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“ERLAUBT IST, WAS SICH ZIEMT...“- HERMENEUTI~CHEOBERLEGUNGENZUMUMGANG MITKLASSISCHEM I Als Peter Stein im Jahre 1969 in Bremen Goethes “Torquato Tasso” auf spektakullre Weise inszenierte, wurde die Auffiihrung von einem Gedicht seines Mitarbeiters, des Berliner Schriftstellers Yaak Karsunke begleitet, das hier zitiert werden ~011, weil es konzentriert und genau die Intentionen jener Inszenierung wiedergibt. simples sonett auf Torquato Tasso :fiir Bruno Ganz hoer zeigt man euch gar griI3hch anzuschaun - Torquato Tasso, einen hohen clown. der sich verrenkt & jimmerhch sich windet, suchselbst den schwanz voll kunst zur schleife zierlich bindet. dem dichter wird bei hofe applaudiert. weil stilvoll er verhiillt, wonach er nackt doch giert; bis endlich sein bediirfnis roh durch die metafern bricht den kraftakt honoriert rhm die gesellschaft nicht! dat3 der beherrschte sich nicht selbst beherrscht, heibt: schuld & prompt entzieht der herrscher rhm die huld, steckt Tassos arbeit ein. verllgt den ort, & mmmt such noch die beiden Leonoren mit sich fort. zu spat schreit unser held jetzt auf: tyrann! (dann biedert er sich bei Antonio an.)’ Den Germanisten wie such den Gebildeten unter ihren Verlchtern, die ihre Kenntnis des Goethetextes aus der Schule oder von anderen Theater- auffiihrungen mitbrachten, mu&e dieser Blick auf Goethes Drama zumin- dest despektierlich erscheinen, der dessen herkiimmliches Verstandnis -die gelungene oder miDgltickte Integration eines Kiinstlers in die Gesell- schaft - problematisierte. Die Deutungsgeschichte des “Tasso” hatte die dramatis personae scheinbar eindeutig gewichtet. In Korffs Standardwerk “Geist der Goe- thezeit” heiBt es, der Musenhof von Ferrara vertrete “die Idee der Huma- nit& der Dichter aber das alte Ideal von Sturm und Drang”. Der dramati- sche Konflikt entsteht nach Korff aus dem “MiBverhaltnis zwischen der Hemmungslosigkeit des kiinstlerischen Gefiihlslebens und den MaBforde- rungen des gesellschaftlichen Feingefiihls”. Den Ausgang des Werkes deutet Korff tragisch: Goethe aber liOt, wenn such aufs tiefste erschiittert, der Gerechtigkeit freien Lauf, ohne den Vernichteten weeder aufzurichten. Denn seine Uberzeu ung gehiirt jetzt dem Verniinftig- Gesitteten, dem Gesetzlichen, nicht mehr dem Naturhaft- & berschwenghchen, dem Gesetzlo- sen. Tasso wird nicht allein von der Gesellschaft, sondern such von Goethe selbst verurteilt, und sein Untergang erscheint als die unvermeidliche Folge seiner Schuld, die urn so tragrscher ist, als Tasso selbst sie nicht erkennt und sich darum als das unschuldige Opfer der Welt emptindet.2 Neophilologus 70 (1986) 256269

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“ERLAUBT IST, WAS SICH ZIEMT...“- HERMENEUTI~CHEOBERLEGUNGENZUMUMGANG

MITKLASSISCHEM

I

Als Peter Stein im Jahre 1969 in Bremen Goethes “Torquato Tasso” auf spektakullre Weise inszenierte, wurde die Auffiihrung von einem Gedicht seines Mitarbeiters, des Berliner Schriftstellers Yaak Karsunke begleitet, das hier zitiert werden ~011, weil es konzentriert und genau die Intentionen jener Inszenierung wiedergibt.

simples sonett auf Torquato Tasso :fiir Bruno Ganz

hoer zeigt man euch gar griI3hch anzuschaun - Torquato Tasso, einen hohen clown. der sich verrenkt & jimmerhch sich windet, such selbst den schwanz voll kunst zur schleife zierlich bindet.

dem dichter wird bei hofe applaudiert. weil stilvoll er verhiillt, wonach er nackt doch giert; bis endlich sein bediirfnis roh durch die metafern bricht den kraftakt honoriert rhm die gesellschaft nicht! dat3 der beherrschte sich nicht selbst beherrscht, heibt: schuld & prompt entzieht der herrscher rhm die huld, steckt Tassos arbeit ein. verllgt den ort,

& mmmt such noch die beiden Leonoren mit sich fort. zu spat schreit unser held jetzt auf: tyrann! (dann biedert er sich bei Antonio an.)’

Den Germanisten wie such den Gebildeten unter ihren Verlchtern, die ihre Kenntnis des Goethetextes aus der Schule oder von anderen Theater- auffiihrungen mitbrachten, mu&e dieser Blick auf Goethes Drama zumin- dest despektierlich erscheinen, der dessen herkiimmliches Verstandnis -die gelungene oder miDgltickte Integration eines Kiinstlers in die Gesell- schaft - problematisierte.

Die Deutungsgeschichte des “Tasso” hatte die dramatis personae scheinbar eindeutig gewichtet. In Korffs Standardwerk “Geist der Goe- thezeit” heiBt es, der Musenhof von Ferrara vertrete “die Idee der Huma- nit& der Dichter aber das alte Ideal von Sturm und Drang”. Der dramati- sche Konflikt entsteht nach Korff aus dem “MiBverhaltnis zwischen der Hemmungslosigkeit des kiinstlerischen Gefiihlslebens und den MaBforde- rungen des gesellschaftlichen Feingefiihls”. Den Ausgang des Werkes deutet Korff tragisch:

Goethe aber liOt, wenn such aufs tiefste erschiittert, der Gerechtigkeit freien Lauf, ohne den Vernichteten weeder aufzurichten. Denn seine Uberzeu ung gehiirt jetzt dem Verniinftig- Gesitteten, dem Gesetzlichen, nicht mehr dem Naturhaft- & berschwenghchen, dem Gesetzlo- sen. Tasso wird nicht allein von der Gesellschaft, sondern such von Goethe selbst verurteilt, und sein Untergang erscheint als die unvermeidliche Folge seiner Schuld, die urn so tragrscher ist, als Tasso selbst sie nicht erkennt und sich darum als das unschuldige Opfer der Welt emptindet.2

Neophilologus 70 (1986) 256269

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Zwar ist in der Deutungsgeschichte des “Tasso” diese tragische Interpreta- tion wegen der bekannten Doppeldeutigkeit der SchluDzeilen -“So klam- mert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte” (V. 3452f.) -nicht unumstritten. So konstatiert etwa Heinrich Diintzer als “Folge des schmerzlichen Unfalles eine sittliche Erhebung” “fur alle, nicht allein fur Tasso” und resumiert: “Antonio selbst erscheint am Schlusse eben so gellutert, als Tasso.“3 Jedoch: tragische oder versiih- nenden Deutung- immer wurde die Arbeitsteilung zwischen Geist und Macht festgeschrieben, verschleiert in der Vorstellung von der Kunstau- tonomie. Die Gesellschaft war der Sieger, der vom Interpreten affirmiert wurde. Die Deutung war moralisch, das fabula docet eindeutig: Der Kiinstler (das Individuum) habe sich, soweit er gesellschaftliche Funk- tionsanspriiche erhob, die Homer abzulaufen und sich zu integrieren (unterwerfen). Der Deutschunterricht als Sozialisationsinstanz hat diese Botschaft generationenlang verbreitet.

