »Wendezeit« und derdeutsch–deutschen Vereinigung viele Vorträge gehaltenund unendlich viele Gespräche geführt: in Rostock undGreifswald, in Berlin, Leipzig und anderswo, in Universi-täten, Hochschulen und Akademien, in PädagogischenKreiskabinetten und in Schulen. Er wollte nicht alles bes-ser wissen und belehren, sondern mehr erfahren, undzwar möglichst authentisch, über Schule und Unterrichtin der DDR, über Lehrer und Schüler, über Lehre und For-schung, über Lehreraus- und Weiterbildung: mehr in Er-fahrung bringen, um besser zu verstehenund mit Bedachtzu bedenken geben und anregen zu können. Dass erdabei zuhören, sich vorurteilsfrei offen halten und da seinkonnte für andere, das ist vielen unvergessen geblieben.

Diese Entwicklung wurde bekanntlich von den sichüberstürzenden Ereignissen bald überholt. Die ZeitschriftDIALOGE wurde schon nach der zweiten Nummer wiedereingestellt. Von wegen »voneinander lernen«! Mit derdeutsch-deutschen Vereinigung wurde das DDR-Schul-system hinweggefegt und der Schule in den neuen,ostdeutschen Bundesländern das bundesdeutsche über-gestülpt, mit all seinen schon damals längst offenkun-digen Unzulänglichkeiten und Mängeln. Kaum etwas istgeblieben. Und die Chance, im Osten etwas Neues zuschaffen, die wurde vertan. Wenn ausnahmsweise wirk-lich einmal etwas Neues entstand, abweichend von dem in Westdeutschland üblichen, wie beispielsweise imLand Brandenburg das so genannte Fach »Lebensgestal-tung – Ethik – Religion«, dann wurde es ins Zwielicht

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gerückt und verdächtigt, sogar gerichtlich verfolgt, bisvor kurzem übrigens.

Und in der Kunstpädagogik? Dort waren, wenn ichdas recht sehe, das Zusammentreffen west- und ostdeut-scher Fachvertreter und die Auseinandersetzungen, diees durchaus auch gab, differenzierter und auch aufge-schlossener für Neuerungen. Dort kamen vor allem die-jenigen aus Ostdeutschland zu Worte, beispielsweise als Initiatoren bei der Gründung des Bundes DeutscherKunsterzieher der DDR, als Schulbuchautoren und nichtzuletzt als Mitherausgeber und Autoren von »Kunst +Un-terricht«, die schon zu DDR-Zeiten Neues versucht hatten,so eben die Protagonisten jenes offiziell angefeindetenKonzepts des kunstgemäßen Kunstunterrichts, das in denletzten Jahren der DDR, parallel zur dort erzwungenenÖffnung in der Kunstentwicklung, immer mehr beken-nende und noch mehr stillschweigende Anhänger gefun-den hatte. Durchaus möglich, dass man später einmal inder historischen Entwicklung der deutschen Kunstpäda-gogik jene Jahre als Zäsur wird ausmachen können. Wersich auch immer darum verdient gemacht hat, GunterOtto hatte als Förderer und Moderator wesentlichenAnteil an diesem Prozess.

Lassen sie mich noch einmal, wenigstens kurz, ganzzu den Anfängen der Beziehung zwischen Gunter Ottound mir zurückgehen.

Unsere Kontakte begannen Mitte der 60er Jahre,relativ spät, im Vergleich zu den vorher schon bestehen-den Verbindungen zu anderen Fachkollegen, beispiels-weise zu Reinhard Pfennig oder zu Walter Troike, demlangjährigen Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kunst-erzieher, oder zu meinem Hamburger Freund Carl Vogel.Denen bin ich, bevor ich bei den DDR-Oberen in Ungnadegefallen war, bei internationalen Kongressen unter ande-rem in der Tschechoslowakei oder auch bei Tagungen undanderen Gelegenheiten in der DDR mehrmals begegnet.Gunter Otto, der damals noch in West-Berlin lebte undlehrte, hat die internationale Bühne der Kunstpädagogik

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offenbar erst später betreten, jedenfalls sind wir uns dortnicht begegnet. Als der Kontakt zwischen uns aber ersteinmal hergestellt war, gewann er bisweilen, gemessenan den Umständen, eine bemerkenswerte Intensität.

