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FRANCK THILLIEZ Öffne die Augen

Franck Thilliez Öffne die augenAuf der ei nen Sei te die gro ßen Do sen für die 35-mm-Ko pi-en, auf der an de ren die 16-mm-Rol len, die ihn be son ders in-te res sier ten. Die

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Franck Thilliez

Öffne die augen

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Buch

lucie henebelle, ermittlerin bei der kriminalpolizei in lille, erhält eines nachts einen mysteriösen anruf eines Freundes: er ist voller Panik, denn der leidenschaftliche Sammler von Filmen hatte einen alten Streifen betrachtet – und ist nun vollständig erblindet. als lucie den Film selbst in augenschein nimmt, stößt sie auf äußerst verstö-rende und rätselhafte Bilder, deren Botschaft sie nicht entschlüsseln kann. Sie bittet claude Poignet, einen restaurator alter Filme, um hilfe – doch der wird wenig später ermordet aufgefunden. etwa zur gleichen zeit trifft kommissar Franck Sharko aus der Pariser Banlieue am Schauplatz eines grausigen leichenfundes ein: Fünf Männer sind am Ufer der Seine entdeckt worden, ihnen allen wurde das Gehirn entfernt. lucie und Sharko nehmen die ermittlungen auf, und schnell wird klar, dass es einen diabolischen zusammenhang zwischen den

beiden Fällen gibt …

Autor

Franck Thilliez wurde 1973 in annecy geboren und gehört zu den re-nommiertesten Thrillerautoren Frankreichs. Für seine romane erhielt er verschiedene auszeichnungen, u.a. den »Quais du Polar« und den »Prix SncF du polar francais«, die rechte an seinen Büchern wurden international in zahlreiche länder verkauft, u.a. nach amerika. er lebt mit seiner Familie im Département Pas-de-calais in nordfrankreich.

Mehr zum autor unter www.franckthilliez.fr

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Franck Thilliez

Öffne die augen

Thriller

aus dem Französischen von eliane hagedorn und Bettina runge

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »le Syndrome e« bei Univers Poche, Paris.

Dieses Buch ist auch als e-Book erhältlich.

Verlagsgruppe random house FSc® n001967

Das FSc®-zertifizierte Papier München Super für dieses Buch liefert arctic Paper Mochenwangen Gmbh.

1. auflageTaschenbuchausgabe Februar 2014

copyright © der Originalausgabe 2010 by editions Fleuve noir, Département d’Univers Poche

copyright © der deutschsprachigen ausgabe 2012by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe random house GmbhUmschlaggestaltung: UnO Werbeagentur MünchenUmschlagmotiv: © Jill Battaglia / Trevillion images

redaktion: ilse WagneraG · herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media Gmbh, PößneckPrinted in Germany

iSBn 978-3-442-48001-2www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im netz

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KA PI TEL 1

Der Ers te sein.Als Ludo vic Séné chal am frü hen Mor gen die An non ce ent-

deckt hat te, war er so fort auf ge bro chen und hat te die zwei hun-dert Ki lo me ter von Lille bis Lüt tich in Re kord zeit zu rück ge legt.

Ver kau fe alte Film samm lung, 16mm, 35mm. Stumm- und Ton-, Kurz- und Lang fi l me ab den drei ßi ger Jah ren. Über 800 Rol len, 500 da von Spi o na ge fi l me. An ge bot vor Ort ab zu ge ben …

Eine sol che An zei ge auf ei ner all ge mei nen Ver kaufs platt form war eine Sel ten heit. Nor ma ler wei se bo ten die Be sit zer Ra-ri tä ten die ser Art auf Samm ler märk ten wie zum Bei spiel in Ar gen teuil oder via eBay an. In die sem Fall war sie ab ge fasst, als han de le es sich um den Ver kauf ei nes al ten Kühl schranks, was eher ein gu tes Zei chen war.

Nur mit Mühe fand Ludo vic ei nen Park platz im Zent rum der bel gi schen Stadt, such te die rich ti ge Haus num mer und wur de bei dem In se ren ten Luc Szpil man vor stel lig. Er war etwa fünf und zwan zig, trug Con ver se-Turn schu he, eine Surf-bril le und ein Bulls-T-Shirt. Dazu meh re re Pierc ings.

»Ach ja, Sie sind we gen der Fil me da? Kom men Sie mit, die sind auf dem Spei cher.«

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»Bin ich der Ers te?«»Die Nächs ten wer den si cher bald ein tref fen, ich habe

meh re re An ru fe er hal ten. Ich hät te nicht ge dacht, dass das so schnell geht.«

Ludo vic folg te ihm. Das Haus war im ty pisch fl ä mi schen Stil er baut – war me Far ben und dunk ler Zie gel stein. Alle Räu-me wa ren um das zent ra le Trep pen haus an ge ord net, das von ei nem Licht schacht er hellt wur de.

»Wa rum wol len Sie die se al ten Fil me los wer den?«Ludo vic hat te sei ne Wor te sorg fäl tig ge wählt. Los wer den …

alt. Die Ver hand lun gen hat ten be reits be gon nen.»Mein Va ter ist ges tern ge stor ben. Er hat nicht hin ter las-

sen, was mit sei ner Samm lung ge sche hen soll.«Ludo vic glaub te zu träu men: Der Pat ri arch lag noch nicht

ein mal un ter der Erde, und die Er ben be gan nen schon, sei ne Habe zu ver äu ßern. Und die ser Idi ot von Sohn ver stand nicht, wa rum er Film ko pi en be hal ten soll te, von de nen jede fünf-und zwan zig Kilo wog, ob wohl man heut zu ta ge tau send mal mehr Bil der mit tau send mal we ni ger Ge wicht la gern konn te. Arm se li ge Ge ne ra ti on …

Die Trep pe nach oben war hals bre che risch. Auf dem Spei-cher an ge kom men, schal te te Szpil man eine Glüh bir ne ein, die trü bes Licht ver brei te te. Ludo vic lä chel te, sein Samm ler herz schlug hö her. Da wa ren sie, gut vor dem Ta ges licht ge schützt. Bun te Schach teln, je zwan zig Stück zu ei nem Turm auf ge sta-pelt. Die Luft zir ku lier te zwi schen den Re ga len, und es roch an ge nehm nach Zel lu loid. Dank ei ner ein ge häng ten Roll lei ter konn te man die obe ren Bret ter er rei chen. Ludo vic trat nä her. Auf der ei nen Sei te die gro ßen Do sen für die 35-mm-Ko pi-en, auf der an de ren die 16-mm-Rol len, die ihn be son ders in-te res sier ten. Die run den Büch sen wa ren be schrif tet und per-

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fekt sor tiert. Klas si ker des Stumm fi lms, Lang fi l me aus dem gol de nen Zeit al ter des fran zö si schen Ki nos. Vor wie gend wa-ren es Spi o na ge strei fen, die sich dort türm ten und mehr als die Hälf te der Re gal bret ter ein nah men. Ludo vic griff nach ei nem: The Chair man – Der ge fähr lichs te Mann der Welt – von Jack Lee Thomp son über die CIA und das kom mu nis ti sche Chi na. Eine un be schädigte, komp let te Ko pie, vor Feuch tig keit und Licht ge schützt wie ein ed ler Jahr gangs wein. In der Dose la gen so gar pH-Test strei fen, um den Säu re ge halt zu kont-rol lie ren. Ludo vic hat te Mühe, sei ne Rüh rung zu ver ber gen. Al lein die ser Schatz hat te ei nen Markt wert von min des tens fünf hun dert Euro.

»Ihr Va ter war ein Spi o na ge-Fan?«»Und wie … Sie müss ten erst mal sei ne Bü cher se hen. Ver-

schwö rungs the o ri en und so wei ter. Das grenzt schon an Be-ses sen heit.«

»Wie viel ver lan gen Sie da für?«»Ich habe mich im In ter net kun dig ge macht. Im Schnitt

hun dert Euro pro Strei fen. Aber al les muss ver schwin den, und zwar so schnell wie mög lich. Ich brau che Platz. Wir kön nen also ver han deln.«

»Das hof fe ich.«Ludo vic such te wei ter.»Ihr Va ter hat te si cher auch ei nen pri va ten Vor führ raum?«»Ja, aber den wol len wir um bau en. Wir schmei ßen den al ten

Krem pel raus und brin gen statt des sen ei nen LCD-Bild schirm an. Heim ki no, letz ter Schrei … Hier oben rich te ich ein Stu-dio für mei ne Band ein.«

Ludo vic, der von die sem Man gel an Res pekt an ge wi dert war, wand te sich nach rechts, stö ber te in den Schät zen und sog den Duft des Zel lu loids ein. Er ent deck te Har old Lloyd,

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meh re re Bu ster-Kea ton-Fil me, Ham let und Capt ain Frac asse. Am liebs ten hät te er sie alle ge nom men, aber bei sei nem be-schei de nen Ge halt als An ge stell ter ei ner Kran ken kas se und we gen der ver schie de nen Abon ne ments – Mee tic, In ter net, Kabel, Sa tel lit – konn te er mo nat lich nur ge rin ge Rück la gen bil den. Also muss te er sich ent schei den.

Er ging zu der Lei ter. Luc Szpil man er klär te war nend:»Vor sicht. Mein Va ter ist run ter ge fal len und hat sich den

Kopf auf ge schla gen. Also wirk lich, mit zwei und acht zig da noch hi nauf zu klet tern …«

Ludo vic zö ger te kurz, ent schied sich dann aber doch hi nauf-zu stei gen. Er dach te an den al ten Mann, den die Fas zi na ti on für sei ne Fil me das Le ben ge kos tet hat te. Oben an ge kom men, setz te er sei ne Aus wahl fort. Hin ter The Krem lin Let ter – Der Brief an den Kreml – be fand sich auf ei nem ver bor ge nen Brett eine schwar ze Schach tel ohne Auf schrift. Ludo vic ba lan cier-te auf ei nem Bein und zog sie zu sich he ran. In der Schach-tel be fand sich al lem An schein nach ein Kurz fi lm. Nach der Grö ße der Rol le zu ur tei len, höchs tens zehn, zwan zig Mi nu-ten lang. Wahr schein lich ein Ein zel stück, das der Be sit zer nie hat te iden ti fi zie ren kön nen. Ludo vic nahm die Dose und leg-te sie auf die neun Kult fi l me, die er be reits aus ge wählt hat te. Die se ano ny men Wer ke wa ren im mer be son ders span nend zu sich ten.