Der Stein/Karsunkesche Ansatz zerstijrt die wesentlichen Positionen dieser Deutung. Die distanzierte Perspektive der Auffiihrung deckt die gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen auf, denen gegeniiber Tasso sich letztlich -in dritter Lesart - “anbiedernd” verhalten mul3. Seine Kunst ist Ware und iiber ihren Sublimationscharakter auf verhangnisvolle Weise mit der Gesellschaft verbunden. Sie hat Entlastungsfunktion fur die gesellschaftlich sanktionierten Wiinsche und Triebe; als “Zuckergug der Hohen Kunst”4 affirmiert sie die gesellschaftlichen Verhdltnisse. Ihr Pro- duzent kann seine Rolle nur urn den Preis der gesellschaftlichen Verkriip- pelung spielen. Wenn er sie durchbrechen will, treffen ihn gesellschaftliche Sanktionen. Der aufrechte Gang bleibt auf der Strecke.

Derart wurde jede positive Botschaft des Dramas demontiert. Die Auffiihrung pal3te in das antiautoritlre Klima der splten sechziger Jahre. Auch innergermanistisch hatte die Demontage der deutschen Klassik mit der Goethe-Biographie von Friedenthal und dem Ztircher Literaturstreit begonnen. Das schlechte Verhaltnis der Intellektuellen zur Gesellschaft war aktuell wie eh und je; Parallelen zwischen Goethezeit und Gegenwart wurden in der begleitenden Diskussion mehr abstrakt beschworen, dann aber anlal3lich der geistesverwandten Peymannschen Auffiihrung des “Tasso” fiir jedermann einsichtig. 5

Nun hat allerdings die Aktualisierung des Stiicks, die auf der Vorstel- lung einer strukturellen Kontinuitat des Tasso- Problems zwischen feuda- ler und biirgerlicher Gesellschaft beruht, eine Aporie zur Folge: Wenn Kunst nur affirmativ funktioniert und dies den Schauspielern such bewubt ist, welchen Sinn hat es dann noch, sie als Medium einer gesellschaftskriti- schen Aussage zu benutzen? Scharfer formuliert: Warum artikuliert sich das Tasso-Problem gerade in einer “Tasso”-Auffiihrung? Stein/Karsunke sind dieser Frage nicht ausgewichen. Sie lugern sich zu diesem Problem wie folgt:

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Ahnhche Erwartungen wie die hofische Gesellschaft ihrem Dichter, bringt dte biirgerliche Gesellschaft ihrem Theater entgegen. Wir wissen, da13 wir mit unserer Inszenierung diese Erwartungen befriedigen: wir verhalten uns dabei wie Goethes Tasso und wte Goethe selbst. Wir fiillen die bereitgestellten Rollen aus und erfreuen mit kunstvollen Verrenkungen und Verkrampfungen den Blick der Machtigen. Mrt dem ohnmachtigen Publikum teilen wir die Unfahigkeit, die eigene Wut und die eigenen Schmerzen zu arttkulieren -das BewuBtsein dreser Unfahtgkeit haben wir thm vielleicht voraus. Dennoch 1st es uns nicht gelungen, unsere Zwerfel am Sinn unserer Arbeit auf der Biihne deuthch zu machen. Unsere Produktion verbleibt tm Goetheschen Kunstrahmen. der nur durch rtgorose Striche zu sprengen gewesen ware. Da aber auf dem Theater -sol] es nicht vollends illusionlr werden- nicht mehr gestrichen werden kann als m der Gesellschaft, die sich dieses Theater halt, haben wir in unserer Fassung vornehmlich Poesie gestrichen. Die Rolle des Geldgebers blieb erhalten6

Diese Aussage mag, was das Selbstverstlndnis der Akteure betrifft, zu pathetisch, zu larmoyant gefunden werden. Mit dem “Streichen” von Poesie, dem “Erhaltenbleiben” des Geldgebers sind - neben anderen - nicht nur theaterpraktische, sondern such text- und rezeptionstheoreti- sche, kurz, hermeneutische Probleme angesprochen. Auf diese sol1 sich im folgenden unsere Aufmerksamkeit richten.

Die Rezeption eines Textes kann als Akt der Kommunikation beschrie- ben werden. Das Kommunikationssystem in seiner einfachsten Form - der Leser mit dem Text im stillen Kammerlein - wird durch eine Auffiihrung auf der Biihne erheblich kompliziert. Zwischen den Text und den verste- henden Leser treten Regisseur und Schauspieler, die ihr Textverstandnis in Handeln umsetzen. Fiir den (idealen) Zuschauer wird sein mitgebrachtes, durch Lektiire und Deutungstradition vermitteltes Textverstandnis mit dem von Regisseur und Schauspielern Verstandenen und in verbale und nichtverbale Handlungen Umgesetzten konfrontiert.

Diese Interferenzen konnten theoretisch auf ein Minimum reduziert werden, wenn die Auffiihrenden sich zu einer “werkgetreuen” Rezeption und Produktion entschliissen und diese auf einen “unvoreingenommenen” Leser trafen. Eine solche Situation entsprache etwa der methodologischen Pramisse Emil Staigers, der bekanntlich in seiner mabgeblichen Goethe- monographie der fiinfziger Jahre den Anspruch erhob, Poesie “nach bestem Wissen im Sinn der Dichter auszulegen” und die Frage “Was hat uns Goethe heute zu sagen?” “in die angemessenere verwandelt: Wie bestehen wir heute vor ihm?“7 Eine solche scheinbar zeitenthobene Rezep- tionshaltung, in der Kunst als Refugium aus der “wiirdelosen Despotie des Zeitgeistes”* fungiert, ist allerdings selbst historisch vermittelt und reduktionistisch.

