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FÜR DEUTSCHES ALTERTUM UND DEUTSCHE LITERATUR · SchülersJÖRG-GEERDARENTlEN:U. RUBERG,Mappae mundi desMittelalters imZusammenwir-ken von Text und Bild, mit einem Beitrag zur Verbindung

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/t ;J_G;üZEITSCHRIFT

FÜR DEUTSCHES ALTERTUM

UND DEUTSCHE LITERATUR

L/(

/(/((HERAUSGEGEBEN VON

FRANZ JOSEF WORSTBROCK Ar J1EINHUNDERTSECHZEHNTER BAND

1987

FRANZ STEINER VERLAG WIESBADEN GMBH . STUTIGART

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DIE EBSTORFER WELTKARTE

Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter*

von HARTMUT KUGLER

Kar/ Stackmann zum 21. März 1987

Die mittelalterlichen Mappae mundi sind gemeinhin keine Materie derliterarhistorischen Forschung. So ist denn auch eine intensivere Beschäftigungmit der Ebstorfer Weltkartel im Rahmen der Altgermanistik nicht alltäglich

,. Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich am Forschungsinstitut für Mittelalter und'Renaissance der Universität Düsseldorf gehalten habe. Die Vortragsform ist weitgehend beibehal-ten, um den einführenden Charakter des Beitrages zu wahren. Der ersten Orientierung dienenauch die hinzugesetzten Anmerkungen. Sie können, wie der fortlaufende Text auch, zu vielenDetailaspekten nur vorläufige Hinweise, keine erschöpfenden Auskünfte geben.

I Das Original der Karte war im Archiv des Historischen Vereins für Niedersachsenaufbewahrt und ist 1943 bei einem Luftangriff auf Hannover verbrannt. Wir müssen uns mit denReproduktionen begnügen, die im Zuge der wissenschaftlichen Erschließung des Kartenwerkesangefertigt worden sind. Die wichtigsten Überlieferungsträger:1) E. SoMMERBRODT(Hg.), Die Ebstorfer Weltkarte, hg. im Auftrag des Historischen Vereins fürNiedersachsen [... ]. Hierbei ein Atlas von 25 Tafeln in Lichtdruck, Hannover 1891. Ein Exemplardes SOMMERBRoDTschenAtlanten wurde nach 1930 von A. KROPP anhand der Originalkartekoloriert. Dies Exemplar wird jetzt in der Ackerbauschule (Georgsanstalt) Ebstorf aufbewahrt. -2) K. MILLER(Hg.), Mappae mundi. Die ältesten Weltkarten, V. Heft: Die Ebstorfkarte, Stuttgart1896. Über die Schwierigkeiten der technischen Reproduzierbarkeit des Kartenwerks berichtetMILLERin: Die Ebstorfkarte, eine Weltkarte aus dem 13.Jahrhundert, hg. und erl. von K. MILLER,dritte, neubearbeitete Aufl., StuttgartlWien 1900, S. 20-25. - 3) Farbige Nachbildung der Karteauf Pergament in Originalgröße, hergestellt von dem Graphiker R. WIENEKE(1953), und zwar ineinem Gerbdruckverfahren nach Vorlage der SOMMERBRoDTschenLichtdrucktafeln. WIENEKEhatvier Exemplare angefertigt, von denen je eines in Lüneburg (Museum für das FürstentumLüneburg), im Kloster Ebstorf und auf der Plassenburg in Kulmbach (LandschaftsmuseumObermain) ausgestellt ist. Das vierte Exemplar ist verschollen. Einen ausführlichen Überblick überdie Geschichte der Karte von ihrer Wiederauffindung (um 1830 im Kloster Ebstorf) bis zu ihrerVernichtung gibt W. ROSIEN,Die Ebstorfer Weltkarte, Hannover 1952 (Niedersächsisches Amtfür Landesplanung und Statistik, Reihe A 11,Bd. 19), bes. S. 14-21.

Der Bestand der Originalkarte läßt sich nicht mehr vollständig wiedergewinnen. Den vonSOMMERBRODTverantworteten Lichtdrucktafeln lagen Fotoplatten zugrunde, die aus ästhetischenGründen an zahlreichen Stellen retuschiert waren. Die Kartenlegenden sind sowohl in SOMMER.BRODTsals auch in MILLERSTextheft unvollständig und zum Teil fehlerhaft abgedruckt. Dennochist eine Neuausgabe der Karte in Buchform möglich und sinnvoll. Sie kann den Überlieferungsbe-stand sichten und sichern; sie kann die ärgsten Mängel der alten Ausgaben - die Trennung von Textund Bild und die unzureichende Textwiedergabe - beseitigen, indem sie Kartensegmente undTextabdrucke synoptisch nebeneinandersteIlt; sie kann das Werk - nachdem die alten Ausgaben an

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und nicht selbstverständlich. 2 Das neue, seit 1978 erscheinende 'Verfasserlexi-kon' der Literatur des deutschen Mittelalters enthält zwar Artikel über das'Ebstorfer Liederbuch' und über die 'Ebstorfer Predigtsammlungen' und stelltdamit drei spätmittelalterliche Codices vor, die im Kloster Ebstorf (Lünebur-ger Heide) beheimatet sind.' Der 'Ebstorfer Weltkarte' indessen, dem beiweitem bedeutendsten Stück aus dem Nachlaß des ehemaligen Benediktinerin-nen-Klosters', ist im Literaturlexikon kein Stichwort eingeräumt. Dafür gibt esgute Gründe. Die Karte ist kein im engeren Sinne literarisches Zeugnis, keineszumal, das sich in Buchform hätte überliefern lassen, selbst im größtenFolianten nicht. Ihre Flächenausdehnung bedeckt mit einer Seitenlänge von 3,5auf 3,5 Meter nahezu 13 Quadratmeter. Die Fläche ist vollständig ausgefülltmit kolorierten Zeichnungen und mit kürzeren oder längeren Bildlegenden(1224 hat man gezählt)", Das Ganze fügt sich zur Imago mundi, zum Bilde desOrbis terrarum zusammen. Das großangelegte Ensemble von Bildern undTexten beansprucht also zuerst einmal geographische Geltung, und als Doku-ment der historischen Geographie und Kartographie hat man die Weltkartebisher auch meistens behandelt. Doch reicht die Aussagekraft der Ebstorfer.Mappa mundi über das nur Geographische entschieden hinaus. Die Erdober-fläche ist in ihrer Darstellung nicht nur topographisch definiert, sie erscheintals Schauplatz mythischer und biblischer Ereignisse, als Demonstrationsfeld derGeschichte; sie ist geprägt von Bedeutung, aufgeteilt in Zonen des Heils und

den deutschen Bibliotheken selten geworden und meist streng magaziniert sind - für eine breitereFachöffentlichkeit bereitstellen. Eine Neuausgabe der Karte erscheint demnächst in der EditionActa humaniora, Weinheim. Im Vorgriff auf diese Ausgabe habe ich das Kartenbild (Abb. 1) innumerierte Felder unterteilt.

2 Pionierleistungen seitens der Altgermanistik sind die Arbeiten UWE RUBERGsund seinesSchülers JÖRG-GEERDARENTlEN: U. RUBERG,Mappae mundi des Mittelalters im Zusammenwir-ken von Text und Bild, mit einem Beitrag zur Verbindung von Antikem und Christlichem in derprincipium- und finis-Thematik auf der Ebstorfkarte, in: Text und Bild. Aspekte des Zusammen-wirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von CH. MEIERund U. RUBERG,Wiesbaden 1980, S. 550-592. J.-G. ARENTZEN,Imago mundi cartographica. Studien zur Bildlich-keit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusam-menwirkens von Text und Bild (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 53), München 1984. Aufbeide Arbeiten komme ich im folgenden öfter zurück.

) 2VL, Bd. 2, Sp. 312-315. Das 'Ebstorfer Liederbuch', eine Sammlung von 17 Liedern, wurdevermutlich zwischen 1490 und- 1520 geschrieben. Die beiden Predigtsammlungen umfassen 43zwischen 1497 und 1515 entstandene Festpredigten.

• Das Kloster Ebsrorf, im 12. Jahrhundert gegründet, wurde während der Reformation in einEvangelisches Damenstift umgewandelt und besteht als solches bis heute fort. Über die Geschichtedes Ebstorfer Klosters informiert sorgfältig K. JAITNER,Ebstorf, in: Germania Benedictina XI,1983, S. 165-192. Siehe auch B. HAHN-WOERNLE,Kloster Ebstorf. Die Bauplastik, Ebstorf 1980;H. ApPUHN, Kloster Ebstorf (Große Baudenkmäler H. 176), München/Berlin 61980.

5 Die Karte war aus 30 ungleich großen Ziegenhautpergamenten zusammengenäht und aufStäben aufgerollt. Ihre genauen Maße: 3,58 m Höhe, 3,56 m Breite. Links unten war die Kartebereits - vermutlich durch Witterungseinflüsse - beschädigt, als sie in einem Abstellraum desKlosters aufgefunden wurde. Dagegen wurde das rechts oben fehlende Rechteck erst nach derWiederentdeckung der Karte, und zwar noch in den Klosterräumen, von unbekannter Handherausgeschnitten.

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Die Ebstorfer Weltkarte 3

des Unheils. Die Karte präsentiert die Welt nicht so, wie sie war, sondern wieman sie sich vorstellte. Sie bildet Weltanschauung ab, ist ein Weltbild auch undgerade im übertragenen Sinne des Wortes. Das macht die Mappa mundi für diemediävistische Literaturwissenschaft interessant; mehr noch, es macht eineliteraturwissenschaftliche Analyse der Karte legitim und in gewissem Maßeunumgänglich. Freilich kann eine solche Analyse nicht isoliert durchgeführtwerden, sondern nur im Kontakt mit anderen mediävistischen Disziplinen.Die Ebstorfer Weltkarte ist ein von Grund auf interdisziplinärer Gegenstand.Diese Einsicht zu fördern und ein Forschungsgespräch darüber in Gang zubringen, dazu soll der folgende Beitrag dienen.

Ich werde in drei Abschnitten vorgehen. Der erste Abschnitt wird denuniversalgeographischen Grundriß der Erdkarte skizzieren, wird die geogra-phischen Merkmale und die daran geknüpften geographisch orientiertenForschungen kennzeichnen. Der zweite Abschnitt wird demonstrieren, daßdie Karte über das geographisch-topographische Substrat hinaus mehrereAussageschichten hat, gleichsam einen mehrfachen Schrift- und Bildsinn. Derdritte Abschnitt soll an einzelnen Strukturelementen und Bildfeldern zeigen,wie die Karte im Detail gearbeitet ist und welche Möglichkeiten derInterpretation - im besonderen für die Litersturwissenschaft - sich bieten.

I.

Die Ebstorfer Karte(Abb.l [zwischenS.16und 17])gehörtzumTypusdersog.Radkarten und geht auf das Grundmuster des Orbis terrarum tripartitus zu-rück, des dreigeteilten Erdkreises.' Die Erdoberfläche, kreisrund und vom Banddes Ozeans umflossen, verteilt sich auf die drei Kontinente Asien, Afrika undEuropa. Asien ist doppelt so groß wie die beiden anderen Kontinente zusammenund nimmt die gesamte obere Kreishälfte ein. Osten liegt also oben. Afrika undEuropa teilen sich die untere Kreishälfte und sind voneinander durch das senk-recht vom Kreismittelpunkt abwärts verlaufende Wasserband des Mittelmeeresgetrennt. Die schematische Skizze des Orbis, wie sie in mittelalterlichen Hand-schriften schon seit dem 7. und 8. Jahrhundert zu finden ist, legt auch waage-recht durch den Kreismittelpunkt ein Wasserband, als Grenzscheide zwischenAsien und Europa/ Afrika. Das erklärt sich aus der antiken Vorstellung, daß vomMittelmeer aus nach Norden hin (also nach links) durch das Schwarze Meerund den Don (Tanais) eine Wasserverbindung zum Ozean bestehe; nach Süden

• Zum Orbis terrarum tripartitus s. A.-D. VONDENBRINCKEN,Mappa mundi und Chronogra-phia. Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters, DA 24 (1968) 118-186, bes.S. 131-133; ARENTZEN[Anm. 2], S. 63-131, bes. S. 64 H. Dort weitere Literatur. Die Dreiteiligkeitstützte sich auf die antike, durch Augustin (De civ. Dei 16, 17) beglaubigte Ansicht, Asien allein seigenauso groß wie.Europa und Afrika zusammen, ferner auf das apokryphe 4. Buch Esra, wonach dieLandfläche der Ökumene sechsmal größer als die Wasserfläche sein sollte.

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hin (also nach rechts) sei eine entsprechende Verbindung durch' den Nil unddas Rote Meer gegeben/

o

N s

wAbb. 2: Die T-förmige Gliederung des Orbis terrarum

Die Ebstorfer Autoren der Karte - ich verwende den Plural, weil wahrschein-lich mehrere Hände an der Herstellung beteiligt waren; ob es männliche oderweibliche gewesen sind, ist damit nicht entschieden" - haben dies Grund-schema modifiziert und ein komplizierteres Schnittmuster zugrundegelegt,dessen verwickelte Vorgeschichte ich hier nicht erklären kann. Europa hat nachSüden hin zuungunsten Afrikas an Ausdehnung gewonnen. Afrika seinerseitsdrängt seine östliche Spitze weit in die obere (eigentlich Asien vorbehaltene)Kreishälfte hinein.