Hier wäre von vielen Aktivitäten zu berichten. Etwavom Literaturaustausch, der selbst in jenen Jahren, als sogut wie alle Druckerzeugnisse aus dem Westen, selbstBuchprospekte, von den DDR-Zollbehörden beschlag-nahmt wurden, aufrechterhalten werden konnte, wennauch mühsam und manchmal nur mit Hilfe zweier be-freundeter ausländischer Fachkollegen – Hasse Wahrbyaus Schweden und Bogomil Karlavaris aus Jugoslawien –,die uns gleichsam als Kuriere behilflich waren. Und das,nebenbei gesagt, auch bei der Überbringung von Manus-kripten, die in der DDR nicht erscheinen durften. VomBriefwechsel will ich gar nicht reden.

Hervorheben will ich aber Gunter Ottos mehrtägi-gen Besuch am Institut für Kunsterziehung der Universi-tät Greifswald 1966. Das war damals ein höchst unge-wöhnliches und mit erheblichen Schwierigkeiten undRisiken verbundenes Ereignis, das selbstverständlich dieParteifunktionäre und die Stasi fest im Blick hatten.Gunter Otto sprach vor Studenten, Mitarbeitern undKunsterziehern aus der Stadt, in einem völlig überfülltenHörsaal. Die intensiven und bemerkenswert offenen Dis-kussionen und Gespräche währten bis tief in die Nacht. Erhielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge, suchteaber nach Gemeinsamkeiten. Gunter Otto überraschtevor allem damit, dass er bestens über die Fachliteratur inder DDR informiert war. Er kannte nicht nur die Titel derPublikationen, sondern hatte die wichtigsten auch gele-sen und sich dazu eine differenzierte Meinung gebildet,die er auch äußerte.

Auch darin war er eine Ausnahme. Wer sonst in derBundesrepublik hat denn damals die kunstpädagogischeFachliteratur aus dem Osten überhaupt für beachtens-wert gehalten und zur Kenntnis genommen, geschweigedenn zitiert und sich damit auseinandergesetzt, sie sogar

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in seinen Lehrveranstaltungen referieren lassen? Und weraußer Gunter Otto hat sich gar die Mühe gemacht zuunterscheiden, zwischen jenen Autoren in der DDR, dieden offiziell vorgegebenen ideologischen und politischenTheoremen und Direktiven folgten, oft genug mit vorau-seilendem Gehorsam, und den wenigen anderen, die sichum ein alternatives Konzept bemühten? Selbst für die derrebellischen 68er Bewegung nahe stehenden Protagonis-ten der »Visuellen Kommunikation« war die Kunstpä-dagogik in der DDR kein Gegenstand echten Interesses,schon gar nicht diejenige, die auf die Kunst als Kunstsetzte. Ich mache keinem einen Vorwurf, gewiss nicht,aber die unterschiedliche Anteilnahme am Fachgesche-hen im anderen Teil Deutschlands sachlich festzustellen,das gebietet ganz einfach das Bemühen um eine ehrlicheAufarbeitung der deutsch-deutschen Beziehungen.

Dass Gunter Otto über derart umfangreiche Kennt-nisse der Fachliteratur verfügte, hängt möglicherweiseauch damit zusammen, dass er offenbar nebenbei schondamals zielstrebig am Ausbau seiner Fachbibliothekgearbeitet hat und sogar auch Publikationen sammelte,die er nicht oder weniger schätzte, auch solche übrigens,die, wie beispielsweise die einschlägigen Universitäts-schriften aus der DDR, über den Buchhandel nicht zubekommen waren. Ich erinnere mich beispielsweise anseine Bemühungen, den Berichtsband der LeipzigerDürer-Konferenz aus dem Jahre 1972 zu erwerben, ob-gleich die kunstpädagogische Fragestellung darin nureine beiläufige Rolle spielte.

Ab 1989 waren unsere Kontakte häufiger. Ich denkeda vor allem an die produktive Zusammenarbeit imKreise der Mitherausgeber von »Kunst + Unterricht«, dieGunter Otto durch seine unkomplizierte Kollegialität undseine unaufdringliche Sachkompetenz dominierte. Fürmich haben die Gespräche und streitbaren, aber stetssachlichen Auseinandersetzungen in diesem Kreise nicht nur das Hineinwachsen in die Szenerie der Bundes-deutschen Kunstpädagogik hilfreich begleitet, sondern

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sie waren auch so etwas wie eine gut funktionierendeDenkwerkstatt, in der sich zeigen musste, was unsere inder von der internationalen Entwicklung weitgehend ab-geschnittenen DDR gewonnenen kunstpädagogischen Einsichten und Ansichten taugten.

Wir waren in Fachfragen keineswegs immer einerMeinung, insbesondere betraf die Reibung zwischen uns,die übrigens durchaus produktiv und förderlich war, zweiProblemkomplexe. Zum einen war das die Beziehung zwi-schen Kunst und Didaktik und zum anderen und vorallem die Frage nach dem Verhältnis von Künstlerischemund Ästhetischem. Im Zusammenhang damit drehte sichunser Dissens auch um die so genannte »ästhetischeRationalität«, ein Begriff der bekanntlich mehr und mehrzum Schlüssel für Gunter Ottos kunstpädagogischesDenken wurde.