Als er sich um wand te, gab er sich ge las sen, in ner lich aber beb te er.

»Die meis ten Fil me sind lei der nicht viel wert. Ab so lu ter Stan dard. Au ßer dem … Ha ben Sie die sen Ge ruch be merkt?«

»Wel chen Ge ruch?«»Es sig, das Zel lu loid ist vom so ge nann ten Es sig synd rom

be fal len, das heißt, die Fil me sind bald ru i niert.«

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Der jun ge Mann trat nä her und schnup per te.»Sind Sie si cher?«»Ganz si cher. Ich will Ih nen das Zeug ger ne ab neh men. Für

fünf und drei ßig Euro das Stück, okay?«»Fünf zig.«»Vier zig.«»Na gut …«Ludo vic stell te ei nen Scheck über vier hun dert Euro aus.

Als er das Haus ver ließ, such te ein Wa gen mit fran zö si schem Kenn zei chen ei nen Park platz.

Be stimmt schon der nächs te Käu fer.

Ludo vic ver ließ sei ne pri va te Pro jek ti ons ka bi ne und nahm, sei ne Bier fl a sche in der Hand, al lein auf ei nem der zwölf Skai-sit ze Platz, die er bei der Schlie ßung des be nach bar ten Ki-nos Rex er stan den hat te. Er hat te sich im Un ter ge schoss sei-nes Hau ses ei nen au then ti schen Vor führ raum ein ge rich tet, den er als sein »Ta schen ki no« be zeich ne te. Klapp sit ze, eine Es trade. Eine Lein wand aus be schich te tem Glas fa ser ge we be, ein Heur tier-Trifi lm-Pro jek tor – al les kom plett. Mit zwei und-vier zig Jah ren fehl te ihm nur die Freun din, um de ren Schul-tern er bei der O ri gi nal ver si on des Films Vom Win de ver weht den Arm hät te le gen kön nen. Doch bis lang hat ten ihm die se ver damm ten Da ting-Web sites nur Kurz e pi so den oder Rein-fäl le be schert.

Es war fast drei Uhr mor gens. Über sät tigt von Kriegs- und Spi o na ge fi l men, be schloss er, sei ne end lo se Sich tung mit dem un be kann ten Kurz fi lm ab zu schlie ßen, der un ge-wöhn lich gut er hal ten schien. Of fen bar han del te es sich um eine Ko pie. Die se na men lo sen Strei fen wa ren oft Schät ze oder, mit et was Glück, so gar ver lo re ne Wer ke gro ßer Meis-

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ter: Méliès, Wel les, Chap lin. Als Samm ler träum te er ger-ne. Wäh rend Ludo vic das Vor lauf band des ano ny men Films ab roll te, um ihn ein zu fä deln, las er auf dem Band »fünf zig Bil der pro Se kun de«. Das war recht sel ten, die Norm wa ren vier und zwan zig Bil der – eine Ge schwin dig keit, die bei Wei-tem aus reich te, um den Ein druck von Be we gung zu er zeu-gen. Den noch stell te er den Ver schluss sei nes Pro jek tors auf die an ge ge be ne Ra tio. Schließ lich woll te er den Film nicht in Zeit lu pe se hen.

Schnell er schien auf der Lein wand ein dif fu ses dunk les Bild. Kein Vor spann. In der obe ren rech ten Ecke ein wei ßer Kreis. Zu nächst frag te sich Ludo vic, ob es sich um ei nen Ma-te ri al feh ler han del te – bei al ten Strei fen kei ne Sel ten heit. Der Film be gann.

Ludo vic stol per te, als er ins Erd ge schoss hi naufl ief.Ob wohl alle Lich ter brann ten, sah er nichts mehr.Er war blind.

KA PI TEL 2

Ein schril les Klin geln riss Luc ie Hene belle aus dem Schlaf. Sie sprang aus ih rem Ses sel und griff nach dem Handy.

»Hal lo?«Ihre Stim me klang ver schla fen. Luc ie warf ei nen Blick auf

die Wand uhr – 4:28. Ge gen über schlum mer te ihre Toch ter Ju li ette, eine Glu ko se-In fu si on im Un ter arm, tief und fest.

Am an de ren Ende der Lei tung eine be ben de Stim me.»Hal lo? Wer ist da?«Er schöpft warf Luc ie ihr lan ges blon des Haar zu rück. Das

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war nicht der ge eig ne te Au gen blick für Scher ze, sie war eben erst ein ge schla fen.

»Sie soll ten mir lie ber sa gen, wer Sie sind. Wis sen Sie, wie spät es ist?«

»Ludo vic, hier ist Ludo vic Séné chal … ist das … Luc ie, bist du es?«

Lei se schlich Luc ie Hene belle aus dem Zim mer und stand auf dem in kal tes Ne on licht ge tauch ten Gang. Sie gähn te und zog ihre Blu se zu recht, um halb wegs zi vil aus zu se hen. In der Fer ne das Ge schrei von Säug lin gen, das an den Wän den ent-lang zu glei ten schien. Auf der Kin der sta ti on war Ruhe ein Fremd wort.

Luc ie brauch te ei ni ge Se kun den, um ih ren Ge sprächs part-ner ein zu ord nen. Ludo vic Séné chal. Ein klei nes Aben teu er, das auf Mee tic be gon nen und nach mehr wö chi gem in ten-sivem MSN-Aus tausch sie ben Mo na te spä ter in ei nem Café in Lille we gen »Un ver ein bar keit der Cha rak te re« ge en det hat te.

»Ludo vic? Was ist?«Luc ie ver nahm ein Ge räusch, als wäre ein Glas auf dem Bo-

den zer bro chen.»Man muss mich ab ho len. Man muss …«Of fen bar von Pa nik er grif fen, ge lang es ihm nicht, sich klar

aus zu drü cken. Luc ie bat ihn, sich zu be ru hi gen und deut lich zu spre chen.

»Ich weiß nicht, was los ist. Ich war in mei nem Ta schen ki-no. Hör zu, Luc ie, ich kann nichts mehr se hen. Ich habe alle Lich ter ein ge schal tet, aber das än dert nichts. Ich glau be … ich glau be, ich bin blind. Und ich habe die Num mer zu fäl lig ge-drückt und …«

Ty pisch Ludo vic, um vier Uhr nachts Fil me an zu schau en. Eine Hand in die Hüf te ge stemmt, lief Luc ie vor ei nem gro ßen

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Fens ter, das auf die ver schie de nen Ge bäu de des Kreis kran ken-hau ses Lille hi naus ging, auf und ab. Sie war ganz steif von der Quer stre be des ver damm ten Ses sels. Mit sie ben und drei ßig Jah ren steckt der Kör per nicht mehr al les weg.

»Ich schi cke dir ei nen Kran ken wa gen.«Viel leicht hat te sich Ludo vic ir gend wo den Kopf an ge sto-

ßen. Eine Platz wun de oder ein Schä del trau ma konn ten fa tal sein und sol che Symp to me aus lö sen.

»Tas te dich ab und leck dann an dei nen Fin gern, um zu schme cken, ob du blu test. Soll test du eine Wun de fest stel len, drück mit ei nem Hand tuch ei nen Eis beu tel da rauf. Die Am-bu lanz bringt dich ins Kran ken haus ne ben an, ich kom me zu dir. Vor al lem leg dich nicht hin. Stimmt dei ne Ad res se noch?«

»Ja. Mach schnell, bit te …«Sie be en de te das Ge spräch und lief zum Emp fang der Not-

auf nah me, um ei nen Kran ken wa gen los zu schi cken. Na, die Som mer fe ri en fi n gen ja gut an. Ihre acht jäh ri ge Toch ter war we gen ei ner vira len Ma gen-Darm-Grip pe ein ge wie sen wor-den. Wirk lich kein Glück, das kam im Som mer so gut wie nie vor. Ein Tor na do, die se Krank heit, die Ju li ette in knapp vier-und zwan zig Stun den völ lig aus ge trock net hat te. Sie war nicht ein mal mehr in der Lage, ein Glas Was ser zu sich zu neh men. Die Ärz te gin gen da von aus, dass sie meh re re Tage hierblei-ben müss te und an schlie ßend viel Ruhe und eine Diät bräuch-te. So hat te die arme Klei ne nicht mit ih rer Schwes ter Clara in ihr ers tes Fe ri en la ger fah ren kön nen. Eine schlim me Tren-nung für die Zwil lin ge.

Luc ie lehn te sich ans Fens ter. Als sie dem Kran ken wa gen nach sah, der mit Blau licht los jag te, sag te sie sich, dass das Le-ben ihr wirk lich über all Stei ne in den Weg leg te – sei es bei der Ar beit im Haupt kom mis sa ri at oder im Ur laub.

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KA PI TEL 3

We ni ge Stun den spä ter und zwei hun dert Ki lo me ter von Lille ent fernt, be ob ach te te Mar tin Lec lerc, Lei ter des Of fi ce Cen tral pour la rép ress ion des vi o len ces aux per son nes, der Zent ral stel le zur Be kämp fung von Ge walt, auf ei nem Macin-tosh-Bild schirm die drei di men si o na le Dar stel lung ei nes mensch li chen Schä dels. Man er kann te deut lich das Ge hirn und die ver schie de nen Be rei che des Ge sichts: Na sen spit ze, Au ßen sei te des rech ten Au ges, lin kes Ohr … Und auch eine grü ne Zone im obe ren lin ken Tem po ral lap pen.

»Und das leuch tet je des Mal auf, wenn ich mit dir spre che?«Halb auf ei nem hyd rau li schen Stuhl aus ge streckt, auf dem

Kopf ei nen Helm mit hun dert acht und zwan zig Elekt ro den, starr te Haupt kom mis sar Franck Sharko an die De cke, ohne sich zu rüh ren.

»Das ist das Wer ni cke-Zent rum, das heißt, das sen so ri sche Sprach zent rum. Bei dir, eben so wie bei mir, wird es durch-blu tet, so bald man eine Stim me hört. Da her die Far be. Sehr ein drucks voll.«

»Nicht so sehr wie dei ne An we sen heit hier. Ich weiß nicht, ob du dich er in nerst, aber ich hat te dich auf ein Glas zu mir nach Hau se ein ge la den, Mar tin. Denn hier gibt es nichts au-ßer dem ekel haf ten Kaf fee.«

»Dein Psy chi a ter hat nichts da ge gen, wenn ich ei ner Sit-zung bei woh ne. Und du hast es mir eben falls an ge bo ten. Oder hast du jetzt auch das Er in ne rungs ver mö gen ver lo ren?«

Sharko leg te sei ne gro ßen Hän de auf die Ses sel leh ne, sein Ehe ring traf klir rend auf das Me tall. Seit Wo chen ließ er die se Be hand lung nun schon über sich er ge hen, und es woll te ihm noch im mer nicht ge lin gen, sich zu ent span nen.

