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Felix Wolf Der magie des lebens folgensehr anspruchsvolle Form des Schamanismus oder der Zauberei, die sich nur wenig mit den übernatürlichen Kräften beschäftigte, sondern sich

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Der magie des lebens folgen

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frances Hoffmann

Felix Wolf

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Für den NAGUAL, einen großartigen

Lehrer und Führer. Sein makelloser Geist

hielt mir die Tür offen;

und für CARMELA, meine leuchtende

Reisegefährtin auf dem Weg der Navigation.

Sie ist eine Quelle ewigen Glücks für mich

und die stille Kraft hinter jeder Seite.

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Einleitung 9

Teil I anfänge 15

Eine kognitive Dissonanz 16

Das verlorene Paradies 51

Eine andere Wirklichkeit 63

Sich der entgegenkommenden Zeit zuwenden 82

Ein Tanz mit der Vergänglichkeit 92

Ein Ort der Kraft 120

Teil II Probleme und sorgen 133

Der schwierige Teil 134

Auf der Jagd nach dem SPIRIT 150

Adler und Schlange 159

Ein frischer Wind 175

Die Macht der Stille 189

Wachend träumen 201

Die Welt des Nagual 227

Teil III eine neue ära 257

Das Ende aller Gewissheit 258

Die ABSICHT der schwellenden Flut 272

Zen trifft Leidenschaft 287

Unendlichkeit und der Weg des Herzens 306

Das Wagnis der Hingabe 328

Hinein in die blaue Unendlichkeit 353

Epilog 378

Über den Autor 382

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Einleitung

Die bewusste ABSICHT1 dieses Buches liegt darin, dem Leser Schritt für Schritt die Schönheit, die Magie und die Einfachheit der Navigation

näherzubringen. Durch das Leben zu navigieren erfordert eine vollkommen andere Beziehung zur Welt, als wir sie gewohnt sind. Dies kann ich am besten am Beispiel der folgenden zwei Frage-stellungen veranschaulichen.Wir können fragen: „Was will ich mit meinem Leben anfangen und wie kann ich so viel wie möglich aus ihm herausholen?“ Oder aber: „Was will das Leben von mir und wie kann ich es heraus-fi nden?“ In der Antwort auf letztere Frage liegt die Kunst der Navigation verborgen.

Um herauszufi nden, was wir mit unserem Leben anfangen wollen und wie wir so viel wie möglich aus ihm herausholen kön-nen, benutzen wir logisches Denken, wir analysieren, spekulieren und gehen strategisch vor.

Um dagegen zu erfahren, was das Leben von uns will, müssen wir empfänglich bleiben, durchlässig, hellwach, aufmerksam und präsent.

Die beiden Fragestellungen und die aus ihnen resultierenden Lebensanschauungen unterscheiden sich grundlegend voneinan-der. Ich habe allerdings herausgefunden, dass wir das meiste aus dem Leben herausholen, wenn wir uns eben jene zweite Frage stellen und uns von ihr führen lassen – wir holen dann so viel heraus, dass wir mit dem Leben vollkommen eins werden.

1 Begriffe, die sich im Buch auf die Lehre Carlos Castanedas beziehen, sind einmalig bzw. nach Notwendigkeit in Kapitälchen gesetzt und werden im fortlaufenden Text erklärt. Den Begriffen „Absicht“ und „Spirit“ kommt hier zentrale Bedeutung zu.

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Auf einer ganz pragmatischen Ebene hat das Navigieren viel mit einer Schatzsuche gemein – einer alles umfassenden, viel-schichtigen, berauschenden und ganz realen Schatzsuche.

Ich erhielt meine Initiation in die Kunst des Navigierens von Carlos Castaneda, einem bekannten Autor, Anthropologen und Schamanen, mit dem ich bis zu seinem Tod im Jahr 1998 viele Jahre lang in Kontakt stand und bei dem ich unter anderem auch eine dreijährige Lehrzeit absolvierte. Castaneda praktizierte eine sehr anspruchsvolle Form des Schamanismus oder der Zauberei, die sich nur wenig mit den übernatürlichen Kräften beschäftigte, sondern sich vielmehr auf die Komplexität der Wahrnehmung und auf die Meisterung von Bewusstheit konzentrierte. Das eigentliche Ziel seines schamanischen Strebens bestand darin, einen Zustand zu erlangen, den er als VOLLKOMMENE FREIHEIT bezeichnete.

Eine zentrale Bedeutung nimmt in Castanedas Weltanschau-ung der Begriff der ABSICHT ein: eine bewusste, schöpferische Intelligenz, die gleichzeitig persönlich und universell ist. Castaneda glaubte, dass der Weg zur vollkommenen Freiheit eines jeden Ein-zelnen über seine Verbindung zur universellen ABSICHT führe. Je klarer diese Verbindung sei und je stärker die individuelle und die universelle ABSICHT sich in Übereinstimmung befänden, desto größer sei auch das Maß an Freiheit. In seinem Buch „Die Kraft der Stille“ erklärt Castaneda, dass jede von Zauberern aus-geführte Handlung entweder dazu diene, deren Verbindung mit der ABSICHT zu stärken, oder aber auf etwas antworte, was von dieser ABSICHT selbst ausgelöst wurde. Zauberer müssten daher aktiv und ununterbrochen Ausschau halten nach Manifestationen des SPIRIT. Solche Manifestationen bezeichne man als GESTEN

DES SPIRIT oder, einfacher, als Zeichen oder Omen.Von dem Augenblick an, da ich mit Castanedas Welt in

Berührung kam, war ich fasziniert von dieser interaktiven Art zu leben; die Entwicklung der Fähigkeit, „meine Verbindung zur ABSICHT zu bestäuben“, wie er es ausdrückte, wurde zu einem

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der wichtigsten Dinge in meinem Leben. Nach vielen Jahren der Übung und vor allem während meiner persönlichen Begegnungen mit Castaneda konnte ich schließlich beobachten, auf welch magische und kraftvolle Weise sich das Leben entfaltet, wenn es Informationen erhält durch eine funktionierende Verbindung mit der ABSICHT. Die Technik, die wir brauchen, um diese Ver-bindung zu reinigen und zu stärken und um die Manifestationen des SPIRIT wahrzunehmen und nach ihnen zu handeln, habe ich als die KUNST DER NAVIGATION kennengelernt.