Wir haben über unsere fachlichen Differenzen ganzoffen miteinander gesprochen und korrespondiert, nichtnur um ein Konfliktpotential auszuräumen, das auch,aber mehr noch, um so auf eventuelle Denkbarrieren aufmerksam zu werden, die uns womöglich neue Ein-sichten versperrten. Wir spürten nämlich beide, dass sichunsere – nicht vom Ziel, wohl aber vom Ansatz her –unterschiedlichen Konzepte zusammenbringen und ge-genseitig bereichern lassen müssten, wenn wir nur dieKraft fänden und es fertig brächten, uns selbst in Frage zustellen, uns sozusagen aus methodologischen Erwägun-gen selbst in Zweifel zu ziehen und uns zum Zwecke derErkenntnis eine Weile die Denkweise des anderen zueigen zu machen.

Das war für uns Anlass, ein gemeinsames Projektin Angriff zu nehmen. Ob als Buch, wie der Verlag vor-schlug, oder als Beilage von »Kunst + Unterricht«, was ichim Sinne hatte, das blieb vorerst offen. Zunächst wolltenwir beide, jeder für sich, unsere Positionen darstellen und dabei insbesondere die Knackpunkte unseres Streits beleuchten. Das sollte dann die Grundlage sein für ein sich anschließendes Gespräch zwischen uns, das

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unter Umständen Auftakt für die Fortführung derFachdiskussion hätte werden können.

Als das Projekt ins Stocken geriet und gar zu schei-tern drohte, sah ich keinen anderen Ausweg, als meinenBeitrag vorab schon einmal zu publizieren, selbst-verständlich mit Wissen von Gunter Otto, dem ich auchdas Manuskript übermittelte, hoffend, dass er mit seinemText bald folgen würde. So kam es zu meinem Pamphlet»Ästhetische Erziehung und/oder Künstlerische Bildung.Nachdenken über das Selbstverständnis eines erneue-rungsbedürftigen Faches«.

Aufschlussreich sind vielleicht ein paar kurze Passa-gen aus unserem darauf bezogenen Briefwechsel:

Gunter Otto: »Derzeit geht mir Deine Argumenta-tion im Kopf herum, und ich sammele auf Zettelchen dieGegenargumente. Abgesehen davon beunruhigt michdas Zeitproblem […] Eines scheint mir schon klar zu sein:Im Zentrum des Denkens steht bei jedem von uns beidenetwas anderes, was sich nicht mit größerer oder geringe-rer Kunstnähe oder Kunstferne fassen lässt. Aber das istder Auseinandersetzung wert.«

Daraufhin ich: »Ich stimme Dir zu, unsere unter-schiedlichen Ansichten lassen sich nicht mit ›größereroder geringerer Kunstnähe oder Kunstferne‹ kennzeich-nen […] Ich halte es in dieser Beziehung […] mit ConradFiedler: ›Die Kunst ist auf keinem anderen Wege zu fin-den als auf ihrem eigenen.‹ […] Einmal unterstellt, wirverhielten uns in diesem Sinne beide kunstgemäß, dannwürde ich unser (unterschiedliches) Herangehen an diekunstpädagogische Problematik folgendermaßen be-schreiben: Du gehst (aus welchen Gründen auch immer)von der Didaktik aus auf die Kunst zu. Ich dagegen geheumgekehrt von der Kunst und Kunstentwicklung aus[von dem, was dem Künstlerischen eigen ist – G. R.] […]und frage danach, wie Kunst bzw. künstlerisch intendier-tes Gestalten dementsprechend zu lehren, zu vermittelnsei. Dieser Unterschied im Herangehen – wenn er dennzuträfe – läuft nicht auf dasselbe hinaus, denke ich.«

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Gunter Ottos Entgegnung: »Jetzt ist gerade ein halbes Jahr über den Termin hinaus vergangen, zu demich Dir meine Reaktion auf Deinen Text versprochenhatte. Und ich habe nichts geschrieben – also nichts indieser Hinsicht. Und im Grunde habe ich Dir die ganzeZeit geantwortet. Von allen Zeit- und Arbeitsproblemenabgesehen, ist alles dadurch immer nur (noch) schwie-riger geworden. Denn mir ist […] immer klarer geworden,wo die Differenz zwischen unseren Beiträgen liegt. Daskann ich hier nur andeuten: Du denkst von der Kunst – alsInhalt – auf das Fach hin. Ich ziehe die Existenz vonFächern als strukturierendes Prinzip der künftigen Schuleprinzipiell in Zweifel und denke von der Schule aus. […]Du trittst für kunstgemäßes Lernen ein, mich interessiertdie fachunabhängige prinzipielle Erweiterung des schuli-schen Lernens überhaupt durch die Dimension der ästhe-tischen Rationalität.«