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»Was willst du?«Der Lei ter der OCRV P mas sier te sich müde die Schlä fen.

In ner halb der zwan zig Jah re, die sie nun schon dem sel ben La den an ge hör ten, hat ten die bei den Män ner vie le schlim me Tage ge teilt. Grau en vol le Tat or te, furcht ba re Fa mi li en an ge le-gen hei ten, Ge sund heits prob le me.

»Es ist vor zwei Ta gen pas siert, in ei nem Kaff zwi schen Le Ha vre und Rou en. Not re-Dame-de-Gravenc hon – mein Gott, was für ein Name. Lei chen, die man am Sei ne-Ufer aus gegraben hat. Du hast be stimmt im Fern se hen da von ge-hört.«

»Die Sa che mit der Bau stel le für die Pipe line?«»Ja, ein ge fun de nes Fres sen für die Me di en. Sie wa ren oh-

ne hin schon vor Ort, weil die se Ar bei ten ei ni ges Auf se hen er-reg ten. Man hat fünf Lei chen mit ab ge säg ten Schä del de cken ent deckt. Die Kri po von Rou en ar bei tet zu sam men mit der ört li chen Gen dar me rie an dem Fall. Der Staats an walt hät te bei na he die Jungs vom Kri mi nal psy cho lo gi schen Dienst hin-zu ge zo gen, aber letzt lich ist die Ge schich te bei uns ge lan det. Ich will dir nicht ver schwei gen, dass mir das wirk lich miss-fällt. Mit ten im Som mer, das ist ekel haft.«

»Und Dev oise?«»Ar bei tet an ei ner hoch sen sib len Sa che, ich kann ihn nicht

ab zie hen. Und Ber tho let hat Ur laub.«»Habe ich etwa kei nen Ur laub?«Lec lerc zupf te an sei ner schma len ge streif ten Kra wat te. Gut

fünf zig Jah re alt, schwar zer Ter gal-An zug, po lier te Schu he, schma les, an ge spann tes Ge sicht, eine gro ße Num mer bei der Kri po. Auf sei ner Stirn perl ten Schweiß trop fen, die er mit ei-nem Ta schen tuch ab tupf te.

»Du bist der Ein zi ge, der zur Ver fü gung steht. Die an de ren

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sind mit ih ren Frau en und Kin dern … Ver dammt noch mal, du weißt doch, wie das ist.«

Las ten des Schwei gen brei te te sich aus. Eine Frau, Kin der, ein Ball am Strand, Ge läch ter, das sich in den Wel len ver lor. All das lag weit zu rück, nichts als eine ver schwom me ne Erinne rung. Sharko wand te den Kopf zur Re al zeit dar stel lung sei nes Ge-hirns – ein fünf zig Jah re al tes Or gan vol ler dunkler Zo nen. Er deu te te mit dem Kinn da rauf, um Lec lercs Blick in die Rich-tung zu len ken. Ob wohl nicht ge spro chen wur de, leuch te te der grü ne Be reich im obe ren Tem po ral lap pen auf.

»Das blinkt, weil sie ge ra de jetzt mit mir spricht …«»Eu gé nie?«Sharko nick te. Lec lerc konn te ein Frös teln nicht un ter drü-

cken. Zu se hen, dass die Ge hirn win dun gen sei nes Haupt kom-mis sars auf Wor te re a gier ten, die man nicht hö ren konn te, ver mit tel te ihm das Ge fühl, dass sich ein Phan tom im Raum be fand.

»Und was sagt sie?«»Sie will, dass ich beim nächs ten Ein kauf ei nen Li ter Coc-

tail sau ce und gla sier te Ma ro nen mit brin ge. Sie liebt die se ver-damm ten gla sier ten Ma ro nen. Ent schul di ge bit te kurz …«

Sharko schloss die Au gen und press te die Lip pen zu sam-men. Über all sah und hör te er Eu gé nie. Auf dem Bei fah rer-sitz sei nes al ten Re nault 21, abends, wenn er ins Bett ging. Im Schnei der sitz saß sie da und sah zu, wie die Züge sei ner Mo dell ei sen bahn auf den Schie nen kreis ten. Vor zwei Jah ren war Eu gé nie oft in Be glei tung ei nes gro ßen Schwar zen na-mens Wil ly auf ge taucht, der per ma nent Ca mel oder Ma ri-hu a na rauch te. Eine wah re Pla ge, die ser Kerl, viel schlim mer als das Mäd chen, denn er ges ti ku lier te per ma nent und schrie laut he rum. Dank der Be hand lung war der Rasta de fi ni tiv ver-

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schwun den, aber die Klei ne kam oft zu rück, sie war re sis tent wie ein Vi rus.

Die grü ne Zone auf dem Bild schirm des Mac blink te ei ni ge Zeit wei ter, ehe sie lang sam er losch. Sharko öff ne te die Au gen wie der. Er sah sei nen Chef müde lä chelnd an.

»Ir gend wann schmeißt du dei nen Kom mis sar raus, wenn du ihn noch oft so aus ras ten siehst.«

»Das hin dert dich nicht da ran, dei ne Fäl le zu lö sen und dei-ne Ar beit or dent lich zu ma chen. Ich wür de so gar sa gen, du bist manch mal noch bes ser.«

»Hm, das kannst du ja Jos se lin mal er zäh len. Er ist stän dig hin ter mir her. Ich glau be, er will mich los wer den.«

»So ist das im mer bei neu en Chefs. Ih nen geht es nur da-rum auf zu räu men.«

End lich kam auch Pro fes sor Ber tow ski von der psy chi at ri-schen Ab tei lung des Kran ken hau ses Sal pêtrière in Be glei tung des Spe zi a lis ten für Neuro a na to mie.

»Wol len wir, Mon si eur Sharko?«Mon si eur Sharko … das klang für ihn im mer merk wür-

dig, da die Char cot-Krank heit fort ge schrit te ne Mus kel at-ro phie be deu te te. Als wäre al les Übel die ser Welt sein Ver-schul den.

»Ja, gut.«Ber tow ski schlug eine Akte auf, die er stets bei sich trug.»Nach mei nen Auf zeich nun gen ha ben die pa ra no i den Ver-

fol gungs ängs te stark ab ge nom men. Nur noch ein ge wis ses Miss trau en, her vor ra gend. Und Ihre Vi si o nen?«

»Die tre ten im mer noch sehr häu fi g auf. Viel leicht liegt es ja da ran, dass ich dau ernd in mei ner Woh nung bin. Es ver geht kein Tag, ohne dass Eu gé nie mich be su chen kommt. Meist bleibt sie nur ein paar Mi nu ten, aber sie ist wirk lich an stren-

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gend. Ich weiß nicht, wie vie le Kilo gla sier te Ma ro nen ich seit der letz ten Sit zung habe kau fen müs sen.«

Als man Sharko den Helm ab nahm, zog sich Lec lerc in die an de re Ecke des Raums zu rück.

»Hat ten Sie in letz ter Zeit viel Stress?«, frag te der Arzt.»Es ist vor al lem die Hit ze, die mir zu schaf fen macht.«»Ihr Be ruf ver ein facht die Sa che nicht. Wir wer den die Ab-

stän de zwi schen den Sit zun gen ver kür zen. Alle drei Wo chen scheint mir ein gu ter Komp ro miss.«

Nach dem er Shar kos Kopf mit zwei wei ßen Gur ten fi xiert hat te, hielt der Neu roa nat omi ker ein Ins tru ment in Form ei-ner Acht über sei nen Schä del – eine Spu le, die Mag net im pul se an eine prä zi se Stel le des Ge hirns ab gab, wo durch die an ge-peil ten Neu ro nen wie Mi ni mag ne te re a gier ten und sich neu or ga ni sier ten. Mit tels der transkr ani el len Mag net sti mu la ti on konn te man die durch Schi zo phre nie aus ge lös ten Hal lu zi na-ti o nen deut lich ver rin gern, wenn nicht gar ganz aus lö schen. Das Schwie rigs te an der Sa che war na tür lich, den rich ti gen Punkt zu tref fen, denn die ent schei den de Zone war nur we ni-ge Zen ti me ter groß, und eine Ab wei chung von ei ni gen Mil li-me tern konn te dazu füh ren, dass der Pa ti ent den Rest sei nes Le bens mi au en oder das Al pha bet von hin ten auf sa gen wür de.

Eine Schutz bril le vor den Au gen, saß Sharko reg los da, er war ganz da rauf kon zent riert, sich nicht zu rüh ren. Jetzt war nichts an de res zu hö ren als das Knis tern der klei nen Mag net-im pul se, die mit ei ner Fre quenz von ei nem Hertz ab ge schickt wur den. Sharko spür te we der Schmer zen noch ein un an ge-neh mes Ge fühl, dach te aber mit Sor ge da ran, dass man ihn vor zehn Jah ren ver mut lich noch mit Elekt ro schocks zu hei-len ver sucht hät te.

Die Sit zung ver lief ohne Zwi schen fäl le. Nach ein tau send-

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zwei hun dert Im pul sen er hob sich Sharko mit leicht ver spann-ten Mus keln. Er zupf te sein Hemd zu recht und strich sich mit der Hand durch das grau me lier te kur ze Haar. Er schwitz te. Die drü cken de Luft und sein leich tes Über ge wicht, das auf die Ein nah me von Zypr exa, ei nem Neur olepti kum, zu rück zu-füh ren war, mach ten die Sa che nicht leich ter. Und in die sem hei ßen Mo nat Juli ver moch te auch die Kli ma an la ge die tro pi-schen Au ßen tem pe ra tu ren nicht aus zu glei chen.

Er no tier te sei nen nächs ten Ter min, be dank te sich bei sei-nem Psy chi a ter und ver ließ den Raum.

An der Kaf fee ma schi ne am Ende des Kor ri dors traf er Le-clerc.

Sein Vor ge setz ter brauch te jetzt eine Zi ga ret te. Die kur ze Zeit, die er der Be hand lung bei ge wohnt hat te, hat te ihn er-schöpft.