7 Das Grundschema des Orbis terrarum tripartitus wird auf der Karte in einer Außenlegende(Feld 4) erläutert und zusätzlich durch eine T-Skizze veranschaulicht. Vgl, SOMMERBRODT[Anm.1], S. 15; MILLER,Mappae mundi V [Anm. 1], S. 8.

I Nach MILLER, Ebstorfkane [Anm. 1], S. 18, stammt die Schrift der ganzen Karte "vonderselben Hand her, welche auch die Malereien ausgeführt hat". R. DRÖGEREIT(Die EbstorferWeltkarte und Hildesheim, Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 44 [1976]9-44, hier S. 19-21) meint, man müsse "grundsätzlich von wenigstens vier Beteiligten ausgehen:Dem geistigen Urheber, dem Zeichner des Kartenbildes. dem Maler oder Bemaler und demSchreiber." Er unterscheidet zwei Schreiberhände, hält aber im übrigen die Anzahl der Beteiligtenfür unentscheidbar. - Der gesamten älteren Forschung galt es als selbstverständlich, daß die Kartenur ein Werk von Mönchen, nicht von Nonnen sein könne. ROSIEN[Anm. 1], S. 33, verlegt denEntstehungsort der Karte eigens deshalb ins Lüneburger Kloster St. Michael, weil nur die dortigenMönche derartige Arbeiten hätten durchführen können. Doch ist nicht einzusehen, warum manden Ebstorfer Frauen die Fähigkeit zur Kartenherstellung absprechen sollte. Die niedersächsischenNonnenklöster können im 13. und 14. Jh. technisch und künstlerisch hochstehende Leistungenvorweisen. Erinnert sei vor allem an ihre großformatigen Bildteppiche. Im Flächenumfang wie inmanchen ikonographischen Details haben sie Ähnlichkeit mit der Weltkarte. Vg!. H. ApPUHN,Einführung in die Ikonographie der mittelalterlichen Kunst in Deutschland, Darmstadt 1985, S.53f.

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Die Ebstorfer Weltkarte 5

Einige geographische Markierungspunkte :Links, rechts und unterhalb des Christuskopfes befindet sich Indien. Es istlinkerhand (also im Norden) durch einen Gebirgszug (Kaukasus/Himalaya)gegen Skythien abgeriegelt. Rechterhand fehlt ein Kartenstück.' Waagerechtzieht sich (Felder 7, 8, 9) der Indus durchs Bild. Unterhalb davon wirdMesopotamien von Euphrat und Tigris durchflossen. Gut erkennbar ist inder Mitte der mehrstufige Turm von Babyion (Feld 13). Es schließt sich dasHeilige Land an (Feld 18). Darin liegt, genau im Mittelpunkt der Karte undalso im Mittelpunkt der Welt, als ein großes Quadrat gezeichnet, Jerusalem.

In der unteren Kartenhälfte folgen nacheinander Griechenland (Feld 23),Italien, dem die charakteristische Stiefelform noch fehlt, mit dem auffallen-den Gebäudekranz Roms (Feld 27) und ganz unten, am Westende (Feld 31),die Iberische Halbinsel. Links davon sind die Britischen Inseln ins Ozean-band hineingedrängt. Nordöstlich davon liegen der französische und derdeutsche Raum. Darin hat die Heimatregion der Karte, die Saxonia mitLüneburg-Ebstorf, auffallende Bildmarken erhalten (Feld 26, dicht unterhalbder beschädigten Kartenpartie). Aus dem deutschen Raum hinaus fließtnordostwärts, mit vielen Nebenflüssen ausgestattet, die Donau und mündetals verdickter Schlauch ins Schwarze Meer (Felder 26-22-21-16).

Diese Markierungen dürften genügen, um anschaulich zu machen, daß dieWeltkarte der Geographiegeschichte in der Tat ein reiches Betätigungsfeldbietet.

Schon die Forschung des 19. Jahrhunderts hat mit viel Erfolg den real-geographischen Informationsgehalt der Karte zu erschließen versucht und hatfür viele Einträge Entsprechungen auf modernen Landkarten ausfindig machenkönnen. Folgerichtig ist der Großteil der Forschungsarbeiten zur Ebstorfkartegeographie- oder landesgeschichtlich orientiert geblieben." Das Interesse

9 Hierzu ROSIEN[Anm. 1], S. 67: "Durch Vergleich mit verwandten Karten des Mittelalters,insbesondere mit der Psalterkarte und der Herefordkarte, läßt sich der Inhalt des frevlerischer-weise herausgeschnittenen Stücks ungefähr bestimmen: Es umfaßt den Südteil Indiens mit demRoten Meer und de~ Persischen Meerbusen [.•. ]. Hier nahm man auch die Säulen des Heraklesund Alexander an, die das östliche Gegenstück zu den an der Straße von Gibraltar aufgerichtetenSäulen bilden sollten. Als Tierbild kann man nach der Herefordkarte einen indischen Elefantenvermuten. VieIleicht hat dieser den Täter besonders angelockt."

10 Vereinzelte Vorstöße in andere Richtungen unternehmen R. UHDEN (Das Weltbild vonEbstorf, Niedersachsen 33 [1928] 179-183) und A. WOLF (Die Ebstorfer Weltkarte als Denkmaleines mittelalterlichen Welt- und Geschichtsbildes, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 8[1957] 204-215). UHDEN sieht in der Karte "die unbegreifliche, wundergläubige frühe Welt-stimmung [... ] zum Ausdruck gekommen" und bemerkt beiläufig, "daß die zufällig gewähltekartographische Form nur dazu dient, das gesamte geographische, historische, mythologische,völker- und naturkundliche Wissen eines Zeitalters in einem geschlossenen Bilde vorzuführen"(ebd., S. 180). Doch dient diese Bemerkung nicht als Ansatzpunkt für ein Forschungspro-gramm, sondern eher als ein Signal dafür, daß hier für den an Tatsachen interessiertenHistoriker und Geographen nicht allzuviel zu holen sei. UHDEN konzentriert sich im weiterenFortgang seines Artikels darauf, positives geographisches Wissen, vor aIlem über den nieder-deutschen Raum, herauszufiltern. Ein späterer Beitrag (R. UHDEN, Die ältesten DarsteIlungen

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konzentrierte sich auf zwei Gesichtspunkte: Erstens wollte man den positivengeographischen Wissensstand der Ebstorfer Kartenmacher feststellen undsortierte dementsprechend alle Eintragungen in 'richtige' und 'falsche'." Denzahlreichen 'Phantasieprodukten' des Kartenrundes (die kein Pendant in denneuzeitlichen Erdkarten haben) blieb auf diese Weise nur die undankbareRolle, für mittelalterliche Unaufgeklärtheit Zeugnis ablegen zu müssen."

Niedersachsens im Kartenbilde, Niedersachsen 37 [1932] 61-67) führt diese Bestrebung fort.Auch WOLFs Artikel ist mit seiner Betonung des sakralen Zweckes der Karte vor allem als eineMahnung zu verstehen, daß der Grad des Faktenwissens im Kartenbilde nicht zu hoch zuveranschlagen sei. Ähnliches gilt für die "fabelgeographischen" Abschnitte in ROSIENSBuch[wie Anm. 1]. Sie zielen' auf eine Scheidung des "Geglaubten" vom "Gewußten", um daseinzugrenzen, was "als Teil eines echten erdbeschreibenden Bildes der damaligen Zeit anzuse-hen ist" (ebd., S. 46). Anregend ist der Zusammenhang, in dem J. LEITHÄUSER(Mappae mundi.Die geistige Eroberung der Welt, Berlin 1958, S. 89-96 u. ö.) auf die Karte zu sprechen kommt.

Wichtige, aber unausgeführt bleibende Stichwörter liefern verschiedene kleinere Einfüh-rungsartikel. Genannt seien H. KARSTENS,Die Ebstorfer Weltkarte. Ein Denkmal frühereuropäischer Kultur, Geographischer Anzeiger 38 (1937) 567-569; H. DUMRESE,Einführung indie Betrachtung der Ebstorfer Weltkarte, Lüneburg 1954, 21972; O. STOLLT,Eine Weltchronikim Bild. Die Ebstorfer Weltkarte, Westermanns Monatshefte, August 1955, S. 55--60. L. Po PP,Die Ebstorfer Weltkarte im Landschaftsmuseum Obermain (Illustriertes Faltblan), Kulmbach o. J.

Ein Neuansatz der Interpretation ist erst mit den Arbeiten RUBERGs [Anm. 2] undARENTZENS[Anm. 2] erreicht. Nun wird es auch möglich, v. DENBRINCKENSStudien über denZusammenhang von Mappae mundi und Chronistik [Anm. 6] u. [Anm. 21] systemarisch fürdie Ebstorfkarte auszuwerten.

11 Dies ist der leitende Gesichtspunkt bereits für die Herausgeber der Ebstorfkarte im 19.Jahrhundert. SOMMERBRODTund konsequenter noch MIllER ordnen den Abdruck der Kartenle-genden nach modernen geographischen Gesichtspunkten an. SOMMERBRODTunterteilt nachKontinenten, Ländern, Regionen, MILLER innerhalb der Regionen überdies nach Provinzen,Völkern, Städten, Gebirgen, Flüssen, Tieren, Inseln, die er jeweils alphabetisch auflistet. Eineganze Reihe von Beiträgen widmet sich dementsprechend der 'Wiedererkennbarkeit' einzelnerRegionen und Landschaften: E. SOMMERBRODT,Afrika auf der Ebstorfer Weltkarte. Festschriftzum 50jährigen Jubiläum des Historischen Vereins für Niedersachsen, Hannover 1885; W.SCHULTE,Die älteste Darstellung Schlesiens auf der Ebstorfer mappa mundi, Zs. des Vereins f.Geschichte und Alrerthum Schlesiens 26 (1892) 387-394; K. MILLER,Die Ebstorfer Weltkarte undihre Darstellung Deutschlands, in: Süddeutsche Blätter f. Höhere Unterrichtsanstalten 1 (1893),S. 62-65; P. GRIBANDI,L'I'talia ne! mappamondo di Ebstorf, in: Bolletino della Reale SocietäGeografica Italiana 1903, S. 1000-1015; E. SCHULTE,Westfalen auf der Ebstorfer Weltkarte (um1235, Westfalen 18 (1933) 132-135; R. OEHME,Heimat im Bild alter Karten, Stuttgart 1960.

t2 K. MILLERbetrachtete, wiewohl er sich einen bewundernswert weiten Überblick über dieHerkunft und Qualität der verschiedenartigen Karteneinträge verschaffte, mit kaum verhohlenerGeringschätzung alle nichtverifizierbaren Kartenelemente: "Der erste Eindruck, welche beideKarten [se, die Ebstorf- und die Hereford-Karte] auf den Beschauer machen, ist die Erweckung'von Mitleid mit dem geographischen Wissen ihrer Verfasser." ([Anm. 1], IV. Heft, S. 1). Einesolche GrundeinsteIlung ist bis heute wirksam geblieben. Das bezeugt M. BÜTINER:"Noch heuteherrscht weithin unter Geographen die Meinung, es lohne die Mühe nicht, sich mit derGeographie der Zeit vor Ritter [se, eARL RITTER, 1779-1859] zu beschäftigen; denn damalsbetrieb man ja noch keine 'richtige' Geographie, deutete noch vieles 'falsch' und sah die Aufgabedes Geographen völlig anders als heute, so daß es wirklich verlorene Zeit sei, sich mit diesenDingen zu beschäftigen." (M. BÜTINER,Zum Übergang von der teleologischen zur kausalmecha-nischen Betrachtung der geographisch-kosmologischen Fakten, Studia Leibnitiana 5 [1973]177-195, hier S. 179.)

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Zweitens beschäftigte man sich besonders mit der landeshistorischen Funktiondes Werkes, fragte nach den Intentionen und Zwecken der Autoren undAdressaten, versuchte in immer neuen Anläufen, das Entstehen der Karte mithistorischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. n Damit war die Aufmerk-samkeit zwangsläufig auf den Kartenteil fixiert, der Europa, Germania undbesonders den nordeutschen Raum zeigte. Die außereuropäischen Weltgegen-den kamen selten in Betracht.

Zweifellos ist der Aspekt der Wiedererkennbarkeit topographischer Angabenwichtig und interessant, zumal es - von der Peutinger- Tafel abgesehen - keineältere Karte des deutschen Raumes gibt. Doch kann dieser beschränkte Ge-sichtspunkt der Gesamtkonzeption des Kartenwerks nicht gerecht werden undkann anscheinend auch über eine bestimmte Erkenntnisschwelle nicht hinaus-gelangen. Es erscheint mir symptomatisch, daß die Forschungen der vergange-nen Jahrzehnte gerade an dem Punkte, auf den sie besonderes Gewicht legten,nämlich auf die Lokalisierung und Datierung der Karte, keine Sicherheit gewon-nen haben. Die Karte soll bald in Lüneburg, bald in Braunschweig, bald in Hil-desheim angefertigt worden sein." Die verschiedenen Meinungen zur Entste-hungszeit differieren um volle 150 Jahre, reichen von ca. 1220 bis 1370. Diegegenwärtig noch herrschende Datierung favorisiert den Zeitraum 1230 bis1250.1S Nach meiner Überzeugung sprechen aber die besseren Argumente

IJ w. OHNSORGE(ZurDatierung der Ebstorfer Weltkarte, Niedersächs. Jahrbuch 33 [1961]158-185) meint in der Darstellung Lüneburgs auf der Karte ein "Zitat des Reitersiegels desHerzogs Magnus 11. von 1371 bis 1373" sehen zu können (ebd., S. 170). Da in dem "welfisch-askanischen Kampfe um die Lüneburger Erbfolge" der Probst Hinricus von Ebstorf (136~-1393)der Initiator der Karte (ebd., S. 182) und der "Hauptexponent der welfischen Politik" sei (ebd.,S. 172), sei die Karte ein welfenfreundliches Dokument und überhaupt "ein wertvoller Beleg fürdie Stärke des politischen Gedankens im 14. Jh." (ebd., S. 183). R. DRÖGEREIT(Zur Entstehungder Ebstorfer Weltkarte, Lüneburger Blätter 13 [1962] 5-23) weist OHNESORGESDatierungsvor-schlag mit überzeugenden Gründen zurück und führt seinerseits andere landesgeschichtlicheFaktoren ins Feld, die eine frühe Datierung (2. Viertel des 13. jh.s) stützen sollen. Zum Beispiel seidie Stadt Hannover "doch wohl nur deshalb auf der Karte" eingetragen, "weil es der erste großeErwerb der Welfen nach ihrem Wiederaufstieg und - wie man damals schon erkennen konnte -Kristallisationspunkt für ein neues Territorium war" (ebd. S.20).