Unsere divergierenden konzeptionellen kunstpäda-gogischen Bemühungen hingen wahrscheinlich auch mitunseren Biographien zusammen, die trotz mancherParallelen eben doch gravierende Unterschiede aufwie-sen. Dabei war, denke ich, nicht so sehr der Umstand vonBedeutung, dass wir in ganz verschiedenen Gesell-schaftssystemen zu Kunstpädagogen geworden sind. Dasspielte selbstverständlich auch eine Rolle, aber wichtigerwar vermutlich, dass wir in einer entscheidenden Phaseunserer beruflichen Entwicklung Persönlichkeiten begeg-net sind, die unser Fachverständnis tief greifend geprägt,jedenfalls nachhaltig beeinflusst haben.

Für Gunter Otto war es nach eigenem Bekunden vorallem Paul Heimann, ein älterer Kollege, ein lebens- undschulerfahrener Pädagoge und Didaktiker, der ihn am Anfang seiner Dozententätigkeit an der PädagogischenHochschule und in der gemeinsamen Forschungsarbeitvor allem dadurch tief beeindruckte und schließlich zumVorbild wurde, dass er – und ich zitiere Gunter Otto – inungekanntem Maße »didaktische Fantasie […] mit kul-tureller Aufgeschlossenheit und analytischer Schärfe

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verbinden konnte«. Ein Vermögen, das ich übrigens oftauch bei Gunter Otto bewundert habe, beispielsweise,wenn wir in der Herausgeberrunde von »Kunst + Unter-richt« Konzepte und Beiträge für bestimmte Themen-hefte diskutierten.

Für mich waren es nicht so sehr Pädagogen, diemich beeindruckt haben, als vielmehr Persönlichkeiten,die in der Kunst, zumal in der Kunst der Moderne und inder darauf bezogenen Kunstwissenschaft zu Hausewaren. So hatte ich beispielsweise in Halle bei demgroßen Wilhelm Worringer Kunstgeschichte und bei demehemals nicht weniger bedeutenden Maler KonradFelixmüller künstlerische Praxis. Gleichwohl, und merk-würdig ist das schon, von der Kunst, von dem, was dasspezifisch Künstlerische ausmacht, davon habe ich beibeiden nichts begriffen. Das habe ich erst zu ahnenbegonnen bei meinem Lehrer Herbert Wegehaupt inGreifswald, der am Bauhaus Schüler von Paul Klee ge-wesen war. Und dass ich nach dem Studium dazu noch einige Jahre, bis zu seinem all zu frühen Tode 1959,sein Mitarbeiter sein durfte, hat ein Übriges getan. DieseZeit war für mich im wahrsten Sinne des Wortes folgen-reich, für mein ganzes weiteres Leben, nicht zuletzt infachlicher Hinsicht.

Wegehaupt hatte von der Pädagogik als Wissen-schaft, mit Verlaub gesagt, keine Ahnung, und was er ins-besondere von der DDR-Didaktik kannte, das war ihm einGraus, gleichwohl war er ein großer, ein wunderbarerLehrer, einer zudem, der sich in seiner Hingabe an seinLehramt und an seine Schüler regelrecht verzehrte, sosehr, dass er darüber versäumte, sein beträchtliches eige-nes künstlerisches Potential auch nur annähernd auszu-schöpfen. Bei ihm geriet die Kunstlehre zu einer Schuleder Lebenskunst oder – wie es Klee einmal in seinemTagebuch formulierte – zu einer »Kunst, das Leben zumeistern.« Das darf man nicht etwa missverstehen impopulären Sinne, als das Verhalten eines, wie der Volks-mund sagt, »Lebenskünstlers«, der über die zweifelhafte

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Fähigkeit verfügt, sich ein leichtes, bequemes Leben zumachen. Nein, gemeint war vielmehr die Kunst im Sinnedes erweiterten Kunstbegriffs, von dem freilich damalsnoch nicht die Rede war: Einer Sache oder einem Prozessdie Qualität des Künstlerischen zu verleihen, ob es sichnun um eine einfache Zeichnung, eine Malerei oder umein Objekt, um den Unterricht oder um das Verhältnis zuanderen oder gar um das eigene Leben handelte, das hießfür ihn, Formarbeit leisten, etwas formen und dabei sichselbst und sein Verhältnis zur Welt und zur Zeit einzu-bringen. Und dazu gehörte ganz wesentlich, Beziehungenund Zusammenhänge zwischen den Gegebenheiten zuerspüren, zu erkennen und herzustellen, zu erleben undihnen schließlich eine Form, eine gestaltete Form und damit Sinn und Bedeutung zu geben. Das Erkennen undHerstellen von Zusammenhängen, von sinnlich wahr-nehmbaren, aber auch von strukturellen und von virtuel-len Zusammenhängen, das berührt den Kern des Künst-lerischen. Denn was ohne Zusammenhang ist, das istungestaltet und folglich ohne Sinn und entbehrt daherder inneren Notwendigkeit.