Schon Goethes eigene Biihnenbearbeitung des “Tasso” von 1807. zur Zeit der franzosischen Besetzung in Weimar entstanden, denunziert diese hermeneutische Askese; Goethes Selbstzensur begriindet die gesell- schaftsaffirmative Interpretation des “Tasso” in ihrer versohnenden Variante. “Alle politischen Anspielungen, moralischen Zweideutigkeiten und personlichen oder wissenschaftlichen Polemiken mu&en ausgemerzt werden.” Liselotte Blumenthal, der wir diese Analyse der Goetheschen Biihnenbearbeitung verdanken, nennt als weitere Merkmale u.a. die Km-

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zung der Selbstreflexionen Tassos, der Anzeichen von Wahnsinn, und resumiert:

Wlhrend semer ganzen Tattgkeit als Theaterleiter wirkte er darauf hm, da5 ein Biihnenstiick vor allem “tiichtig” zu sein habe und eine posttive Wirkung von ihm ausgehe Er hatte gewi5 mchts dagegen, wenn nun das Ende des Stiickes dte Hoffnung erweckte, da5 Tasso sich doch noch als handelnder Mensch bewihren werde. und vielleicht hatte er dies sogar gewollt. Der “Tasso” wurde damit zu einem Lobpreis des tattgen Lebens. das sogar die Moghchkeit habe, die “Disproportion des Talents mtt dem Leben” auszugleichen.’

Die Konzeption einer “werkgetreuen” Auffiihrung erweist sich schon am Anfang der Deutungsgeschichte als nicht einlosbar. Die Interferenzen zwischen der Erwartungshaltung der Zuschauer und der Deutung auf der Biihne werden allerdings im Laufe der Traditionsbildung verschirft; nicht nur, dalj etwa die Steinsche Truppe gar keine “werkgetreue” Auffiihrung beabsichtigt - , such der Zuschauer ist durch die Deutungsgeschichte vorprogrammiert.

Der gegeniiber dem traditionellen Leser/Zuschauer innovierende An- satz Steins lal3t sich auf der ideologischen Ebene in folgenden drei Punkten erfassen:

1. Die konsequente Wahl einer AuBenperspektive, was von einem eher konservativen Kritiker (Joachim Kaiser) so beschrieben wird:

Stem machte Jedoch die hier emmal zu unterstellende Uberlegenheit unseres aufgekllrten Jahrhunderts und eines gegeniiber tradttionellen Selbstverstandhchkeiten nervosen Regis- seurs dadurch klar. da5 er die “Tasso”-Crew in eme Mischung aus Dummkiipfen und Spinnern verwandelte.“rO

Demgegeniiber erhebt Kaiser die Forderung nach einer historisch gerech- ten, dem Erkenntnisstand der Goetheschen Gestalten entsprechenden Auffiihrung. Eine solche Forderung ist nicht nur aus den eben genannten Grtinden problematisch, sondern lal3t such die Frage nach dem heutigen Erkenntnisinteresse aul3er Betracht.

2. Die “Uberlegenheit unseres aufgeklarten Jahrhunderts” zeigt sich in der Herausarbeitung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen das “Seelendrama” Tassos sich abspielt. Als solches hatte die friiheste Kritik, etwa der auf eine Identifikationspoetik abhebenden Splt- aufklarung das Werk noch verstanden -und verworfen. In Friedrich Nicolais “Neuer Bibliothek der schiinen Wissenschaften und freien Kiln- ste” heiljt es 1790:

TaDo’s Charakter scheint uns also weder mteressant, noch unterrtchtend zu seyn Nicht mteressant; well die hervorstechendste Seite desselben zuriickstii5t. alle Sympathie zerstiirt und selbst das Mttleiden unmoglich macht. weil er nicht blos listig, sondern oft selbst llcherhch 1st. und weil es unmbglich 1st. such ernsthaft fur einen Menschen zu mteresstren, dessen gr65te Leiden m Traumen bestehn. mit denen er semen Kopf muthwilliger Weise zu erfiillen sucht. -Ntcht unterrtchtend, well ihm der mnere Zusammenhang und die Wahr- schemlichkett fehlt, ohne welche keine poetische Faction unterrichten kann. Dieser Charakter hat aber uberdieses emen unangenehmen Einflu5 auf das ganze Stuck. Er verbreitet em zweydeuttges Ltcht iiber den Charakter der iibrigen Personen desselben. Er macht uns zweifelhaft in dem Urthetl. das wu iiber rhre Handlungen und Gesinnungen fallen sollen I1

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Tasso der UnangepaDte, Tasso der Storer, der such andere Personen in ein unangenehmes Licht setzt - , autoritlres wie anti-autoritlres Sinnpotenti- al liegen in dieser Konstellation beschlossen. Die Deutungstradition zwi- schen Goethe und Korff setzt die Gesellschaft in ihr vermeintliches Recht, Stein/Karsunke stellen es in Frage.

3. Die marxistische und die Freudianische Tradition, wie sie etwa in der Kritischen Theorie zusammenkommen, stellen die Kategorien bereit, mit denen der Goethesche Text angegangen wird. Sie bestimmen die Sicht auf Kunst als Sedativ und Sublimation, die Infragestellung ihres Autonomie- charakters und die Herausarbeitung der gesellschaftlichen Herrschafts- mechanismen.

Eine solche Sicht auf den klassischen Text durchbricht vorkonditionier- te Erwartungshorizonte des Publikums, indem sie die Aufmerksamkeit auf Zusammenhange richtet, die in der biirgerlichen Deutungstradition ver- schiittet sind und die, aus der “Uberlegenheit unseres aufgeklarten Jahr- hunderts” und in der Konfrontation mit dessen politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit, ins Bewubtsein gebracht werden. Dab dieser Anspruch such verwirklicht wurde, sol1 wenigstens an einem Beispiel gezeigt werden. Der Kritiker Helmuth Karasek schreibt iiber seine Rezeption von Steins Auffuhrung:

[. .] vom sich Ziemen und vom Zieren, vom sich Schicken ist in diesem Stuck vie1 die Rede. Mir jedenfalls wurde nie vorher so deutlich, daB dieses Abriicken vom Gemeinen gleichviel mit dem zu tun hat, was wir Kultur nennen als such mit dem. was nicht nur m einem modischen Vokabular Herrschaft heigt. Herrschen und sich beherrschen sind in dieser Auffiihrung notwendige Korrelative [. .] So war es nur die folgerichtige letzte Konsequenz, da0 Tasso am Schlug der Affe war [. ,] Ich jedenfalls habe nie eine konsequentere “Tasso”- Auffiihrung gesehen [. .]I*