»Be ängs ti gend, sie so mit dei nem Ge hirn spie len zu se hen.«»Rei ne Rou ti ne, ge nau so, als wür de man beim Fri seur un-

ter der Hau be sit zen, um sich eine Dau er wel le ma chen zu las sen.«

Sharko lä chel te und führ te den Be cher zum Mund.»Schieß los, er zähl mir von dei nem Fall.«Die bei den Män ner gin gen lang sam ne ben ei nan derher.»Fünf Lei chen in zwei Me ter Tie fe ver scharrt, kein schö-

ner An blick. Nach ers ten Un ter su chun gen sind vier von ih nen von Wür mern zer fres sen, der fünf te Tote ist noch in re la tiv gu tem Zu stand. Al len fehlt der obe re Teil des Schä dels, so als wäre er ab ge sägt wor den.«

»Wel che Ver mu tung ha ben sie vor Ort?«»Was glaubst du? Wir sind in ei ner Pro vinz stadt, wo das

größ te Ver ge hen ver mut lich da rin be steht, dass je mand sei-nen Müll nicht trennt. Die Lei chen lie gen si cher schon Wo-

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chen, wenn nicht gar Mo na te dort. Sie sit zen ganz schön in der Klem me, die Er mitt lun gen wer den nicht ein fach wer den. Ein psy cho lo gi scher An satz könn te hilf reich sein. Du ar bei test wie im mer, nicht mehr und nicht we ni ger. Du sam melst In for-ma ti o nen, triffst die wich ti gen Leu te, und dann ma chen wir auf dem Haupt kom mis sa ri at in Nan terre wei ter. Das Gan ze dau ert zwei, höchs tens drei Tage. Da nach kannst du mit dei ner Mo dell ei sen bahn spie len oder tun, was im mer du willst. Und ich eben falls. Die Sa che soll te sich nicht in die Län ge zie hen. Ich will ver schwin den.«

»Fährst du mit Kat hia in Ur laub?«Lec lerc nag te an der Un ter lip pe.»Ich weiß noch nicht. Das hängt da von ab.«»Von was?«»Von ei ner Men ge Fak to ren, die nur mich et was an ge hen.«Sharko hak te nicht wei ter nach. Als sie die Tür des Kran-

ken hau ses öff ne ten, schlug ih nen glü hen de Hit ze ent ge-gen. Die Hän de in den Ta schen sei ner Lei nen ho se ver gra ben, wand te sich der Kom mis sar zu dem lang ge streck ten wei ßen Ge bäu de mit sei ner Kup pel um, die un ter der un barm her zi-gen Son ne glit zer te. In den letz ten Jah ren war die Kli nik nach sei nem Büro sein zwei tes Zu hau se ge wor den.

»Ich habe et was Angst, mich wie der an ei nen Ver bre chens-schau platz zu be ge ben. All das liegt so weit zu rück …«

»Man ge wöhnt sich schnell wie der da ran.«Sharko schwieg eine Wei le, schien das Für und Wi der ab-

zu wä gen und zuck te schließ lich die Ach seln.»Ach, ver dammt! Da ich dau ernd nur he rum sit ze, sehe ich

bald selbst aus wie ein Ses sel. Sag ih nen, dass ich im Lau fe des Nach mit tags kom me.«

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KA PI TEL 4

Luc ie trank ge ra de Kaf fee, als der Arzt aus der Not auf nah me, der Ludo vic Séné chal un ter sucht hat te, zu ihr kam. Er war ein hoch ge wach se ner dun kel haa ri ger Typ mit fei nen Zü gen und schö nen Zäh nen, für den sie sich un ter an de ren Um stän den in te res siert hät te. Auf dem Na mens schild sei nes Kit tels stand Dr. L. Tourn el le.

»Nun, Dok tor?«»Of fen bar we der eine Wun de noch ein Blut er guss, nichts

deu tet auf ein Schä del trau ma hin. Die au gen ärzt li che Un ter-su chung hat nichts Anor ma les er ge ben. Die oku la re Mo bi li-tät, der Au gen hin ter grund, al les scheint in Ord nung. Pu pil-len kont rak ti on und fo to mo to ri sche Refl e xe sind nor mal. Aber Ludo vic Séné chal sieht ab so lut nichts.«

»Und wo ran liegt es dann?«»Wir wer den ein ge hen de re Un ter su chun gen vor neh men,

im Zwei fels fall auch mit Scan ner, um ei nen Hirn tu mor aus-zu schlie ßen.«

»Kann ein Tu mor blind ma chen?«»Wenn er auf den Seh nerv drückt, ja.«Luc ie schluck te müh sam. Ludo vic war zwar nur noch eine

ent fern te Er in ne rung, aber den noch hat te sie sie ben Mo na te ih res Le bens mit ihm ge teilt.

»Ist so et was heil bar?«»Das hängt von der Grö ße und der Lage ab, und auch da von,

ob er bös ar tig ist. Be vor wir kei ne MRT ge macht ha ben, will ich lie ber nichts sa gen. Wenn Sie wol len, kön nen Sie jetzt zu Ih rem Freund ge hen, er liegt auf Zim mer 208.«

Der Arzt ver ab schie de te sich mit ei nem fes ten Hän de-druck und ging dann ei lig da von. Luc ie hat te nicht den Elan,

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die Trep pe zu neh men, und war te te auf den Auf zug. Die auf der Kin der sta ti on, in mit ten des Ge ruchs von Er bro che nem, durch wach ten Näch te hat ten ihr alle Ener gie ge raubt. Glück-li cher wei se lös te ihre Mut ter sie tags ü ber ab, so dass sie ein we nig schla fen konn te.

Nach dem sie lei se an die Tür ge klopft hat te, trat sie in Ludov ics Zim mer. Er lag auf dem Bett, den Blick starr zur De-cke ge rich tet. Luc ies Keh le zog sich zu sam men. Er hat te sich nicht ver än dert … si cher, das Haar war et was schüt te rer, doch er hat te noch im mer das sanf te, run de Ge sicht mit den Zü gen ei nes rei fen Man nes, das ihr im In ter net gleich ge fal len hat te.

»Ich bin’s, Luc ie.«Er wand te ihr den Kopf zu. Sei ne Pu pil len wa ren nicht auf

sie, son dern auf die Wand hin ter ihr ge rich tet. Luc ie frös tel-te und rieb sich die Schul tern. Ludo vic ver such te zu lä cheln.

»Du kannst ru hig nä her kom men, es ist nicht an ste ckend.«Luc ie trat ei ni ge Schrit te vor und er griff sei ne Hand.»Al les wird gut.«»Ko misch, dass ich dei ne Num mer er wischt habe, oder? Es

hät te auch ir gend ei ne an de re sein kön nen.«»Auch ko misch, dass ich ge ra de hier war. Im Mo ment kennt

mich hier je der.«Sie er zähl te ihm von Ju liet tes Krank heit. Ludo vic kann-

te die Zwil lin ge, und die Mäd chen moch ten ihn ger ne. Luc ie war ner vös, sie dach te an die sen Hor ror, der sich viel leicht im Kopf ih res Ex ent wi ckel te.

»Sie fi n den si cher he raus, was los ist.«»Ich neh me an, sie ha ben dir was von ei nem Tu mor er-

zählt?«»Das ist nur eine Hy po the se.«»Es ist kein Tu mor, Luc ie, es war der Film.«

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»Wel cher Film?«»Der mit dem klei nen wei ßen Kreis. Ich habe ihn bei ei nem

Samm ler ge fun den. Er war …«Luc ie be merk te, wie sich sei ne Fin ger in die Bett de cke krall-

ten.»Er war selt sam.«»In wie fern selt sam?«»So selt sam, dass er mich das Au gen licht ge kos tet hat, ver-

dammt!«Er hat te fast ge schrien und zit ter te jetzt re gel recht. Er tas-

te te nach ih rer Hand und er griff sie.»Ich bin si cher, dass der ehe ma li ge Be sit zer ge nau die sen

Film auf sei nem Dach bo den ge sucht hat. Da bei ist er von der Lei ter ge fal len und hat sich den Schä del auf ge schla gen. Es gab ei nen Grund, wa rum … ich weiß nicht, aber ir gend wie hat te er das Be dürf nis, die stei le Trep pe hi nauf zu stei gen, um sich den Film zu ho len.«

Luc ie spür te, dass er am Ende sei ner Kräf te war. Sie ver ab-scheu te es, Na he ste hen de und Freun de so ver zwei felt zu er-le ben.

»Ich sehe ihn mir an.«Er schüt tel te den Kopf.»Nein, nein. Ich will nicht, dass …«»Dass ich auch blind wer de? Kannst du mir er klä ren, wie

ein fa che Bil der, die auf eine Lein wand pro ji ziert wer den, ei-nen er blin den las sen kön nen?«

Kei ne Ant wort.»Ist die Spu le noch im Pro jek tor?«Nach kur zem Schwei gen gab Ludo vic nach.»Ja, es be darf nur ei ni ger Hand grif fe. Ich habe es dir schon

ge zeigt. Er in nerst du dich?«

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»Ja, ich glau be, das war bei dem Film Im Zei chen des Bö-sen.«

»Touch of Evil von Or son Wel les …«Er seufz te. Trä nen ran nen über sei ne Wan gen. Er deu te te

ins Lee re.»Mei ne Brief ta sche muss auf dem Nacht käst chen lie gen. Es

sind auch Vi si ten kar ten drin. Nimm die von Claude Poig net he raus. Er res tau riert alte Fil me, und ich möch te, dass du ihm die Rol le bringst. Er soll ihn sich an schau en, ja? Ich möch te wis sen, wo her der Strei fen kommt. Nimm auch die An zei-ge mit. Da stehen die Te le fon num mer und Ad res se von dem Sohn des Samm lers da rauf. Luc Szpil man.«

»Und was soll ich da mit ma chen?«»Nimm sie mit. Nimm al les mit. Du willst mir hel fen?

Dann hilf mir, Luc ie.«Luc ie un ter drück te ei nen Seuf zer. Sie öff ne te die Brief-

tasche und nahm die Kar te und die An zei ge an sich.»Ich hab’s.«Das schien ihn zu be ru hi gen. Er hat te sich auf ge setzt, und

sei ne Füße bau mel ten vom Bett rand.»Und sonst, Luc ie, wie geht es dir?«»Wie im mer … stän dig neue Mor de und Über grif fe. Ar-

beits lo sig keit wird es bei der Po li zei so schnell nicht ge ben.«»Ich mein te dich, nicht dei nen Be ruf.«»Mich? Ach …«»Ver giss es. Wir un ter hal ten uns spä ter da rü ber.«Er reich te ihr sei nen Haus schlüs sel und drück te ihre Hand.