Der Impuls, dieses Buch zu schreiben, erwuchs aus der Arbeit mit verhaltensauffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Meine Frau Carmela und ich leiteten von 2003 bis 2007 an einer speziellen Internatsschule ein innovatives Therapieprogramm, das auf der Chinesischen Medizin beruht. In mehr als tausend Gruppen- und achttausend Einzelsitzungen behandelten wir die jungen Menschen mit Akupunktur und Kräutermedizin und lehrten sie Yoga, Qigong und Lebenskompetenz.

Wir fühlten uns von unseren jungen Klienten zutiefst respek-tiert und wollten auf deren Leben auf die beste nur mögliche Weise einwirken. Also sprachen wir mit ihnen über die Erfah-rungen, die wir im Leben gemacht hatten, vor allem aber darüber, wie man es anstellen musste, Glück und Frieden zu erfahren statt Leiden und Probleme. Anfänglich ergaben sich derlei Gespräche nur gelegentlich oder bei der Beantwortung von Fragen, die uns gestellt wurden. Doch über die Jahre wurde dieser Teil unserer Sitzungen zum Kernelement unserer Arbeit, das durch all die anderen Techniken unterstützt wurde.

Wir sahen so viel emotionales Leid, so viel Zorn, Frustration, Depressionen und Verwirrung, dass es uns schließlich nicht mehr einfach nur darum ging, Symptome zu lindern. Wir wollten an die Wurzel all dieses Leides gelangen. Von all den Lebenskom-petenzen, die wir diskutierten, weckte die Wiedereinführung der Magie in unser Leben durch die Kunst der Navigation stets das größte Interesse und die Neugier unserer Schüler. Als dies

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deutlich wurde, gelang es uns endlich, das eigentliche Dilemma zu erkennen.

In der Zeit zwischen ihrem vierzehnten und vierundzwan-zigsten Lebensjahr, in der unsere Schüler zu jungen Erwachsenen heranwuchsen, mussten sie lernen, das Leben auf eine vollkom-men neue Weise zu betrachten. Diese neue Sichtweise brachte nicht nur neue und zusätzliche Elemente in ihr Leben, sondern sie nahm ihnen auch etwas weg, von dem sie nicht einmal wuss-ten, dass sie es besaßen, bis die kalte Wirklichkeit des Verlustes sie einholte.

Während unserer Kindheit leben wir in einer ziemlich magischen Dimension. Existenzielle Belange interessieren uns wenig, und wir sind uns diesbezüglicher Fragen kaum bewusst. Das Leben gestaltet sich viel direkter und unmittelbarer. Die Waagschalen der Präsenz im Hier und Jetzt und des Herausge-rissenwerdens aus dem Moment durch die Welt der Erwachsenen neigen sich noch zu unseren Gunsten. Wir verschwenden kaum einen Gedanken daran, was wir mit unserem Leben anfangen wollen. Das Leben scheint sich ganz von allein zu leben.

Doch indem wir uns zunehmend an der Welt der Erwachsenen orientieren, verlieren wir diese magische Verbindung zum Leben. Unsere erwachende Sexualität führt zu verstärkter Selbstbeob-achtung und selbstdefi nierenden Impulsen. Allmählich lenken Selbsterkenntnis, Selbstrefl exion und Selbstbewusstsein sowie die Konditionierung durch unser soziales Umfeld unsere Auf-merksamkeit nach innen und trennen uns damit vom lebendigen Zusammenspiel der Welt. Anstatt das Leben jeden Augenblick in seiner Gesamtheit zu erfassen, versuchen wir nun, etwas damit anzufangen oder etwas aus ihm herauszuholen, als wäre es ein defi nierbarer Gegenstand.

In gleichem Maße, wie uns unsere Hormone aus unserer Kindheit herauskatapultieren, werden wir auch um die Magie und die Verbundenheit betrogen, die wir doch über so lange Zeit für ganz selbstverständlich gehalten haben. Infolgedessen sind

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viele junge Menschen während dieses Übergangs frustriert und verwirrt – ein Seelenzustand, der uns leider nur allzu oft in unter-schiedlichem Maße durch unser ganzes Leben begleitet.

Durch unsere Arbeit wurde uns allmählich bewusst, dass ein Großteil des Zorns und des selbstzerstörerischen Verhaltens unserer Schüler auf das Empfi nden dieses Verlustes zurückzu-führen war. Aus der Unmittelbarkeit des Lebens herausgerissen zu werden hinterließ eine stetig wachsende Leere in ihnen, die sie verzweifelt mit Intensität zu füllen suchten, durch Drogen, Selbstverstümmelung oder durch extremes Verhalten.