Das oben idealiter entworfene Kommunikationssystem wird allerdings infragegestellt, wenn die Voraussetzungen fehlen: Die Parodierung setzt beim Zuschauer die Kenntnis des Parodierten voraus, d.h. des Textes, seines historischen Kontextes und seiner traditionellen Deutungsmuster. “Bildung ist allerdings vonniiten: man kann nur lachen, wenn man wei@ wie es war, ehe es lacherlich gemacht wurde.“13 Die “Entlarvung eines Olympiers”, visualisiert durch das Auftreten Tassos als Goethe, ist, wie Siegfried Melchinger anmerkt, “erkennbar freilich nur fur die Gebildeten, die Tischbeins beriihmtes Bild kennen.“14 Mir scheint, da13 das klassische Erbe durch theaterexterne Faktoren, wie die Verschiittung eines Bildungs- kanons und den nicht vorhandenen gesellschaftlichen Konsens iiber die Berechtigung seiner Tradierung, starker bedroht ist als durch seine anti- autoritare und respektlose Aufbereitung durch aufmtipfige Regisseure. Das Problem ware dann nicht so sehr, da13 die “Tasso”-Auffiihrung “im Goetheschen Kunstrahmen verbleibt” (Stein/Karsunke), sondern da0 dieser Bezug fur die Rezipienten gar nicht mehr erkennbar wird. Zu erwlgen ware, ob dies nicht mit die Ursache fur eine Qualitatsminderung der Auffiihrung ist, die von einem anderen Kritiker, Ivan Nagel, signali- siert wird:

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Am Premierenabend. dem 30. Mlrz, sah man erstaunt, wie das Spiel des Stiickes sich zur Kritik am Stuck steigerte, wie die Kritik am Stuck sich zur Parodie des Stiickes zuspitzte. Die Parodie aber wurde mit einer so hermetischen Ton- und Gestensprache abgedichtet (und einer so kalt-unerschiitterhchen Weigerung, sich belachen zu lassen), dag ihre Trouvaillen wieder autonomen Spielcharakter von Erlesenheit annahmen und in die Verkorperung des Goetheschen Textes, sic verwandelnd, durchsichtig machend, emgingen. Die Darstellung schlog sich, die erhellende Reflexion kreiste in ihrem Innern. ~ [. .] Zwei Monate danach, am 29. Mai, war dieser empfindliche Krerslauf zwrschen Spiel, Kritik und Parodte unterbrochen. Manche Geste leistete ihrer Entlarvung so vie1 Vorschub, da13 sie ihr Eigengewicht verlor. Die Entlarvung selbst, rhrer widerstehenden Substanz beraubt, war so leicht gemacht, da13 sie sich zu fertigen Resultaten iiberspringen liel3. Text und Parodie wurden gleichsam kurzgeschlossen, was Minute fur Minute besserwtsserisches Lachen im Parkett verursachte. Der Star der Auffiihrung schien nicht mehr [. . .] Tasso [. .] sondern der zufriedene Zuschauer, der sich kliiger und griiger als alle Figuren vorkommen durfte. Da ihm der Umweg iiber das Ernstnehmen des Spiels, das Erarbeiten der Kritik erspart wurde, forderte er immer neue Pointen und langwetlte sich verwiihnt, wenn keine kamen. is

Diese Kritik beschreibt nicht nur aufs genauste eine Aktierkunst auf verschiedenen Ebenen, die den “historischen” “Tasso” zugleich vergegen- wartigt und problematisiert, sondern such den Verfall dieses hochartifi- ziellen Gleichgewichts. Die Frage ware dann, ob das Umkippen des Spiels in eine bezugslose Parodie, “die unmeBbare Verlagerung des schauspieleri- schen Bewu13tseins”16 nicht Resultat einer gestorten Interaktion mit dem Publikum ist, dessen Bildungsdefizit mit “Verdeutlichungen” kompensiert werden ~011.

II Ich habe bisher die “Tasso”-Auffiihrung als ein Kommunikationssy-

stem beschrieben, in dessen Rahmen rezeptionshistorisch benennbare Ideologeme (Deutungsmuster) miteinander interferieren. In einem zweiten Schritt mochte ich textinterne Bedingungen eines “richtigen”, “falschen” oder mtiglichen Textverstandnisses untersuchen. 1. Die Frage nach der “richtigen ” “Tasso”-Deutung wird dadurch er- schwert, da13 man das Werk durchaus so lesen kann, als habe es keine Tendenz, als sei der Dichter parteilos. Goethes von den Zeitgenossen vielgeriihmte oder -beklagte “Objektivitat” legt diese Vermutung nahe, die Verwirrung des oben zitierten Zeitgenossen aus der “Neuen Bibliothek” bestatigt sie. Aber such von der Dramenform her kann diese Behauptung begriindet werden: Es fehlt eine autoritative, sinnstiftende Instanz wie der auktoriale Erzahler, der Chor oder der Reyen. Beim “Tasso” bildet der doppeldeutige Schlul3 eine zusatzliche Schwierigkeit. 2. Das fabula docet wird nur subjektiv wahren, der Selbsterhaltung des betreffenden Individuums dienenden, perspektivischen Aussagen (My- then) entnommen. Diesen Aussagen wird ein objektiv wahrer, vom Dichter gemeinter Anspruch unterstellt. Ein anschauliches Beispiel dafiir bietet die schon zitierte Darstellung von Korff:

Tasso selbst schwlrmt noch von der “goldnen Zen. da [. . .] Jedes Tier [. .] zum Menschen sprach: Erlaubt ist, was gefallt!” Die Prinzessin aber spricht die Meinung des Dichters [!] und den Sinn der Dichtung [!] aus, wenn sie ihm erwidert: “Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei; Allein die Guten bringen sie zuriick

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Noch treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genul3 der schBnen Welt; Nur in dem Wahlspruch Lndert such. mein Freund, Ein einzig Wart, Erlaubt ist. was sich ziemt!” Goethe [!] sieht den Idealzustand mcht mehr wie zuvor in dem remen Naturleben Rousseaus, sondern in der hiichsten Form sitthcher und geistiger Kultur.‘7

