40
SOMMER 2013 AUSGABE 10 JUBILÄUMSAUSGABE 5 JAHRE FURIOS ISSN 2191-6047

FURIOS 10 – Lebensläufe

  • Upload
    furios

  • View
    237

  • Download
    4

Embed Size (px)

DESCRIPTION

FURIOS, das studentische Campusmagazin an der FU Berlin, Ausgabe 10 mit dem Titelthema Lebensläufe.

Citation preview

Page 1: FURIOS 10 – Lebensläufe

SOMMER 2013 AUSGABE 10

JUBILÄUMSAUSGABE 5 JAHRE FURIOS

ISSN 2191-6047

Page 2: FURIOS 10 – Lebensläufe

Julia, Berlin

... DER

IN DEM

... DER

IN DEMMOMENT,

IN DEMIN DEM

MUSIKMUSIKALLES IST.MUSIKMUSIK

Page 3: FURIOS 10 – Lebensläufe

alt sind wir noch nicht. Gerade einmal fünf Jahre hat FURIOS mit Erscheinen dieser zehnten Ausgabe auf dem Buckel. Kinder haben bis zu diesem Alter Entwicklungs-schritte gemacht, die sie für ihr ganzes Le-ben prägen. Ob das auch für FURIOS gilt? Abwarten. Sicher ist: Für unser zartes Alter haben wir einen nicht ganz unbeachtlichen Lebenslauf vorzuweisen, den wir in dieser Jubiläumsausgabe auf einer Doppelseite fei-ern möchten (S. 16).

Von Lebensläufen handelt auch das Ti-telthema, bei dem wir zunächst weit zurück blicken: Im Leben der FU-Matrikelnummer 1 ging vieles drunter und drüber. Einen großen Plan für seine Zukunft hatte Stanislaw Ku-bicki während seines Studiums nicht (S. 6).

Und auch heute gibt es noch Studenten, die nicht schnurstracks auf den Abschluss hinar-beiten. Wie groß ist der Gegensatz zwischen ihnen und Kommilitonen, die nach vier Se-mestern ihren Bachelor haben? Ihr lest es im Titel-Streitgespräch (S. 8).

Wie es ist, wenn der eigene Lebens-plan in die Brüche geht, erzählt Sebastian, bei dem plötzlich eine Krankheit ausbrach (S. 10). Und für alle, die schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, ihren Le-benslauf ein wenig aufzumotzen: Eine unse-rer Autorinnen hat den Test gemacht – und ist dabei verblüffend weit gekommen (S. 12).

Natürlich findet Ihr auf den folgenden Seiten auch noch viele andere tolle Artikel. So begeben wir uns etwa auf die Suche nach

der Demokratie an der FU (S. 18) und zei-gen, was auf der Baustelle neben der Silber-laube entsteht (S. 24). Die üblichen Rubriken wie der »Ewige Ehemalige« (S. 29) und der »Empörte Student« (S. 38) sind wie gewohnt im Heft verteilt. Sogar das Wagner-Jahr be-gehen wir auf unserer Weise (S. 33).

Wir hoffen, Ihr feiert diese Ausgabe genauso wie wir!

Ein prächtiges Lesevergnügen wünscht

Florian SchmidtChefredakteur

Mitmachen.Du willst selbst für FURIOS schreiben, fotografieren oder zeichnen? Dann schreib uns eine Mail an: [email protected]

Informieren.Du willst noch mehr FURIOS? TagesaktuelleMeldungen, Reportagen und Kommentarerund um die FU gibt auf FURIOS Onlineauf furios-campus.de

Dranbleiben.Du willst nichts verpassen? Dann bleibt aufdem Laufenden, indem Ihr uns auf Face-book hinzufügt:facebook.com/fucampus

Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen,

03EditorialJulia, Berlin

... DER

IN DEM

... DER

IN DEMMOMENT,

IN DEMIN DEM

MUSIKMUSIKALLES IST.MUSIKMUSIK

Page 4: FURIOS 10 – Lebensläufe

TITELTHEMA 06LEBENSLÄUFE

06 Der alte Mann und der ZufallWaren Lebensläufe schon immer so durchgeplant wie heute? Wir haben die Matrikelnummer 1 der FU gefragt.

08 »Nimm dir verdammt noch mal die Zeit!«Gemächlich oder lieber flott? Zwei Studenten mit unterschiedli-chem Studientempo im Streitgespräch.

10 TotalausfallKrankheiten verändern das Leben drastisch. So war es auch bei Sebastian, dem über Nacht sämtliche Haare ausfielen.

12 Gefälscht gefälltEin wenig flunkern, ein bisschen aufhübschen: Wie weit kommt man mit einem gefälschten Lebenslauf? Wir haben den Test gemacht.

14 4 aus 40 000Manches läuft anders als gewollt. Vier FU-Mitglieder antworten auf die Frage: Was würdest du aus deinem Lebenslauf streichen?

POLITIK 18

18 Der Vorreiter lahmtIn Sachen Demokratie war die FU einst strahlendes Vorbild. Inzwi-schen ist der Lack ab.

19 Ordnung muss seinDie FU ist so groß wie eine Kleinstadt – warum gibt es immer noch kein Grundsatzpapier, das das Zusammenleben regelt?

20 Der Nachbar mit der BombeNordkorea hat Südkorea den Krieg erklärt. Eine Studentin aus Seoul erzählt, was sie von Kim Jong Uns Drohungen hält.

21 Junioren in der WarteschleifeEigentlich sollten Juniorprofessoren gute Karrierechancen an der Uni haben. Doch ihre Aussichten an der FU sind schlecht.

22 Hilflos vor der KlasseStudenten kritisieren ein neues Lehrerbildungsgesetz. Es könnte aus Grundschullehrern Fachidioten machen.

CAMPUS 2424 Die dritte LaubeWas entsteht auf der Baustelle neben der Silberlaube? Wir zeigen es euch bei einem Spaziergang durch die neue »Holzlaube«.

26 Beauftragt mit BarrierenAn anderen Unis gibt es ihn längst. Nur die FU tut sich schwer mit dem Einsetzen eines Behindertenbeauftragten.

27 Auf einen Kaffee bei KommilitonenWo ist die Mate am billigsten, wo sitzt es sich am schönsten? Wir stellen Euch die besten Studentencafés vor.

28 Wo bin ich hier gelandet?Regenschirme und Stöcke, Zahlen und Formeln – damit kämpfen zwei Studentinnen, die einmal etwas völlig Neues ausprobieren.

29 Ewiger Ehemaliger: Kiffen mit KafkaDer »Spiegel«-Journalist Matthias Mattusek hat an der FU studiert und philosophiert. Nur den Abschluss hat er nie gemacht.

38 Der empörte StudentKaffee, Tee, Energy-Drinks – all das hilft unserem Morgenmuffel nicht. Er braucht morgens vor allem Eines: seine Ruhe!

JUBILÄUM 16

16 5 Jahre FURIOSFURIOS wird fünf! Ein Rückblick auf zehn Ausgaben des studenti-schen Campusmagazins an der FU Berlin.

INHALT 10

Page 5: FURIOS 10 – Lebensläufe

Königin-Luise-Str.41, 14195 BerlinTel: (030) 841902-0 Fax: 841902-13

E-mail: [email protected]

Universitäts-Buchhandlung

für die FU

Unsere VeranstaltungsreiheDAHLEMER AUTORENFORUM

Programm-Information im Internet

Unsere Filiale im Internet

Unsere Filiale in der City-West

www.schleichersbuch.de

Mit einem Mausklick auf KATALOG haben Sie Zugriff auf 1 Million Titel

(Bücher, Hörbücher, DVDs)der Datenbank BUCHKATALOG.DE .

Sie können recherchieren, in vielen Büchern blättern, auswählen und bestellen.

Innerhalb von 24 Stunden (an Wochenenden länger)stehen lieferbare Titel für Sie bei uns

an der Kasse zur Abholung bereit.