Und indem einer auf solche Weise künstlerisch tätig ist und etwas gestaltet – formt und entwickelt ersich zugleich dabei auch selbst, ob ihm das bewusst istoder nicht. Darauf beruhen letztlich die Überzeugungund die Erfahrung, dass eine in diesem Sinne verstande-ne künstlerische Tätigkeit allemal auch der Persönlich-keitsbildung dient.

Was man also bei Wegehaupt lernen konnte – unddas Erkennen, Erleben und Gestalten von Zusammenhän-gen war davon ein wesentlicher Teil –, das war, zum Kerndessen vorzustoßen, was die Kunst ihrem Wesen nach ist,ihre sie entscheidend kennzeichnende Eigenschaftahnend zu erfahren, einen Zugang zu finden zu dem, wases mit dem Künstlerischen, ob nun im tradierten oder imerweiterten Sinne, auf sich hat.

Das alles ist mir freilich erst sehr viel später bewusstgeworden, ist sozusagen meine heutige Interpretation

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dessen, was ich bei Wegehaupt und später in der Begegnung mit anderen bedeutenden Künstlern erfah-ren habe. Und dies gültig zu sagen, gelingt mir bis heutenicht, wird mir wohl auch nicht gelingen, ist vielleichtverbal auch gar nicht formulierbar, denn es betrifft ebengerade das, was an der Kunst nicht definierbar ist und inder Sprache der Begriffe unsagbar bleibt.

Und genau hier, in dem Bestreben, die Kunst an derKunst erfahr- und erlebbar zu machen, liegt auch dasZentrum meiner eigenen kunstpädagogischen Bemühun-gen. Ich spreche darüber so relativ ausführlich – und ichbitte Sie, mir auch das nachzusehen –, um anzudeuten,wo ich im Letzten den Unterschied zu Gunter Ottos Kon-zept vermutet und gesucht habe. Ich will damit sagen,dass ich diesen für mich notwendigen Kern des Künst-lerischen, der meines Erachtens im Zentrum aller kunst-pädagogischen Bemühungen stehen muss, in GunterOttos Konzept zwar nicht gänzlich vermisste, aber gernstärker berücksichtigt gesehen hätte. Am ehesten fandich ihn, wenigstens vom Ansatz her, in seinem erstengroßen Werk »Kunst als Prozess im Unterricht«, weshalbich oft bedauert habe, dass er diesen konzeptionellenAnsatz – aus welchen Gründen auch immer – später aufgegeben hat.

Was für Gunter Otto die »ästhetische Rationalität«war, das ist für mich das »künstlerische Erleben«, eine ArtSchlüsselbegriff für das Verständnis der Spezifik von Prozessen der Kunst und der künstlerischen Bildung. Das Erleben spielt im Kunstprozess, im produktiven wieim rezeptiven, insofern eine entscheidende Rolle, als esalle die im Bewusstsein ablaufenden psychischen Pro-zesse, mit denen sich das Ich auf sich selbst und auf dieGegenstände seiner Welt bezieht, unmittelbar und unreflektiert vergegenwärtigt und verfügbar macht, ver-fügbar macht sozusagen als das Inhaltliche, das danachdrängt, geformt zu werden. Dazu gehört selbstverständ-lich das Sinnliche und das Rationale und das Volitive, abereben auch und nicht zuletzt das Nichtrationale, das

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Emotionale und schließlich das Spirituelle, das dieSehnsucht nach existentieller Vergewisserung nährt. Wirerleben eben mehr, als wir verstandesmäßig zu begreifenvermögen. Und dieses »Mehr« macht die Kunst derWissenschaft überlegen.

Künstlerisches Erleben meint die Totalität desWeltbezugs wie des Psychischen. Und eben das kann dieästhetische Rationalität nicht leisten. Rationalität, ob nunin wissenschaftliche oder in ästhetische Prozesse inte-griert, bleibt Rationalität, eine Komponente der Erkennt-nis und eben nicht das Ganze des Psychischen und nichtdas Ganze der Beziehungen zur Welt.