Aus solchen auf- bzw. abgewerteten, verabsolutierten, nicht in ihrem dialektischen Gegeneinander ernstgenommenen und schliehlich zu Biich- manns Lesefrtichten verkommenen Zitaten wird bei Korff und anderen eine Phanomenologie der Klassik errichtet, die zirkelhaft wiederum zur Bestatigung dieser interpretatorischen Gewichtung dienen ~011. 3. Die Rede von der Parteilosigkeit Goethes, die hier den traditionellen Deutungen entgegengestellt wird, bedeutet nun freilich nicht, Goethe habe sein Stuck mit interesselosem Wohlgefallen geschrieben, und wir hatten es such so zu erfahren. Der existenzielle Bezug, den Goethe in einem spaten Gesprach mit Eckermann zum Ausdruck bringti8, kann durchaus mit der Absicht zusammengedacht werden, einen gesellschaftlichen Gesamtzu- sammenhang zu zeigen, der dem einzelnen Mitspieler nur als segmentierter Verblendungszusammenhang bewuljt ist. l 9 4. Von diesen Voraussetzungen aus kann der der Steinschen Auffiihrung zugeschriebene Ansatz, “Goethes idealistische Konflikt- und Versoh- nungskonzeption von innen her aufzubrechen”20, als nicht gegen Goethes Text, sondern gegen dessen Deutungs- und Verwertungsgeschichte (ein- schliel3lich Goethes eigener Weimarer Auffiihrung) gerichtet betrachtet werden. 5. Die der Hermeneutik seit der Romantik gelaufige Vorstellung, der Text trage ein unendliches Sinnpotential in sich, gewinnt in der Btihnenpraxis ihre besondere Bedeutung. Die Reproduktion des verstandenen Textes wird durch verbale (Sprechweise, Betonung) und nichtverbale Mittel (Aktieren, Mimik, Gestik, Biihnenbild) unterstiitzt oder gebrochen, die vom Text her (abgesehen von gelegentlichen Regieanweisungen oder kargen Angaben zum Biihnenbild) nicht vorgegeben sind. Bei der Umset- zung des Textes in Handlung wird dieser zum “Spielmaterial”, dessen Sinn durch nichtvorgegebene und nichttradierte Ausdrucksformen aufgefiillt und gegelz Deutungsmuster der Lesetradition (und eventuell der Spieltra- dition) gewendet werden kann.

Dieser Sachverhalt sol1 an einem Beispiel erlautert werden. Grundsatz- lich gilt, daIj das von Goethe vorgegebene Stilisationsprinzip, dem Sprache und Verhalten der Goetheschen Personen unterworfen ist, von den Ak- teuren als solches erkennbar gemacht und damit problematisiert werden ~011. “Durch die Sprache [ = Sprechweise der Akteure] wird Goethes Form kritisch in Inhalt gewendet.“21 Dies kann einmal dadurch geschehen, da0 “die Sentenzen mit Konversationston unterlegt. die Entpersiinlichung der Physiognomien mit psychologischer Belebung kontrapunktiert”22 wer- den; zum anderen durch das entgegengesetzte Verfahren, die Sentenz

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sentenziiis zu sprechen. Die Brechung des Stilisationsprinzips wird durch Mimik und Gestik unterstiitzt.

Ivan Nagel beschreibt dieses reflektierte Aktieren anhand des Satzes “Erlaubt ist, was sich ziemt.” Eine affirmative Rezeption dieses Satzes durch den Zuschauer wird durch verbale und nichtverbale Mittel vermieden:

Das beriihmte Zitat kommt (damit es keines ist) aus &em klemen, zu zierlich geratenen Gestcht. dessen bletchgeschmmkter Teint mit dtinnen schwarzen Korkenzteherlocken des Friihbiedermeters verhangt ist. Es ertont, vom empfindsamen Singsang eines glockenhellen Stimmchens getragen. als altkluge Belehrung an den Drchter Tasso, urn mit angestrengt hoher Getsttgkeit dessen nur allzu natiirhche Triebe abzuwehren: Dre Geistigkeit der Prinzessin ist Selbstvertetdigung einer von Krankheit geschwichten, an Verztcht gewohnten Seele. [. .] Dtese Sentenz wird von Jutta Lampe mit besonderer Hervorhebung ihrer Sentenz- form gesprochen-das heil3t lehrhaft. fast mtt erhobenem Zetgefinger.23

Die Funktion dieser Aktierweise beschreibt Nagel dann wie folgt: Der Satz

IaRt zunachst (auf der Ebene des Prtvaten) durchschauen, wozu dre Prinzessin ihre vielge- rtihmte Gelehrsamkeit braucht: als Verteidtgung gegen das Leben, dem sie nicht gewachsen 1st. Es entlarvt aber such (auf der Ebene des Allgememen). wozu die Sentenzensprache des ganzen StdckesJener erlesenen Gruppe von Herrschenden dtent, dte sich ihrer bedienen: zur ostentativ gewaltlosen Bezlhmung, Unterschlagung und Verbannung all dessen, was such ihrer Herrschaft nicht fiigt. Die fiinf Figuren werden aus dteser mhalthch-funkttonellen Deutung (und Krttik) ihrer Sprache charakterisiert.“’

Die reflektierte Spielweise, die gleichsam standig auf mehreren einander relativierenden Ebenen angesiedelt ist, ist das bestimmende Moment dieser Auffiihrung. 2 5 Demgegeniiber treten Textveranderungen (Collagen aus Textmaterial), Streichungen und dergleichen als herkommliche Techniken zuriick.26 Das Biihnenbild wird der Textvorlage gegeniiber frei gestaltet. Stein versetzt es an den Hof von Weimar, “wodurch die Diskrepanz zwischen der ruckwartsgewandten Klassik und dem 1800 moglichen Be- wurjtseinsstand scharfstens hervortritt.“‘7 Es visualisiert das “abgeglaste, weich ausgeschlagene Arkadien” mit Plexiglaswanden und giftgriinem Nylonpliischteppich.28 Auch hier ist das Prinzip das der reflektierenden Brechung; es unterstiitzt die Intentionen der Spielweise.

Unter den Kritikern der Bremer Auffiihrung hat sich vor allem Ivan Nagel urn eine kritische Reflexion auf das Biihnengeschehen bemiiht. Er kommt zu der Schlugfolgerung:

Dte Frage. weshalb man Klasstker heute spielt, wandelt such m die dringlichere. wie man sie spielen ~011. Die Antwort he&: ausJener grdBten Dtstanz zu threr Geschrchtlichkeit. die fur den Durchbruch zu ihrer Substanz die griil3te Anstrengung erf0rdert.l”

Die Klassikerauffiihrungen der letzten Jahre, etwa Peymanns “Tasso” und “Hermannschlacht” und die auljerhalb der DDR zu Unrecht wenig beachtete “Faust”-Auffiihrung von Christoph Schroth (Mecklenburgi- sches Staatstheater, Schwerin), sind aufdiesem Wege weitergegangen. Mir scheint, da8 Nagels Forderung such einen Hinweis fur unser Leseverhal- ten und dessen Einubung im Schul- und Hochschulunterricht enthllt. Es

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miigte miiglich sein, Klassikerlektiire such anders als museal zu gestalten, sie in den Lebenszusammenhang der Rezipienten zu stellen und in dem Sich-Abarbeiten an Traditionen der eigenen Geschichtlichkeit inne zu werden. Die Forderung Nagels: “Nur der Wille zur kritischen Bedeutung wird fahig sein, die Materialien der Kunst zur hiichsten, geschlossensten Aussagekraft zu organisieren -fiir dumme Kunst ist kein Platz mehY30 miil3te ihre Entsprechung in dem Satz finden: Fur dummes Lesen ist kein Platz mehr.