Literaturhaus-Buchhandlung

"KOHLHAAS & COMPANY"

Fasanenstraße 23, nahe Kurfürstendamm10719 BerlinTel.: (030) 882 50 44,Fax: (030) 88 55 08 58E-Mail: [email protected]

KULTUR 3030 »Besser als Photoshop«Was machen zwei FU-Studenten mit Chemikalien in einem düste-ren Keller? Sie entwickeln Fotos – in einer Dunkelkammer.

31 Der anonyme Blog-PoetEin unbekannter Literat begeistert das Internet. Wir haben den FU-Studenten, der sich Anton Mila nennt, getroffen.

32 Kunst aus der BoxDort ist es ein Billigjob, hier ist es Kunst: Die Berliner Galerie »Listros« zeigt unzählige Schuhputzkisten aus Äthiopien.

33 Die geklaute RubrikDieses Jahr ist Wagner-Jahr. Was könnten wir da Besseres klauen als die »Post von Wagner« aus der »Bild-Zeitung«?

WISSENSCHAFT 34

34 Copy, Paste und die wirklichen ProblemeWer glaubt, Doktoranden zittern vor Plagiatsjägern, der irrt. Prekäre Arbeitsbedingungen rauben ihnen den Schlaf!

36 Der Mensch macht EpocheWissenschaftler verschiedener Fachgebiete sind sich einig: Das Anthropozän bricht an, das Zeitalter des Menschen.

37 Zurück zur NachtBerlin ist die Stadt, die nie dunkel wird. Ein FU-Physiker will das Phänomen Lichtverschmutzung untersuchen.

Schon alles gelesen?Mehr aktuelle Inhalte aus Politik, Campus, Kultur und Wissenschaft gibt es online auf furios-campus.de oder folgt uns auf facebook.com/fucampus

Page 6: FURIOS 10 – Lebensläufe

06 Titel

Zwei, vielleicht drei Sekunden lang ist nur der rasselnde Atem von Hündin Kira zu hören, die unter dem Wohn-zimmertisch zwischen Halbschlaf und Schlaf wandelt.

Die sonore Stimme Stanislaw Kubickis wird von den unter der Bücherlast ächzenden Regalen gedämpft. Er wählt seine Worte mit Bedacht, auch wenn er das meiste davon schon unzählige Male erzählen musste: seine Kriegsgefangen-schaft, die Gründung der Freien Universität, ein Münzwurf, seine Matrikelnummer, seine Professur. Auf den ersten Blick erscheint die Lebensgeschichte des 87-Jährigen linear. Auf den zweiten aber ändert sich dieser Eindruck; auch er durchlebte Momente, in denen alles hätte anders kommen können.

1945: Der junge Kubicki stapft durch den Wald. Das Scharmützel an der Oder: verloren. Kubicki will nicht auf die andere Seite des zugefrorenen Flusses gehen, dort wartet

die Wehrmacht. Er will aber auch nicht diesseits des Wassers bleiben, hier wartet die Rote Armee. Also entscheidet er sich einfach nicht. Er setzt einen Fuß vor den anderen, bis nach zwei Stunden das Schicksal für ihn entscheidet. Kugeln schlagen zu seinen Füßen ein. Die Russen nehmen ihn ge-fangen.

»Natürlich dachte ich nach, was die Zu-kunft bringen wird. Ich hatte immer Pläne«, erzählt Kubicki. »Für mich stand fest: Ich will Medizin studieren.« Doch die Unwäg-barkeiten des Krieges ließen es für junge Leute nicht zu, ihr Leben zu entwerfen: »Konnte ja ’ne Kugel kommen – bumms, war man weg«. Damals – Kubicki war

keine 20 Jahre alt – träumte er von einem kleinen Grund-stück mit einer Laube, für sich und seine Mutter. Sein Vater, bekennender Anarchist, war von der Gestapo in Polen er-mordet worden.

Heute ist der Krieg woanders. Die nachfolgenden Genera-tionen können ihr Leben nach ihrem Willen gestalten. Wohl nie zuvor erlebte die Menschheit so intensiv, wie in jedem Augenblick die Zukunft wartet. Die Gegenwart schrumpft zusammen. Die Zukunft wird kalkuliert, das Vergangene kommt aufs Papier: in den Lebenslauf. Früher verwies die-ser Begriff auf die Geschichte eines gelebten Lebens. Heute auf das, was die Gesellschaft an einem Menschen für wert-voll hält: Preise, Praktika, besondere Fähigkeiten.

Der CV-Fetischismus ist allgegenwärtig. Er steht sinn-bildlich für ein kapitalistisches Phantasma: Alles muss form-bar sein – der eigene Körper genauso wie das eigene Leben. Die Freiheit, die diese Ideologie suggeriert, erfahren viele Menschen nicht nur als Last, sondern auch als Verantwor-tung für ein erfolgreiches Leben, das sie – wem auch immer – schuldig sind. Sie ist auch ein Trugbild. Mit ihr kommt ein unsichtbarer Beipackzettel, der diktiert, wie man diese Frei-heit gefälligst zu verwenden habe. Die Grenzen, innerhalb derer ein Leben als gelungen gilt, sind längst gezogen. Sei frei! Aber sei glatt, sei geradeaus! Plane dein freies Leben! Der Zufall ist in der Moderne nicht willkommen.

1944 hatte Kubicki noch erlebt, wie die Hörsäle der Fried-rich-Wilhelms-Universität zu Berlin mit Männern in SA-

Der alte Mann und der ZufallEin geplantes Leben lebt nicht. Matthias Bolsinger besuchte Stanislaw Kubicki, FU-Grün-dungsmitglied, Matrikelnummer 1 und Vertreter einer Lebensphilosophie, die in Verges-senheit gerät.

* * *

* * *

Ein Porträtfoto aus dem Studienbuch Stanislaw Kubickis von 1948

Page 7: FURIOS 10 – Lebensläufe

07Titel

Uniformen gespickt waren und Anatomieprofessor Anton Johannes Waldeyer, ebenfalls in Braun, die Studierenden mit dem Hitlergruß willkommen hieß. Jetzt musste Ku-bicki als Medizinstudent mit ansehen, wie an der Linden-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, unter dem Einfluss der SED rote Fahnen gehisst wurden und alle Stu-dierenden Vorlesungen in Marxismus-Leninismus belegen mussten. Wieder war die Wissenschaft nicht frei.

Als Studierende aus politischen Gründen exmatrikuliert wurden, kam es zu Protesten. Mit der Unterstützung der Alliierten und einiger Politiker gründeten Kubicki und seine Freunde eine neue, freie Universität.

Anfangs mussten die Gründungs-Studierenden der Frei-en Universität Berlin kräftig mit anpacken. Sie schleppten die Stühle von Raum zu Raum, sogar in einem Kino wurde eine Zeit lang gelehrt. Kubicki war für die Immatrikulation seiner neuen Kommilitonen zuständig. Als ihm im Herbst 1948 der Auftrag erteilt wurde, alle Medizinstudierenden von A bis K einzuschreiben, wollte sich Kubicki natürlich selbst die Matrikelnummer 1 geben. Doch auch sein Freund Helmut Coper hatte es auf die begehrte Nummer abgesehen. Coper und Kubicki warfen eine Münze. Es gewann Kubicki. Ein ein-schneidender Moment im Leben des Medizinstudenten: Ein Münzwurf machte ihn zur Galionsfigur der Freien Universi-tät. Es war Zufall.

Der große Plan widerspricht dem Leben. Er ist von vorn-herein zum Scheitern verurteilt. »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sieht vieles so aus, als hätte es logischerweise passieren müssen«, sagt Kubicki. »Dabei war das meiste Zu-fall und Glück.« Er schwamm im Strom der Zeit mit. Wenn sich eine Gelegenheit bot, griff er zu. So wurde Kubicki schließlich Professor für Neurologie – an der Universität, die er selbst mitgegründet hatte.