Luc ie frös tel te, als sich sein Ge sicht dem ih ren nä her te und sei ne aus drucks lo sen Au gen di rekt auf die ih ren ge rich tet wa-ren.

»Nimm dich vor dem Film in Acht.«

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KA PI TEL 5

Nach mit tag in Not re-Dame-de-Gravenc hon. Eine hüb sche Klein stadt im Dépar tem ent Sei ne-Ma ri ti me. Net te Ge schäf-te, Ruhe, Grün und Fel der, so weit das Auge reicht – vo raus-ge setzt, man schau te auf die rich ti ge Sei te. Denn im Süd-wes ten, kaum ei nen Ki lo me ter ent fernt, wur de der Blick auf das Sei ne-Ufer von ei ner Art rie si gem Stahl schiff ver sperrt, das grau en Rauch und Gas ge stank in den farb lo sen Him mel spuck te.

Sharko schlug die Rich tung ein, die ihm der Po li zei be-amte ge wie sen hat te, den er vor Ort tref fen soll te. Auch wenn die Lei chen be reits am Vor tag aus ge gra ben wor den wa ren – eine wah re Ar chä o lo gen ar beit, die den gan zen Tag in An spruch ge nom men hat te, um even tu el le Spu ren nicht zu zerstö ren –, leg te der Haupt kom mis sar Wert da rauf, sich die Auffi n dungs si tu a ti on per sön lich an zu se hen. Die drei-stün dige Fahrt, stets die blen den de Son ne im Ge sicht, hat te an sei nen Ner ven ge zehrt, zu mal er seit Jah ren kaum mehr Auto fuhr.

Vor ihm ein Weg wei ser. Er bog ab und fuhr mit ge schlos se-nen Fens tern und ein ge schal te ter Kli ma an la ge durch das In-dust rie ge biet von Port-Jérôme. Trotz dem war die Luft schwül und stank nach Me tall pul ver und Säu re. Hier teil ten, gut in der Na tur ver steckt, be kann te Fir men wie To tal, Ex xon, Mo-bil und Air Li qui de un ter ei nan der die Re ser ven an Treib stoff, Heiz- und Mo tor öl auf. Der Kom mis sar fuhr gut zwei Ki lo-me ter durch das Meer von Schorn stei nen, um schließ lich in ei nen ru hi ge ren Sek tor mit in dust ri el lem Brach land zu ge lan-gen. Über all Rei hen von still ste hen den Bull do zern. Er hielt et was ab seits von der Bau stel le an, stieg aus und zog sei nen

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Hemd kra gen zu recht. Zum Teu fel mit dem Ja ckett. Er ließ es mit sei nem klei nen Ruck sack, der das Nö ti ge für eine Über-nach tung ent hielt, auf dem Bei fah rer sitz lie gen. Drau ßen ver-trat er sich kurz die Bei ne und mach te ein paar Knie beu gen, die ein un an ge neh mes Kna cken ver ur sach ten.

»Herr gott noch mal …«Sharko setz te sei ne Son nen bril le mit dem ge kleb ten Bü-

gel auf und sah sich um. Rechts von ihm die Sei ne, links eine Baum grup pe und da hin ter die In dust rie bau stel le. Ein Ein-druck von Lee re und Ver las sen heit. Weit und breit kein Haus, nur ein sa me Stra ßen und Brach land.

Wei ter un ten wa ren ein paar Män ner mit Hel men in ein Ge spräch ver tieft. Zu ih ren Fü ßen klaff te eine brei te ocker-far be ne Wun de im Bo den, die sich über meh re re Ki lo me ter am Fluss ufer ent lang zog. Sie hör te ge nau da auf, wo die gelb-schwar zen Ab sperr bän der der Po li zei leicht im Wind fl at ter-ten. Es roch nach war mem Lehm und Feuch tig keit.

An sei nem Gür tel hol ster er kann te Sharko so fort den Kol le-gen aus Rou en, der ihn er war te te. Die Waf fe glänz te im Son-nen licht, als wür de sie ihn ru fen. Der Mann trug Hüft jeans, ein schwar zes T-Shirt und alte Stoff turn schu he. Groß, durch-trai niert und dun kel haa rig, höchs tens fünf und zwan zig oder sechs und zwan zig Jah re alt. Er dis ku tier te mit ei nem Ka me ra-mann und ei ner Frau – wohl eine Jour na lis tin. Sharko schob die Bril le in sein kurz ge schnit te nes Haar und zeig te sei nen Dienst aus weis.

»Lu cas Poi rier?«»Sind Sie der Pro fi ler aus Pa ris? Freut mich.«Auf De tails ein zu ge hen und ihm zu er klä ren, dass sein Job

nicht viel mit den so ge nann ten Pro fi lern zu tun hat te, wäre zu zeit auf wän dig ge we sen.

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»Nen nen Sie mich Sharko oder Shark. Kei ne An re de, kei-nen Vor na men, kei nen Dienst grad.«

»Tut mir leid, Haupt kom mis sar, aber das kann ich nicht.«Die Jour na lis tin trat nä her.»Haupt kom mis sar Sharko, wir ha ben von Ih rem Be such

er fah ren und …«»Auch auf die Ge fahr hin, un freund lich zu sein, muss ich

Ih nen sa gen, dass Sie und Ihr Ka me ra mann auf der Stel le von hier ver schwin den müs sen.«

Er sah sie fi ns ter an. Er hass te Jour na lis ten. Die Frau zog sich zu rück, wies ih ren Kol le gen aber den noch an, ei ni ge Auf-nah men zu ma chen. Sie wür den ver mut lich eine un be deu ten-de Ge schich te mit meh re ren Zwi schen schnit ten zu sam men-bas teln und ext ra da rauf hin wei sen, dass ein Pro fi ler an der Sa che ar bei te te. Das wäre dann die Sen sa ti on.

Sharko be dach te sie mit ei nem dro hen den Blick und wand-te sich an Poi rier.

»Wis sen Sie, ob mein Ho tel zim mer re ser viert ist? Wer küm mert sich da rum? Sie?«

»Ähm, ich weiß nicht … ver mut lich das …«»Ich will ein gro ßes Zim mer mit Ba de wan ne.«Auf grund der au to ri tä ren Art, mit der Sharko alle ein-

schüch ter te, nick te Poi rier und schwieg. Der Kom mis sar sah sich er neut um.

»Gut, wir wol len kei ne Zeit ver lie ren. Er klä ren Sie mir den Fall?«

Der jun ge Po li zei be am te nahm ei nen kräf ti gen Schluck aus sei ner klei nen Was ser fl a sche und deu te te auf die Alg eco-Con-tai ner, die et was wei ter hin ten auf ge stellt wa ren.

»Die Bau ar bei ten ha ben letz ten Mo nat be gon nen. Es geht um eine Pipe line, in der alle mög li chen che mi schen Pro dukte

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von den Fab ri ken in Gon fre ville zu der Ex xon-Raf fi ne rie da hin ten trans por tiert wer den sol len. Drei ßig Ki lo me ter un ter-ir di sche Roh re. Es fehl ten nur noch fünf oder sechs Me ter, aber nach dem Fund sind die Ar bei ten vor läu fi g ein ge stellt wor den. Ich brau che Ih nen ja wohl nicht zu sa gen, wie sau-er die sind.«

Wei ter un ten lief ein Mann mit An zug und Kra wat te, wahr schein lich der Bau lei ter, das Handy am Ohr, ner vös auf und ab. Eine sol che Ent de ckung war si cher das Letz te, wo mit er ge rech net hat te. Und auch wenn es nicht sei ne Schuld war, muss te der Arme sich ver mut lich ge gen über den Geld ge bern recht fer ti gen.

Sharko wisch te sich mit ei nem Ta schen tuch über die Stirn. Un ter sei nen Ach seln zeich ne ten sich nas se Fle cke ab. Poi rier ging zu der ab ge sperr ten Zone.

»Dort hin ten ha ben die Ar bei ter sie ge fun den. Fünf Lei chen in zwei Me ter Tie fe. Der Bull do zer fah rer hat nicht zu viel zer-stört, er hat so fort auf ge hört, als er ei nen Arm ent deck te.«

Sharko kroch un ter dem Ab sperr band hin durch und trat an den tie fen Gra ben. Er wand te an ge wi dert den Kopf ab. Poi rier folg te ihm und zog sein T-Shirt über die Nase.

»Ja, hier stinkt es im mer noch. Die la gen in dem Mo der – und das bei die sen Tem pe ra tu ren! Eine wah re Freu de für die Jungs von der Spu ren si che rung und die Rechts me di zi ner, das kön nen Sie mir glau ben.«

Sharko at me te tief durch und sah in die Gru be.»Wa ren es Män ner, Frau en oder Kin der? Kann man schon

et was über das Al ter sa gen?«»Män ner. Vier von ih nen wa ren nur noch in Ein zel tei len

vor han den. Die Feuch tig keit der Erde und die Nähe zur Sei ne ha ben den Ver we sungs pro zess be schleu nigt. Es wa ren qua si

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Ske let te. Ich sage qua si, weil es noch Fleisch res te und Kör per-fl üs sig keit gab, kurz, sie …«

»Und der fünf te?«Poi rier um klam mer te ner vös sei ne Was ser fl a sche. Sein

T-Shirt war schweiß nass. Der Kör per ver lor Salz und Was ser, das ihm in di cken Trop fen über die Stirn rann.

»Eben falls ein Mann und ziem lich gut er hal ten. Wenn man so sa gen darf. Die an de ren Kör per, die über und un ter ihm la-gen, ha ben of fen bar eine Art Iso la ti on ge schaf fen.«

»Kei ne Pla ne oder sons ti ge Ver pa ckung der Lei chen?«»Nein. Auch kei ne Klei dung. Sie wa ren völ lig nackt. Und

der bes ser Er hal te ne wies star ke Haut ab schür fun gen an Ar-men und Brust auf. Ich habe es selbst ge se hen, ver dammt. Wie eine ab ge schäl te Oran ge. Das kön nen Sie sich gar nicht vor stel len.«

Doch, konn te er. Sharko seufz te. Die Sa che schien komp-li ziert. Gut mög lich, dass sich die ser Fall zu an de ren in Nan-terre ge sel len wür de, die man von Zeit zu Zeit wie der auf nahm und durch den Com pu ter jag te. Er streck te dem jun gen Kom-mis sar die Hand hin.