III Ich miichte in einem dritten Schritt der theoretischen Fundierung dieses

Satzes nlherkommen. Ausgangspunkt ist Nagels Formulierung, mit der er die Steinsche Auffiihrung kennzeichnet: “Die beinahe unmijgliche Ba- lance von Hermeneutik und Radikalitat”31. Es ware zu untersuchen, ob die moderne Hermeneutik ein Model1 bereitstellt, an dem ein Verfahren wie das Steinsche zu messen und zu priifen ist; ob die von Nagel suggerierte Dichotomie zwischen Hermeneutik und Radikalitlt wirklich besteht, oder ob nicht ein Radikalitltspotential bereits in einen modernen Hermeneu- tikbegriff eingebaut ist.

In der modernen hermeneutischen Diskussion, die - selbstverstandlich auBergermanistisch- zwischen Gadamer und Habermas gefiihrt worden ist, erscheint eine naive und unreflektierte Unterwerfungshermeneutik im Staigerschen Sinn als iiberholt. Gadamers 1960 zuerst erschienenes Stan- dardwerk “Wahrheit und Methode” widerlegt den naiven Objektivitlts- anspruch der Geisteswissenschaften 32 durch ein Verstehensmodell, das die von Staiger implizierte “Selbstausloschung” des Interpreten durch die “Geschichtlichkeit des Verstehens” ersetzt34. Text und Leser bilden nach Gadamer ein Kommunikationssystem35, in dem die “Vorurteile” des Interpreten36, die “Applikation” des Textes auf die konkrete historische Situation des Lesers37 und die “Aktualisierung im Verstehen”38 legitime Funktionsbedingungen sind. Das Zusammenwirken der Vorurteile des Interpreten und des im Text sedimentierten BewuBtseinsstandes im “Ver- stehen” fal3t Gadamer unter dem Bild der “Verschmelzung solcher ver- meintlich fur sich seiender Horizonte”39. In diesem Model1 hat such die Wirkungsgeschichte eines Werkes als vermittelnde Instanz ihren Ort. Der “empfindliche Kreislauf zwischen Spiel, Kritik und Parodie” (Ivan Nagel) scheint von Gadamer auf der hermeneutischen Ebene getroffen, wenn er ausfiihrt:

Nicht nur gelegentlich, sondern lmmer iibertrifft der Sinn eine Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives. sondern stets such ein produktives Verhalten. [. .] Es geniigt zu sagen, da13 man anders versteht, wenn man iiberhaupt versteht.40

Die Legitimierung des lesenden Subjekts bleibt allerdings in Gadamers Ausfiihrungen nur ein dialektisches Moment, denn seine Rehabilitierung von Autoritlt und Tradition hat zur Folge, da13 ‘das Verstehen [. . .] . selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektwltat zu denken [ist],

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sondern als Einriicken in ein oberlieferungsgeschehen, in dem sich Vergan- genheit und Gegenwart bestlndig vermitteln.“41 Autoritat und Tradition hat fur Gadamer vor allem “das Klassische”. Der Begriff wird am klassi- schen Altertum gewonnen, nicht aber auf dieses beschrankt. Das berech- tigt dazu, ihn such in unserem Kontext heranzuziehen.

Klasstsch tst, was der historischen Kritik gegeniiber standhalt, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich iiberliefernden und bewahrenden Geltung, aller htstortschen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhalt.42

Was klassisch 1st. das 1st herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks.43

Mit diesen Ausfiihrungen droht Gadamer allerdings, nach dem Durch- gang durch die hermeneutische Reflexion und dem Gewinn der histori- schen Dimension, auf den normativen Klassikbegriff Staigers zuriickzu- fallen. Die Applikation des Klassischen ist gleichsam vom objektiven Geist schon geleistet und kann nur noch als Einsicht in die Notwendigkeit vom modernen Interpreten nachvollzogen werden.44 Eine kritische Auseinan- dersetzung mit der deutschen Klassik, wie sie in Literaturwissenschaft und Theater seit den sechziger Jahren im Gange ist, wird von Gadamers Hermeneutik weder legitimiert noch theoretisch begriindet. Bei Gadamer bleibt ungekllrt, was geschieht, wenn verschiedene klassische Traditionen aufeinanderstorjen (Goethe-Marx/Freud), und wie das Prinzip einer Wirkungsgeschichte, die die Reihe der moglichen Sinnhorizonte prinzi- pie11 offenhllt, mit einem normativen und enthistorisierten Klassikver- stdndnis zu vereinbaren ist.

In den methodologischen und kommunikationstheoretischen Arbeiten des Hauptvertreters der heutigen Frankfurter Schule, Jiirgen Habermas, hat das von Gadamer angebotene hermeneutische Model1 einen betrlchtli- then Stellenwert. Habermas spricht von “Gadamers groBartige[r] Kritik an dem objektivistiscnen Selbstverstandnis der Geisteswissenschaften”4s und entwickelt u.a. an dessen hermeneutischen Model1 seine Theorie des kommunikativen Handelns.45” Umgekehrt kann somit Interpretation als Modus kommunikativen Handelns betrachtet werden.