Auch Kubickis Liebesglück kam aus dem Nichts. Er war bereits im Ruhestand, als er Petra wiedertraf. Sie war ihm im Juni 1960 an der Uniklinik begegnet. Die adrette Dame

im Petticoat, die eine Ausbildung absolvierte, war ihm da-mals sofort aufgefallen. Die beiden lernten sich kennen, ver-loren sich aber wieder aus den Augen. Im Jahr 2007 wollte Kubicki eigentlich nur ein Gemälde seiner Mutter fotogra-fieren lassen. Zufälligerweise befand es sich in ihrem Besitz. Ihre Lebenslinien kreuzten sich erneut. Petra und Stanislaw heirateten.

Betrachtet man das Leben der Matrikelnummer 1 der FU – ein Leben komponiert vom Zufall – erscheint die Le-bensverwaltung vieler junger Leute heute wie ein schlech-ter Witz. Dabei bedeutet das Sich-Einlassen auf den Zufall keineswegs Passivität. Wenn Kubickis Beispiel eines zeigt, dann, dass es selbst eine radikal aktive Wahl ist, für das Un-wägbare offen zu bleiben.

Kira schnaubt auf und döst weiter. Stanislaw Kubicki plau-dert über seine Kindheit in der Britzer Hufeisensiedlung, in der er noch immer wohnt. Lebensgeschichten im Brenn-glas, alle im Wirbel der Unwägbarkeiten. Ein Freund Kubi-ckis spielte öfter mit den Kindern von Adolf Eichmann, der um die Ecke wohnte. Wenige Häuser weiter dichtete der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam: »Das Leben und die Liebe ehren / das möchten wir Euch eben lehren.« Eine Gesellschaft aus Menschen, die ihr Leben minutiös am Reißbrett entwerfen, um es später in Tabellen einzutragen, hat das verlernt. Dem Zufall aber das Handwerk zu legen, das vermag sie nicht.

Seinem fünfjährigen Neffen musste Mat-thias Bolsinger versprechen, dass sie noch gemeinsam studieren werden. Die Bache-lorarbeit hat also Zeit.

Foto (rechte Seite): Cora-Mae GregorschewskiArchivmaterial: Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Immatrikulationsamt, 1 (links oben); Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Vorlass Stanislaw Kubicki (links unten)

* * *

* * *

Die Matrikelnummer 1 für den FU-Mitgründer: Stanislaw Kubickis persönliche Studienakte aus dem Jahr 1948 (links). Kubicki beim Gespräch in seinem Wohnzimmer (rechts)

Page 8: FURIOS 10 – Lebensläufe

08 Titel

Filip Tuma (30) schreibt nach 13 Semestern seine Ma-

gisterarbeit in Sinologie. Als Nebenfächer studierte er Mu-

sikwissenschaft und Politikwis-senschaft. Zusätzlich lernte er Chinesisch und war journalis-

tisch tätig. Filip war anderthalb Jahre während des Studiums im Ausland, in Shanghai und

Paris. Er finanziert sich durch Nebenjobs.

Christoph Schaller (22), genannt Chris, steht nach

sieben Semestern vor seiner Masterarbeit in Mathematik.

Nach zwei Jahren Studium hatte er schon den Bache-

lor in der Tasche. Nebenbei studierte Chris vier Semester

Vollzeit Physik, weil Mathe ihn nicht genug forderte. Jetzt will er promovieren. Geld verdient Chris unter anderem als Tutor.

»Nimm dir verdammt noch mal die Zeit!«

Der Lebenslauf ist längst Statussymbol. Die Dauer des Studiums spielt dabei eine tragende Rolle – angeblich zumindest. Sollte uns das kümmern? Tycho

Schildbach und Katharina Fiedler haben mit einem Langzeit – und einem Turbostudenten über Sinn und Unsinn ihrer Studiengestaltung diskutiert.

FURIOS: Was ist für euch der Wert des Studiums?

Chris: Selbstfindung. (lacht)

FURIOS: Dafür hast du Zeit?

Chris: Ja, das geht schon. Im Studium kann man vieles tun, was man später nicht mehr machen kann.

Filip: Betreibst du Selbstfindung als Hobby oder im Studium?

Chris: Ich bin kein Mensch, der darin auf-geht nur zu studieren. Ich bin im Fußballver-ein und spiele außerdem zwei Instrumente. Selbstfindung betreibe ich also nebenher.

FURIOS: Deine Einstellung zum Studium ist also eher pragmatisch.

Chris: Ja. Ich wusste schon nach dem Abi, dass ich Mathe studieren und promovieren möchte.

Filip: Mit 21, als du deinen Mathe-Bache-lor hattest, habe ich mein erstes Studium, Informatik, abgebrochen und nach einem Neustart gesucht. Ich würde niemanden verurteilen, der sich die Zeit nicht nimmt, um eine Entscheidung zu treffen. Ich habe sie gebraucht, also habe ich sie mir genommen.

FURIOS: Die Frage ist, wie Arbeitgeber über Studierende urteilen, die länger brau-chen als vorgeschrieben ist. Wie schätzt ihr eure Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein?

Filip: Der Punkt ist, dass wir uns nicht nur auf die bekannten Arbeitgeber konzentrie-ren dürfen. Deshalb mache ich mir generell keine Sorgen, wenn ich bereit bin, ein biss-chen über den Tellerrand zu schauen.

Chris: Es ist nicht so, dass ich denke, ich wäre der Beste und mich würde jeder neh-men. Ehrlich gesagt mache ich mir darüber

Page 9: FURIOS 10 – Lebensläufe

09Titel

nicht wirklich Gedanken. Aber hast du nicht Angst, als Arbeitnehmer unattraktiver zu sein, weil du lange studiert hast?

Filip: Nein. (lacht) Aber ich hatte natürlich diese Ängste.

Chris: Die hast du wieder abgelegt?

Filip: Der Lebenslauf bringt dich wirklich nur bis ins Personalbüro. Bei allem danach kommt es auf dich an und nicht auf deinen CV. Die Arbeitgeber wollen wissen, ob du die Arbeit machen kannst.

Chris: Aber gerade wenn es um eine Be-förderung geht, schaut der Personalbereich noch mal drüber.

FURIOS: Also legst du großen Wert auf ei-nen lückenlosen Lebenslauf?

Chris: Nein, aber ich denke, es hat Vorteile. Es ist nicht der alles entscheidende Faktor, aber viele Unternehmen checken bei Bewer-bungen erst einmal den Standardlebenslauf auf Regelstudienzeit und Auslandssemester.

Filip: Nach diesem Schema wirst du nicht die besten Mitarbeiter finden. Aber da die Personalabteilungen der großen Unterneh-men genau so arbeiten, poliert jeder seinen Lebenslauf auf. Tätigkeiten werden danach ausgewählt, wie sie sich im CV machen. Wenn das jeder macht, verliert der Lebens-lauf an Wert und an dem Punkt sind wir schon längst.

FURIOS: Der Lebenslauf ist also ein Sta-tussymbol?

Filip: Ja, genau.

Chris: Da ist schon was dran.

FURIOS: Wir studieren an einer staatlichen Uni. Kannst du, Filip, den Vorwurf nachvoll-ziehen, dass du so lange Zeit auf Kosten der Steuerzahler studiert hast?

»Der Lebenslauf bringt dich nur bis ins Personalbüro«

Filip: Das ist die Art von Propaganda, mit der die Bologna-Reform begründet wurde. Ich bin noch keine produktive Kraft dieser Gesellschaft. Aber was ist der Aufwand, den der Staat und die Uni haben, dass ich mich in Seminare setze? Die müssen die Gebäude in Stand halten und die nutze ich. Aber das hät-ten sie auch getan, wenn ich nicht hier wäre.