" H. ApPUHN(Der Buchkasten aus dem Rathaus zu Lüneburg, Lüneburger Blätter 14 [1963]5-32, hier bes. S. 30-32) hält es aufgrund kunsthistorischer Beobachtungen für wahrscheinlich,"daß die Karte in Lüneburg um 1300 gemalt worden ist". Auch ROSIEN[Anm. 1] verlegte dieEntstehung der Karte nach Lüneburg, allerdings aus anderen Gründen und mit anderer Datierung(s. o. Anm. 8). Bereits MILLER (Mappae mundi V [Anm. 1], S.6) nahm Lüneburg an. - R.DRÖGEREITmeinte in einem jüngeren Aufsatz [Anm. 8], als Entstehungsort der Karte hätteBraunschweig "viel eher ..• in Betracht gezogen werden müssen als Ebstorf und Lüneburg" (ebd.S. 26), sucht aber dann den Nachweis zu führen, daß der "eigentliche Zeichner" der Karte "inHildesheim" zu suchen sei (ebd. S. H).

15 Die Datierung "um 1235" herrscht vor, seit UHDEN die Karte auf das Wirken eines inEbstorf urkundlich genannten Probstes Gervasius zurückgeführt und vorgeschlagen hat, diesenProbst mit dem in welfischen Diensten stehenden Engländer Gervasius von Tilbury, gest. um1235, gleichzusetzen (R. UHDEN, Gervasius von Tilbury und die Ebstorfer Weltkarte, Jb. d.Geograph. Gesellschaft zu Hannover, 1930, S. 185-200). Obwohl UHDEN nur Indizien gesam-melt, keine gesicherten Resultate vorgelegt hat, ist seine Vermutung von der späteren Forschung

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dafür, daß die Karte erst um 1300 angefertigt worden ist und von Anfang an insEbstorfer Kloster gehört hat."

Doch will ich hier keinen neuen Datierungsbeweis führen. Er ist auf demgegenwärtigen Kenntnis- und Forschungsstand nicht das dringlichste undnächstliegende Problem. Wichtiger ist es, die Aufmerksamkeit auf die Gesamt-konzeption der Karte, auf die nicht-geographischen Strukturmerkmale und aufdie bislang vernachlässigten 'außerdeutschen' Kartenpartien zu lenken.

11.

Im Aufsuchen, Zusammenordnen und Identifizieren der verschiedenengeographischen Orte, der Städte, Flüsse, Gebirge, sind die Gebrauchsmöglich-keiten der Karte nicht erschöpft, ist nur eine von mehreren Aussageschichtenberührt. Wer die zahllosen ins Kartenbild integrierten Legenden studiert,merkt rasch, daß die Erdregionen hier nicht als rein topographische Größenpräsentiert sind, sondern als Aktionsräume der Weltgeschichte. Die Mappa

kanonisiert worden. In den meisten jüngeren Arbeiten gilt die Erbstorfkarte als ein Werk, das inengem Anschluß an die 'Otia imperialia' entstanden sei, eine von Gervasius von Tilbury demWelfenherrscher Otto IV. gewidmete (und vor 1218 an ihn abgesandte) Sammlung vorwiegendhistorischer und geographischer Nachrichten. Freilich hat man die Verbindung nicht immer sehreng verstehen wollen. DRÖGEREIT(Ebstorfer Weltkarte und Hildesheim [Anm. 8], S. 20) sah inGervasius lediglich den "geistigen Urheber". Nach ROSIEN [Anm. 1], S. 35, wurde die Karte"frühestens um 1230 begonnen und gegen 1250 abgeschlossen." Die Datierung "um 1235" ist indie Handbücher und Lexika eingegangen. Jüngst hält ARENfZEN[Anm. 2] an ihr fest. Inzwischenist aber durch neue Forschungen die Identität des Ebstorfer Gervasius mit dem englischenAdeligen und ehemaligen Reichsmarschall Gervasius von Tilbury so gut wie ausgeschlossenworden. Siehe dazu H.-J. SCHULZE,Ist Gervasius von Tilbury Probst von Ebstorf gewesen?Niedersächs. Jahrbuch f. Landesgeschichte 33 (1961) 239-244, und besonders K. JAITNER,Ebstorf, in: Germania Benedictina XI, 1983, S. 165-192, hier S. 166: "Der Name Gervasius ist,wenn auch selten, in der ersten Hälfte des 13. Jhs. in Nordeutschland mehrfach belegt." DerEbstorfer Probst Gervasius kam nicht aus England, sondern "ist vermutlich identisch mit demdiaconus und Kanonikervon Verden, der in einer Urkunde BischofTammos (1180-1188) als Zeugegenannt" wird. Da dieser Ebstorfer Gervasius nichts mit dem Verfasser der 'Otia imperialia' zu tunhat, muß die Frage des Zusammenhangs zwischen der Ebstorfkarte und den 'Otia imperialia' neuaufgenommen werden. Aus dem Karteninhalt ist bisher nicht zweifelsfrei erwiesen, wieweit dieEbstorfer Kartographen das Werk des englischen Gervasius überhaupt benutzt haben und ob esihre jüngste Quelle war. Das Hauptargument für die Frühdatierung der Karte ("um 1235") istsomit weggefallen .

•• ApPUHN(Buchkasten [Anm. 14], S. 30-32) ist durch Vergleiche der Kartenzeichnungen mitanderen Kunstwerken aus dem Bereich der niedersächsischen Frauenklöster (Bildteppiche, Figurdes Auferstandenen im Kloster Wienhausen) zu dem Schluß gekommen, die Karte könne "um1300" gemalt sein.JAITNER [Anm. 4], S. 167, vermutet die Enstehung in demselben Zeitraum, "zuBeginn des 14. Jahrhunderts". Denn dies sei eine wirtschaftliche und künstlerische Blütezeit desKlosters gewesen, nicht zuletzt bewirkt durch die jetzt erstmals in Gang kommende Wallfahrt zuden sogenannten Ebstorfer Märtyrern. Für die Zeit davor gilt OHNESORGESBemerkung, dasKloster Ebstorf sei "genauso unbedeutend wie seine Märtyrer unbekannt" gewesen (OHNESORGE,Datierung [Anm. 13], S. 18). Die auffällige Markierung der Märtyrergräber auf der Karte (s. u.Anm. 17) ergab erst seit der Einrichtung der Wallfahrt einen guten Sinn. Mit der Datierung "umBOO" wäre der Zeitraum genannt, den bereits die Herausgeber der Karte, MILLER undSoMMERBRODT,angenommen hatten. Die Ebstorfkane stünde damit in zeitlicher Nachbarschaftder Herefordkarte (um 1285), der sie nach Form und Inhalt nah verwandt ist.

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Die Ebstorfer Weltkarte 9

mundi ist von oben bis unten gleichsam beschichtet mit Zeugnissen menschli-chen Lebens und Handelns: von oben, das heißt vom Anfang der Zeiten imParadies (s. Abb. 3) bis hinunter in die Ebbekestorper Gegenwart." Mit derKategorie des Raumes ist die der Zeit verquickt. Die Weltkarte erweist sich alseine synoptisch auf die Pergamentfläche projizierte Weltchronik.18 Die Weltge-schichte wanderte nach Auffassung mittelalterlicher Chronisten von Ostenwestwärts. Sie hatte mit der Austreibung aus dem Paradies begonnen und sichentsprechend dem Schema der vier Weltreiche vom babylonischen Reich überdas medisch-persische und das griechische bis ins römische Reich fortge-pflanzt, in das welt- und heilsgeschichtlich letzte, das bis ans Ende der Zeit undalso auch des Raumes reichte.

Den Kartenzeichnern war das Weltreichschema zweifellos vertraut. Es istmit der Aufteilung der Kartenfläche vereinbar, freilich ohne ein deutlichesStrukturmerkmal zu sein." Osten, die Gegend der Schöpfungsfrühe, ist oben,und am Ostrand der Welt liegt das Paradies. Die Regionen der alten Weltreichefolgen westlich, weiter nach unten. Den zentralen Bereich der Karte besetztdas Heilige Land mit dem Mittelpunkt Jerusalem, der zugleich Weltmittel-punkt ist. Hier hat sich die Zeitenwende vollzogen, die Wende vom AltenBund zum Neuen Bund, von der vorchristlichen in die christliche Zeit. Derhistorische Spielraum des christlich-römischen Reiches liegt in der unterenHälfte der Bildfläche, sein zentraler Ort, Rom, bereits auf halber Strecke zumZeit- und Raumende hinab. Seinen eigenen Gegenwartsraum hat der Kar-tenzeichner ganz an den Rand der Ökumene gelegt, Lüneburg und Ebstorfsind fast ans Ufer des den Erdkreis umgebenden Ozeans gerückt (s. Abb.4).20

11 Das Paradies ist als ein von Gebirgen umgrenztes Rechteck abgebildet (Feld 3, links nebendem Christuskopf). Darin sieht man neben Adam und Eva die Quelle der vier Paradiesflüsse. DasKloster Ebstorf ist, dicht an Lüneburg herangerückt, durch drei Märtyrergräber gekennzeichnet(im linken unteren Winkel des Feldes 26), dazu mit der Beischrift: Ebbekestorp. hie quieseuntb {eati} martyres.

18 Nach v. DEN BRINCKENgilt dies für die Mappae mundi generell: "Weltgeschichte vomAnfang der Zeiten auf eine Kartenfläche gebannt, also ein Geschichtsgemälde, so kann man diemittelalterliche Weltkarte zu verstehen suchen." (Mappa mundi und Chronographia [Anm. 6],S. 119).

19 Das oben erwähnte Weltreichschema entspricht der Auslegung von Passagen des BuchesDaniel (Kap. 2 und 7). Zu denken wäre auch an das räumlich bestimmte Weltreichschema desOrosius, der die Weltreiche (es sind bei ihm Babylon, Makedonien, Karthago und Rom) auf dievier Himmelsrichtungen verteilt sah. Im allgemeinen hat aber die Weltreichtheorie auf. dieStrukturierung der mittelalterlichen Mappae mundi anscheinend wenig Einfluß genommen. Nochweniger spielte das Modell der sechs Weltalter (aetates) bei der Kartengestaltung eine Rolle. (Siehv. DENBRINCKEN,Mappa mundi und Chronographia [Anm. 6], S. 136).

20 Lüneburg und Ebstorf (in der linken unteren Ecke des Feldes 26) liegen an einergeometrisch auffallenden Stelle, nämlich am Schnittpunkt des Orbis terrarum mit der Karten-diagonale. die von links unten nach rechts oben durch den Kartenmittelpunkt führt. Daß dieserDiagonalpunkt in der mittelalterlichen Kartographie mit Bedeutung besetzt sein konnte. zeigtein Seitenblick auf die strukturell der Ebstorfkarte sehr ähnliche Herefordkarte [sou. Anm. 23]:Dort sind die vier Diagonalpunkte durch jeweils einen besonders herausgehobenen Buchstabenmarkiert. Die vier Buchstaben ergeben das Wort MORS.

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10 KUGLER

Mittelalterliche Endzeiterwartung konnte in einer derartigen Positionsver-teilung einen sinnfälligen Beleg finden. Die Karte zeigte den ganzen Orbisterrarum als ein vollgeschriebenes Blatt. Fast allen Weltgegenden hatte diezurückliegende Menschheitsgeschichte ihre Spuren aufgedrückt. Fast injedem Winkel waren Städte gebaut und Kriege geführt worden, hattengrausige Heiden oder sanfte Heilige gelebt. Ein gläubiger Christ, dem diesWeltbild fest vor Augen stand, konnte leicht von dem Gefühl akuter Zeit-und Raumnot ergriffen werden.