Habermas unterzieht allerdings Gadamer in fur unseren Argumenta- tionszusammenhang entscheidenden Punkten einer grundsltzlichen Kri- tik. Sie geht von zwei Pramissen aus, die von Gadamer nicht konsequent durchgefiihrt sind: 1. Die “performative Einstellung” des Interpreten, die von einer “objekti- vierenden Einstellung” zu unterscheiden ist,46 wird, zusammen mit dem “im kommunikativen Handeln selbst angelegten Potential der Kritik”47 unter allen Umstlnden, such gegen Tradition und Autoritat durchgehalten. 2. Kulturelle Phanomene werden als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhanges begriffen (bei Gadamer: Ansatz im Begriff der “Applikation”):

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Sprache 1st such ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht. Sie dient der Legitimation von Beztehungen organisierter Gewalt. Soweit dte Legttrmatronen das Gewdltverhaltms. dessen Institutionalisierung sie ermiighchen, nicht aussprechen, sowett dieses in den Legiti- matronen sich nur ausdriickt, ist Sprache such ideologisch. Daber handelt es sich nicht urn Tauschungen in einer Sprache, so&tern urn Tauschung mit Sprache als solcher. Dte herme- neutische Erfahrung, die auf eine solche Abhangigkeit des symbolischen Zusammenhangs von fakttschen Verhlltnissen st%t, geht in Ideologtekritik tiber.48

3. Eine dritte Pramisse ist von Gadamer nicht vorgegeben, wird aber von Habermas eingefiihrt und steht im Zusammenhang mit der zweiten: die materialistische Fundierung von Uberbauphanomenen. Dazu heirjt es bei Habermas:

Eme Verinderung der Produktlonsweise zieht die Umstrukturierung des sprachlichen Welt- bildes nach sich. [. .] GewiB sind Umwalzungen in den Reproduktionsbedingungen des materrellen Lebens ihrerseits sprachhch vermittelt; aber eme neue Praxis wird mcht nur durch eme neue Interpretanon in Gang gebracht, sondern alte Muster der Interpretation werden such ‘von unten’ durch eine neue Praxis angegriffen und umgewalzt.@

Aus diesen Pramissen ergeben sich gegen Gadamer zwei SchluI3folge- rungen, die fur die hermeneutische Praxis von entscheidender Bedeutung sind, und die zueinander in einem komplementaren Verhaltnis stehen: 1. Habermas insistiert auf dem Primat der Reflexion, die sowohl den “Anspruch von Traditionen such abweisen”50 als such die “Dogmatik der Lebenspraxis erschiittern”5 l kiinne. “Autoritat und Erkenntnis konver- gieren nicht”. 5 2 Die von Gadamer behauptete “Identitizierung von Ver- standnis und Einverstandnis” wird von Habermas zuriickgewiesens3 2. Fur die Tradition gilt: “Das Uberlieferte muCj such revidiert werden k6nnen.“54 ” Jede Tradition mul3 weitmaschig genug gewebt sein, urn Applikation, d.h. eine kluge Umsetzung mit Riicksicht auf veranderte Situationen, zu gestatten.“55

Zum SchluB mochte ich in einigen Thesen zusammenfassen, was meiner Meinung nach das Habermassche Model1 fur eine moderne hermeneuti- sche Praxis leisten kann:

1. Das Theorem von der “performativen Einstellung” des Interpreten ermoglicht einen nicht musealen, auf die eigene Lebenspraxis bezogenen Umgang mit der kulturellen Tradition, in dem jener, in kritischer Ausei- nandersetzung mit ihr, und such gegen ihren Anspruch, seine Identitat gewinnen kann.

2. Auf der Biihne wird die performative Einstellung dem Wortsinn nach moglich; der Interpret kann ohne”Abzugder Aktoreigenschaften”56 in standig gebrochenem Zusammenspiel von verbalen und nicht-verbalen Expressionen simultan verschiedene Bewubtseinsebenen simulieren und somit die eigene Reflexion und die des Publikums mobilisieren.

3. Die Einsicht in den (such) ideologischen Charakter von Sprache macht es notig, das Dichterwort auf seine Funktion im asthetischen und gesellschaftlichen Kontext zu befragen. Affirmative. auf textimmanente Eindeutigkeit abzielende Interpretationen (Korff) geniigen dieser Forde- rung nicht.

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Eine letzte These gilt der Frage, was der Ansatz von Habermas nicht leistet: Eine befriedigende Antwort auf die eingangs von Stein/Karsunke gestellte Frage nach dem “Sinn unserer Arbeit auf der Biihne”. Zwar argwohnt Gadamer von einem konservativen Standpunkt aus zu Recht die politische Dimension der Habermasschen Kritik an “Wahrheit und Methode”:

Es scheint sich die unausbleibliche Konsequenz zu ergeben, dalj dem prmztpiell emanzipato- rischen Bewugtsein die Aufliisung alles Herrschaftszwanges vorschweben mug -und das hieBe, dal3 dte anarchistische Utopte ihr letztes Lettbtld sein muB. -Dies freilich schemt mu ein hermeneutisch falsches Bewu13tsein.57

Doch verbleibt diese Kontroverse letztlich genauso im ijberbau wie Steins Produktion “im Goetheschen Kunstrahmen”. Die von Habermas behaup- tete Erschiitterung der Dogmatik der Lebenspraxis tindet ihre Grenze an den Zwangen des gesellschaftlichen Gesamtsystems. Inwieweit “Praxis” und “Interpretation” ~ im weiteren Sinn: Gesellschaft und Kunst - einan- der tangieren, bleibt such bei Habermas (wie in der gesamten Frankfurter Schule) ungeklart. Fallen die dialektischen Momente des “sich Ziemens” und des “Gefallens” doch in der Praxis auseinander? Die Resignation der achtziger Jahre scheint die ohnmachtige Wut der sechziger Jahre zu bestatigen.

Universitd Amsterdam KLAUS F. GILLE

Anmerkungen

Zu den Quellen dteses Aufsatzes gehiirt such eine Fernsehaufzetchnung der Stemschen Auffiihrung, dte vom Bayrischen Rundfunk hergestellt wurde. Sie stand mir durch die freundhche Vermittlung der Goethe-Institute von Amsterdam und Miinchen zur Verfiigung.

Dte folgenden, hautig angefiihrten Titel werden abgekiirzt zittert: Gadamer Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tti-

bmgen 1975’. Grawe Erlauterungen und Dokumente. Johann Wolfpang.

Goethe: Tgrquato Tasso. hg. von Chrtsttan C&we, Stuttgart 1981 (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. x154:

Hahermas Logik Jurgen Habermas: Zur Logtk der Soztalwtssenschaf- ten, Frankfurt a.M. 1982 (= 5. erweiterte Aufl.).

Hahermas Theorle Jiirgen Habermas Theorie des kommunikattven Han- delns, 2 Bde, Frankfurt a.M. l982*

Hernleneutrk und Ideolopekrmk Theorte Dtskussion. Hermeneutik und Ideologtekri- ttk, Mit Beitr. v. Karl-Otto Apel “a., Frankfurt a.M. 1971 “.d.

ThH (S) 1969 Theater 1969 ( = Theater heute. Sonderheft); darin die folgenden Beitrige: Joachtm Kaiser. Stem vergniigt sich an fiinf diim- meren Menschen; Hellmuth Karasek. Uber Tasso darf gelacht werden; Stegfried Melchinpr Stem produziert Stems “Tasso”; Ivan Nag& Epitaph und Apologie auf Stems “Tasso”.