Chris: Wenn das jetzt aber jeder sagt, funk-tioniert das System nicht.

Filip: Wir bemessen das Studium heute ausschließlich nach den potenziellen Produk-tivkräften: Welche Kosten ersparen wir der Gesellschaft? Was dabei völlig außer Acht gelassen wird, sind die Gedanken, die hier ausgetauscht werden.

»Das System funktioniert nicht, wenn jeder so lange studiert«

Chris: Ich bleibe dabei: Nicht jeder kann es so machen wie du.

Filip: Ich habe den Eindruck, dass da ein unglaublicher Bruch zwischen unseren Ge-nerationen ist, was die Gesellschaft von einem erwartet. Jede Sekunde, die du län-ger Student bist, giltst du als Schmarotzer. Ich bin hier, um mich ernsthaft mit Themen auseinanderzusetzen, die ich nicht in einem Sechssemesterstudium lösen kann.

Chris: Man kann sich auch drei Jahre mit irgendwas auseinandersetzen und nicht sehr produktiv dabei sein.

Filip: Wenn es dir um Produktivkraft geht, mach’ eine handwerkliche Ausbildung. Man geht nur noch an die Uni, um einen Schein zu haben, wo »Universität« draufsteht.

FURIOS: Hat bei dir vielleicht auch Be-quemlichkeit eine Rolle gespielt?

Filip: (lacht) Das Problem ist, obwohl wir noch unser ganzes Leben vor uns haben, wird uns suggeriert, den perfekten Lebens-lauf haben zu müssen: eine fröhliche Fami-lie, Auslandserfahrung, einen super Job und fünf Hobbys – das ist der Anspruch heute. Irgendwann muss man sich entscheiden.

Chris: Man kann doch mehrere Dinge gleichzeitig machen. Ich wäre nicht zufrie-den damit, weniger als 30 Leistungspunkte im Semester zu machen.

FURIOS: Du bist aber auch ein Stressjun-kie!

Chris: (lacht) Ich stehe da überhaupt nicht drauf. Wie kann einem Stress Spaß machen? Ich bin total happy, wenn ich etwas geschafft habe.

FURIOS: Aber du rennst von einem Erfolg

zum nächsten, weil dich das so glücklich macht?

Chris: (lacht) Nein, nein, nein! Ich finde Stress doof! Trotzdem schiebe ich keine Auf-gaben vor mir her. So ein Wischiwaschi ist für mich keine Option.

Filip: Aber wenn du alles gleichzeitig machst, leidet irgendwann die Qualität. Ab einer gewissen Belastung kannst du einfach nicht das Ergebnis abliefern, das du möch-test.

Chris: Das ist echt der Kernunterschied zwischen uns. Für dich ist es der Anspruch, etwas qualitativ Hochwertiges zu machen. Ich hingegen will Ziele sofort durchsetzen. Ich denke schon, dass die Qualität mitunter leidet. Manchmal finde ich es schade, nicht die Zeit zu haben, noch weiter in die Tiefe zu gehen.

Filip: Aber da sag’ ich dir ganz offen: Du bist 22 – nimm dir verdammt noch mal die Zeit!

Chris: Wenn ich alles mache, was mich in-teressiert, würde ich nicht fertig werden. Für mich ist es kein erstrebenswertes Ziel ewig zu studieren. Das passt nicht in mein Gesell-schaftsbild.

»Selbstzweifel sind für mich eine Schwäche«

FURIOS: Gab es Momente, in der ihr euer Studienkonzept in Frage gestellt habt?

Chris: Nö.

Filip: Keine Zeit für Selbstzweifel?

Chris: Natürlich nicht. Selbstzweifel sind für mich eine Schwäche.

Filip: Polemisch gesagt: Deine Generation ist nicht mehr in der Lage, Zweifel auszu-halten. Ich war nicht immer von dem über-zeugt, was ich tue. Aber gerade das bringt dich voran. Ich bin aus solchen Phasen im-mer gestärkt hervorgegangen.

Tycho Schildbach hält Ka-tharina Fiedlers Lebens-lauf für den Porsche unter den CVs, seinen eigenen für einen bunten Trabi. Die Diskussion läuft.

Fotos: Christoph Spiegel

Page 10: FURIOS 10 – Lebensläufe

10 Titel

TotalausfallWas macht eine plötzlich auftretende Krankheit mit dem Lauf des Lebens? Mareike-Vic Schreiber traf einen Studenten, dem

schlagartig sämtliche Haare ausfielen.

Page 11: FURIOS 10 – Lebensläufe

Als Sebastian an einem Donnerstag im Früh-jahr 2012 aufwacht, hat er Haare im Mund. Er richtet sich auf, fasst sich an den Kopf

und kann kaum glauben, was er spürt und sieht: Sein Kissen ist bedeckt mit Haarbüscheln, an sei-nem Kopf ertastet er kreisrunde kahle Stellen.

Danach geht alles ganz schnell. Innerhalb von drei Wochen verliert Sebastian sein gesamtes Kopfhaar, ein Drittel davon bei einer einzigen Du-sche. Es vergehen keine zwei Monate, bis der da-mals 19-Jährige auch von Augenbrauen und Wim-pern Abschied nehmen muss, kurz darauf findet sich kein einziges Haar mehr an seinem Körper. Binnen kürzester Zeit verändert sich Sebastians Äußeres völlig. Der Schicksalsschlag reißt nicht nur ein tiefes Loch in den Alltag des Abiturienten – sein Lebenslauf gerät ins Stocken.

Kurz vor seinem Abitur erkrankte Sebastian an Alopecia areata universalis, genannt »kreisrunder Haarausfall am gesamten Körper« – eine Krank-heit, bei der das Immunsystem plötzlich körper-eigene Organe bekämpft. Derzeit sind etwa zwei Prozent aller Menschen von der einfachsten Form dieser Krankheit betroffen. Die genaue Ursache des Haarausfalls ist immer noch unbekannt. Zwar ist es möglich, dass seine Haare irgendwann wie-der wachsen. Die Therapien aber, die Sebastian schon hinter sich hat, blieben bislang ohne Erfolg. Zur psychischen Belastung kommt für Betroffene wie ihn auch eine enorme finanzielle: Haare erfül-len keine lebenswichtige Funktion, ihr Fehlen wird von den Krankenkassen als »kosmetisches Prob-lem« betrachtet. Daher muss Sebastian die Kosten für viele Leistungen selbst aufbringen.

Mit dem äußeren Erscheinungsbild veränder-ten sich auch Alltag und Lebenseinstellung des damals 19-Jährigen drastisch. »Ich bin anfangs nicht mehr aus dem Haus gegangen und habe mir durch meine ständige depressive Stimmung das Leben regelrecht selbst vorenthalten«, erzählt Sebastian. Er dachte an Selbstmord. Die Reaktio-nen seiner Mitmenschen auf sein neues Aussehen waren oft unsensibel. Besonders traf ihn die Frage seines Schuldirektors, ob er »unter die Radikalen gegangen« sei. Manche Freunde begannen, aus Angst oder Scham, Sebastian zu meiden.

Auch der kommende Lebensabschnitt sah plötzlich düster aus. Viele von Sebastians Plänen für die Zeit nach der Schule wurden durch die Krankheit durchkreuzt: Sein Ausflug in die Model-branche war beendet, das gesparte Geld für die erste eigene Wohnung investierte er in Behand-lungen. Seine Krankheit schränkte sogar die Wahl seines Studienortes ein: Für die Therapie musste er in der Nähe von Berlin bleiben.

Um seinen Ängsten entgegenzutreten, be-gann Sebastian, sein Leben mit Alopecia in einem Blog festzuhalten. Das war nur der Beginn einer langen und schwierigen Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Umfeld: »Die größte He-rausforderung war es, mein Selbstbewusstsein rein auf meine charakterlichen Stärken zu bauen

– nicht auf mein Spiegelbild.« Über eine Perücke dachte er lange nach. Doch bei den Männerperü-cken, erzählt er, sei nie eine für ihn dabei gewe-sen. »Außerdem hätte mich eine Perücke nie zu dem selbstbewussten Menschen gemacht, der ich heute bin«, fügt er hinzu.