Die an der Ebstorfkarte evident werdende Nachbarschaft von Weltkarteund Weltchronistik ist nichts Ungewöhnliches. Den Forschungen V. DENBRINCKENSverdanken wir umfassende Einsicht in das enge Wechselverhält-nis von Mappa mundi und Chronographic." Fast alle mittelalterlichenWeltkarten sind als Beigaben zu Schriftwerken angefertigt worden undhaben ihren Platz im Kontext von Büchern gehabt; oft in Enzyklopädien,aber auch in Bibelkommentaren und historiographischen Schriften." Dasheißt, die Mappae mundi galten nicht als selbständige Werke, sondernbezogen ihren Sinn und ihre Berechtigung aus dem Text eines Buches. Einsolch enger Text-Bild-Bezug ist auch für die Ebstorfkarte konstitutiv.Jedoch macht ihr überdimensionaler Umfang sie zu einem Sonderfall. Hierist nicht eine Karte ins Buch integriert, sondern umgekehrt ein Buch in dieKarte. Damit steht die Ebstorfer Weltkarte innerhalb der gesamten Schriftkul-tur des europäischen Mittelalters einzig dar. Nur ein Seitenstück läßt sichnennen, das aber wesentlich kleiner ist: die Wandkarte in der Kathedrale derenglischen Bischofsstadt Hereford, um 1285/1290 von einem Richard vonHaldingham auf ein kalbsfellgroßes Pergament (1,40 X1,20 qm) gezeichnet (s.Abb.5).2)

21 V. DEN BRINCKEN,Mappa mundi und Chronographia [Anm. 6]. Sieh auch dies., " ... utdescriberetur universus orbis", Zur Universalkartographie des Mittelalters, Miscellanea Mediae-valia 7 (1970) 249-279; dies., Die Ausbildung konventioneller Zeichen und Farbgebungen inder Universalkartographie des Mittelalters, Archiv für Diplornatik 16 (1970) 325-349; dies.,Chronica und Mappa Mundi, in: Die Parler und der Schöne Stil, 1350-1400. Ein Handbuch zurAusstellung, hg. von A. LEGNER,Köln 1978, Bd. 3, S. 125-132.

22 Sieh MappemondesA.D. 120(}-1500. Catalogue prepare par la Commission des CartesAnciennes de l'Union Geographique Internationale, Red.ven-chef M. DESTOMBES(MonumentaCartographica Vetustioris Aevi 1; Imago mundi. Suppl. 4), Amsterdam 1964. Der Katalogerfaßt 755 Ökumenekarten. Davon sind nur 19 größerformatige "mappe-mondes isolees" nichtin Handschriften eingebunden. 202 Karten gehören zu Isidor, 142 zur Weltbeschreibung desWilhelm von Metz, 95 zu Sallusts 'Bellum Iugurthinum', 45 zu Lucans 'Pharsalia'. Einegrößere Anzahl von Karten findet sich in Bibel- und Bibelkommentar-Handschriften. Siehedazu ARENTZEN, Imago mundi cartographica [Anm. 2], bes. S.230-232. Auch RUBERG,Mappae mundi [Anm. 2], bes. S. 550-563.

13 C. R. CRONE (Hg.), The world map by Richard of Haldingham in Hereford Cathedral, ca.A.D. 1285 (Reproductions of Early Manuscript Maps 3), London 1954; Mappaemundi. Dieältesten Weltkarten, hg. von K. MILLER, IV. Heft: Die Herefordkarte, Stuttgart 1896; W. L.BEVANI H. W. PHILLOTT,Medieval Geography. An Essay in illustration of the Hereford Mappamundi, London/Hereford 1873 (Reprint Amsterdam 1969); G. R. CRONE: New light on theHereford Map, Geographical Journal 131 (1965) 447-462. Dort weitere Literaturhinweise. - Die

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Die Ebstorfer Weltkarte

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Abb. 5: Gesamtansicht der Hereford-Karte (um 1285). Nachzeichnung von K. MILLER.Diemeisten Detailbilder sind weggelassen.

Genau besehen ist es nicht ein einzelnes Buch, woraus die Ebstorfkarte sichspeist, sondern es sind eine ganze Reihe von Büchern, fast eine kleineSchulbibliothek. Neben den 'Etymologiae' des Isidor von Sevilla, ihrem

Herefordkarte ist in ihrer Makro- wie in ihrer Mikrostruktur der Ebstorfkarte sehr ähnlich. Wieman das Verhältnis zwischen den beiden Karten beurteilen will, hängt nicht zuletzt davon ab, obman die Ebstorfkarte auf die Zeit vor 1285/90 oder danach datiert. Der übrige Bestand angroßformatigen, selbständigen Weltkarten tendiert gegen Null. Im gesamten europäischen Raumsind (von Hereford und Ebstorf abgesehen) aus der Zeit vor 1300 lediglich noch die Fragmentezweier Karten übriggeblieben, die Vercelli-Karte und das Wiesbadener Fragment (s. Mappemon-des [Anm. 22], 52.1 und 52.4).

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12 KUGLER

Hauptinformanten, haben die Ebstorfer Kartenmacher die 'Historiae' desOrosius und die 'Imago mundi' des Honorius Augustodunensis benutzt,neben der Hamburgischen Geschichte des Adam von Bremen die 'Otiaimperialia' des Gervasius von Tilbury, neben dem geographischen Traktat dessog. Aethicus die 'Collectanea' des Solinus u. a. m.24 Nicht nur die "Fachlitera-tur", auch die Kenntnis poetischer Werke macht sich auf dem Kartenbildbemerkbar, unter anderem die Kenntnis des Trojaromans und des Alexander-romans. Darauf wird zurückzukommen sein.

Das in Text und Bild ausgebreitete Wissen umfaßt Fakten der biblischen undder antiken Geschichte, Charakteristika der Landschaften, Volksstämme,Städte; es informiert über historisch wichtige Personen, seien es mythisch-heidnische oder christliche; auch gibt es viele naturkundliche Auskünfte überPflanzen, über Steine und besonders über Tiere. .

Die große Zahl der zusammengetragenen Informationen ist, für sichbesehen, wenig originell, wie auch das große Format für sich allein die Kartenoch nicht zu einem bedeutsamen Gegenstand macht. Doch hat sich dieQuantität des Gestalteten auf die Qualität der Gestaltung ausgewirkt. In denkombinatorischen Regelungen und Lösungen, zu denen die Kartengestaltermit ihrer Materialfülle finden mußten, liegt der besondere Reiz und auch dieeinmalige Aussagekraft des Ebstorfer Kartenwerkes."

'4 Die Schriftquellen verzeichnet MILLER,Mappaemundi V [Anm. 1], S. ""I(Abkürzungen) undS. 7S-77. Bei etlichen der aufgeführten Schriften ist aber nicht klar, ob direkte oder indirekteQuellenbenutzung vorliegt. Oft konnte MILLER (wie vor ihm auch SOMMERBRODT)nurinhaltliche, nicht wörtliche Übereinstimmungen feststellen. Seit UHDEN (Gervasius von Tilburyund die Ebstorfer Weltkarte [Anm. 15]) gelten die 'Otia imperialia' des Gervasius von Tilbury alsdie jüngste von den Ebstorfern benutzte Quelle. Die daraus gezogene Schlußfolgerung, dieEbstorfkarte sei "als Illustration zu den 'Otia imperialia' . .. entstanden" (v. DENBRINCKEN,Mappa mundi [Anm. 6], S. 146, im Anschluß an UHDEN und ROSIEN),geht indes vie! zu weit.Schwierig und vielleicht kaum je befriedigend lösbar ist die Quellenfrage im Bereich derzeichnerischen Elemente und der Positionsverteilung der einzelnen Bilder und Bildlegenden.MILLERhat in seiner Ausgabe zahlreiche Querverweise auf andere Mappae mundi angebracht.Seine Arbeit ist bis heute nicht überholt, obwohl ihm ein erheblicher Teil des heute bekanntenKartenmaterials noch nicht zugänglich war und er seine Quellensuche ganz der Ansichtunterordnete, hinter den mittelalterlichen Mappae mundi die Gestalt und den Inhalt einer antikenWeltkarte faßbar zu machen, und damit ein unerreichbares Ziel ansteuerte (s. MILLER,Mappae-mundi V [Anm. I), S. 78 f.). Eine neue Untersuchung der Quellen ist wünschenswert.

25 MILLERsah die Ebstorf- und die Hereford-Karten als die einzigen erhaltenen Zeugen einerbreitgefächerten, aber fast spurlos untergegangenen Filiation großformatiger Weltkarten, die sichlückenlos auf große Wandkarten des antiken Imperium Romanum zurückgeführt haben sollten, imbesonderen auf eine "römische Reichskarte des 4. Jahrhunderts" und auf die sagenumwobene"Augustuskarte", eine für Augustus von seinem Schwiegersohn Agrippa angefertigte Wandkarte(s. MILLER,Mappaemundi V [Anm. I), S. 78). Diese Rückführung bleibt jedoch spekulativ, weilsich - abgesehen von der Peutinger-Tafel- kein einziger Kartenrest aus römischer Zeit erhaltenhat. Besser begründbar ist die Auffassung, die Ebstorfer wie die Hereford-Karte seien Ergebnisseeiner genuin mittelalterlichen kartographischen Entwicklung; sie seien im Wege der Amplificatioaus den kleinerformatigen handschriftengebundenen Mappae mundi hergeleitet. Es ist bezeich-nend, daß gerade eine der kleinsten in einem Buche überlieferten Weltkarten, die LondonerPsalterkarte (2. Hälfte des 13. Jh.s, 8,5 cm Durchmesser), ihrer gesamten Struktur nach als die

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Die Ebstorfer Weltkarte 13

Die verfügbare Fläche war groß genug, um ein Vielfaches der Informationaufzunehmen, die sonst auf mittelalterlichen Mappae mundi üblich ist; sie warandererseits nicht so groß, daß strenge Materialauswahl und Prioritätenset-zung überflüssig geworden wären. Die Verfasser waren ständig genötigt, Bild-und Textumfänge gegeneinander und gegen die umliegende Kartenfläche abzu-wägen. Denn innerhalb der Kartenstruktur spielt nicht allein die Sachaussageder Text- und Bildelemente eine Rolle, sondern haben auch ihre Ausdehnungund ihre Postition im Gesamtbild semantischen Wert.26 Die graphischeVerortung schafft für die Text- und Bildeinheiten ein Geflecht von Relationen,das enger ist als dort, wo Buch und Kartenanhang getrennt nebeneinanderbestehen. In diesem Netz ist nach allem, was ich bisher darüber weiß, nichtsdem Zufall oder der subjektiven Willkür überlassen. Die Position der Detailszueinander und im Gesamtgrundriß ist durchgängig von einer normenbewuß-ten Planung bestimmt.

Die Ebstorfer Karte repräsentiert den Orbis terrarum als eine Welt aus demBuch. Sie präsentiert den Grundriß einer literarischen Bildung. Sie fixiert denKanon eines Weltwissens, der im Wirkungsbereich eines norddeutschenFrauenklosters des 13. bis 14. Jahrhunderts allen halbwegs Gebildeten, d. h.allen Lateinkundigen, verfügbar war oder wenigstens verfügbar sein sollte."Wir wissen zwar nichts über den Verwendungszweck der Karte. Vielleicht warsie für den klösterlichen Schulunterricht gedacht. Vielleicht sollte sie - ähnlichden in Ebstorf und seinen Nachbarklöstern gefertigten großformatigenBildteppichen - bei bestimmten Anlässen ausgestellt werden." In jedem Falleist die Karte das Resultat des einzigartigen Versuches, eine universale Vielfaltvon Erscheinungen mit graphischen Mitteln zu verbinden und sie als einenstrukturellen und gleichsam organischen Zusammenhang sinnfällig zu machen.

nächste Verwandte der Hereford- und der Ebstorfkarte gelten darf (s. Abb. 6). Ausgabe derLondoner Psalterkarte in MILLER,Mappaemundi [Anm. 1], Heft III. Siehe auch Mappemondes[Anm. 22]; ferner ARENTZEN,Imago mundi [Anm. 2], S. 129-131 u. ö., auch RUBERG,Mappaemundi [Anm. 2), S. 561. .

26 Zur bedeutungsperspektivischen Anlage der einzelnen Kartenpartien s. u. S. 18H.Einen weni-ger engen Text- Bild-Bezug haben die zahlreichen Legenden auf den Außenrändern der Karte. Ein Teildieser Legenden enthält Grundinformationen zur Schöpfungsgeschichte, zur Einteilung des Orbisterrarum und seiner kartographischen Wiedergabe, ein anderer Teil gibt naturkundliche Informa-tionen, von denen nicht alle einen bildliehen Anhaltspunkt innerhalb des Kartenrunds haben.

27 Zum personellen Einzugsbereich des Klosters Ebstorf sei angemerkt (nach JAITNER[Anm. 4]:Die meisten Klosterfrauen sind offenbar aus den Familien des umliegenden Landadels und aus demLüneburger Patriziat gekommen. Das Kloster übernahm auch die Erziehung von Schülerinnen ; obbereits schon in der Entstehungszeit der Karte, ist freilich ungewiß. Schon früh war eineBruderschaft angeschlossen, die im 15. Jh. als 'Mauritius-Gilde' namhaft wird und der im frühen14.Jh. der lüneburg-braunschweigische Herzog angehört. Beim Kloster lebten laid prebendati; vorallem Lüneburger Bürger sicherten sich hier eine Altersversorgung und eine Begräbnisstätte.

21 ARENTZENmeint (Imago mundi [Anm. 2], S.227), die Karte könne im propädeutischenSchulunterricht oder "als Zierbild in den Räumen eines höheren Weltgeistlichen" gebraucht wordensein. Eine Verwendung als "Altarbild" (so v. DENBRINCKEN,Mappa mundi [Anm. 6], S. 128) istunwahrscheinlich.

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14 KUGLER

Abb. 6: Die Londoner Psalterkarte (2. Hälfte des 13. Jh.s). Nachzeichnung von K. MILLER.