Gunter Otto hat die Bedeutung des Nichtrationalenfür die Kunst keineswegs bestritten, aber er hat es fürnachrangig gehalten, und er hat meines Erachtens denBegriff ästhetische Rationalität überinterpretiert undschließlich als eine Art Vehikel benutzt, mit dem sich alles und jedes in den Kunstunterricht als ästhetischesPhänomen einbeziehen lässt, was nach tradiertem Kunst-verständnis fraglich erscheint, als Kunst akzeptiert zuwerden, nämlich nahezu die ganze mehr oder wenigererweiterte Kunst. Deshalb vermied er wohl, beispiels-weise mit Bezug auf Beuys’ Schaffen, ohne Wenn undAber von Kunst zu sprechen, obgleich er selbstverständ-lich Beuys als bedeutenden Künstler nicht in Frage stellte.So heißt es dann bei ihm einmal: »Ich lese Beuys ge-radezu als einen Protagonisten ästhetischer Praxis und ästhetischen Denkens.«

Gunter Otto hat die sich darin äußernde nichtnur begriffliche Inkonsequenz mitunter wohl auch selbstgespürt, so, wenn er gelegentlich entdeckte, wie nahe wir beide einander mit mancher Einsicht waren. Soschrieb er einmal: »Ich habe die andersartige Erkenntnis-perspektive der Kunst […] und zugleich ihren gleichran-gigen Rationalitätsstatus hervorgehoben. Ich habe vonErkenntnisdimensionen – theoretisch, ästhetisch, prak-tisch – gesprochen. Günther Regel formuliert einen min-destens verblüffend ähnlichen Zusammenhang, wenn er

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präzisiert, was ›künstlerisches Erleben‹ sei: ›Ich definierediesen sich im Bewusstsein vollziehenden Vorgang […] alseine andere, von der lebenspraktisch-alltäglichen wie vonder wissenschaftlichen unterschiedene ›Art zu sein‹ alseine eigentümliche Weise, reale wie künstlerische Wirk-lichkeit anzuschauen und zu erfahren.‹ «

Wir sind nicht mehr dazu gekommen, unseren Dis-sens in der Sache fortzuführen und zu einem einvernehm-lichen Resultat zu bringen. In einem seiner letzten Briefe,in dem er auf den meinen antwortet, in dem ich meinPamphlet eigens für ihn kommentiert hatte, schreibt er:»Ich danke Dir für Deinen ausführlichen Brief, der fürmich einmal mehr klärt, wie viel Missverständnisse durchSprachlosigkeit erzeugt werden. Das geht zu meinenLasten. Ich schaffe heute Abend nicht mehr, Dir mit Sorg-falt zu antworten, sondern nehme Deinen Brief mit in dieKlinik […] Ich melde mich, wenn man mich lässt, bald.«

Das war im Oktober 1998, dann kam nur noch sein Rundbrief an die »Anverwandten, Kolleginnen undKollegen«, in dem es u. a. heißt: »Ich werde am 11.XI.vorübergehend aus dem Verkehr gezogen – möglicher-weise für zehn Tage.«

Wenn schließlich aus unserem gemeinsamen Vor-haben – abgesehen einmal von dem Briefwechsel zurKlärung unserer Positionen, der ja auch schon etwas ist –nichts Abschließendes geworden ist, so lag das wohlnicht zuletzt daran, dass sich Gunter Otto mit seinerunermüdlichen und rastlosen Tätigkeit auf vielen Feldernder Ästhetischen Erziehung und an vielen Fronten desBildungswesens gleichzeitig ungewollt natürliche Gren-zen gesetzt und seine Kräfte regelrecht aufgezehrt hat.

Wie auch immer, ich schätze mich glücklich, dass ich wenigstens zeitweise mit Gunter Otto zusammen-arbeiten durfte. Dass wir einander offen und aufrichtigdie Meinung sagen konnten und das auch mit allemRespekt vor einander getan haben, ohne dass der andereje verletzt gewesen wäre, das war und ist für mich ein untrügliches Zeichen für das kollegial-freundschaftliche

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Verhältnis, das zwischen uns bestand und das zumindestmein Leben bereichert hat.