Er findet, dass seine Krankheit ihm frühzeitig Lektionen erteilt hat, die andere erst später oder nie lernen: »Einige oberflächliche Bindungen gin-gen durch die Krankheit kaputt«, erzählt er, »an-dere entwickelten sich dafür umso intensiver.« Das gilt auch für die Partnersuche: »Ich lerne zwar deutlich weniger Leute kennen, jedoch sind diese Kontakte oftmals ehrlicher und weniger auf das äußere Erscheinungsbild fixiert.«

Auf die häufigen Fragen nach seinem Erschei-nungsbild reagiert Sebastian gelassen – wenn sie in angemessener Form gestellt werden. Doch er hat nicht den Eindruck, im Alltag angestarrt zu werden: »So wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus«, sagt er. Er bemühe sich, andere genauso wenig nach ihrem Äußeren zu beurteilen, wie er es sich umgekehrt von ihnen wünscht.

Seinen neuen Lebensmut gewann er durch die Erfahrungen nach der Schule. Ein spezieller Hilfs-antrag sicherte ihm einen Platz für Geografie und Englisch an der Uni Potsdam, in der Nähe seiner Heimat. Eine Erleichterung für Sebastian. »So ein Bruch im Leben bindet sehr stark an die Familie«, sagt er. Seine Ängste vor der Begegnung mit den Kommilitonen erwiesen sich schnell als unbe-gründet. »Ich wurde ganz normal angeschaut und konnte somit auch selbstsicher auf Leute zugehen und neue Freunde finden.«

Die kleinen Alltäglichkeiten, die für andere lästige Pflicht sind, vermisst er immer noch, so etwa das Rasieren und Haaremachen morgens vor dem Spiegel. Doch Sebastian findet, dass ihn die Krankheit menschlich vorangebracht hat, wenn auch zu einem hohen Preis. Er schätze sei-ne Gesundheit viel höher und habe gelernt, ande-ren Menschen unvoreingenommen zu begegnen, sagt er. Von kleineren Sorgen lässt er sich nicht mehr so schnell aus dem Gleichgewicht bringen. Anderen Betroffenen rät er, nicht aufzugeben und offensiv mit der Krankheit umzugehen: »Je auf-geschlossener man das Thema behandelt, desto besser ist die Resonanz der Mitmenschen.«

Heute ist Sebastian ein Student unter vielen: Er strebt nach einem erfolgreichen Studienabschluss und träumt vom Reisen und einem erfüllten Le-ben. Er hat gelernt, sein Leben ohne Haare zu le-ben – auch wenn es sein größter Traum bleibt, die Mütze eines Tages wieder einmotten zu können.

Mareike-Vic Schreiber studiert Deutsche Philologie. Sebastian kennt sie schon seit der Schulzeit und hat besonders Respekt vor seinem Mut.

Foto: Lisa Kirchner

ab 20.6.Promised Land (OmU)

MOVIEMENTO

DAS ÄLTESTE KINO DEUTSCHLANDS – GERMANY‘S OLDEST CINEMA

ab 13.6.

Die Jungfrau, die Kopten & ich

ab 27.6. A Silent Rockumentary

ab 27.6. Papadopoulos & Söhne

CODENAME KINOTragt Euch auf

WWW.MOVIEMENTO.DE

in den Newsletter ein und besucht

ausgewählte Veranstaltungen zum

Freundschaftspreis.

im KinoCanım Kreuzberg

MOVIEMENTO

Kottbusser Damm 22

Berlin Kreuzberg

www.moviemento.de

030 . 692 47 85

Page 12: FURIOS 10 – Lebensläufe

12 Titel

Der Anzugträger auf der anderen Seite des Schreib-tisches beugt sich nach vorne. »Sie haben also im letzten Jahr drei Praktika während des Studiums

absolviert?« Ich nicke. Herzrasen. »Und trotzdem einen No-tendurchschnitt von 1,4.« Das ganze Blut meines Körpers strömt in die Wangen. Ich ahne, in welche Richtung das geht. Gleich fliege ich auf. Der Anzugträger zieht seine Au-genbrauen hoch und schaut mich auffordernd an. »Das ist ja ganz schön beachtlich.«

Tja, wer würde mich nicht gerne einstellen? Mit mei-nen angegebenen 23 Jahren bin ich der Traum eines jeden Arbeitgebers. Ich studiere im fünften Semester Deutsche Philologie und Politikwissenschaft. Ich habe ein Jahr am University College London studiert, ein Praktikum beim Ta-schen Verlag in Paris gemacht und ein soziales Jahr in In-dien. Außerdem spreche ich fließend Englisch, Französisch und Spanisch und habe ein Latinum in der Tasche.

Die Wahrheit: Dieser Lebenslauf ist geschönt. Sehr ge-schönt. Man könnte auch von einer Fälschung sprechen. Doch wird das irgendwem auffallen? Wie weit werde ich es mit diesem Lebenslauf schaffen? Ich bewerbe mich für acht Praktika bei verschiedenen Verlagen und Online-Redak-tionen – und der Zuspruch ist gigantisch! Die meinen das

wirklich ernst. Niemand will Studiennachweise oder Zeugnisse sehen.

Am Tag meiner großen Show steige ich um 10 Uhr am Alexanderplatz aus und blicke mit großen Augen auf das Hochhaus des Berliner Verlags. Mir steht ein Bewerbungsgespräch um einen Praktikumsplatz bei dem Internetpor-tal »Berlin Online« bevor. Das Hochhaus wirkt mächtig. Auf einmal bekomme ich Angst.

Im Fahrstuhl nach oben bemerke ich mei-ne schwitzigen Hände. Scheiße. Ich suche ver-

zweifelt nach etwas Kühlendem. Vergeblich klatsche ich meine rechte Hand gegen die Fahrstuhlwand. Oben angekommen melde ich mich bei der Assistentin. Sie gibt mir ei-nen verwunderten Blick: »Hannah Knuth?«

Die Assistentin bringt mich in einen klei-nen Konferenzraum. Beim Herausgehen fragt sie,

ob ich was trinken möchte. Und mit einem Mal fühle ich mich moralisch schlecht. Ich stehle ihnen nicht nur die Zeit, sondern auch die Getränke.

Mit der kalten Wasserflasche in der rechten Hand bli-cke ich aus dem großen Fenster über Berlin. »Schöner Aus-blick, nicht?«, ertönt eine junge Männerstimme von hinten. Ich drehe mich um und schaue einem hübschen, braunge-brannten Prinz Charming in die Augen. Traumtyp. Ich reiche ihm meine Hand. Muss er nicht sofort erkennen, dass ich mich als drei Jahre zu alt ausgebe? Wir setzen uns hin und beginnen zu reden.

Es dauert eine ganze Weile, bis er den Lebenslauf in die Hand nimmt. »Du bist also im fünften Semester«, stellt er fest und blättert routiniert durch die Unterlagen. »Dann steht ja demnächst deine Bachelorarbeit an, was ist denn das Thema?«

Gefälscht gefälltDie Erwartungen an den Lebenslauf sind hoch. Zu hoch. Warum nicht ein bisschen schummeln? Hannah Knuth hat ihren Le-benslauf, nun ja, aufgehübscht – und sich

beworben.

Page 13: FURIOS 10 – Lebensläufe

13Titel

Ich grinse, auf die Frage bin ich vorbereitet. Bei der Antwort hole ich ein bisschen weiter aus und erwähne den Auslands-aufenthalt in London, meine vielfältigen Sprachkenntnisse und den brillanten aktuellen Notendurchschnitt. Mein Ge-genüber wirkt beeindruckt. Wow, ich bin super im Lügen. Wieso habe ich das nicht schon viel früher ausprobiert? Vielleicht wäre ich jetzt in Oxford und nicht an der FU.