Damit gehört die Kartenkonzeption zweifellos ins Umfeld der scholastischenSummen. Es ist freilich keine 'Summa' im Sinne einer enzyklopädischenVollständigkeit, sondern eine vom Kartenschema strikt geforderte Auswahlrepräsentativer Signaturen. Sollte das Werk seine Übersichtlichkeit und seineProportionen behalten, so durfte es aus der enzyklopädischen Fülle desverfügbaren Materials nur das aufnehmen, was als besonders wichtig, bemer-kens- und darstellenswert angesehen wurde.

Das Ebstorfer Weltbild hat normativen Charakter. Es ist ein Ideenbild mitdem Anspruch religiöser Verbindlichkeit. Dies manifestiert besonders deutlichder Christuskopf am oberen Rand (Feld 3). Er gibt dem Kartenbild eine

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Die Ebstorfer Weltkarte 15

theologische Dimension, erinnert an den analogen Aufbau von Mikrokosmosund Makrokosmos, zeigt den Schöpfer in seiner Schöpfung anwesend, inMenschengestalt sowohl wie in Erdgestalt. nicht nur der Kopf, auch die Füßeund die Hände Christi sind in den Bildraum einbezogen (unten Feld 31, linksund rechts Felder 16 und 20).29

Der Christuskopf signalisiert, daß der Zeichner sich und sein Werk, ähnlichwie die Weltchronisten am Beginn ihrer Bücher, dem Schöpfer-Gott als dem"Schutzheiligen aller Anfänge" anvertraut. JO In der unmittelbaren Umgebungliegen Bildörter, in denen das Überzeitliche auf das Zeitliche abstrahlt:linkerhand das Paradies mit dem Baum des Lebens und seinen Unsterblichkeitverleihenden Früchten; rechterhand das Orakel des Sonnen- und des Mond-baumes, das die Zukunft voraussagen kann." Von den Brahmanen in Paradie-sesnähe weiß eine Kartenlegende zu berichten, daß sie nicht altersschwachwerden, sondern sich verbrennen müssen, wenn sie sterben wollen." Auch deruntere Bildrand markiert mit den Grenzen der Räumlichkeit zugleich die derZeitlichkeit. Wie RUBERG gesehen hat, steht dort (in Feld 31) die Zeichnung derFüße anstelle der antiken Weltgrenzmarkierung der Herkules-Säulen undverweist zugleich auf eine apokalyptische Aussage. Indem nämlich der

29 Kopf und Glieder Christi sind ins Kartenrund integriert, reichen nicht darüber hinaus,verbildlichen somit die Auffassung, Christi Leib sei mit dem Orbis terrarum identisch. Sointerpretiert auch ARENTZEN,Imago mundi [Anm. 2], S. 267-274, bes. S. 271; vorher schon WOLF,Weltbild [Anm. IjJ, S.213, und RUBERG,Mappae mundi [Anm. 2], S.571. Nach anderer 10Auffassung haben die Ebstorfer Zeichner zeigen wollen, daß Christus, hinter der Erdscheibestehend, den Orbis terrarum halte. Siehe B. BRONDER,Das Bild der Schöpfung und Neuschöpfungder Welt als 'orbis quadratus' FMST 6 (1972) 18B-210, hi er S. 209, Anm. 88.

30 Vg!. C. ST.JAEGER,Der Schöpfer der Welt und das Schöpfungswerk als Prologmotiv in dermhd. Dichtung, ZfdA 107 (1978) 1-18, hierS. 6; zit. bei RUBERG,Mappae mundi [Anm. 2], S. 573.Über die mittelalterliche Konvention, die Lektüre des Rundbildes am Scheitelpunkt der Mappamundi zu beginnen, s. RUBERG(ebd.), S. 569f.

31 Sieh Feld 3. Die Legende zum Paradiesbild (vg!. MILLER[Anm. 1], S. 48 a): Paradisus etlignum vitae et quatuor /lumina /luentes de Paradiso; ubi primos parentes decipit serpent suadensde ligna vetito manducare. Beim Bilde des Sonnen- und Mondbaum-Orakels steht nur kurz:Oraculum solis et lune. Luna. Sol. (Vg!. MILLER[Anm. 1], S. 48 a). Die Abbildung zeigt zwischenzwei Bäumen eine menschliche Figur neben einem tuchverhüllten Tisch. Nach nahezu einhelligerForschungsmeinung ist es Alexander der Große, der sich seine Zukunft weissagen läßt. Vg!. Lebenund Taten Alexanders von Makedonien, hg. und übers. von H. VANTHIEL, Darmstadt 1983,S. 132-137 (Vita Alexandri 3, 17,2-10), und S. 222-229 (Brief an Aristoteles 51-66). Dazu MILLER[Anm. 1], S. 48 a; ROSIEN [Anm. 1], S.45; RUBERG,Mappae mundi [Anm. 2], S.575-578;ARENTZEN, Imago mundi [Anm. 2], S.177-180. RUBERGmacht darauf aufmerksam, daßmittelalterliche Kommentatoren, voran Petrus Comestor in seiner 'Historia scholastics', dieindischen Orakelbäume mit dem paradiesischen Lebensbaum in eine Reihe stellen und ihrenFrüchten lebensverlängernde Wirkung zuschreiben. Dementsprechend seien auf der Ebstorfkarte"Paradiesgeschehen und Baumorakelszene [... ] aufeinander bezogen" (ebd., S. 578).

32 MILLER([Anm. 1], S. 48 b) las auf der Originalkarte: Agrocte et Bragmanni in ea temperieaeris manent, ut mori non possunt sed oppressi senio se [in ignem mittant amore] alterius uue, undeLucanus: ... Diese Signatur (sie gehört ins Feld 2) ist auf SOMMERBRODTSLichtdruckwegretuschiert und fehlt folglich auch auf der Nachbildung WIENEKES[Anm. 1]. Vg!. diefragmentarische Lesart in SOMMERBRODTSTextband S. 19, 7.

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16 KUGLER

Zeichner den einen Fuß die Erde, den andern das Wasser berühren lasse, zitiereer Apoc. 10, 2. Dort heißt es, am Ende der Zeit werde ein (im Mittelalter oftchristologisch gedeuteter) angelus fortis vom Himmel herabsteigen und deneinen Fuß aufs Meer, den and ern aufs Land setzen."

Wieweit sich ähnlich wie bei den Herkules-Säulen auch bei anderenKartendetails verschiedene Bedeutungsstufen freilegen lassen, ist bislang weniguntersucht. Die vorrangig geographie-geschichtlich, das heißt auf den Literal-sinn der Karte ausgerichtete Forschung hatte keinen Blick für den Horizontder exegetischen Literatur, vor dem das Ebstorfer Kartenwerk zweifellosentstanden ist und auch verstanden sein will. Man denke an den Stiftshütten-kommentar des Adam Scotus ('Tripartitum tabernaculum una cum pictura',um 1180), worin ein vom Autor selbst angefertigtes (und leider verlorenes)Gemälde der Stiftshütte als universales Welt- und Geschichtsbild beschriebenund ausgedeutet wird; oder an Hugos von St. Victor Schrift 'De area Noe', dieanhand einer großangelegten Zeichnung Noahs Arche als eine Figur sowohlder Ecclesia wie auch des Orbis terrarum erklärt. Auch die visionärenKosmosbilder Hildegards von Bingen - sie gehörte demselben Orden wie dieEbstorfer Nonnen an - lassen sich dem geistigen Umfeld der Mappa mundizurechnen."

Ich fasse zusammen. Das geographische Substrat der Weltkarte ist überlagertvon einer historisch-weltanschaulichen und einer theologischen Dimension.Die Karte erweist sich als ein normatives Ideenbild, sie präsentiert ein"Weltbild im Kopf", das Strukturmodell eines mittelalterlichen Bildungska-nons. Es ist ein Kanon vorwiegend literarischer Bildung, gespeist ausBuchwissen weit mehr als aus Erfahrungswissen. Insofern ist die Mappa mundieine Konstruktion, die mehr die Philologie als die Kartographie angeht, und siesollte dementsprechend ausgewertet werden.

Die Kartenstruktur bezieht eine wesentliche Spannung daraus, daß sieZonen der Erfahrung mit Zonen der Erfindung zu einem Ganzen rundet. Diefremden, fernen Weltgegenden sind mit derselben zielbewußten Detailtreueausgestaltet wie der nahe norddeutsche Heimatraum. Nirgendwo hat derIllustrator weiße Flecken gelassen, nirgendwo Signale der Unsicherheit oderUnwissenheit gesetzt. Er zeigt sich der gesamten Oberfläche des Orbisterrarum auf eine geradezu provozierende Weise gewiß. Er weiß Bescheid überdie bösartig-kannibalischen Völker des Nordostens, kennt die Wunderdinge

)) RUBERG,Mappae mundi [Anm. 2], S. 583f. Siehe auch ARENTZEN,Imago mundi [Anm. 2],5.192-202.

)4 Zu den "Weltbildern" Adams des Schotten, Hugos von St. Viktor, Hildegards von Bingen s.F. OIlLY, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, hier vor allem denAufsatz 'Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena' (S. 171-273, bes. 5.171-196).Ferner A. C. ESMEIJER,Divina quaternitas. A preliminary study in the method and application ofvisual exegesis, Assenl Amsterdam 1978, Kap. 1 (Pictura quasi scriptura).

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Die Ebstorfer Weltkarte 17

Indiens und hat Auskünfte über die mißgebildeten Menschen des südlichenAfrika parat. Die fremde Ferne hat augenscheinlich denselben Status derBegreiflichkeit wie die vertraute Nähe. Das sorglose Nebeneinander von Resfictae und Res factae verschafft diesem Weltbild den Gesamteindruck einerstabilitas, einer harmonia mundi," Es ist freilich eine Stabilität, die den Keimihrer Gefährdung bereits in sich trägt, und zwar deshalb, weil sie als einepraktisch zu erprobende dargeboten wird. Denn indem die literale Darstel-lungsebene der Karte suggeriert, der Weg von Ebstorf zum Paradies oder zuden Goldenen Bergen Indiens sei prinzipiell genauso gangbar wie etwa der vonEbstorf nach Rom, fordert sie zur Verifikation heraus. Damit wird desBetrachters Neugier auf neue Wege- und Welterfahrungen zumindest ebensostark gefördert wie seine Bereitschaft zur Kontemplation. Die Kartenmacherselbst haben den Aspekt der Reiseerfahrung ausdrücklich hervorgehoben. IhreMappa mundi, so schreiben sie auf den Rand, sei nicht nur den Betrachtern(legentibus) nützlich, sondern gebe auch den Reisenden (viantibus) "dieRichtung und eine anschauliche Vorstellung von den Dingen am Wege".36 Esscheint für sie also kein weltanschauliches Hindernis gegeben, scheint nur eineFrage der Zeit und der Gelegenheit zu sein, bis der Erfahrungsraum sich an dieGrenzen der abgebildeten Welt hinausdehnen läßt.

Zweifellos ist der Anspruch der Kartenmaler, einepraktische Reiseorientie-rung zu bieten, problematisch, vor allem auch deshalb, weil ein einheitlicherMaßstab fehlt. Es hängt offensichtlich nicht von quantitativ meßbaren,sondern von qualitativen Kriterien ab, wieviel Kartenfläche eine Region, eineLandschaft, eine Ortschaft beanspruchen darf. Die Abmessungen sind bedeu-tungsperspektivisch bestimmt. Der Umfang der einzelnen Eintragungenbemißt sich nach ihrer historischen oder sonstigen "Wichtigkeit", nicht nachihrer geographischen Flächenausdehnung."

35 A. BORSTresümiert seine kurze Beschreibung der Ebstorfkarte mit den Sätzen: "Es ist miteinem Wort eine Menschenwelt, und ihr Raum ist eine Chance für humane Gestaltung, für Tat undBetrachtung, für Erinnerung und Vorsorge [... ]. Für die weißen Flecken unbekannten und totenRaumes hat das Ebstorfer Altarbild keinen Platz; es zeigt ein Land der Verheißung für dieMenschen." (A. BORST,Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/BerlinlWien 1979, S. 138-143,hier S. 143.)

J6 ••• que scilicet non parvam prestat legentibus utilitatem, viantibus direction em rerumque. viarum gratissime speculationis dilectionem. Vgl, MILLER [Anm. I), S. 8 b; SOMMERBRODT[Anm.l], Textband, S.8. Im Hinblick auf die Herefordkarte ist CRONE zu der Überzeugunggelangt, auch großformatige Karten hätten praktischen Zwecken der Reiseorientierung gedient.G.R. CRONE, New light on the Hereford Map, Geographical Journal131 (1965) 447-462, bes,S.450f. und S. 459-462.

37 Auf allen Mappae mundi bis ins 14. Jahrhundert werden, so urteilt v. DENBRINCKEN(Mappamundi [Anm. 6], S. 143), "die einzelnen Länder in ihrer Größe nach ihrer historischen Wichtigkeitbemessen". Überproportional viel Fläche erhält auf fast allen Karten die Darstellung des HeiligenLandes. Eine Besonderheit der Ebstorfkarte hingegen ist die ausgreifende Präsentation des nord-und nordostdeutschen Raumes - Indiz dafür, daß die Kartengestalter den Grundriß aus ihrereigenen Perspektive zurechtgeschnitten haben und ihre Heimatregion im Idealrund des Orbisterrarum zureichend plaziert sehen wollten. Die auffallende Größe der Bildmarken von Jerusalem,

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18 KUGLER

Ill.