Erlauben sie mir bitte noch einen Nachtrag:1965 fand am Caspar-David-Friedrich-Institut für

Kunstwissenschaft der Universität Greifswald eine großemehrtägige kunstpädagogische Fachkonferenz statt,an der auch Fachkolleginnen und Kollegen aus derBundesrepublik, aus Schweden und Dänemark, ausJugoslawien, aus der Sowjetunion und nicht zuletzt ausder Tschechoslowakei teilnahmen. Darunter mehrere, diein ihren Ländern und in der internationalen Kunsterzie-hungsbewegung eine herausragende Rolle spielten. Zudieser Konferenz erschien in der Reihe der GreifswalderHochschulschriften ein umfangreicher Protokollband.Der wurde aber leider, was allerdings bei dem permanen-ten Mangel an Papier und Druckkapazität in der DDRnicht ungewöhnlich war, von der Druckerei erst nahezudrei Jahre später ausgeliefert, unglücklicherweise EndeAugust 1968, also gerade in der außen- und innenpoli-tisch äußerst angespannten Zeit, da die Armeen derStaaten des Warschauer Verlages, also auch der DDR, indie Tschechoslowakei eingefallen waren und der damalsviel versprechenden dortigen Entwicklung hin zu einemdemokratischen Sozialismus ein jähes Ende bereiteten.Die führenden strammen Genossen der SED am Greifs-walder Institut, die die Kontakte der Institutsleitung zuden westlichen Fachleuten und zu den tschechoslowaki-schen und jugoslawischen Kunstpädagogen ohnehinschon lange mit Argwohn verfolgten, hatten nichts eili-ger zu tun, mit Rückendeckung der übergeordneten Polit-bürokraten, versteht sich, vielleicht sogar auf derenGeheiß, als eben diesen völlig harmlosen Protokollbandals Beleg für die angeblich sozialismusfeindlichen undrevisionistischen Machenschaften in der internationalenKunstpädagogik und insbesondere am GreifswalderInstitut zu entlarven und zu verteufeln. Ohne viel

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Federlesens – ich war da längst suspendiert und hatteHausverbot – wurde schließlich der Protokollband derTagung in der Heizung des Instituts verbrannt, nicht etwanur symbolisch, sondern real, die ganze Auflage von 2000 Exemplaren, bis auf einige wenige, die von einemloyalen und mutigen Mitarbeiter beiseite geschafftwerden konnten.

Gunter Otto hat an der Tagung nicht teilgenom-men, aber er kannte den Protokollband. Wir haben ihnAnfang der 90er Jahre gemeinsam durchgeblättert. Ichspürte dabei sein starkes Interesse an dem Werk undauch an den Hintergründen und Zusammenhängen, diezur blindwütigen Vernichtung dieses Buches geführthatten. Ich spielte zwar damals schon mit dem Gedan-ken, ihm eines der wenigen Exemplare, die ich besaß undan denen ich hing wie an Relikten eines tiefen Eingriffs inmeine ureigenste Lebensgeschichte, für seine Bibliothekzu überlassen, konnte mich aber dazu nicht entschließen.Das will ich heute nachholen, wohl wissend, dass es wahrscheinlich keinen besseren und schon gar keinenwürdigeren Ort gibt, dieses seltene Dokument der Ge-schichte der deutsch-deutschen Kunstpädagogik aufzu-bewahren und verfügbar zu machen, als eben die»Sammlung Otto«. Der wünsche ich eine gute Entwick-lung, auch, was heutzutage leider nicht selbstver-ständlich ist, die nötige materielle Ausstattung, und eine erfolgreiche Arbeit zum Wohle der Kunstpädagogik undder künstlerisch-ästhetischen Bildung überhaupt inHamburg und darüber hinaus.

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Günther Regel wurde im März 1926 in Maltsch an derOder (Schlesien) geboren. Nach dem Krieg war er zu-nächst als sogenannter Neulehrer in der Nähe von Leipzigtätig. 1948 bis 52 schloss sich ein Studium der Kunst-pädagogik und der Psychologie an den UniversitätenLeipzig, Halle und Greifswald an. 1956 folgte die Promo-tion und 1960 eine Habilitation zu Problemen der Farb-gestaltung an der Universität Greifswald, wo GüntherRegel 1963 einen Lehrstuhl für Theorie und Methodik derKunsterziehung am Caspar-David-Friedrich-Institut fürKunstwissenschaft übernahm. 1968 kam es zum erstenoffenen Konflikt mit der Kultur- und Schulpolitik der DDR,der zur zeitweiligen Suspendierung und 1971 zur Straf-versetzung an die Universität Leipzig führte. Dort bauteRegel am Institut für Kunstpädagogik einen Lehrstuhl für Theorie der bildenden Kunst auf, den er bis zu seinerEmeritierung 1991 innehatte. Nach dem Ende der SED-Herrschaft gründete Günther Regel mit Gleichgesinntenden »Bund Deutscher Kunsterzieher – DDR e.V.«, weil eineallzu schnelle Verbindung der DDR-Kunstpädagogik mitdem BDK der alten Bundesrepublik in seinen Augen einnicht minder schnelles Vergessen der eigenen Vergan-genheit befördert hätte. Gunter Otto holte Regel 1990 indas Herausgeberteam von »Kunst + Unterricht«.