»Zeugnisse waren jetzt nicht dabei«, sagt er. »Aber da kann ich ja davon ausgehen, dass das alles so stimmt.« Soll das eine Frage sein? Ich gebe ihm ein unsicheres »mm-hmm« und rattere im Kopf meine Möglichkeiten durch: Jetzt was sagen, später was sagen, gar nichts sagen. Lieber gar nichts sagen. Wir verstehen uns doch gerade so gut, Prinz Charming und ich. Außerdem habe ich den Platz noch nicht. Ich bemerke plötzlich, wie mich zwei Augen fragend an-gucken. Mist, was hat er noch gleich gefragt? Ob ich noch irgendwelche Fragen habe? »Nein«, antworte ich. Aber ich hätte dir einiges zu gestehen.

Zweiter Versuch. Bewerbungsgespräch bei einer ge-meinnützigen GmbH für Kommunikation. Ich habe ein schlechtes Gewissen – trägt meine Mission zum Gemein-nutz bei? Irgendwie schon. Mit dieser Überzeugung betrete ich beruhigt das Foyer des Bürogebäudes am Checkpoint Charlie.

Der Geschäftsführer wirkt auf den ersten Blick wahnsin-nig einschüchternd, obwohl er noch recht jung ist und aus-sieht wie Jakob Augstein. Er will alles wissen: meine Ziele, meine Wünsche, meine Erwartungen an das Leben. Darauf war ich nicht vorbereitet.

Ich improvisiere und versuche dabei akribisch, die im Lebenslauf genannten Erfahrungen einzubringen. Trotz ein-ladender Vorlagen fragt er nicht nach. Bis auf eine Bemer-kung über meine Sprachkenntnisse hat er meinen Lebens-lauf nicht kommentiert. Leicht verwirrt verabschiede ich mich von ihm. Wer bewirbt sich hier denn sonst noch, wenn mein Lebenslauf keine Besonderheit ist?

Ein paar Tage später ist eine Nachricht auf meiner Mail-box. Eine Zusage. Die Kommunikations-GmbH möchte mich als Praktikantin für die Presse- und Öffentlichkeitsstelle. Mit Herzrasen drücke ich auf die Rückruftaste. Das wird unan-genehm.

Noch bevor der Geschäftsführer die Zusage wieder-holen kann, erzähle ich ihm die Wahrheit. »Oh«, höre ich. Ein Moment Stille in der Leitung, dann sagt er: »Das ist jetzt schon ein bisschen komisch.« Ja, da hat er wohl recht.

Der Geschäftsführer erklärt mir, er habe sich den Le-benslauf gar nicht so genau angeguckt. Lieber lerne er die Leute erst einmal kennen, um zu sehen wie sie so persönlich seien, sagt er. Es komme bei solchen Praktika auch nicht so sehr auf die Qualifikation an, sondern auf die Motivation.

»Als nächstes hätten wir schon nach Zeugnissen gefragt, bevor man einen Vertrag schließt, will man das sehen«. Na ja. Ich will es ihm glauben.

Eine Woche später kommt die Zusage von »Berlin On-line«. Prinz Charming reagiert gelassen auf die Wahrheit – fast so, als sei er solche Aktionen gewohnt. »Mir ist das schon aufgefallen, dass deine Bewerbung keine Zeugnisse hatte«, sagt er. Auf ein Bewerbungsgespräch um eine Fest-anstellung hätte er sich besser vorbereitet.

Es ist verführerisch, das Spiel mit der Identität. Aber will man auf Basis einer Lüge Tag für Tag im Büro sitzen? Ich will das nicht. Obwohl, es ist ja so schön einfach: Weder »Berlin Online« noch dem Geschäftsführer der Kommunikations-GmbH ist aufgefallen, dass ich es gemeistert habe parallel zu meinem Sozialen Jahr in Indien in einem Hamburger Al-tenheim auszuhelfen. Vielleicht wollten sie es nicht merken. Vielleicht erfüllte es aber auch genau ihre Anforderungen.

Hannah Knuth studiert Deutsche Philologie und Politikwissenschaft. Im Verlauf derRecherche hat sie ein neues Talent ent-deckt: das Lügen.

Illustration: Luise Schricker

Ihr wollt wissen, wie Hannah ihrenLebenslauf geschönt hat? Dann schaut ihn euch an auffurios-campus.de

jung, spontan, gut

für nur 15 Euroein Jahr Kultur in Berlinspontan ganz weit vorne sitzenKonzerte 8 EuroOper / Ballett 10 Euro

> 030-20 35 45 55

Deutsche Oper BerlinDeutsches Symphonie-Orchester BerlinKomische Oper BerlinKonzerthaus BerlinStaatsballett BerlinStaatsoper im Schiller TheaterRIAS KammerchorRundfunkchor BerlinRundfunk-Sinfonieorchester Berlin

www.ClassicCard.de> für alle unter 30

Page 14: FURIOS 10 – Lebensläufe

14 Titel

Nach der Schule musste ich mich für eine Studienrichtung und damit indirekt für mei-nen zukünftigen Beruf entscheiden. Meine Interessen liegen eher im künstlerischen Bereich. Ich konnte mir deshalb ein Studium der Fotografie oder Architektur gut vorstel-len. Mit Blick auf die Zukunft erschienen mir jedoch Karrierechancen, Jobsicherheit und Geld wichtiger. Letztendlich habe ich mich für ein Informatikstudium eingeschrieben. Die wirtschaftliche Situation in Spanien und besonders die hohe Jugendarbeitslosigkeit haben meine Entscheidung stark beein-flusst. Nun stehe ich kurz vor dem Bache-lor-Abschluss. Das Studium hat mir wenig Freude bereitet und mich gleichzeitig sehr in Anspruch genommen. Meine persönli-chen Interessen und meine Liebe zur Kunst musste ich immer hinten anstellen. Es kann sehr anstrengend sein etwas zu studieren, das dich nur bedingt interessiert – es erfüllt dich einfach nicht! Wenn ich heute zurückbli-cke, würde ich meine Entscheidung vielleicht sogar rückgängig machen. Natürlich ist Job-sicherheit wichtig, aber niemand kann ein Leben lang einen Beruf nur als Broterwerb ausüben.

Vierzigtausend Menschen bevölkern die FU. Vier haben wir gefragt, was sie aus ihrem Lebenslauf streichen würden. Notiert von Thomas Rostek, Friederike Werner und Friederike Oertel.

Fotos: Cora-Mae Gregorschewski

»Es ist sehr anstren-gend, ohne Interes-se zu studieren«Francisco Vizcaíno, 23, ist Erasmus-Student aus dem süd-spanischen Sevilla. An der FU studiert er Informatik.

aus vierzig tausend

Page 15: FURIOS 10 – Lebensläufe

15Titel

Mein bisheriger Lebenslauf war nahezu ge-radlinig. Deshalb würde ich auch kein Ereig-nis streichen wollen. Ich begann eine Ausbil-dung zur Frisörin und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf. Als meine Tochter geboren wurde, blieb ich zunächst zu Hause. Es war mir immer wichtig, eine Familie zu gründen. Aber als das Kind größer wurde, fehlten mir die sozialen Kontakte. Ich entschied mich also, ein neues Kapitel in meinem Leben aufzuschlagen und in meinen Beruf zurück-zukehren. Nach zehnjähriger Pause hat das jedoch nicht mehr funktioniert. Über eine Freundin kam ich zum Studentenwerk und es fühlt sich so an, als wäre ich in irgendei-ner Form angekommen. Ich habe jeden Tag mit verschiedenen Menschen zu tun und er-fülle eine Serviceaufgabe – genau das, was mir in einem Job wichtig ist. Ich frage mich öfter, ob ich nicht einen anderen Weg hätte einschlagen sollen. Früher war man schnell festgelegt – der Lebenslauf war statisch. Heutzutage führen deutlich mehr Wege zum Ziel. Aber ich denke, dass ich meinen Weg mittlerweile gefunden habe. Ich bekomme Familie und Job unter einen Hut und das macht mich glücklich.