1. Rand und Mitte des Orbis terrarum

Die Mitte der Ebstorfer Kartenwelt liegt in Jerusalem. Das schließt an altekartographische Traditionen an. In den Kulturen der Antike war es immer einOrt im Mittelmeerraum, der das Zentrum bildete. Die Griechen hatten Delos,die Juden Jerusalem, die Römer Rom dorthin definiert." Nordwest- undOsteuropa gehörten zu den barbarischen Randzonen der Welt. Die mittelalter-lichen Kartographen haben jene alte Verteilung von Mitte und Rand grossomodo beibehalten. Doch gerade weil sie das tradierte Schema nicht aufgaben,mußten sie, wenn sie in einer mittelmeerfernen Region Europas zuhausewaren, einen beträchtlichen Perspektivwechsel bewältigen. Denn bei denGriechen und Römern hatte der eigene Raum die Mitte gebildet und hatten diefremden Regionen am Rande gelegen. Für einen mittelalterlichen Norddeut-schen war das Gegenteil der Fall. Sein eigener Erfahrungsraum präsentiertesich als marginal, weit entfernt vom Zentrum der Welt. Diese Verteilung wurdenoch dadurch verstärkt und beglaubigt, daß im 11. und 12. JahrhundertJerusalem zum unbezweifelten geographischen und zugleich Bedeutungs-Mittelpunkt der Ökumene aufrückte." Eine "egozentrische" Weltansicht, wiedie antiken Römer sie haben konnten - oder auch, um ein ganz anderesGegenmodell zu nennen: die Chinesen in ihrem 'Reich der Mitte' -, eine

Babyion (Feld 13), Rom (Feld 27), auch von Braunschweig und von Lüneburg-Ebstorf (Feld 26)signalisieren zweifellos, daß diese Orte den Autoren besonders wichtig waren. Freilich wird mandaraus keine strenge Systematik der Größenverhältnisse ableiten dürfen. Wenn eine Zeichnungsehr klein ausgefallen ist, so muß das nicht unbedingt auf eine geringere Wertigkeit des Bildortes,sondern unter Umständen einfach auf Platzmangel zurückgeführt werden.

)I Zur antiken Vorstellung vom Weltennabel s. W. H. ROSCHER,Omphalos, Eine philologisch-archäologisch-volkskundliche Abhandlung über die Vorstellungen der Griechen und andererVölker vom "Nabel der Erde", Abh. d. Sächs. Gesellschaft d. Wiss., phi!.-hist. Klasse, Bd, 29,1913, Nr. 9.

)9 Bereits der Ezechiel-Kommentar des Hieronymus (Migne PL 25, Sp. 52B) hatte Jerusalemzur Weltmitte und zum Weltennabel erklärt:Jerusalem in medic mundi sitam, hie idem Prophetatestatur, umbelicum terrae eam esse demonstrans. Mit den Kreuzzügen gewann diese Positionsbe-stimmung entscheidend an Gewicht. Papst Urban n. verwendete sie bereits als ein Argument inseinem Aufruf zum ersten Kreuzzug (Clermont 1095). Siehe dazu W. MÜLLER,Die heilige Stadt,Stuttgart 1961, S.53; ARENTZEN, Imago mundi [Anm. 2], S.216-220; H. KUGLER, DieVorstellung d.er Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters (MTU 88), München 1986,S. 189-191. Über die "strukturgebenden Schemata" mittelalterlicher Weltkarten allgemein s.ARENTZEN(ebd.), S. 29-131. Welchen geometrischen Mustern die Binnengliederung der Ebstorf-karte und der ihr verwandten konzentrischen Konstruktionen folgt, bedarf weiterer Klärung. Ichhalte es für wahrscheinlich, daß die Kartenzeichner neben dem modifizierten T-O-Schema (s. o.S.04) auch eine Kombination von Kreisen und Quadraten verwendeten, gemäß der Theorie desOrbis quadratus. Es ist gewiß kein Zufall, daß das Bildfeld des Christuskopfes (Kreis im Quadrat)die Grundform der Gesamtkarte wiederholt. Bei der Unterteilung der Bildfläche könnte die für diemittelalterliche Architektur grundlegende geometrische "Vierung über Ort" eine Rolle gespielthaben. Zu den geometrischen Mustern s. BRaNDER,Das Bild der Schöpfung und Neuschöpfung[Anm. 29]; ESMEIJER,Divina quaternitas [Anm. 304];vg!. Abb. 7.

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Die Ebstorfer Weltkarte 19

··1ußacW.

Abb. 7: Das Bild des Kosmos (Kombination von Kreisen und Quadraten). Thomas vonChantirnpre, Clm 2655, 13. Jh. Die einander bei den Händen haltenden Figuren sind die Winde,das kleine Rund im Zentrum der Orbis terrarum, von den Planeten umkreist.

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solche WeItsicht war dem christlichen Mitteleuropäer verwehrt." SeinOrdnungsbild war durch eine gleichsam "exilierte" Weltmitte konstituiert; siegarantierte die Raumaufteilung im Idealrund der Erde. Sie brachte zugleichaber auch ein Moment der Beunruhigung, einen latenten Störfaktor ins Spiel.Denn ein Erdbild, das dem Betrachter seine eigene Lebenswelt klein undrandständig erscheinen läßt und die "wichtigen" Erdgegenden in die Fernerückt, ein solches Bild ist zweifellos einem Denken förderlich, das aufOrtsveränderung drängt. Ob wir es hier mit dem Signum einer Denkhaltungzu tun haben, die sich in den Kreuzzügen bemerkbar gemacht hat undvielleicht noch darüber hinaus, sei dahingestellt."

2. Gog, Magog und das kannibalische Nordostasien

Am Nordostrand der Ökumene hinterm Kaspischen Meer (Feld 6 derEbstorfkarte) sitzen, eingesperrt hinter zinnenbekrönten Mauern, die kanniba-lischen Schreckensvölker Gog und Magog und lauern auf ihre Chance.Alexander der Große hat sie dort eingeschlossen, doch werden sie bei derAnkunft des Antichrist hervorbrechen und die Erde verwüsten, wie es dieOffenbarung Johannis (20, 7 f.) verheißt. Der dem Kartenbild beigegebeneText referiert diesen Sachverhalt mit knappen Worten.42 Der Aufenthaltsortvon Gog und Magog ist keine topographisch wertneutrale Zone, er hat dieQualität eines "Zentrums des Bösen" und Widergöttlichen. Diese Qualitätstrahlt auf das weitere Umfeld, auf die gesamte hinter der kaukasischenGebirgslinie abgeriegelte und mit dem Namen Skythien belegte Weltgegendaus." Die Region wimmelt von schlimmen und gefährlichen Völkern. Da sinddie Massagete et Derbees (sc. Massagetae und Derbices), die ihre alternde

40 Über das auf den eigenen Raum zentrierte Weltbild nichteuropäischer Zivilisationen s.LEITHÄUSER,Mappae mundi [Anm. 10], S.23-26. Allgemeiner: R. ARNHEIM,Die Macht derMitte, Köln 1983.

41 Der Drang der in Nord- und Mitteleuropa ansässigen Völker, zum Mediterraneum zugelangen, ist ein in langen Zeiträumen immer wieder hervortretendes Charakteristikum dereuropäischen Geschichte; s. F. BRAUDEL,La Mediterranee et le monde mediterraneen a l'epoquede Phillipe n, 2 Bde., Paris 51982, bes. Bd. 1, S.172-204.

42 Hie inclusit Alexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebitAntichristus. Hii humanis carnibus uescuntur et sanguinem bibunt. Vgl. MILLER[Anm. 1], S.32 b-33 a. - Über die Geschichte der Angst vor den Schreckensvölkem Gog und Magog und überdie im Lauf der Zeiten wechselnden Identifikationen mit nordasiatischen und nordeuropäisehenVölkern s. R. HENNIG, Terrae incognitae, Bd. 2, Leiden 1950, S. 169-185.

4) Die in der alttestamentarischen Tradition den Völkern Gog und Magog zugewieseneHimmelsrichtung ist eigentlich nicht Nordosten, sondern Norden (Ez. 38, 15 und 39, 2). DieEbstorfer Kartenmaler haben in Übereinstimmung mit anderen mittelalterlichen Mappae mundiden bedrohlichen Ort vom nordwesteuropäischen Bezirk weg und weiter nach Osten hinausverlagert. Auf der Ebstorfkarte ist überdies, abweichend von der sonstigen kartographischenÜbung, der Nordwind Septentrio, der traditionell die Himmelsrichtung des Bösen markiert, nachNordosten verschoben; ob versehentlich oder absichtlich, läßt sich einstweilen nicht entscheiden;siehe ARENTZEN[Anm. 2], S. 161f.

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Die Ebstorfer Weltkarte 21

Verwandtschaft aufessen, um sie vor der Vergreisung und dem Siechtum zubewahren. Da sind die berufsmäßigen Menschenfresser, die pferdefüßigenAntropofagi. Da sind auf der Insel Taracontum die Turci, die das Fleisch vonSäuglingen und Frühgeburten bevorzugen." Allenthalben vermerken dieBildlegenden den Kannibalismus recht nüchtern als ein ethnographischesCharakteristikum. Doch der Ausstrahlungsbereich der Endzeitvölker fügtdem Menschenfresserturn eine heilsgeschichtlich-theologische Valenz hinzu,macht es zum Indiz dafür, daß die asiatische Nordostregion Aufmarschgebietdes Antichrist sein kann. Das hat Folgen für die Bewertung des nördlichenGrenzgebietes zwischen Asien und Europa. Hier stoßen nicht einfach zweiErdteile aneinander. Die Grenze ist mit Bedeutung aufgeladen. Eine Regiondes Heidnischen und Widerchristlichen steht gegen die Region des christlichenEuropa und vornehmlich der Germania.

Diese Lesemöglichkeit wird, meine ich, von einigen Eigenheiten derKartenstruktur gestützt. Der "skythische" Nordosten (um Gog und Magogherum) und der deutsche Nordwesten (mit dem optischen SchwerpunktLüneburg-Ebstorf) sind ungefähr gleich groß und liegen symmetrisch einandergegenüber, nach dem Prinzip der gegensätzlichen Entsprechung. Die Nordost-region ist mit Menschenfressern besetzt, die Nordwestregion mit Wohnstättender Christenheit. Die meisten der im Germania- Teil eingezeichneten Orte sindBischofsstädte oder Klöster. Die deutschen Bischofssitze sind fast vollzähligversammelt." So bietet sich die Ebstorfer Germania als ein Netz von Bastionendes christlichen Glaubens dar. Nach Nordosten hin ist es bis Riga hinaufge-schoben (Feld 21, unter der Zahl); bis Riga, das, 1201 als Bistum gegründetund 1255 zum Erzbistum erhoben, die Hauptstadt Livoniens und einHauptort der Ostkolonisation war."

Es ist denkbar, daß der Kartenzeichner durch diese Anordnung dieWeltgegend östlich von Riga mit dem Bedeutungswert eines Kreuzzugsgelän-des versehen wollte. Darauf weist noch ein weiteres Anzeichen: Die mitKreuzfahrerbastionen dicht besetzte Küstenregion des Heiligen Landes liegtauf gleicher Höhe mit der Grenzzone von Europa und Asien. Dadurch wirdder optische Eindruck einer von der Weltmitte bis zum Nordrand durchlau-fenden Linie hergestellt, die sich als eine "Frontlinie" der Christen gegen die

44 Feld 6. Taracontum ci. et insula quam inhabitant Turci de stirpe Gag et Magog; gens barbaraet immunda, iuoenum cames et abortiva hominem manducanies [.•. ].Vg!. MILLER,Mappa mundiV [Anm. 1], S. 26 a.

4S 39 der älteren deutschen Bistümer sind genannt. Es fehlen nur Minden, Münster, Osnabrück,Eichstätt, Merseburg, Olmütz und Breslau. Vg!. MILLER,Ebstorfkarte [Anm. 1], S. 42.

.. C. METIIG, Die Geschichte der Stadt Riga, Riga 1897; F. BENNIGHOVEN,Der Orden derSchwertbrüder, Köln/Graz 1965; B.A. HOLLANDER,Geschichte der Domschule, des späterenStadtgymnasiums zu Riga, hg. v. C. REDLICH(Beiträge zur baltischen Geschichte 10), Hannover--Döhren 1980; hier weitere Literatur.

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Heiden verstehen lassen könnte. Als mächtige Grenzmarken sind (in Feld 16,und zwar auf europäischer Seite) die drei brennenden Altäre des großenAlexander gesetzt ;" desselben Alexander, der Gog und Magog eingesperrt hat.Und darüberhin streckt sich die rechte Hand Christi. Dextera Domini fecituirtutem, haben die Kartenmacher erläuternd hinzugeschrieben : 'Die Rechtedes Herrn hat Großes getan' (Ps. 117, 16):8

3. Goldenes Vlies und Trojaroman

Die Kartenregion östlich des europäischen Sektors ist nicht nur mitSchreckbildern besetzt. Daneben stehen, mehr zur Weltmitte hin, auch Text-und Bildinhalte, die dem europäischen Christen positive Interessen undIdentifikationen erlaubten. Im Bereich nördlich des Schwarzen Meeres (Felder11/16) treten die Bild- und Text-Signaturen zum Regnum Colchorum auffal-lend hervor. Man sieht in Feld Nr. 11 der Karte (Abb. 1; vgl, Abb. 8) dasGoldene Vlies an einem Turm der Kolcher-Hauptstadt aufgespannt. Hierhätten, so erklärt die beigegebene Scriptura, die Argonauten unter JasonsFührung dem König Oeetas das Goldene Vlies weggenommen. MILLERmeintein der deutlichen Spur, die die Argonautensage auf der Karte hinterlassen habe,ein Argument für seine Grundthese gefunden zu haben, daß die Ebstorfkartekeine eigentlich mittelalterliche Arbeit sei, sondern eine variierte Abschrifteiner antik-römischen Weltkarte:9 Mit Kolchis und anderen Signaturen sah erSagenhinweise "aus dem Altertum" überliefert, "deren spätere Einsetzunggänzlich undenkbar sei". so Doch hier irrt MILLER.So undenkbar ist die spätereEinsetzung keineswegs. Denn die Erzählung vom Goldenen Vlies hat inner-halb der reich entfalteten mittelalterlichen Trojadichtung eine feste Position,

47 Die Arae Alexandri werden im Alexanderroman des Pseudokallisthenes als Markierung des(nördlichen?) Weitendes aufgerichtet, das Alexander im Verlaufe seines Indienzuges erreicht (vgl.H. VANTHIEL. Leben und Taten Alexanders von Makedonien, Darmstadt 1974, 111,27,15.). Aufandern Weltkarten (Herefordkarte, Londoner Psalterkarte) sind die Altäre auf der asiatischenHälfte des Erdkreises eingezeichnet.