»Hel fen Sie mir run ter.«Der Po li zist ge horch te. Sharko hat te den Ein druck, dass die-

ser jun ge Kerl, der noch am An fang sei ner Lauf bahn stand, schon zu viel ge se hen hat te. Er be fand sich in ei nem Sumpf, aus dem er in ei ni gen Jah ren nicht mehr un ver sehrt he raus-kom men wür de. Alle Po li zis ten folg ten dem sel ben Weg, der sie in ei nen Ab grund führ te, aus dem es kein Zu rück mehr gab. Denn die ser Be ruf fraß ei nen mit Haut und Haar auf.

Poi rier ließ los, und Sharko fand sich am Grund der Gru be wie der. Mit der Hand klopf te er die Erde von sei nem Hemd. Es stank wie im Lei chen schau haus. Hier un ten schien die Son ne

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nicht mehr hin, und die Luft war sti ckig. Sharko ging in die Ho cke und ließ die Erde durch die Fin ger rie seln. Sie war ge-siebt wor den, um kein In diz zu über se hen: klei ne Kno chen, Knor pel, In sek ten lar ven. Die Spu ren si che rung hat te gute Ar-beit ge leis tet. Sharko er hob sich und ließ den Blick über die brau nen Erd wäl le glei ten. Zwei Me ter tief, da muss te man schon ganz schön gra ben, um die Lei chen zu ver schar ren. Ge-wis sen haf tes, me tho di sches Vor ge hen …

»Mein Chef hat mir von auf ge schnit te nen Schä deln er-zählt.«

Poi rier beug te sich über den Rand. Der Schweiß tropf te von sei ner Stirn in die Gru be.

»Stimmt, hat die Pres se auch gleich auf die Ti tel sei te ge-bracht, eine wah re Sen sa ti on. Man spricht von ei nem Se ri en-kil ler und so wei ter, glat ter Wahn sinn. Die Schä del de cken hat man nicht ge fun den. Als hät ten sie sich in Luft auf ge löst.«

»Und die Hirn mas se?«»In den Schä deln war nichts mehr – das heißt, doch: Erde.

Der Ge richts me di zi ner ar bei tet noch an der Sa che. Of fen bar sind Ge hirn und Au gen das Ers te, was sich nach dem Tod zer-setzt. Im Mo ment kann man also nichts sa gen.«

Er streck te die Zun ge he raus und goss die letz ten Trop fen aus sei ner Was ser fl a sche da rauf.

»Ver fl uch te Hit ze!«Ner vös zer drück te der jun ge Mann die Plas tik fl a sche.»Hö ren Sie, Haupt kom mis sar, was, wenn wir ver schwin den

wür den? Ich ste he hier schon seit Stun den he rum und muss aus der Hit ze he raus. Wir kön nen im Wa gen wei ter dis ku tie-ren, Sie müs sen mich oh ne hin mit neh men.«

Sharko blick te sich ein letz tes Mal um. Im Mo ment gab es so wie so nichts mehr zu se hen oder zu ent de cken. Die Fo tos

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vom Tat ort, Groß- oder Luft auf nah men von der Um ge bung, so fern vor han den, wür den ihm de tail lier te Aus kunft ge ben.

»Ha ben die Lei chen an de re Be son der hei ten? Hat man ih-nen die Zäh ne aus ge ris sen?«

Kur zes Schwei gen. Der jun ge Be am te nick te ver blüfft.»Sie ha ben recht, kei ne Zäh ne mehr. Und man hat ih nen

auch die Hän de ab ge trennt. Wo her …«»Bei al len fünf?«»Ich glau be, ja. Ich … Ent schul di gung …«Er ver schwand aus Shar kos Ge sichts feld. Mit Si cher heit

ein an stren gen der Tag für ihn. Der Kom mis sar ging lang sam durch den Gra ben. In der Fer ne sah er die bei den Ty pen vom Fern se hen, die ihn wahr schein lich fi lm ten. Dann ent fern ten sie sich dis kret zu ih rem Miet wa gen. Sharko blieb ste hen und sah sich um. Er stell te sich die fünf ü ber ei nan der lie gen den Lei chen vor. Eine von ih nen war stel len wei se ge häu tet wor-den. Wa rum? Eine klei ne Son der be hand lung? Vor oder nach dem Tod? Alle Fra gen, die der Fund ort auf warf, ka men ihm in den Sinn. Hat ten sich die Op fer ge kannt? Hat ten sie Um-gang mit ih rem Mör der ge pfl egt? Wa ren sie zur sel ben Zeit ge stor ben? Un ter wel chen Be din gun gen?

Sharko spür te das ers te Pri ckeln we gen der Er mitt lun gen, das auf re gends te Ge fühl. Hier stank es nach Tod, nach dem Ben zin der Bull do zer und nach Mo der, und er er tapp te sich da bei, dass er die se wi der wär ti gen Ge rü che noch im mer lieb-te. Frü her hat te er sich mit Ad re na lin und Fins ter nis ge dopt. Un zäh li ge Male war er mit ten in der Nacht nach Hau se ge-kom men und hat te Suz an ne schla fend und ver weint auf der Couch zu sam men ge rollt vor ge fun den. Er hass te die se ver gan-ge ne Zeit eben so, wie er ihr nach trau er te.

Et was wei ter weg ent deck te er eine Lei ter, über die er prob-

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lem los aus der Bau gru be he raus stei gen konn te. Drei ßig Me-ter ent fernt ver lief eine Teer stra ße. Auf der muss ten der oder die Mör der hier her ge langt sein, um die Lei chen zu ver gra-ben. Die Kri po von Rou en hat te ver mut lich mit der Nach-bar schafts be fra gung be gon nen und das Per so nal der Fab rik ver hört – an ge sichts der Ört lich kei ten si cher ein recht hoff-nungs lo ses Un ter fan gen.

Ein we nig ab seits saß Lu cas Poi rier am Sei ne-Ufer und te-le fo nier te – wahr schein lich mit sei ner Frau, um ihr zu sa gen, dass er an die sem Abend spä ter kom men wür de. Bald wür de er sie nicht ein mal mehr in for mie ren, die lan gen Ab we sen-hei ten wür den ein fach zu sei nem Be ruf ge hö ren. Und in ei-ni gen Jah ren wür de er be grei fen, dass die ser Job vor al lem be deu te te, al lein mit sei nen Dä mo nen zu le ben. Drinks an ei nem schmut zi gen Zink tre sen zu neh men und, wenn man nicht mehr wei ter konn te, sei nen Hass her aus zu kot zen. Seuf-zend be deu te te Sharko ihm, dass er zu rück fah ren woll te. Sein jun ger Kol le ge be en de te das Ge spräch und kam an ge lau fen.

»Also, wo her wuss ten Sie das mit den Zäh nen?«»Eine Vi si on. Ver ges sen Sie nicht, dass ich Pro fi ler bin.«»Das soll wohl ein Witz sein, Kom mis sar …«Sharko be dach te ihn mit ei nem auf rich ti gen Lä cheln. Er

lieb te die Na i vi tät die ser jun gen Leu te. Sie be wies, dass es in ih nen noch et was Rei nes gab, ein Licht, wel ches man bei den al ten Füch sen, die schon al les ge se hen hat ten, längst nicht mehr fand.

»Der Mör der hat sei ne Op fer ent klei det, er hat ei nen wei-chen, feuch ten Bo den in der Nähe ei nes Fluss laufs ge wählt, um die Ver we sung zu be schleu ni gen. Ob wohl die ses ab ge le-ge ne Ter rain si cher nicht als Bau land aus ge wie sen wird, hat-te er Angst, man könn te sie fi n den. Da rum hat er sie auch so

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tief ver gra ben. Bei all die sen Vor sichts maß nah men wäre er be stimmt kaum das Ri si ko ein ge gan gen, dass man die Op fer iden ti fi zie ren kann. Heut zu ta ge kön nen Spe zi a lis ten Fin ger-ab drü cke di gi tal so gar noch an Mu mi en er fas sen. Das wuss te der Mör der viel leicht und hat bru tal Vor sor ge ge trof fen. Ohne Zäh ne und Hän de blei ben die To ten ano nym.«

»Viel leicht nicht ganz, man wird ihre DNA fest stel len.«»Die DNA … ja … wenn man da ran glau ben will.«Sie stie gen in den Wa gen, Sharko dreh te den Zünd schlüs-

sel um und fuhr los.»An wen muss ich mich we gen mei nes Ho tel zim mers wen-

den? Ich weiß, dass ich mich wie der ho le, aber ich will ein gro-ßes mit Ba de wan ne.«

KA PI TEL 6

Ludo vic Séné chal wohn te hin ter der Pfer de renn bahn von Marcq-en-Bar oeul, ei ner Klein stadt in un mit tel ba rer Nähe von Lille. Eine ru hi ge Ge gend mit mo der nen Ein fa mi li en häu-sern aus Zie gel stein und ei nem Gar ten, so klein, dass man nicht den gan zen Sams tag mit Ra sen mä hen ver brin gen muss-te. Mit ei nem leich ten Lä cheln hob Luc ie den Blick zu dem Fens ter im ers ten Stock. Da hin ter lag ein hüb sches klei nes Schlaf zim mer, in dem sie sich zum ers ten Mal ge liebt hat-ten. Ein Mee tic-Abend, wie er im Bu che steht. Man trifft sich vir tu ell, dann real, man schläft mit ei nan der, und dann sieht man wei ter.

Sie hat te ge se hen. Ludo vic war in je der Hin sicht ein gu ter Typ: ernst haft, auf merk sam und mit vie len an de ren po si ti ven Ei gen schaf ten ver se hen – doch es man gel te ihm ein deu tig an

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Bril lanz. Ein ge re gel tes Le ben, Fil me an schau en, eine ru hi ge Ku gel bei der Kran ken ver si che rung schie ben und wie der Fil-me an schau en. Und noch dazu ein Hang zur De pres si on. Sie konn te ihn sich nicht als zu künf ti gen Va ter für ihre Zwil lin ge vor stel len, als je man den, der sie zu ei nem Bal lett kurs er mu ti-gen oder Fahr rad mit ih nen fah ren wür de.