Für mich als Nordamerika-Student sind gute Englischkenntnisse zwingend erforderlich. Mein Schulenglisch hat für den Eingangstest am John-F.-Kennedy-Institut zwar gereicht, zum Studienbeginn hat sich jedoch Frustra-tion breit gemacht. Schnell kam ich zu der Erkenntnis: So wie viele meiner Kommilito-nen hätte ich in meiner Schulzeit ein Aus-landsjahr in den USA machen sollen! Damals habe ich mich dagegen entschieden. Heute bereue ich das. Vergangenes Jahr hat mich diese Erkenntnis ein zweites Mal eingeholt. Für meine Bewerbung um ein Auslandsse-mester in Kanada musste ich den TOEFL-Test mit mindestens 100 Punkten beste-hen. Es hat nur zu 99 gereicht. Ich musste den Test also wiederholen – Stress pur! Am Ende ist alles gut ausgegangen. Trotzdem habe ich gemerkt: Sprachgefühl ist aus der Ferne schwer erlernbar. Außerdem bietet ein Auslandsaufenthalt viele tolle Erfahrun-gen und neue Freundschaften. Könnte ich etwas aus meinem Lebenslauf streichen, so wäre es deshalb die elfte Klasse in Deutsch-land – die hätte ich viel lieber in den Staaten verbracht. Rückblickend denke ich, dass ich einiges verpasst habe.

Nach dem Abitur wollte ich Fotografin wer-den. Warum, weiß ich bis heute nicht genau, denn ich fotografiere weder gut noch gerne. Aber ich hatte diese Vorstellung von mir als kreativen Menschen. Also habe ich ein Jahr lang daran gearbeitet, eine Fotomappe zu-sammenzustellen, um mich an einer Hoch-schule für Fotografie zu bewerben – und bin letztlich mit Pauken und Trompeten durch-gefallen. Ich kann von den Dingen, die ich in diesem Jahr gemacht habe, praktisch nichts mehr verwenden. Das war ein klarer Umweg in meinem Lebenslauf, und doch möchte ich ihn nicht missen. Denn so besann ich mich auf das, was ich bis heute wirklich gerne tue, und studierte Literatur und Kunstgeschichte in Frankreich und Deutschland. Zunächst hatte ich keinen bestimmten Beruf vor Au-gen, aber nach und nach entwickelte sich der Wunsch, in der Wissenschaft zu bleiben. Man sollte nichts in seinem Werdegang be-reuen, sondern aus Fehlern lernen. Dinge brauchen Zeit, um zu wachsen. Ich musste einsehen, dass nicht alle meine Vorstellun-gen realistisch waren, die ich von mir hatte, aber heute bin ich froh über diese Einsicht.

»Früher war der Lebenslauf statischer«

»Ich hätte ein Aus-landsjahr machen sollen«

»Ich habe ein Jahr lang vergeblich eine Fotomappe erstellt«

Michaela Kemmesies, 48, arbei-tet in der Kaffeebar der Silber-laube. Zum Studentenwerk kam sie über Umwege.

Tobias Neumann, 24, studiert am John-F.-Kennedy-Institut Nordamerikastudien und Ge-schichte im siebten Semester.

Dr. Stephanie Bung, 39, Privat-dozentin und Gastprofessorin am Institut für Romanische Philologie

Page 16: FURIOS 10 – Lebensläufe

Wie alles begann …

Am 18. September 2008 blickte die Welt nach New York. Die Investmentbank Leh-man Brothers hatte Insolvenz angemeldet, die globale Finanzkrise nahm ihren Anfang. Auf die FU schaute niemand – obwohl es sich gelohnt hätte. Denn just dieser Tag mar-kierte den Start eines neuen Campusmagazins an der Freien Universität: Die Ernst-Reuter-Gesellschaft kaufte mehrere Anzeigen bei der Redaktion von FURIOS, die kurz zuvor von einer Handvoll Studierender gegründet worden war. Der Weg für den Druck des ersten Heftes war geebnet.

Nachdem es viele Jahre neben einigen Blogs und Asta-Publikationen kein studentisches Campusmagazin an der FU gegeben hatte, erschien im Wintersemester 2008/09 die erste Ausgabe des Magazins. Seitdem ist jedes Semester ein neues Heft herausgekommen, zu Themen wie »Humboldt«, »Verhältnisse« oder »Heimat«. Heft 8 über Schönheit wurde jüngst sogar zum zweitbesten deutschsprachigen Cam-pusmagazin gekürt. Die FURIOS-Redaktion ändert im Se-mesterrhythmus ihr Gesicht, der Anspruch aber ist in fünf Jahren derselbe geblieben: Unabhängiger Campusjournalismus – von Studierenden für Studierende.

5 Jahre FURIOSIn eigener Sache: Ihr haltet unser zehntes Heft in den Händen. FURIOS ist im Vorschulalter, das muss gefeiert werden – eine Doppelseite nur über uns! Illustration von Friederike Oertel.

Die drei fiesesten Online-KommentareZu einem Artikel über überfüllte U-Bahnen:

»son pseudowitziger mumpitz. meine sitz-nachbarn kotzten alle samt ab!«Zu einem Artikel über den studentischen Hochschulpolitiker Mathias Bartelt:

»Der Artikel ist sowas von daneben! Ihr solltet euch Schämen!!!!«

Zu einem Artikel über den Stupa-Wahlkampf:»kümmert euch um eure studium,als die

welt mit diesen nonsense zu belästi-gen. das war das erste und letzte mal dass ich mir diese seite angetan habe…«

Page 17: FURIOS 10 – Lebensläufe

Drei grundsätzliche

Fragen zu FURIOS

Wie finanziert sich FURIOS? FURIOS ist völ-

lig unabhängig. Wir finanzieren uns ausschließlich

durch Anzeigen, die wir für jedes Heft neu eintrei-

ben. Manchmal noch drei Tage vor Drucktermin. Hat

FURIOS eine politische Ausrichtung? Nein. Wer uns

regelmäßig liest, weiß das auch. Schreit »Neoliberales

Propagandablatt!«, so oft ihr wollt – wer eine Meinung

hat und sie aufschreiben kann, darf sie bei FURIOS

veröffentlichen. Wie setzt sich die FURIOS-

Redaktion zusammen? Wer zu uns kommt,

gut schreibt und bleibt, gehört dazu. Wer

sich nicht rechtzeitig duckt, leitet ein

Ressort – oder gleich die gan-

ze Redaktion.

Drei Schlagzeilen, die wir gern einmal drucken würden

Asta-Vorsitzender bekennt: »Ich wähle FDP!«

Mensa-Skandal: Café Creme und Tasse Kaffee sind das Gleiche!Erster Schlafsaal in der Philbib eingeweiht!

Drei Dinge, die wir

Euch nie erzählen wollten

Eine Schlagzeile, für die wir noch heute Kritik ernten,

würden wir so nie wieder formulieren: »Ein Rudel Titten in

Dahlem« – aber hey: Das ist jetzt vier Jahre her. Einige von

uns hatten damals noch nicht mal ihr Abitur!