41 Nach der Lesung MILLERS,'Mappaemundi V [Anm. I), S. 10 b. Der Gedanke derbewaffneten Missionierung dürfte gerade von der Ebstorfer Warte aus nicht abwegig sein. Dennder Schutzpatron des Klosters war der hl, Mauritius. ein Soldatenheiliger, der im Zuge derChristianisierung Livlands und Estlands eine nicht geringe Verehrung genossen zu haben scheint.Deutlichstes Signum sind die in Reval, Riga und anderen Städten der baltischen Provinzenverbreiteten 'Schwarzenhäupter'-Gesellschaften, Vereine deutscher Kaufleute, die das Mohren-haupt, d. h. den hI. Mauritius, im Wappen führten. Diese Gesellschaften sind freilich erst seit 1400namentlich faßbar, müssen aber ältere Ursprunge und Vorformen, wahrscheinlich im militärischenBereich, gehabt haben. Bereits die um 1250 gebaute Landkirche zu Halljal in Wierland war dem hl.Mauritius geweiht. Vgl. F. AMELUNG/BARONG. WRANGELL,Geschichte der Revaler Schwar-zenhäupter, Reval 1930, S. 7-14 .

.. Sieh o. Anm. 25.50 MILLER,Ebstorfkarte [Anm. I), S. 111.

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gehört zur stets miterzählten Vorgeschichte des Trojanischen Krieges." Aufdiesen Kontext zielt die Scriptura des Kolchis-Bildes auch hin, indem sie imweiteren erklärt, aus der Eroberung der aurea pella sei der Krieg zwischenGriechen und Trojanern entstanden (unde etiam Grecorum et Troianorumeffecta est confliaioi;" Troja selbst sieht man, unter dem Namen Ilium, alsstattliche Anlage auf einer Halbinsel liegen, die aus der kleinasiatischenKüstenlinie hervorspringt, relativ weit nach Nordwesten ausgreift unddadurch den Abstand zwischen der Ägäis und dem Donauraum auffallendgering erscheinen läßt (s. Abb. 8 und 9).

Der Trojastoff war im europäischen Mittelalter, lateinisch wie volkssprachig,sehr weit verbreitet. Berücksichtigt man überdies, daß viele europäische Städteund Herrscherhäuser sich von einem trojanischen Vorfahren herleiteten (nachdem Vorbilde Roms und in Konkurrenz mit Rorn)," so sieht man Anlaß genugfür die mittelalterlichen Kartengestalter, dem Trojastoff eine Position im

. Weltenrund zu sichern. Eine antike Vorlage brauchte es dafür nicht. Näherliegt die umgekehrte Schlußfolgerung: Weil die Ebstorfer Kartenmaler denTrojastoff offensichtlich zu den weltbildstiftenden Bildungsgütern rechneten,haben sie die auf Troja bezogenen Bild- und Textsignale in ihrem Werkuntergebracht. Freilich sind - und dies zu bedenken ist wichtig - die Signale zuknapp, um aus sich selbst heraus verständlich zu sein. Die Kartengestaltermüssen eine umfassendere Kenntnis der Trojageschichte gehabt und dieseKenntnis auch beim Kartenbetrachter vorausgesetzt haben.

4. Die Taucherinsel, die Sachsen und der Alexanderroman

Im nördlichen Ozean, just in der Höhe von Riga, liegt die Insel Mioporen(Feld 21, vergrößert auf Abb. 9). Die zugehörige Legende erklärt: "Hier soll

SI Auf der Fahrt nach Kolchis war dem Schiff Jasons bei einer Zwischenlandung vor Troja dasGastrecht verweigert worden. Herkules, der Jason begleitet hatte, rächte später die Schmach,indem er Troja mit einem griechischen Heer belagerte und zerstörte. Der Rachewunsch derTrojaner führte dann, verbunden mit des Paris Leidenschaft für Helena, in den "eigentlichen"Trojanischen Krieg. Diese Version ist in der spätantiken 'De excidio Troiae historia' des DaresPhrygius (hg. von F. MEISTER,Leipzig 1873) überliefert. Sie hatte im Mittelalter gemeineuropä-ische Geltung.

S> Vg!. MILLER,Mappaemundi V [Anm. 1], S. 32 b. Im übrigen haben Zeichner und Texter derKarte besonders auf die zahlreich im Regnum Colchorum versammelten Völker das Augenmerkgelenkt: Hec gentes CVl. construxerunt ciuitatem Dioscorum: Colcbi, quorum sunt gentes sedecim,Au/eri et Cyrci, quorum sunt gentes duodecimo Vg!. MILLER,ebd.

Sl Zum Trojastoff im Mittelalter s. besonders H. DUNGER,Die Sage vom trojanischen Kriege inden Bearbeitungen des Mittelalters und ihren antiken Quellen, Leipzig 1869; W. GREIF, Diemittelalterlichen Bearbeitungen der Trojanersage (Ausgaben und Abhandlungen aus dem Gebietder romanischen Philologie 61), Marburg 1886; M.R. SCHERER,The Legends of Troy in Art andLiterature, New York 21964; F.J. WORSTBROCK,Zur Tradition des Trojastoffes und seinerGestaltung bei Herbort von Fritzlar, ZfdA 92 (1963) 248-274; W. EISENHUT,Spätantike Troja-Erzählungen - mit einem Ausblick auf die mittelalterliche Troja-Literatur, Mlat. Jb. 18 (1983)1-28.

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Alexander der Große durch einen Freundschaftsvertrag Zugang erlangt haben,so daß er die Tiefe des Meeres mit den 'Colinchae' (das sind Schiffe) derInselbewohner erforschen konnte. Er übergab dort auch Geschenke und ließAltäre errichten."?'

Eine Episode des Alexanderromans, die Tauchfahrt Alexanders im RotenMeer, ist hier also mit einem kühnen Griff in den Norden geholt. Zwar habendie Ebstorfer Autoren diese Verlagerung nicht zu verantworten: sie übernah-men sie aus dem sog. 'Aethicus'." Wohl aber sind sie verantwortlich für dieAuswahl gerade dieser Nachricht. Auch darf man fragen, warum sie nichtdeutlicher gemacht haben, daß im 'Aethicus' die Tauchfahrtgeschichte alsunglaubwürdig abgestempelt war, warum sie statt dessen das gute Verhältnisder Inselbewohner zu Alexander so hervorgehoben haben. Der Name der Inselweist eine Spur. Mioporen ist ein orthographischer Nachbar des Wortesmyoparo, und das bezeichnete, wie bei Isidor und anderen Schulbuchautorenzu lesen war, ein schnellsegelndes Schiff der Germanen und besonders derSachsen." Demnach hätte Alexander seine berühmte Tauchfahrt mit sächsi-schen Verbündeten unternommen, und das in der bedeutungsgeographischenNachbarschaft von Riga, dem östlichen Bollwerk der (sächsisch akzentuierten)Christianitas! Die Gedankenverbindung von Alexander und den Sachsendürfte im Umkreis eines niedersächsischen Klosters nicht fremd gewesen sein.Eine geläufige Ursprungssage läßt die Saxones aus einer Abteilung desAlexanderheeres hervorgehen, die im Zuge der Diadochenkämpfe nach demTod des Makedonen in norddeutsche Gewässer verschlagen worden sei. BereitsWidukind von Corvey erwähnt die Sage, im 'Annolied' (21, 5-16) und in der'Kaiserchronik' (v. 327-337) ist sie erzählt, und noch das Alexanderbuch des ..Johann Hartlieb liefert eine ausführliche Version davon." Vielleicht war dieUrsprungssage für die Kartengestalter ein spezifischer Anlaß, auf der Ebstorf-karte den Stationen des Alexanderzuges besondere Sorgfalt zu widmen.Alexander ist der weitaus meistgenannte Name auf der Karte. An zehn Örternsteht er im Kontext kürzerer oder längerer Legenden. Ein gutes Dutzend

S4 Hie fama est Alexandrum Magnum per obsidum federa accessisse, ut profundum mans ineorum eolinehis id est navibus experiretur et donis datis aras engi iussit. Vg!. MILLER,Mappaemundi V [Anm. 1], S. 26 a.

55 Die Kosmographie des Istriers Aithikos im lateinischen Auszuge des Hieronymus, hg. v. H.WurrKE, Leipzig 1853, Kap. 36. Das Buch, eine Kosmographie in Form einer Reisebeschreibung,enthält einen stark mythengeographisch geprägten Bericht über den europäischen Norden. Zu denHypothesen über den Verfasser und die Datierung (wahrscheinlich 8.Jh.) des Buches vg!.G. BERNT,Aethicus Ister, in: Lexikon des Mittelalters 1, Sp. 192.

56 Den myoparo ('Kaperschiff') weist Isidor (Etym. 19, 1, 20) den Germanen, SidoniusAppollinaris besonders den Saxones zu (s. WUTrKE [Anm. 55], S. XLIX).

5' Über die Verbreitung in der lateinischen Historiographie s. S. GRAF VON PFEIL, DieSachsensage bei Widukind von Corvey, in: Volksüberlieferung. Fs. Kurt Ranke, Göttingen 1968,S.297-311.

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weiterer Bildörter läßt sich mit ihm in Verbindung bringen, ohne daß seinName genannt ist.

In Makedonien wird seine Herkunft, bei der Stadt Tyrus ausführlich seineBelagerung berichtet. Die Gründung Alexandrias führt ihn in den Südteil derKarte, seine Brücke über den Araxes (Feld 12, neben der Zahl) in den zentralenHerrschaftsbereich des Perserkaisers Darius, dem er nachher ein Grabmalerrichten läßt (Feld 8, am unteren Rand). Die genannten Stationen markierenden Aktionsradius Alexanders, insoweit er als biblisch beglaubigter Herrscherdas persische durch das makedonisch-griechische Weltreich abgelöst hat." AlleStationen liegen innerhalb eines engeren Kreisbogens um den MittelpunktJerusalem, wobei das Darius-Grab vom Kreismittelpunkt genauso weitentfernt ist wie das ägyptische Alexandria - und übrigens auch genauso weitentfernt wie Troja (Felder 17 und 22) und Rom (Feld 27, rechts). Das magZufall sein. Doch will ich nicht ausschließen, daß einzelne Bildbeziehungeninnerhalb der Kartenfläche durch geometrische Grundmuster - hier wäre esein konzentrischer Kreis - gezielt hergestellt worden sind. S9 Die weiterenAlexanderlegenden verteilen sich auf dem Außenrand des Orbis pictus.Genannt sind bereits die Taucherinsel (Feld 21), die Alexanderaltäre (16) unddie eingeschlossenen Gog und Magog (6). Ich nenne zusätzlich das indischeBaumorakel (Feld 3, rechts neben dem Christuskopf), das Alexander seinenTod voraussagt; die Ichthyophagen (Feld 10, im Winkellinks oben), denen erdas Fische-Essen verboten haben soll; die castra Alexandri beim ägyptischenAmmon-Orakel (Feld 25). Die Frage nach einer übergreifenden Verbindungder einzelnen Stationen drängt sich hier sofort auf, ist aber schwer zubeantworten. Meine Suche nach geometrischen Korrespondenzen hat bisherzu keinem überzeugenden Ergebnis geführt. Die einzelnen Positionen erschei-nen weitgehend isoliert voneinander. Einige von ihnen gehören zum festenBestand der Universalgeographie und finden sich auch auf kleineren Mappaemundi: die Arae Alexandri, Gag und Magog, Alexandria. Alexander hatte denRang einer universalgeographischen Autorität, und etliche Stationen seinesZuges ans Ende der Welt sind in geographischen Traktaten gebucht. Gleich-wohl erschließen sich die meisten der auf der Ebstorfkarte markiertenAlexander-Stationen nur demjenigen, der sie in den narrativen Zusammenhangeinzubinden weiß, aus dem sie ursprünglich herkommen, in den Kontext desAlexanderromans. Zum Beispiel erklärt sich nur aus dem Romanverlauf

" Sieh 1 Macc. 1 ('Der Mazedonier Alexander, Sohn des Philippus, zog damals vom Land derKittäer aus. Er besiegte Darius, den König der Perser und Meder, und wurde als erster König vonGriechenland sein Nachfolger.')

5' Zur Frage der bei der Kartenanlage verwendeten geometrischen Formen s. o. Anm. 39.Grundsätzliches über das mittelalterliche Verständnis der Geometrie in der Schöpfung und denAbbildern der Schöpfung bietet F. OHLY, Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einerVorstellung von Gott, in: Tradition als historische Kraft, hg. v. N. KAMPund J. WOLLASCH,Berlin/New York 1982, S. 1-42.