Luc ie schob den Schlüs sel ins Schloss und stell te fest, dass die Tür nicht ver rie gelt war. Der Grund war leicht zu er ra ten: In sei ner Pa nik hat te Ludo vic al les ste hen und lie gen las sen. Sie trat ein und schloss hin ter sich ab. Ein gro ßes, schö nes und mo der nes Haus, das den Platz bot, der ihr und ih ren Töch tern fehl te. Ei nes Ta ges viel leicht …

Sie er in ner te sich an den Zu gang zum Un ter ge schoss. Die Film vor füh run gen mit Bier und selbst ge mach tem Pop corn hat ten et was Un ver gess li ches und Zeit lo ses. Im Ein gang ent-deck te sie meh re re zer bro che ne oder um ge kipp te Ge gen stän-de. Sie konn te sich gut vor stel len, wie sich Ludo vic blind nach oben ge tas tet und über all an ge sto ßen hat te, ehe es ihm ge lun-gen war, sie an zu ru fen.

Luc ie ging die Stu fen zum Pri vat ki no hi nab. Seit dem letz-ten Jahr hat te sich nichts ver än dert. Ro ter Plüsch an den Wän-den, der Ge ruch nach al ten Tep pi chen, eine Atmo sphä re der Sieb zi gerjah re, die durch aus ih ren Charme hat te. Vor ihr fl im-mer te die Lein wand im grel len Licht des Pro jek tors. Luc ie öff ne te die Tür zu der klei nen Vor führ ka bi ne, in der die Xe-non lam pen glü hen de Hit ze er zeug ten. Das lau te Sur ren der Film spu le, die sich dreh te, wäh rend das Ende des Films in der Luft fl at ter te. Ohne wei ter nach zu den ken, drück te Luc ie auf den gro ßen ro ten Knopf des Film an triebs, ein sech zig Kilo schwe rer Ko loss. Das Sur ren er starb au gen blick lich.

Sie be tä tig te den Licht schal ter, und eine hel le Ne on röhre

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fl amm te auf. In der klei nen Kam mer türm ten sich durch ei-nan der lee re Spu len, Ton bän der und Film pla ka te. Ein or ga-ni sier tes Cha os – ty pisch Ludo vic. Sie ver such te, sich zu er-in nern, wie man ei nen Film ein leg te: Film- und Leer spu le tau schen, auf die Auf wi cke lach se ste cken und fi xie ren, Be-triebs schal ter be tä ti gen, Film ein satz in Ein fä del öff nung schie-ben. Bei den vie len Knöp fen ge stal te te sich die Ope ra ti on schwie ri ger, als sie an ge nom men hat te, doch schließ lich hat te Luc ie Glück, und es ge lang ihr, den Film pro jek tor zu star ten. Durch die Ma gie von Licht und Auge wür de sich die Ab fol ge von star ren Bil dern in per fek te Be we gung ver wan deln. Das Kino war ge bo ren.

Luc ie schal te te die Ne on röh re aus, schloss die Tür der Ka-bi ne hin ter sich und stieg die drei Stu fen zum Vor führ raum hi nab. Sie lehn te sich mit ver schränk ten Ar men an die hin-te re Wand. Die ser klei ne lee re Raum mit den zwölf grü nen Skai sit zen hat te wirk lich et was De pri mie ren des – ganz so wie sein Be sit zer. Den Blick auf die Lein wand ge rich tet, konn te Luc ie ein ge wis ses Un be ha gen nicht un ter drü cken. Ludo vic hat te von ei nem selt sa men Film ge spro chen, und jetzt war er blind. Und wenn die se Bil der nun et was Ge fähr li ches hät-ten … etwa ein so in ten si ves Licht, dass man da von er blin den konn te? Luc ie schüt tel te den Kopf, das war al bern. Ludo vic hat te si cher ei nen Hirn tu mor.

Der dün ne Licht strahl zit ter te in der Dun kel heit und er-hell te schließ lich das gan ze Recht eck. Es folg te das ers te völ-lig schwar ze Bild. Fünf oder sechs Se kun den spä ter er schien in der obe ren rech ten Ecke ein wei ßer Kreis. Plötz lich setz te die Mu sik ein. Eine Me lo die, wie man sie frü her bei Volks-fes ten hö ren konn te, wenn sich die Ka rus sells mit ih ren höl-zer nen Pfer den dreh ten. Luc ie lä chel te we gen der schlech ten

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Qua li tät des knis tern den Tons. Er war si cher von ei ner al ten 45er Schall plat te oder gar von ei nem Gram mofon auf ge nom-men wor den.

Kein Ti tel, kein Vor spann. In ei nem Oval in der Mit te der Lein wand er schien das Ge sicht ei ner Frau in Groß auf nah me. Der Rest des Bil des war dun kel, eine Art grau er, fast schwar-zer Ne bel, so als hät te der Ka me ra mann ei nen Kasch vor sein Ob jek tiv ge setzt. Das er zeug te ei nen Ein druck von Voye uris-mus, als wür de man durch ein Schlüs sel loch bli cken.

Luc ie fand die Schau spie le rin schön, ihre mys te ri ö sen Au-gen hat ten et was Hyp no ti sie ren des. Sie war etwa zwan zig Jah re alt und blick te di rekt in die Ka me ra. Dun kel ro ter Lip-pen stift, glat tes schwar zes zu rück ge kämm tes Haar, eine Lo-cke auf die Stirn ge drückt. Man er ahn te den Kra gen ih res Cha nel-Kos tüms, der Hals war ma kel los weiß und lang. Die Schau spie le rin lä chel te nicht, ihr Aus druck war eher hoch-mü tig. Wie der je ner Fe mmes fa ta les, die Hitch cock so ger ne in Sze ne setz te. Ihre Lip pen be weg ten sich, sie sag te et was, doch Lucie konn te nichts von den stum men Wor ten ver-ste hen. Zwei Fin ger – die Fin ger ei ner Män ner hand – glit-ten vom obe ren Bild rand he run ter und ho ben das Lid ih res lin ken Au ges an. Plötz lich tauch te die Klin ge ei nes Skal pells im Bild auf und schnitt, be glei tet von schril ler Zir kus mu sik und Trom mel wir beln, ih ren Aug ap fel von links nach rechts auf.

Lucie wand te den Kopf ab und biss die Zäh ne zu sam men. Zu spät, sie konn te sich der Bru ta li tät des Bil des nicht mehr ent zie hen. Sie hat te nichts ge gen Hor ror fi l me – ganz im Ge-gen teil, sie lieh sich re gel mä ßig DVDs aus, vor al lem für den Sams tag abend –, aber sie hass te eine sol che Vor ge hens wei se, das heißt, den Zu schau er mit et was Un er träg li chem zu kon-

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fron tie ren, ohne ihm eine Chan ce zu las sen, sich zu schüt zen. Das war nie der träch tig und fei ge.

Plötz lich ver stumm te die Mu sik.Kein Laut mehr au ßer dem be droh li chen Brum men des

Pro jek tors.Leicht mit ge nom men wand te sich Lucie wie der der Lein-

wand zu. Noch so eine Sze ne, und sie wür de die Sich tung ab-bre chen. Nach ih rem Auf ent halt in der Not auf nah me hat te sie für heu te wirk lich ge nug Blut ge se hen.

Die Span nung nahm zu, und Lucie war sich ih rer selbst nicht mehr so si cher wie vor her.

Der Pro jek tor warf wei ter sei nen Licht ke gel in den Raum. Jetzt tauch ten Schu he auf der Lein wand auf. Durch ei nen Schritt zu rück ent fern ten sie sich. Das be ru hi gen de Blau des Him mels kam ins Bild. Ein streng ge klei de tes, lä cheln des Mäd chen saß auf ei ner Schau kel. Die Sze ne war in Schwarz-Weiß ge dreht und stumm, ob wohl die Klei ne bis wei len zu spre chen schien. Sie hat te lan ges hel les Haar, war ver mut lich blond und strahl te vor Le bens freu de. Ihre Au gen schie nen das Licht ein zu fan gen, die Schat ten der Bäu me tanz ten auf ih-rer Haut. Auf nah me win kel, Be leuch tung und der Aus druck, den die Ka me ra auf dem kind li chen Ge sicht ein ge fan gen hat-te, deu te ten da rauf hin, dass es sich um das Werk ei nes Pro fi s han del te. Häu fi g en de ten die Schwenks – ver mut lich wur de mit ei ner Hand ka me ra ge dreht – auf den Au gen des Kin des. Sie wa ren hell, un schul dig und vol ler Le ben. Sie blin zel ten, die Pu pil le zog sich zu sam men und öff ne te sich wie der wie eine Blen de. Der wei ße Kreis blieb am obe ren rech ten Bild-rand, und Lucie hat te Mühe, den Blick von ihm ab zu wen-den. Nicht weil er sie an zog, son dern eher, weil er sie stör te. Ohne dass sie ge wusst hät te, wa rum, spür te sie ein Krib beln

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im Bauch. Die Sze ne mit dem durch schnit te nen Auge war ihr un ter die Haut ge gan gen.

Es folg ten meh re re kur ze Ein stel lun gen, die auf das Kind aus ge rich tet wa ren. Un zu sam men hän gen de Se quen zen, die we der räum lich noch zeit lich zu si tuie ren wa ren, ganz so wie im Traum. Man che Bil der wa ren un scharf, wahr schein lich we gen der schlech ten Ma te ri al qua li tät. Vom durch schnit te-nen Auge ein Wech sel zur Schau kel, von der Schau kel auf die Hand des Kin des, die mit Amei sen spiel te. Groß auf nah me des Mun des, der kau te, und der Li der, die sich ho ben und senk ten. Eine an de re Auf nah me, die zwei, drei Mi nu ten lang zeig te, wie sie zärt lich zwei klei ne Kätz chen im Gras strei chel te. Sie drück te sie an sich und küss te sie, wäh rend sich rund he rum – Lucie frag te sich, durch wel che Tech nik – dich ter Ne bel aus-brei te te. Als die Klei ne die Au gen zur Ka me ra hob, sah man, dass sie nicht schau spie ler te. Sie lä chel te ver schwö rer isch und sprach mit je man dem, den sie kann te. Ein mal nä her te sie sich der Ka me ra und dreh te sich lan ge im Kreis. Die Ka me ra be-glei te te ih ren Tanz und dreh te sich eben falls, was in mit ten die ses Ne bels beim Zu schau er ein Ge fühl von Schwin del er-zeug te.