Es wurde zu unserem Hauptanliegen, unseren jungen Klien-ten einen alternativen Weg zu bieten, der wieder eine magische Dimension beinhaltete und sie erneut mit ihrer Umgebung und dem Leben in seiner Gesamtheit in Verbindung brachte. Wegen ihres großen Interesses und auf ihr inständiges Bitten hin erzähl-ten wir ihnen immer mehr darüber, was wir über die Kunst der Navigation wussten. Während wir unsere Schüler mit einigen unserer eigenen Navigationsgeschichten unterhielten, begannen wir zugleich, diejenigen Fähigkeiten und Verhaltensanpassungen herauszufi ltern, die nötig sind, um die Navigation guten Gewis-sens als Lebensweg nutzen zu können. Fast alle von uns haben schon einmal Synchronizitäten und Gipfelerlebnisse erfahren, Zeiten, in denen wir uns im Flow, im Einklang mit allem, bewe-gen oder uns zur richtigen Zeit am richtigen Platz fühlen. All dieses fi nden wir in der Kunst der Navigation. Doch für gewöhn-lich tauchen diese Erfahrungen für uns zu willkürlich, zu verein-zelt auf, als dass sie als Basis für unser Leben dienen könnten.

Wenn wir aber navigieren und unser Leben in eine magische Schatzsuche verwandeln wollen, wenn wir uns danach sehnen, uns in Harmonie mit der Musik des Universums zu bewegen und uns im Tanz des Lebens zu verlieren, müssen wir gewisse Fähigkeiten erlangen und einige unserer Einstellungen ändern. Die meisten dieser Fähigkeiten beziehen sich darauf, unseren Grad an Bewusstheit zu steigern. Carmela und ich haben alles,

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was wir darüber wissen, in einer Unterlage für unsere Schüler zusammengetragen. Daraus entsprang die Idee zu diesem Buch, und das Buch nahm die Form einer Geschichte an.

Diese Geschichte erzählt wahrheitsgemäß, wie das Leben sich die Mühe machte, einen maßlosen und zynischen jungen Mann das Tanzen zu lehren; wie es auf die Kräfte eines wahren Zau-berers zurückgreifen musste, um in den Kopf des tauben jungen Mannes zu gelangen, damit der die Musik zu hören vermochte. Und sie erzählt von dem schmerzhaft langsamen Prozess, den es brauchte, um ebendiesen maßlosen und zynischen jungen Mann dazu zu bringen, sich mit einer gewissen Beständigkeit zur Musik zu bewegen.

Doch sie erzählt auch von der Freude des Tanzens, von der Verzückung der Hingabe, vom Wagnis der Kapitulation und von der unglaublichen Leichtigkeit des Seins.

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Teil I

anfänge

… doch nun, da ich von jenem großen Meer gesprochen,regt sich der Ozean der Sehnsucht in mir.Der segensreiche innere Stern der Navigationzieht über den dunklen Himmel über mir, und ich bin bereit, den Strom zu verlassen, dem jungen Lachse gleich, gesegnet mit dem Hunger nach einer großen Reise auf der schwellenden Flut.

DAVID WHYTE

Song for the Salmon

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Eine kognitive Dissonanz

Es war kurz vor sieben an einem Donnerstag abend im Juli 1998, als ich den Freeway verließ und auf den Venice Boulevard in Los Angeles abbog.

„Großartig, ich werde pünktlich sein!“, dachte ich und lächelte.Ich war in die Stadt gekommen, um mich mit meinem Freund David zu treffen, ebenfalls Schüler von Carlos Castaneda. Ich war neugierig, wie er sich wohl in meinem alten Appartement einge-richtet haben würde, das er vor drei Monaten von mir übernom-men hatte. Für mich war es ein äußerst magischer Ort gewesen – und das war es noch immer, wie ich bald erfahren sollte.

Das Gebäude am Ende der Bagley Avenue, das sich zwi-schen den Venice Boulevard und den Santa Monica Freeway drängte, hob sich deutlich von der ansonsten unscheinbaren Umgebung ab. Es strahlte trotz seiner unmittelbaren Nähe zur riesigen Verkehrsader mit ihrem endlosen Strom von Fahrzeu-gen eine gewisse Leichtigkeit und Fröhlichkeit aus. Das Appar-tement selbst hatte mich ein paar Jahre zuvor während einer Wohnungssuche mit überraschender Kraft zu sich gezogen, als ich von Tucson nach Los Angeles ziehen wollte, um näher beim NAGUAL zu sein.

NAGUAL [nah’wal] war unsere Bezeichnung für Carlos Castaneda, den sagenhaften Anthropologen, Autor und Scha-manen, der achtzehn Jahre lang die wichtigste, richtungsweisende Kraft in meinem Leben war. Auf einer rein praktischen Ebene traten der Nagual und Carlos Castaneda jedoch als zwei unter-schiedliche Wesenheiten auf. Meine Begegnungen fanden vor-wiegend mit dem Nagual statt. Er war ein unpersönlicher und rätselhafter Lehrer und Führer, der mein Leben in eine atembe-raubende Reise der Bewusstheit verwandelte. Carlos Castaneda

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war sein Alter Ego, die Manifestation seiner Persönlichkeit, der Anthropologe und Autor, dem ich allerdings nur selten begeg-nete.

Vor meinem Umzug war ich den Großteil des Jahres jedes Wochenende von Tucson nach Los Angeles gefl ogen, um an den Treffen mit dem Nagual teilzunehmen. Doch mit jedem Treffen fühlte ich mich stärker ganz dorthin gezogen, und schließlich musste ich einfach den Wohnort wechseln. Auf die Wohnungs-suche hatte ich mich schon sehr gefreut. Es gehörte schon immer zu meinen großen Leidenschaften, Orte auszukundschaften, mit Instinkt und Intuition zu spielen und durch die Energien einer neuen Umgebung zu navigieren.

Für diese spezielle Wohnungssuche kam nur ein Ausgangspunkt in Frage: das Lieblingsrestaurant des Nagual, das „Versailles“ auf dem Venice Boulevard, wo man das unbestritten beste kubanische Essen der ganzen Stadt bekam. Also machte ich mich vom Flug-hafen aus direkt auf den Weg zum Versailles, um eine Portion „Lechon“ zu verspeisen. Lechon ist das berühmte Gericht aus langsam gegartem Schweinefl eisch, mariniert in Knoblauch und Zwiebeln, mit schwarzen Bohnen und gebratenen Bananen als Beilage – damals mein absolutes Lieblingsgericht.