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heraus, daß die Gestalt zwischen den beiden Bäumen des indischen Baumora-kels (Feld 3) Alexander sein muß; auf der Karte ist sein Name nicht genannt."Und ein weiteres Beispiel: Mit dem mächtig ins Bild gesetzten Palast des Porus(Feld 7, rechts neben dem Flußfächer) kann nur der etwas anfangen, der vomRoman her weiß, daß Alexanders Weg nach Indien hinein erst durch den Siegüber den Inderkönig Porus freigeworden ist." Die Alexander-Signaturenmachen besonders deutlich, was auch für den Großteil der anderen Eintragun-gen gilt: Die Bild- und Textsignale der Mappa mundi fordern den Betrachterimmer wieder dazu auf, sich seiner Leseerfahrungen zu erinnern. Die Karte hatden Charakter eines Memorierbildes, eines Bildes freilich, das weit über dieArt und Funktion einer Memoriertafel schulmäßig abfragbaren Wissenshinausreicht. Denn diese Imago mundi beansprucht ja, den verschiedenartigenLesestoffen einen Ort zu geben, sie so zu verorten, daß sie in einembestimmten, unverrückbaren Verhältnis zueinander und zum Gesamtgrundrißder Karte stehen.

Die Entfernung der Alexander-Stationen vom Kartenmittelpunkt korre-spondiert in gewissem Maße mit der Stoffverteilung im Roman. Innerhalbeines engeren Kreisbogens um den Mittelpunkt liegen alle Stationen, dieAlexander von seinen Anfängen bis zur Eroberung des persischen Throneszeigen. Deutlich außerhalb davon verteilen sich auf dem äußeren Kartenring(und nicht auf das Indien-Segment beschränkt) die zum Indienzug gehörendenStationen." Der innere Kreis entspricht also dem Aktionsradius des Darius-Gegners und Weltreichbegründers, der äußere Kreis bezeichnet den Radius desbis zu den Rändern der Welt vorgestoßenen Eroberers. Was im Romannacheinander erzählt ist: zuerst der Krieg gegen Darius, dann der Indienzug,das ist auf der Kartenfläche so verteilt, daß eine räumliche Bewegungnachvollziehbar wird. Alexanders Weg, auf die Kartenfläche projiziert, führtvom Karteninnern nach außen. Der zeitlichen entspricht eine räumlicheStaffelung, dem Nacheinander des erzählten Geschehens ein Hintereinanderder abgebildeten Räume.

Das Verhältnis von Buch- und Welterfahrung erscheint besonders komplexdeshalb, weil der Standort der Ebstorfer Kartengestalter - und also auch ihr

60 Im griechischen Alexanderroman [Anm. 47], III, 15, und danach auch in der mittelalterlichen'Historia de preliis' (Fassung Jl im Anhang zu: O. ZINGERLE, Die Quellen zum 'Alexander' desRudolf von Ems, Breslau 1885, S. 127-265, hier S. 238-241) darf sich Alexander nur unbewaffnetden Bäumen des Orakels nähern. Eben dieses stellt die Ebstorfer Abbildung dar. Sie zeigt freilichdarüber hinaus noch einen Altartisch, von dem die literarische Alexander-Überlieferung nichtsweiß; somit ist die Identifikation der abgebildeten Figur mit Alexander nicht völlig gesichert. -Über die Beziehungen zwischen Baumorakel und Paradies s. o. S. IS mit Anm. 31.

61 Von Alexanders Krieg gegen Porus handelt der griechische Alexanderroman [Anm. 47] inBuch III, 1-7, die 'Historia de preliis' [Anm. 60] S. 199-214.

62 'Äußerer Kartenring' meint hier die Kartenpartien, die außerhalb des Kreisbogens liegen, derum den Kartenmittelpunkt geschlagen und dessen Radius durch den Abstand des Dariusgrabesvom Mittelpunkt bestimmt ist (vgl. o. S. 25).

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Die Ebstorfer Weltkarte 27

Aufenthaltsort als Alexanderrornanleser - im Kartenbild eingezeichnet ist.Gestalter und Betrachter der Karte werden dadurch veranlaßt. die poetischeRäumlichkeit romanhafter Erzählungen mit ihrer eigenen realgeographischenRäumlichkeit kommensurabel zu machen. Das hat zur Folge, daß für einenKenner der Ebstorfkarte auch im Wunderland Indien und anderen Phantasie-räumen keine topographische Willkür und keine märchenhafte Ortlosigkeitmehr herrschen kann. Alle im Kartenbild verzeichneten Roman-Stationenliegen fest und haben eine bestimmte, endliche Entfernung zum Aufenthaltsortdes Romanlesers und Kartenbetrachters. Zwar sind die Abstände zwischen deneinzelnen Bildörtern nicht in Längenmaßen fixiert. Es fehlt der einheitlicheMaßstab, es dominiert die Bedeutungsperspektive : das Wichtige ist großgezeichnet, das weniger Wichtige kleiner. Dennoch sagt die Karte über Näheund Ferne einiges aus; sie legt Nachbarschaften fest und läßt deutlich sehen,was zusammengehört und was nicht. Was sich in der Ebstorfkarte manifestiert,ist eine Verräumlichung der literarischen Vorstellungswelt. Daß gerade derAlexanderstoff auf der Mappa mundi besonders stark vertreten ist, hatzweifellos - über die oben genannte sächsische Herkunftssage hinaus -tieferliegende Ursachen. Im Alexanderroman hat die Kategorie des geographi-sehen Raumes von Anfang an große Bedeutung gehabt. Eine der Hauptleistun-gen des Romanhelden war das Überwinden weiter Entfernungen. So konnteAlexander für spätmittelalterliche Entdeckungsreisende zu einem wirkungs-mächtigen Leitbild werden." Die Ebstorfer Weltkarte hält, meine ich, einenbewußtseinsgeschichtlich doppeldeutigen Moment fest. Einerseits bannt undneutralisiert sie die Alexander'sche Grenzgängerei im Idealrund des christli-chen Ordnungsbildes ..Andererseits hat sie Erfahrung und Erfindung, Erreich-bares und Unerreichbares so suggestiv ineinander verwoben, daß AlexandersExpedition nicht nur gedanklich, sondern tatsächlich nachvollziehbar erschei-nen konnte. Die Bildwelt und das Weltbild, wie die Ebstorfkarte es präsentiert,könnten eine nicht unwesentliche Voraussetzung dafür gewesen sein, daß imspäteren Mittelalter die geographischen Fernräume wirklich gesucht wordenund damit die Grenzen der mittelalterlichen Erfahrungswelt überschritten, dieidealen Konturen des Orbis ebstorfiensis aufgelöst worden sind.

IV.

Über das Verhältnis der Weltkarte zur "erzählten Geographie" der mittel-alterlichen Dichtung sind eingehendere Untersuchungen möglich und nötig.Dazu ist hier keine Gelegenheit. Ich nenne abschließend ein paar Aspekte fürdie künftige Erforschung und Auswertung der Ebstorfer Mappa mundi.

63 W. REINHARD(Geschichte der europäischen Expansion, Bd, 1, Stuttgart 1983, S. 18 und 27)spricht zu Recht von einem "Alexandersyndrom", das in spätmittelalterlichen Reiseberichten und-planungen vielfach bemerkbar werde.

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1. Es wäre zu untersuchen, wieweit die erzählte Geographie nicht nur derverschiedenen Alexander-Romanversionen, sondern auch die des 'HerzogErnst', des 'Reinfried von Braunschweig', des 'Jüngeren Titurel' etc. mit denStrukturen einer Mappa mundi vergleichbar ist. Es wäre zu prüfen, wieweitdas Kartenbild als eine Hilfe zum Verständnis literarischer Texte gebrauchtwerden kann. Daran knüpft sich die weiterreichende Frage, ob es in derspätmittelalterlichen Epik eine Tendenz zum Lesen "in die Fläche", eineVerräumlichung der literarischen Einbildungskraft gegeben hat.

2. Es wäre das Verhältnis des Ebstorfer Weltbildes zur Erfahrungswelt desdeutschen und europäischen Spätmittelalters zu bestimmen. Dabei wäre vorallem der Erwartungshorizont, nicht so sehr der Stand des positiven geogra-phischen Wissens interessant. Zum Beispiel könnte die auffällige Präsenz desAlexanderstoffes auf der Ebstorfkarte und die spätmittelalterliche Popularitatder Alexanderromane einen gemeinsamen Erklärungshintergrund in denZeitverhältnissen finden: Möglicherweise haben die von der Alexandergestaltbeglaubigten Weltgrenzmarken im selben Maße an Suggestionskraft gewon-nen, wie der realgeographische Horizont des Abendlandes durch die moham-medanische Expansion des 14. und 15. Jahrhunderts enger geworden ist.

3. Sämtliche Partien der Ebstorfkarte sollten systematisch durchgesehenwerden: a) im Blick auf die jeweils in Bild und Text getroffene Informations-auswahl und den zum Verständnis je erforderlichen Lektürekanon, b) im Blickauf mögliche assoziative Verbindungen zwischen Bild- und Textelementen, dieaus verschiedenartigen Quellenbereichen (Bibel, Geschichtsschreibung,Roman) herkommen und im Kartenbild zu bedeutungstragenden Einheiten,zu "Nachbarschaften" versammelt worden sind.

4. Schließlich sei ein forschungsstrategischer Aspekt erwähnt, der in dennächsten Jahren besondere Dringlichkeit und Aktualität beanspruchen darf.Das 500jährige Jubiläum der Kolumbusfahrt nach Amerika rückt heran. Esmehren sich bereits großangelegte Publikationen zur Geschichte der Entdek-kungen. M In den Kapiteln über das Mittelalter erweist sich dabei dieBestimmung der auslösenden Faktoren der europäischen Expansion als eine

". Genannt seien: W. REINHARD,Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 1: Die alte Weltbis 1818, Stuttgart 1983; Bd. 2: Die neue Welt, ebd. 1985j Dokumente zur Geschichte dereuropäischen Expansion, hg. v. E. SCHMIIT, 7 Bde, München 1984 H., davon bisher erschienen:Bd. 1: Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion, 1986j Bd. 2: Die großenEntdeckungen, 1984j U. BIITERLI,Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischenKulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986.

Nachweis der Abbildungsvorlagen:Abb. 1,3,4,8 und 9 Edition Acta humaniora, Weinheimj Abb. 2 H. Kugler ; Abb. 5 K. MILLER(Hg.), Mappaemundi. Die ältesten Weltkarten, IV. Heft: Die Herefordkarte, Stuttgart 1896, S. z.Abb. 6 MILLER,ebd., Ill. Heft: Die kleineren Weltkarten, Stuttgart 1895, Tab.IIIj Abb. 7 H. VONEINEM,Der Mainzer Kopf mit der Binde (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW,Geisteswissenschaften, H. 37), Köln/Opladen 1955, Abb. 29.

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Textkritisches zum 'Jüngeren Titurel' 29Hauptschwierigkeit. Nicht so sehr die technischen und materiellen Vorausset-zungen machen Schwierigkeiten; sie lassen sich hinreichend präzise erklären.Schwerer faßbar sind die mentalen Voraussetzungen. Welcher Art der Erwar-tungshorizont war, welche Denkmuster und Denkhemmungen, welche Hoff-nungen und Ängste einen Aufbruch ins Ungewisse gefördert oder verzögerthaben: über diese Fragen herrscht noch viel Unklarheit. Wer darüber befindenwill, muß sich mit den mittelalterlichen Vorstadien des neuzeitlichen Weltbil-des sogfaltig beschäftigen. Die Ebstofer Mappa mundi könnte in diesem Zu-sammenhang ein ergiebiges Dokument sein und vielleicht gar eine Schlüssel-position einnehmen. Denn sie präsentiert einerseits ein Idealbild der mittel-alterlichen Ökumene, das in seiner autoritativen Ganzheit und Geschlossen-heit einen zutiefst entdeckerfeindlichen Eindruck macht. Sie läßt andererseitsdank ihrer überdimensionalen Fläche, die gefüllt sein wollte und zu großer De-tailvielfalt zwang, Problemzonen im Weltbild hervortreten; Problemzonen, indenen Brüche und Widersprüche sich abzeichnen und in denen Kollisionenvon Erfahrung und Erfindung gleichsam vorprogrammiert erscheinen. Sie ent-hält Markierungen, an denen Neugierde aufkommen, Beunruhigung ansetzen,der Gedanke einer Unabgeschlossenheit der vorgezeichneten Imago mundirege werden konnte.

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Hartmut KuglerLehrstuhl für Ältere GermanistikUniversitätsstraße 14000 Düsseldorf 1

TEXTKRITISCHES ZUM 'JÜNGEREN TITUREL' (II)

von WERNERSCHRÖDER

Kart Stackmannzum 65. Geburtstag am 21. März 1987

Die römische Ziffer hinter der Überschrift dient als Hinweis darauf, daßdieser Beitrag an den ebenso betitelten in Wolfram-Studien VIII (1984) 34-48anknüpft. Der hatte an zwei abweichend überlieferten Strophen dargetan, daßdie Annahme des Herausgebers WERNERWOLF,die Heidelberger Hs. H sei ausden JT-Versionen I und II kontaminiert, unbegründet ist, weil es - wie schonWALTERRÖLL eingewandt hatte - "keine beweisenden gemeinsamen Fehlervon I [=ABCDE] und H" gibt, während diese Hs. "laufend mit >!'R[=