Die fol gen de Se quenz: Et was im Blick der Klei nen hat te sich ver än dert. Eine an hal ten de Trau er. Das Bild war sehr dun kel ge wor den. Um die Klei ne he rum senk ten sich Ne bel schwa-den. Wie um sie zu ne cken, nä her te sich die Ka me ra und zog sich wie der zu rück, wäh rend das Kind sie mit vor ge streck ten Hän den ver scheuch te wie ein In sekt. Lucie hat te das Ge fühl, nicht das Recht zu ha ben, sich den Film an zu se hen. Sie fühl te sich über fl üs sig wie ein Vo yeur, der heim lich ein Spiel, viel-leicht zwi schen Va ter und Toch ter, be ob ach te te.

Völ lig un ver mit telt eine neue Se quenz. Lucie riss die Au gen

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auf, um alle De tails der Sze ne rie auf zu neh men: eine ein ge-zäun te Wie se, dunk ler ne bel ver han ge ner, be droh li cher Him-mel, der nicht wirk lich na tür lich wirk te – han del te es sich um ei nen Spe zi al ef fekt? Am Ende der Wei de war te te das Kind mit hän gen den Schul tern. In der rech ten Hand hielt es ein Flei-scher mes ser, das in den klei nen un schul di gen Fin gern rie sig wirk te.

Zoom auf ihre Au gen. Sie starr ten ins Lee re, die Pu pil len schie nen er wei tert. Lucie spür te, dass ir gend et was die Klei-ne ver stört hat te. Die Ka me ra, die auf der an de ren Sei te des Zauns stand, schwenk te schnell nach rechts zu ei nem wü ten-den Stier. Das ge wal ti ge, kraft vol le Tier hat te Schaum vor dem Maul, scharr te mit den Hu fen. Die Hör ner wa ren vor ge streckt wie zwei Spie ße.

Lucie hielt die Hand vor den Mund. Er wür de doch nicht …Sie stütz te sich auf die Leh ne ei nes Ki no ses sels und hob

den Kopf zur Lein wand. Ihre Fin ger nä gel bohr ten sich in das Kunst le der.

Plötz lich kam eine Hand ins Bild und hob ei nen Rie gel an. Der Aus füh ren de hat te es vor ge zo gen, au ßer halb des Bild-aus schnitts zu blei ben. Das Gat ter öff ne te sich, und das er-reg te Tier rann te da rauf zu. Es ver kör per te Kraft und Ge walt-tä tig keit. Wie viel moch te es wie gen? Eine Ton ne viel leicht? Es blieb mit ten auf der Wei de ste hen, fuhr dann he rum und schien sich auf das Mäd chen zu kon zent rie ren, das sich nicht vom Fleck rühr te.

Lucie über leg te kurz, ob sie in die Ka bi ne ge hen und die Vor füh rung ab bre chen soll te. Das war kein Spiel mehr, hier ging es nicht mehr um Schau keln, Lä cheln und Ver traut heit. Nein, man ver sank im Un fass ba ren. Lucie press te die Hand vor den Mund und ver moch te den Blick nicht von die ser ver-

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teu fel ten Lein wand ab zu wen den. Der Film sog sie förm lich auf. Im mer schwär ze re Wol ken zo gen am Him mel auf, und al-les wur de dun kel, wie um das tra gi sche Fi na le an zu kün di gen. In die sem Au gen blick hat te Lucie den Ein druck, ei ner Ins ze-nie rung bei zu woh nen: Das Gute ge gen das Böse. Wo bei das Böse un ver hält nis mä ßig, über mäch tig und un schlag bar war. Da vid ge gen Go li ath.

Der Stier ging zum An griff über.Das Feh len von Wor ten oder Mu sik mach te den Film noch

be klem men der. Man ahn te den Lärm, den das Tier beim Lau-fen mach te, sein Schnau ben. Die Ka me ra hat te jetzt bei de ein-ge fan gen: links den Stier, rechts das Mäd chen. Der Ab stand zwi schen dem Mons ter und der reg lo sen Klei nen ver rin ger te sich. Drei ßig Me ter … zwan zig. Wie so rühr te sie sich nicht vom Fleck? Wa rum lief sie nicht schrei end da von? Lucie er in-ner te sich kurz an die er wei ter ten Pu pil len. Dro gen, Hyp no se?

Er wür de sie auf spie ßen.Zehn Me ter. Neun, acht …Fünf Me ter.Plötz lich brems te der Stier, sei ne Mus keln ver krampf ten

sich, mit den Hu fen riss er Erd bro cken aus dem Bo den. Ei nen Me ter von sei nem Ziel ent fernt, er starr te er voll stän dig. Lucie hielt den Atem an, sie glaub te, das Bild sei ste hen ge blie ben. Gleich wür de es wei ter ge hen, das Dra ma wür de zwangs läu fi g sei nen Lauf neh men. Doch nichts ge schah. Da bei keuch te das Mons ter noch im mer, Schaum vor dem Maul. In sei nen wü-ten den Au gen las man den Wil len, sich auf sie zu stür zen, zu tö ten, doch sein Kör per ver wei ger te den Dienst.

Ge lähmt war das Wort, das am ehes ten auf die sen Zu stand zu traf.

Die Klei ne starr te ihn un ver wandt an. Dann trat sie vor, di-

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rekt un ter das Maul des Stiers, der vier zig, fünf zig Mal schwe-rer war als sie selbst. Völ lig e mo ti ons los hob sie die Klin ge und durch trenn te sei ne Keh le mit ei nem glat ten Schnitt. Dunk-le Flüs sig keit schoss aus der Wun de, und die Bes tie sank, wie von ei nem be ses se nen Ma ta dor be siegt, in ei ner Staub wol ke auf die Sei te.

Plötz lich wur de die Lein wand schwarz wie am An fang, lang sam ver schwand der wei ße Kreis in der obe ren rech ten Ecke.

Ein Knis tern er füll te den Raum wie ein Ap plaus des Lich-tes, um dem Film sei ne Re ve renz zu er wei sen.

Lucie stand reg los da. Sie war in ner lich so auf ge wühlt, dass sie zu frie ren be gann. Ner vös rieb sie sich die Stirn. Hat te sie wirk lich ei nen wü ten den Stier ge se hen, der reg los vor ei nem klei nen Mäd chen ste hen blieb, um sich ohne jeg li che Re ak ti-on ab ste chen zu las sen? Und das Gan ze in ei ner ein zi gen lan-gen Ein stel lung, of fen bar ohne Schnitt?

Frös telnd ging sie in die Vor führ ka bi ne und drück te ent-schlos sen den Stopp knopf. Das Sur ren ver stumm te, und die Ne on röh re fl amm te auf. Lucie fühl te sich un end lich er leich-tert. Was für ein Wahn sin ni ger hat te ein sol ches De li ri um dre-hen kön nen? Sie sah wie der den trost lo sen Ne bel vor sich, der sich auf der Lein wand aus brei te te, die Ein stel lun gen, die die Au gen zeig ten, die An fangs- und Schluss sze ne von un säg li-cher Ge walt. In die sem Kurz fi lm gab es et was, das den gän-gi gen Hor ror strei fen fehl te: Re a lis mus. Das Mäd chen, sie ben oder acht Jah re alt, hat te nichts von ei ner Schau spie le rin. Oder sie war – im Ge gen teil – ein über ra gen des Ta lent.

Als Lucie ge ra de wie der hi nauf ge hen woll te, hör te sie Ge-räu sche im Erd ge schoss. Das Knir schen von Soh len auf zer-bro che nem Glas. Hat te der Film sie der art mit ge nom men,

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dass sie Hal lu zi na ti o nen hat te? Lang sam und vor sich tig stieg sie Stu fe für Stu fe hi nauf und ge lang te schließ lich zum Ein-gang.

Die Haus tür stand ei nen Spalt breit of fen. Lucie, die hät te schwö ren kön nen, sie hin ter sich ab ge sperrt

zu ha ben, stürz te zur Tür.Drau ßen war kei ne Men schen see le.Ver blüfft ging sie ins Haus zu rück und sah sich auf merk-

sam um. Auf den ers ten Blick war nichts durch sucht oder ver-än dert wor den. Sie folg te dem lan gen Flur und nahm alle Räu-me in Au gen schein. Bad, Kü che, Ar beits zim mer.

Das Ar beits zim mer … dort la ger te Ludo vic eine Un men-ge von Film ko pi en.

Auch die se Tür war nur an ge lehnt. Lucie trat vor die Re ga-le, in de nen die Rol len auf ge sta pelt wa ren. Et li che Schach teln la gen am Bo den. Über all he raus ge ris se ne Fil me. Der Po li zis tin fi el auf, dass es sich nur um jene han del te, die kei ne Be schrif-tung tru gen – we der ei nen Ti tel noch den Na men des Re gis-seurs oder das Pro duk ti ons jahr.

Je mand war hier ge we sen und hat te et was ganz Be stimm-tes ge sucht.

Ei nen ano ny men Film.Ludo vic hat te ihr er zählt, er habe am Vor tag bei ei nem

Samm ler Fil me ge kauft, un ter an de rem den, den sie ge ra de an ge se hen hat te. Sie zö ger te und schau te sich um. Es schien ihr un nö tig, ihre Kol le gen zu ru fen. Kein Ein bruch, kei ne Ver-wüs tung, kein Dieb stahl. Den noch ging sie zu rück ins Un ter-ge schoss, um den selt sa men Strei fen an sich zu neh men und zu dem Res tau ra tor zu brin gen, des sen Vi si ten kar te sie mit ge-nom men hat te. Sie hat te mit Si cher heit noch nie ei nen Kurz-fi lm ge se hen, der psy chisch so stra pa zi ös war. Sie, die seit Jah-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Franck Thilliez

Öffne die AugenThriller

Taschenbuch, Broschur, 480 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-48001-2

Goldmann

Erscheinungstermin: Januar 2014

Ein mysteriöser Film, der den Betrachter erblinden lässt – oder ihn das Leben kostet ... Lucie Henebelle von der Kriminalpolizei in Lille steht vor einem Rätsel, als sie den panischenAnruf eines Freundes erhält: Der leidenschaftliche Filmesammler hatte einen alten Streifenbetrachtet und ist nun erblindet. Als Lucie anfängt zu recherchieren, stellt sie schnell fest, dassder Film eine tödliche Gefahr darstellt. Etwa zur gleichen Zeit entdeckt man am Ufer der Seinefünf Leichen, deren Gehirne entfernt wurden. Der Pariser Kommissar Franck Sharko stößt baldauf eine Spur, die ihn zu Lucie führt – und die beiden erkennen, dass es einen diabolischenZusammenhang zwischen den Fällen gibt ...