Mein Plan bestand darin, in meinem Mietwagen ganz gemäch-lich herumzufahren, um mich mit der näheren Umgebung ver-traut zu machen und meine Suche schließlich einzugrenzen. Mein Körper schien mit dem Lechon sehr zufrieden zu sein und konnte es gar nicht erwarten, endlich an die Arbeit zu gehen. Um der Wahrheit Genüge zu tun, sehe ich mich gezwungen zu erwähnen, dass ich sehr wahrscheinlich einen doppelten „Espressito“ getrun-ken hatte, jenen berüchtigten, unwiderstehlichen kubanischen Kaffee, den sie im Versailles servierten, um die Umwandlung des Lechons in Navigationsenergie ein wenig zu beschleunigen. Im Übrigen vermute ich, dass eben dieser Kaffee in seiner Manifes-tation als „Capuccinito“ später Carlos Castanedas Abschied von dieser Welt beschleunigen sollte.

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Nachdem ich das Restaurant verlassen hatte, fuhr ich durch ein paar Straßen in der unmittelbaren Umgebung. An einigen der kleinen Häuser und Appartementanlagen prangten „Zu vermie-ten“-Schilder, und ich wurde von Aufregung erfasst. Nach zehn oder fünfzehn Minuten zog ein großes Schild an der Außenwand eines Gebäudes meine Aufmerksamkeit auf sich, während ich gerade die Bagley Avenue hinunterfuhr. Es handelte sich dabei um ein relativ neues, modernes kubistisches Bauwerk mit drei Stockwerken und einer blendend weißen Fassade, aus der knall-rote Fensterrahmen hervorstachen. Ein fröhliches Gebäude – es schien sich des riesigen, überwältigenden Freeways, der direkt an ihm vorüberzog, gar nicht bewusst zu sein. Genau vor dem Eingang war ein freier Parkplatz, also bog ich ein und stellte den Motor ab. Ich sah mir das Schild noch einmal an und spürte, wie sich meine Eingeweide vor Aufregung zusammenzogen, als ich die Telefonnummer entdeckte: 396-4444.

Dieser Augenblick hatte etwas Überwältigendes. Die Aufre-gung kam von ganz tief drinnen, wo ich mir bereits sicher war, mein neues Zuhause gefunden zu haben. Doch in diese Erkennt-nis der Unvermeidlichkeit mischte sich ein Gefühl der Beunru-higung. Es bezog sich auf die unmittelbare Nähe des Freeways. In Tucson lebte ich in einem schönen, ruhigen Haus inmitten einer großartigen Wüstenlandschaft, und die Aussicht, unmittel-bar neben dem meistbefahrenen Freeway des Landes zu wohnen, erschien mir, gelinde gesagt, grotesk.

Doch etwas Unausweichliches hatte von mir Besitz ergriffen. Ehe ich noch wusste, was ich tat, hatte ich bereits die Telefon-nummer gewählt. Zu jener Zeit war ich fasziniert von Zahlen. Sie sind so leicht zu lesende Wegweiser, so allgegenwärtig und magisch in ihrer Einfachheit. Die Vier war defi nitiv meine Lieb-lingszahl, und zwar fast mein ganzes Leben lang.

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Mitte der achtziger Jahre – ich lebte noch in Deutschland –, fuhren meine damalige Frau Victoria und ich jedes zweite Wochenende gut dreihundertzwanzig Kilometer von München nach Baden-Baden, um in dem fabelhaften Kasino dort Roulette zu spielen. Es war für uns ein lieb gewonnenes Ritual geworden. Sechs Monate lang hielten wir uns an die immer gleiche Routine. Wir kamen in Baden-Baden an, der vornehmen, zweitausend Jahre alten Bäderstadt, checkten in unserem Hotel an den Ther-malquellen ein, verbrachten zwei Stunden in dem kraftvollen hei-ßen Wasser, das dampfend aus den Tiefen der Erde emporsteigt, und aßen in einem wunderbaren kleinen tschechischen Restau-rant. Dann warfen wir uns in Schale und gingen ins Kasino.

Auch im Kasino behielten wir die immer gleiche Routine bei. Wir wollten die Energie des heißen Wassers in Vorahnung und Intuition umsetzen. Das Kasino selbst ist spektakulär und steht Monte Carlo in nichts nach. Es gibt keine Automaten, aus-schließlich Tische, Kartenspiele und gut gekleidete, sich leise unterhaltende Menschen. Also schlenderten wir umher, frönten der Beobachtung der Spieler und bemühten uns, so bewusst und gegenwärtig zu sein wie nur irgend möglich. Dabei lauschte ich stets so lange, bis ich jenen kaum wahrnehmbaren Sog einer Vor-ahnung spürte, der mich aufforderte, mich in aller Ruhe an den Roulette-Tisch Nummer vier zu begeben und dort zehn D-Mark auf die Vier zu setzen. Das war alles. Manchmal blieb ich ein Weilchen an dem Tisch und wiederholte denselben Einsatz, wenn es sich richtig anfühlte.

Das erstaunliche und beinahe unglaubliche Ergebnis dieser Reisen war, dass wir tatsächlich jedes Mal zwischen vier- und achthundert D-Mark gewannen. Es war immer mehr als genug, um die Ausgaben des Wochenendes zu decken, und damit waren wir ganz zufrieden. Einmal, ziemlich zu Anfang, wurde ich von einer Welle der Gier erfasst und begann, die Wette zu verdop-peln, doch das Gefühl wirkte störend auf meine Vorahnungen

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und es funktionierte nicht. Also blieben wir bei der ursprüng-lichen ABSICHT und wurden jedes Mal belohnt.