Günther Regel ist Autor zahlreicher Schriften zurKunsttheorie und Kunstpädagogik. Bekannt wurde er vorallem durch sein Buch »Medium bildende Kunst – Bild-nerischer Prozess und Sprache der Formen und Farben«(1986). Er hat eine kommentierte Auswahl von Paul Klees Schriften zur bildnerischen Formenlehre heraus-gegeben, Lehr- und Lernmaterialien für den Kunstunter-richt veröffentlicht und in jüngerer Zeit viel über kunst-pädagogische Konsequenzen aus der künstlerischen Neuorientierung in der sogenannten Zweiten Modernegeschrieben. Vgl. hierzu u. a.: Von Klee über Wegehauptzu Beuys. Implikationen dreier Konzepte modernerKunstlehre (Gelbe Reihe des Instituts für Kunstpädagogikder Universität Leipzig. Texte 1), Leipzig, 2. Aufl. 1999;

oder: Die Zweite Moderne, die Schule und die Kunst – Konsequenzen für die künstlerische Bildung. In:Buschkühle, C.-P. (Hrsg.): Perspektiven künstlerischerBildung. Köln 2003.

Bisher in dieser Reihe erschienen:

Ehmer, Hermann K.: Zwischen Kunst und Unterricht –Spots einer widersprüchlichen wie hedonistischenBerufsbiografie. Heft 1. 2003. ISBN 978-3-9808985-4-6

Hartwig, Helmut: Phantasieren – im Bildungsprozess? Heft 2. 2004. ISBN 978-3-937816-03-6

Selle, Gert: Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblemdidaktischen Denkens. Heft 3. 2004. ISBN 978-3-937816-04-3

Wichelhaus, Barbara: Sonderpädagogische Aspekte der Kunstpädagogik – Normalisierung, Integration und Differenz. Heft 4. 2004. ISBN 978-3-937816-06-7

Buschkühle, Carl–Peter: Kunstpädagogen müssenKünstler sein. Zum Konzept künstlerischer Bildung.Heft 5. 2004. ISBN 978-3-937816-10-4

Legler, Wolfgang: Kunst und Kognition. Heft 6. 2005. ISBN 978-3-937816-11-1

Sturm, Eva: Vom Schießen und vom Getroffen–Werden.Für eine Kunstpädagogik »Von Kunst aus«. Heft 7. 2005. ISBN 978-3-937816-12-8

Pazzini, Karl–Josef: Kann Didaktik Kunst und Pädagogikzu einem Herz und einer Seele machen oder bleibt es bei ach zwei Seelen in der Brust? Heft 8. 2005. ISBN 978-3-937816-13-5

Puritz, Ulrich: nAcKT: Wie Modell und Zeichner im Aktsaal verschwinden und was von ihnen übrig bleibt. Heft 9. 2005. ISBN 978-3-937816-15-9

Maset, Pierangelo : Ästhetische Operationen und kunstpädagogische Mentalitäten.Heft 10. 2005. ISBN 978-3-937816-20-3

Peters, Maria: Performative Handlungen und biografische Spuren in Kunst und Pädagogik.Heft 11. 2005. ISBN 978-3-937816-19-7

Balkenhol, Bernhard: art unrealized – künstlerischePraxis aus dem Blickwinkel der Documenta11.Heft 12. 2006. ISBN 978-3-937816-21-0

Jentzsch, Konrad: Brennpunkte und Entwicklungender Fachdiskussion.Heft 13. 2006. ISBN 978-3-937816-32-6

Zacharias, Wolfgang: Vermessungen – Im Lauf der Zeitund in subjektiver Verantwortung: Spannungenzwischen Kunst und Pädagogik, Kultur und Bildung,Bilderwelten und Lebenswelten.Heft 14. 2006. ISBN 978-3-937816-33-3

Busse, Klaus-Peter: Kunstpädagogische Situationenkartieren.Heft 15. 2007. ISBN 978-3-937816-38-8

Rech, Peter: Bin ich ein erfolgreicher Kunstpädagoge,wenn ich kein erfolgreicher Künstler bin?Heft 16. 2007. ISBN 978-3-937816-39-5

ImpressumBibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kunstpädagogische PositionenISSN 1613-1339Herausgeber: Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

Band 17ISBN 978-3-937816-50-0Bearbeitet von Katarina JurinDruck: Uni-PriMa, Hamburg© Hamburg University Press, Hamburg 2008http://sub.rrz.uni-hamburg.deRechtsträger: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

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