1. &awe. S. 222; vgl. dte thematisch verwandten Aussagen von Stein und Karsunke Ibid., S. 158ff. (=ThH (S) 1969, S.2)

2. H. A. Korff: Getst der Goethezeit, Bd. II, Letpztg 1964’. S. l72f. (=Grawe, S 208f.).

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3. &awe, S. 201; vgl. such ibtd. S. 198 (Riitscher 1846). Eine Ubersicht iiber die Deutung des Schlusses bei Grawe. S. 236ff.

4. Stein/Karsunke in ThH (S) 1969, S. 21 (=Grawe, S. 158). 5. Vgl. Grawe, S. 183f. 6. Stein/Karsunke in ThH (S) 1969, S. 20 (=Grawe, S. 160). 7. Emil Staiger: Goethe, Bd. I, Zurich 1952, S. 1 If. 8. Ibid., S. 7. 9. Grawe, S. 81ff. 10. Kaiser in ThH (S) 1969, S. 22 (=Grawe, S. 167). 11. Grawe, S. 106ff. (Zitat: S. 113f.). 12. Karasek in ThH (S) 1969, S.23. 13. Melchinger in ThH (S), S. 25. 14. Ibid. 15. Nagel in ThH (S) 1969, S. 27. 16. Ibid. 17. Korff (=Anm. 2) S. 169. Vgl. such die Ausftihrungen zu “Nach Freiheit strebt der

Mann, das Weib nach Sitte”, ibid., S. 171. 18. Goethes Gesprache mit Eckermann, 6.5. 1827 (=Grawe, S. 102). 19. Vgl. hierzu die Interpretation von Melchinger in ThH (S) 1969, S. 26 (“Goethe entlarvt

eine Scheinwelt, hinter der sich Tvrannei und Terror verbergen”). 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.

Ivan Nagel (=Grawe, S. 180). Der entsprechende Ab;schnitt fehlt in ThH (S) 1969. Nagel in ThH (S), 1969, S. 29. Ibid., S. 30. Ibid., S. 29. Ibid., S. 29. Vgl. hierzu besonders ibid., S. 30. Vgl. hierzu besonders Melchinger in ThH (S) 1969, S. 25ff. Nagel in ThH (S) 1969, S. 30. Karasek in ThH (S) 1969, S. 23; Nagel, ibid., S. 30 (dort such eine Abbildung des

Biihnenbildes). Wlhrend Stein das Biihnenbild noch (phasenverschoben) im Bereich des Historischen belagt, wird es von Peymann in die Gegenwart geriickt (vgl. Grawe, S. 183f.).

29. Nagel in ThH (S) 1969, S. 31. 30. Ibid., S. 28. 31. Ibid., S.28. 32. Gadamer, S. 283f. 33. Ibid., S. 253. 34. Ibid., S. 250. 35. Gadamer spricht von einem “Wechselverhaltnis von der Art eines Gesprliches”

(S. 359). 36. Ibid., S. 25Off. 37. Ibid., S. 29Off., 307ff. 38. Ibid., S. 355. 39. Ibid., S. 289. 40. Ibid., S. 280. 41. Ibid., S. 274f. 42. Ibid., S. 271. 43. Ibid., S. 272. 44. Vgl. hierzu such H.-G. Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in:

Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 73f. 45. Habermas Logik, S. 284. 45a. Im Ansatz schon in Habermas Logik, S. 298; weiter in Habermas Theorie, Bd. I, Kap.

I,4 (Die Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften; zu Gadamer besonders S. 188ff.).

46. Habermas entwickelt den Begriff der “performativen Einstellung” unter Berufung auf H. Skjervheim (Objectivism and the Study of Man, Oslo 1959) wie folat: “Die Analvse der ‘Wahrnehmung’ symbolischer AuDerungen macht klar: worin sich das Smnverstehen ;on der Wahrnehmung physikalischer Gegenstande unterscheidet: es erfordert die Aufnahme einer intersubjektiven Beziehunn mit dem Subiekt, das die .&&xunn hervoruebracht hat. 1. .l Das Versfeh& einer symbol&hen Aul3erung erfordert grundsltilich dieTeilnahme an e&em Prozel3 der Verstiindigung. Bedeutungen, ob sie nun in Handlungen, Institutionen, Arbeits- produkten, Worten, Kooperationszusammenhangen oder Dokumenten verkijrpert sind,

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konnen nur von innen erschlossen werden. Die symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit bildet ein Universum, das gegeniiber den Blicken eines kommunikationsunfahigen Beobach- ters hermetisch verschlossen, eben unverstlndhch bleiben miil3te. Die Lebenswelt offnet sich nur einem Subjekt, das von seiner Sprach- und Handlungskompetenz Gebrauch macht.” (Habermas Theorie. Bd. I. S. 164f.) Fiir den Textinternreten eilt: “Der Internret ist aehalten. die performative Einstellung, die’er als kommunikativ Hindelnder einnimmt, &ch und gerade dann beizubehalten, wenn er nach den Priisuppositionen fragt, unter denen ein unverstlndlicher Text steht.” (Ibid., S. 191; vgl. S. 194).

47. Habermas Theorie. Bd. I. S. 176. 48. Habermas Logik, S. 307f: Vgl. ferner J. Habermas: Der Universalitltsanspruch der

Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 152ff. 49. Habermas Logik, S. 308. 50. Ibid., S. 305. Vgl. such Gadamers Replik (Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekri-

tik) in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 68. 51. Habermas Loeik. S. 303. 52. Ibid., S. 305. y 53. Habermas Theorie, Bd. I, S. 195. Die hermeneutische Praxis wird in diesem Zusam-

menhang kommunikationstheoretisch gegen Gadamer begriindet: “Wenn wir in der perfor- mativen Einstellung virtueller Gesprlchsteilnehmer davon ausgehen. da13 die Augerung eines Autors die Vermutung der Verniinftigkeit fur sich hat, rlumen wir ja nicht nur die Miiglich- keit em, dal3 das Interpretandumfir uns vorbildlich ist, dal3 wir aus ihm etwas lernen kiinnen; vielmehr rechnen wir such mit der Moglichkeit, dag der Autor van uns lernen kiinne.” (Ibid., s. 193).

54,‘Habermas Logik, S. 298. 5.5. Ibid., S. 303. Hiergegen Gadamers These von der ‘freien’ Anerkennung der Autoritlt,

in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 73f. 56. Habermas Theorie. Bd. I, S. 167. 57. H.-G. Gadamer: Rhetorik. Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Hermeneutik und

Ideologiekritik, S. 82.