Eine unserer Regeln war, dass ich immer das letzte Spiel des Abends machte. Einmal, als ich gerade meine zehn Mark auf die Vier gesetzt hatte und die Kugel bereits rollte, spürte ich einen Sog im Rücken. Ich drehte mich um und fühlte mich förmlich gedrängt, weitere zehn Mark auf die Zwölf am Tisch drei hinter mir zu setzen. Vielleicht war es das Ergebnis einer raschen Multi-pli kation von vier mal drei ergibt zwölf oder was auch immer, jedenfalls war da keine Spur von Zögern, und kein Gedanke spielte in diese Situation hinein.

Die Kugeln kamen fast gleichzeitig zur Ruhe, am Tisch vor mir auf der Vier und, wie ich bereits wusste, als ich mich umdrehte, auf der Zwölf am Tisch hinter mir. Mich erfasste ein unbeschreib-liches Gefühl der Verbundenheit und Dankbarkeit. Ich verließ das Casino mit Tränen in den Augen und, nun ja, siebenhundert D-Mark in meinen Taschen.

Als ich nun also die 396-4444 wählte, überfi el mich ein deutliches Gefühl freudiger Erwartung. Eine freundliche weibliche Stimme begrüßte mich am anderen Ende, und ich wurde hereingelassen. Die Frau, die mich am Fahrstuhl erwartete, war ungewöhnlich herzlich und offen und führte mich in den zweiten Stock, wo sie mir ein relativ kleines Appartement mit Blick auf die Straße zeigte. Ich war verwirrt. Die Wohnung war nicht schlecht, aber ich sah mich hier überhaupt nicht, und die ganze Aufregung meines Navigierens begann zu schwinden. Ich ging umher, starrte aus dem Fenster, doch was ich auch tat, es gelang mir nicht, irgendwo anzudocken. Ich fragte die Frau, ob sie etwas von einem ande-ren freien Appartement in diesem Komplex wisse. Sie zögerte zunächst, doch dann sagte sie: „Nun ja, in der Tat habe ich heute von dem jungen Paar aus 306 erfahren, dass es nächsten Monat ausziehen wird. Es handelt sich um ein Loft-Appartement,

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allerdings sehr viel größer und teurer … Vielleicht sind sie im Moment sogar zu Hause. Wenn Sie möchten, können wir einfach mal nachsehen. Es sind nette Leute.“

Nummer 306 war ein zweistöckiges Loft an der Hausecke mit Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und in zwei Him-melsrichtungen hinausgingen. Es war überwältigend. Das junge Paar erwies sich als äußerst hilfsbereit und entgegenkommend und bot mir an, ruhig so lange hier abzuhängen, wie ich wollte. Dieses Angebot nahm ich gern an. Auch die Hausmeisterin ließ mich allein. Ich würde sie anrufen, sobald ich zu einer Entschei-dung gekommen war.

Das Appartement war lichtdurchfl utet und strotzte vor Opti-mismus, doch wie sich sofort herausstellte, wurde es ebenso durchfl utet von all den aufgeregten Geräuschen und Ansichten, die der meistbefahrenen Freeway der USA bot – genau auf Fens-terhöhe und in höchstens hundertfünfzig Metern Entfernung. Ich musste mich setzen. Ich war wie gelähmt. Das Kinn in beide Hände gestützt konnte ich nicht anders, als auf den Freeway zu starren und zu denken: „So ein Pech, so ein Pech, verdammt … was für ein Pech.“

Autos, die Richtung Osten dröhnten, Autos, die Richtung Westen dröhnten, Dröhnen nach Osten, nach Westen, nach rechts, nach links, Dröhnen, Dröhnen, Dröhnen …

Eine kräftige Meeresbrise zog durch die geöffneten Fenster herein, was mich veranlasste, mich einfach zurückzulehnen und tief Luft zu holen. Da war Licht, so viel Licht.

„Wow, was für eine Wohnung. So ein Pech“, dachte ich noch immer. „Wie kann das nur möglich sein?“ Der freie Parkplatz, die Telefonnummer, wie leicht alles gelaufen war und mit welch einem Timing, diese freundlichen, einladenden Menschen, meine Navigationsinstinkte, die plötzliche Erkenntnis – all dies schien sich in meiner Vorstellung zu einem gewaltigen Leuchtfeuer zusammenzufügen, voller Kraft und unwiderstehlich. Doch zu jener Zeit war ich auf Klarheit fi xiert, auf Frieden, Ruhe und

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Stille. Wie passte all das nur zusammen? Und so blieb ich sitzen, wie festgeklebt an meinem Stuhl.

Das Paar verließ das Loft, um einige Besorgungen zu machen, doch sie ermunterten mich zu bleiben, so lange ich wollte.

„Schließen Sie einfach die Tür hinter sich, wenn Sie gehen“, sagten sie beim Hinausgehen.

Nach einer Weile stand ich auf, um die Fenster zu schlie-ßen. Ich dachte über Schallisolierung, Vorhänge und Ohrstöpsel nach … Ich sah unser Haus in den Bergen von Tucson, hörte das Rascheln der Wüstentiere, Vogelgezwitscher, Kojoten in der Ferne …

Wie ich so auf dem Stuhl saß, begannen meine Gedanken allmählich zur Ruhe zu kommen, und meine Aufmerksamkeit richtete sich auf meinen Atem. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam und ob es durch irgendetwas hervorgerufen worden war, doch plötzlich veränderte sich etwas in meinem Bewusstsein, etwas hatte sich verschoben.

Auf einer tieferen Ebene der Wahrnehmung fühlte ich, dass eine ungeheure Menge Energie diesen Ort durchströmte. Als ich meinen Sinneswahrnehmungen gestattete, einfach nur da zu sein, ohne sie mit irgendetwas in Verbindung zu bringen, ver-änderte sich das Bild vollkommen. Was ich jetzt sehen konnte, waren verschiedene Schwingungsebenen, die sich zu einem mäch-tigen Energiestrom verwoben, der das Appartement durchfl utete, indem er auf der einen Seite hinein- und auf der anderen wieder hinausströmte. Vor diesem Strom gab es kein Entrinnen. Es war unfassbar. Es war ein Gefühl, als säße man in der Mitte eines Flusses.

Was für eine Gelegenheit.Was, wenn es mir gelänge, mich darauf einzulassen?, dachte

ich. Wenn ich diesem Fluss gestattete, mich zu durchströmen, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, wann immer ich mich zu Hause aufhielt?

Natürlich! Ich begriff. Welch ein Geschenk!

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Plötzlich war mir alles sonnenklar – ich musste dieser Energie nur erlauben, einfach hindurchzufl ießen durch das Appartement, durch mein Leben, meinen Körper, meinen Geist; zulassen, dass sie alles Überfl üssige fortspülte.

Selbst damals schon, als mein Blick auf all die Autos gerichtet war, die gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen dahinrasten, spürte ich, wie eine Stille sich in mir ausbreitete, die ich bislang in meinem Leben nicht gekannt hatte, eine Stille, die weitaus tiefer reichte als die Stille der Wüste.

Zutiefst berührt von dieser Erkenntnis, rief ich die Hausmeis-terin an und sagte ihr, dass ich das Appartement mit Freuden nehmen würde.

Seither waren über zwei Jahre vergangen. Wieder fuhr ich lang-sam die Bagley Avenue hinunter und genoss die letzten Sonnen-strahlen. Es war einer dieser milden, milchigen Spätnachmittage in Südkalifornien, an denen man das Gefühl hat, die Zeit stehe still. Es war wohl der kühle Dunst des nahen Pazifi ks, der das Sonnenlicht in jenen sanften, bernsteinfarbenen Glanz tauchte, der zu den Dingen gehörte, die ich hier am meisten liebte.

Erst vor Kurzem war ich gut eine Stunde weiter nach Süden gezogen und kam nun zurück, um David zu treffen. „Ich habe eine Menge interessanter Dinge herausgefunden, die ich gern mit dir teilen würde“, hatte er am Telefon gesagt.

Seit Carlos Castanedas Tod waren erst wenige Monate ver-gangen, doch das Rätsel begann sich allmählich zu entwirren. Sein Tod hatte sich für als bedeutungsschweres Ereignis heraus-gestellt. Für den größten Teil meines Erwachsenenlebens war der Nagual das Zentrum meiner Welt gewesen. Meine Verstrickung mit ihm war so dicht, wie es meine Persönlichkeit erlaubte. Ich hatte jedes seiner Bücher mindestens zehn Mal gelesen – Wort für Wort. Sie hatten mir als Straßenkarte für die Reise meines Lebens gedient, bildeten aber auch die Basis für mein Verständnis und

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meine Aneignung der englischen Sprache. Außerdem genoss ich in den letzten Jahren das Privileg, zahlreiche Reden des Nagual während seiner internationalen Workshops simultan ins Deut-sche zu übersetzen. Ich war so vertraut mit seiner Syntax, mit seiner Art zu denken, dass ich oft vollkommen synchron mit seinen Worten war und genau wusste, was er als Nächstes sagen würde. Infolgedessen hörte ich mich die deutsche Übersetzung im selben Moment aussprechen, in dem seine englischen Worte durch meine Kopfhörer drangen. Es war geradezu unheimlich. Die anhaltende und vollkommene Konzentration, die für eine Simultanübersetzung nötig ist, ermöglicht eine einzigartige und äußerst intime Verbindung mit dem Geist des jeweils Anderen.

Ursprünglich war mein Umzug in die Vereinigten Staaten ein Versuch, jenem unglaublichen lebenden Mythos, den Castaneda geschaffen hatte, näher zu sein. Ich hegte damals keine ernst-haften Hoffnungen, ihm eines Tages persönlich zu begegnen. Nie-mand wusste, wo er sich aufhielt, obwohl das „Time Magazine“ im Jahr 1973 eine Titelgeschichte über Castaneda brachte, in der es ihn zum „Paten der New-Age-Bewegung“ erklärte. Er war so schwer zu fi nden, dass die Zeitschrift für den Artikel kein Foto von ihm auftreiben konnte. Es existierte nur eine Bleistiftzeich-nung, die ein früherer Kommilitone von Castaneda angefertigt hatte. Viele bezweifelten die Authentizität und manche gar die Existenz des Schamanen.

Ich verbrachte fast zwei Jahre in Mexiko, erkundete abgele-gene Gegenden, traf unzählige brujos, curanderos2 und andere mysteriöse Leute. Ich hoffte stets im Stillen, einem WISSENDEN

zu begegnen, wie Castanedas Lehrer Don Juan einer gewesen war, der mich in eine andere Welt initiieren würde – eine andere Wirklichkeit. Aber schließlich machten sich meine unbeugsame ABSICHT und meine Ausdauer im Navigieren doch noch bezahlt, und ich fand ihn tatsächlich – ihn und seine ungewöhnliche Schar von Schülern. Infolgedessen eröffnete sich mir eine völlig neue

2 Heiler und Zauberer

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Ebene der Intensität. Die ganze Zeit hatte sich Castaneda erfolg-reich mitten in Los Angeles versteckt, in West-L.A. um genau zu sein. Er lebte in einem bescheidenen kleinen Haus, hinter hohen Hecken verborgen, in einer Straße, die bezeichnender-weise „Pandora Avenue“ hieß.

Mitte der 1990er Jahre hatte der Nagual beschlossen, sich leichter aufspüren zu lassen, und arbeitete mit einer Gruppe von Anhängern und Schülern. Diese Gemeinschaft, mit der er regel-mäßigen und persönlichen Kontakt pfl egte, bestand aus ungefähr dreißig bis vierzig Leuten. Geordnet nach dem, was der Nagual energetische Notwendigkeiten nannte, war die Gruppe durch eine eindeutige, wenn auch durchlässige Hierarchie strukturiert. Den einzelnen Menschen wurde in äußerst unterschiedlichem Maße Zugang zum Nagual und seinen Lehren gewährt. David und ich befanden uns die meiste Zeit über irgendwo im Mittelfeld, doch gegen Ende trafen wir ihn fast jeden Tag, manchmal sogar in seinem Haus, was ein seltenes Privileg war.

Carlos Castaneda starb nicht gänzlich unerwartet. Doch als er starb, stellte sein Tod das Leben der meisten von uns vollständig auf den Kopf.

„Hey Dave!“, rief ich und umarmte ihn wie einen vor langer Zeit verlorenen Bruder. David war mit dem Fahrstuhl nach unten gekommen, um mich zu begrüßen. Ich studierte sein Gesicht. Er sah unverändert aus, noch immer der schlaue, kompetente, leicht spitzbübische Jurist, umgeben von einer Aura trügerischer Ver-letzlichkeit. Vielleicht hatte er um die Hüften herum ein bisschen zugelegt, aber schließlich stand er ebenfalls auf die kubanischen Köstlichkeiten im „Versailles“. „Schön, dich zu sehen“, sagte er. „Wie geht’s Carmela?“ „Oh, ihr geht’s gut, sie lässt dich herzlich grüßen“, gab ich zurück.

Carmela und ich waren uns im vergangenen Jahr begegnet. Sie war wie aus dem Nichts erschienen und hatte mich, ohne es

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zu wissen, aus jenem schrecklichen Strudel herausgerissen, in dessen Sog ich nach dem Tod des Nagual geraten war. Für die meisten von uns war Carlos Castanedas Tod ganz ohne Zweifel eine Implosion gewesen, die einen Energiewirbel erzeugte, wel-cher unsere individuellen Schicksale auf unvorstellbare Weise durcheinanderwirbelte. Einige der engsten Vertrauten lösten sich einfach in Luft auf und wurden nie wieder gesehen. Eine nahm sich das Leben. Man fand ihre Leiche Jahre später im Death Valley. Eine kleine Gruppe seiner Schüler führte die Verbreitung seiner Lehren fort und gibt bis heute Workshops in aller Welt. Etliche mühten sich, ihre vorherigen Interpreta-tionen der Wirklichkeit wiederherzustellen und zu dem Leben zurückzukehren, das sie vor ihrer Begegnung mit dem Nagual geführt hatten. Wieder andere fanden sich bereit zum Aufbruch ins Unbekannte.

Was mich betrifft, so befand ich mich in einem intergalak-tischen Raum. Das ist nach wie vor der beste Vergleich, den ich ziehen kann, selbst heute noch, zehn Jahre später. Der Nagual war zweifelsohne die Sonne gewesen, die ich über achtzehn Jahre lang auf meiner Umlaufbahn umkreist hatte. Die meiste Zeit über hatte mich meine Frau Victoria auf dieser Umlaufbahn beglei-tet, bis schließlich die Natur dieses speziellen Sonnensystems von uns verlangte, uns auf unterschiedlichen Bahnen zu bewegen. Doppelplaneten kamen nicht in Frage. Soziale Bindungen wur-den nicht gefördert. Aber es gelang Victoria und mir schließlich doch, unsere Beziehung neu zu erfi nden, damit sie in die Welt des Nagual passte – wenn es auch ein oft sehr schmerzhafter Pro-zess war. Wir trennten uns räumlich, obwohl wir uns noch immer liebten, und richteten uns auf unseren jeweiligen Umlaufbahnen ein. Doch ohne unser Wissen erschufen die Gravitationskräfte unumkehrbare Realitäten, und wir waren dazu verdammt, einan-der aus der Ferne zu lieben.

Carmela war eine Freundin und Mitstudentin am College für Chinesische Medizin gewesen, an dem ich zu jener Zeit studiert

ANFÄNGE

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hatte. Ich war auf sie aufmerksam geworden, weil ihre Ähnlichkeit mit drei Frauen aus unserer Gruppe geradezu ins Auge stach.

Die zentrale Kunst des Nagual und – aus meiner Sicht – auch die praktische Essenz seiner Lehren war die Kunst der Naviga-tion. Er bezeichnete uns gern als NAVIGATOREN AUF DEM MEER

DER BEWUSSTHEIT. Das Navigieren ist eine von der Norm abwei-chende Art, durchs Leben zu gehen und mit der Wirklichkeit in Beziehung zu treten. Während die breite Masse der Menschen sich auf ihrem Lebensweg vornehmlich von ihren Gedanken leiten lässt, bewegt sich ein Navigator im Einklang mit seiner direkten Verbindung zum Leben, zum Universum, zur Unendlichkeit, zum SPIRIT oder zur ABSICHT, wie der Nagual jenes alles durchdrin-gende universelle Bewusstsein vorzugsweise bezeichnete. Da es in diesem Buch um eben jene Kunst der Navigation geht, belasse ich es bei diesem ersten Versuch einer Defi nition und vertraue darauf, dass es klarer wird, je weiter wir voranschreiten.

Die Ähnlichkeit, die mich bei Carmela so verblüffte, war nicht einfach nur eine äußerliche Ähnlichkeit. Der Nagual nannte eine solche Übereinstimmung ZYKLIZITÄT. Sie hatte etwas Imma-nentes an sich, etwas, das man vielmehr intuitiv wahrnimmt als mit den Augen. Zyklische Wesen können uns unerklärlicherweise an ihre jeweiligen Ebenbilder erinnern, manchmal verwechseln wir sie sogar miteinander. Sie teilen oft das gleiche Schicksal und die gleichen Angewohnheiten, Geschmäcker oder sogar Berufe. Zyklizität kann man nur energetisch wahrnehmen, doch sie sticht hervor wie Kleidung vom selben Designer oder Autos derselben Marke. Der Nagual verglich zyklische Wesen gern mit Perlen an einem Vorhang, miteinander verknüpft von der ABSICHT. Wann immer ihm Zyklizität begegnete, gerade unter seinen Schülern, war das für ihn von großer Bedeutung und beeinfl usste seine Navigationsmanöver.

Die energetische Wahrnehmung ist nichts Übersinnliches, sondern einfach nur die Wahrnehmung vor dem Denken. Es ist der erste und unmittelbare Eindruck, den wir von etwas oder

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jemandem haben, bevor wir damit beginnen zu benennen, zu ver-gleichen, zu urteilen oder zu kategorisieren. Doch weil wir von Geburt an von unseren Gedanken besessen und ständig mit ihnen beschäftigt sind, haben die meisten von uns einfach vergessen, wie man energetisch wahrnimmt.

Ein Navigator, ob nun auf dem Meer der Bewusstheit oder auf einem ganz normalen Ozean, braucht Hinweise zur Orientierung. Auf einem ganz normalen Ozean können das Leuchtsignale, Bojen, Strömungen, die Position der Sterne, die Windrichtung oder die Anwesenheit von Möwen sein. Auf dem Meer der Bewusstheit und bei der Navigation durch das Leben selbst sind die Hinweise für den Navigator Elemente der Wahrnehmung, die auf eine Weise hervorstechen, dass sie Gedanken, Vernunft und kausale Zusam-menhänge überschreiten. Diese Hinweise sind unabhängig von der Welt der Gedanken. Tatsächlich verhält es sich sogar so, dass die Hinweise umso klarer sind, je weniger wir denken. Zyklizität kann ein solcher Hinweis sein. Andere und geläufi gere Hinweise sind SYNCHRONIZITÄTEN, wenn sich also zwei oder mehr bedeutsame Dinge ereignen, ohne dabei in einem kausalen Zusammenhang zu stehen. Synchronizitäten erscheinen uns meist als unerklärliche, verblüffende oder praktisch unmögliche Zufälle.

Während der durchschnittliche Navigator vielleicht vor allem mit Synchronizitäten, Vorahnungen, Omen, Intuition und ande-ren Arten stillen Wissens vertraut sein mag, so zeigte sich der Nagual in seiner Rolle als Führer und Richtungsweisender einer Gruppe auch von Zyklizitäten fasziniert.

Carmela verhielt sich ganz eindeutig und unverkennbar zyklisch zu drei in der Hierarchie unserer Gruppe sehr bedeutsamen Frauen. Diese drei waren Carol Tiggs, der weibliche Gegenpart zum Nagual und auch als DIE NAGUAL-FRAU bekannt, Renata Murez, die schon sehr lange dabei war, und Victoria, meine Frau. Die beiden Letztgenannten waren vom Nagual aufgrund ihrer Zyklizität als Paar zusammengestellt worden, um sich gegenseitig zu unterstützen.

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Der Nagual manipulierte fortwährend die Struktur unserer Gruppe, indem er die Mitglieder in Paare und kleinere Gruppen einteilte und auf diese Weise versuchte, verschiedene Ebenen und Dynamiken des kollektiven Bewusstseins zu schaffen. Er war fasziniert von der Idee, eine kritische energetische Masse herzu-stellen, die uns dabei helfen würde, gemeinsam die innere Stille zu erfahren. Er vermutete, dass wir, sobald wir als Gruppe die innere Stille aufrechterhalten könnten, in der Lage sein würden, in kollektive Wachträume nie dagewesener Stabilität und Echt-heit einzutauchen.

Carmelas Zyklizität war so offensichtlich, dass sich immer, wenn ich im Geiste Renata vor mir sah, Carmelas Gesicht davorschob oder umgekehrt. Im Verlauf von Workshops kamen manchmal Teilnehmer auf Carmela zu und stellten ihr Fragen, die eigentlich für Renata bestimmt waren – und das, obwohl sich die beiden noch nicht einmal im klassischen Sinne ähnlich sahen. Ich war natürlich fasziniert und wollte die Aufmerksamkeit des Nagual darauf lenken. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr die nötige Energie vorhanden, um weitere Mitglieder in unsere Gruppe aufzunehmen oder anderweitig auf diese Ent-deckung einzugehen. Ich wusste es damals zwar noch nicht, doch Castanedas Gesundheit war zu jener Zeit bereits über den Punkt einer möglichen Genesung hinaus angegriffen.

Im Laufe der folgenden Ereignisse rückten Carmela und ich, anfänglich noch unbewusst, immer näher zusammen. Und als das ganze mythische Sonnensystem schließlich implodierte und ich mich im intergalaktischen Raum wiederfand, war ich nicht allein. Vollkommen ohne Anbindung, desorientiert und mir eines unaussprechlichen Verlustes schmerzlich bewusst, schwebte ich zusammen mit einem der lieblichsten Geschöpfe, denen ich je begegnet war, behaglich in einer kleinen Rettungskapsel.

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