Wir müssen zugeben, manchmal kennen wir unser eigenes

Archiv nicht und haben deshalb über ein paar Themen schon

doppelt geschrieben. Hoffentlich hat’s keiner gemerkt …

Ihr findet manche Autorenkästen seltsam? Dann seid

Ihr Zeugen der Layouter-Rache geworden: Wer

seinen Text nicht selber schreibt, bekommt

einen geschrieben …

Page 18: FURIOS 10 – Lebensläufe

18 Politik

Als »pseudodemokratisches Schmierentheater« be-schreibt ein aktueller Flyer des Bildungsprotestes die Zustände an der FU. Der Vorwurf: Die Entschei-

dungsprozesse an der Uni seien undemokratisch. Professo-ren haben in den wichtigen Gremien eine absolute Mehrheit. Dadurch würden »die Interessen der größten Statusgruppe – die der Studierenden – bagatellisiert.« Der Traum vieler Aktivisten: eine Viertelparität. Das bedeutet gleiche Stim-menanzahl für Studierende und Professoren.

»Wir kämpfen nicht nur um das Recht, länger studieren zu können. Es geht vielmehr darum, dass Entscheidungen, die die Studenten betreffen, demokratisch nur unter Mitwir-kung der Studenten getroffen werden.« Auch dieses Zitat könnte auf einem Bildungsprotest-Flyer stehen. Tatsäch-lich stammt es aus einer studentischen Resolution gegen Zwangsexmatrikulationen – aus dem Jahr 1966.

Dass mit Debatten an der Uni immer wieder ein Grund-satzdiskurs über universitäre Demokratie einhergeht, hat an der FU Tradition. Keiner anderen Hochschule ist der An-spruch auf Mitbestimmung so sehr in die DNS gewoben. Fast nirgends haben Studenten aber auch so viele hart er-kämpfte Machtansprüche aufgeben müssen.

Bei ihrer Gründung 1948 war die FU eine Exotin: Wäh-rend etwa in Köln und München Lehrstuhlinhaber – auch Ordinarien genannt – die Fäden fest in der Hand hielten, gründeten Studierende und Professoren die FU gemein-sam. Studierende waren von Anfang an in fast allen Ent-scheidungsgremien vertreten – wenngleich mit einer Min-derheit.

In den 1950ern und -60ern drifteten Professorenschaft und linke Studentenvertretung auseinander. Die einstige Reformuniversität wandelte sich zur traditionellen Ordinari-enuniversität. Die Professoren spielten ihre Mehrheit in den Gremien aus. Entscheidungen fällten sie zunehmend an den Lehrstühlen, nach und nach wurden die Studenten aus den Kommissionen verdrängt. Das »Berliner Modell«, die Ko-operation Lehrender und Lernender, scheiterte.

Immer wieder kam es zu heftigen Studentenprotesten. Unter dem steigenden Druck verabschiedete der SPD-ge-führte Westberliner Senat 1969 ein neues Hochschulgesetz. Dieses sah vor, dass in allen Gremien Professoren weniger Stimmgewicht haben sollten als die übrigen Universitäts-mitglieder zusammen.

Doch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts been-dete 1973 die Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Miteinan-der. Danach muss die Machtverteilung in Gremien zu Lehre, Forschung und Berufung »der herausgehobenen Stellung der Hochschullehrer« Rechnung tragen. Seitdem können Professoren nicht überstimmt werden. Weitere Reformen in den 1980ern durch die regierende CDU stärkten den Ein-fluss der Hochschullehrer.

Im März 1997 führte der Berliner Senat die sogenannte Erprobungsklausel ein, um Entscheidungsprozesse an der Uni zu beschleunigen. An der FU fallen seither dem profes-soral geführten Präsidium mehr Kompetenzen zu – zulasten des Akademischen Senats (AS), der immer mehr zum blo-ßen Kontrollorgan degenerierte. Kritiker wie Mathias Bar-telt, Studierendenvertreter im AS, bezeichnen die heutigen Verhältnisse gern als »Präsidialdiktatur«.

Seit den frühen 1970er-Jahren haben professorale Machtansprüche studentische Interessen immer weiter verdrängt – vor allem an der FU. Die RSPO-Proteste aber zeigen: Der Kampf um Demokratie an der FU geht weiter.

Wenn Studierende gegen Zustände an der FU protestieren, fordern sie mehr studentische Mitbestimmung, mehr Demokratie. Mara Bierbach sucht die his-torischen Wurzeln dieses Wunsches.

Der Vorreiter lahmt

Mara Bierbach studiert Nordamerikastu-dien mit Schwerpunkt Kultur- und Po-litikwissenschaft und prokrastiniert gerade ihre Masterarbeit.

Mehr zur Demokratie an der Freien Universität Berlin auf furios-campus.de/politik

Page 19: FURIOS 10 – Lebensläufe

19Politik

Es ist einer der ersten heißen Maitage. Im Sitzungs-saal des Akademischen Senats (AS) ist es stickig. Seit mehr als einem halben Jahr steht ein ums andere Mal

der Zwischenbericht der Arbeitsgruppe Grundordnung auf der Tagesordnung des AS – und wird nie behandelt. Dies-mal wäre es fast so weit gewesen, doch nach vier Stun-den endete die Sitzung – einen Tagesordnungspunkt vor der Grundordnung. »Ich bin maßlos enttäuscht«, sagt Klaus Hoffmann-Holland, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe. »Die Studierenden sind ernüchtert«, sagt Mathias Bartelt, studentisches Mitglied der AG.

Der Streit um die Verabschiedung einer Grundordnung an der FU ist ein leiser, aber ein zäher und langwieriger. Die Ordnung soll, ähnlich einer Verfassung, die inneruniver-sitären Strukturen regeln. Seit den 1980er-Jahren schreibt das Berliner Hochschulgesetz das vor. 1998 verabschiedete die FU eine Teilgrundordnung. Diese besteht bis heute – als Erprobungsmodell.

Seitdem ruhte die Erarbeitung einer Grundordnung vorerst. Erst 2007 habe sich wieder verstärkt etwas getan, berichtet Bartelt. Die Studierenden seien es gewesen, die sich unermüdlich dafür eingesetzt hätten. Im Juli 2011 setz-te der AS schließlich eine Arbeitsgruppe zur Grundordnung ein, die zunächst die Teilgrundordnung auswerten sollte. Um dann – laut AS-Beschluss »gegebenenfalls« – eine neue Grundordnung für die FU zu erarbeiten.

Studierende erhoffen sich von der Grundordnung mehr Demokra-

tie – und eine Beschneidung der Rechte des Präsidiums.

Doch davon ist die AG weit

entfernt. »Das Präsidium wird alles in seiner Macht Stehen-de tun, um eine Änderung des Status quo zu verhindern«, glaubt Bartelt. Das fange schon bei den Rahmenbedingun-gen an: Die AG tagt nicht öffentlich.

Informationen sind deshalb schwer zu bekommen. Hoffmann-Holland schweigt. Bis sich der AS mit dem Zwi-schenbericht beschäftigt habe, wolle er keine Stellungnah-me abgeben. Das Gremium solle sich unvoreingenommen eine Meinung bilden. Dennoch betont er, wie wichtig ihm der Prozess sei.

Der AS wird nicht nur den Zwischenbericht diskutieren. Mit der neuen Legislaturperiode des Gremiums muss auch der Fortbestand der AG geregelt werden. Bis dahin habe Hoffmann-Holland alle AG-Sitzungen abgesagt, berichtet Bartelt. Auf der nächsten Sitzung sollten erstmals Anhörun-gen stattfinden, um die Teilgrundordnung zu evaluieren.

Die Studierenden gehen hart mit den Abläufen ins Ge-richt. Der Kampf um die Einsetzung der AG, die Nichtbeach-tung des Zwischenberichts über mehrere Monate hinweg – »es war durchweg ein Spiel der Verzögerung«, sagt Bartelt. »Die Studierenden haben das lange genug mitgemacht.« Womöglich werden sie einen eigenen Grundordnungsent-wurf einbringen.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass just am Abend der unvollendeten AS-Sitzung die TU Berlin eine neue Grund-ord nung beschloss, die eine Vier tel pa ri tät im Erweiterten Akademischen Senat vorsieht. Das heißt, die TU-Studie-renden haben genauso viele Stimmen wie Professoren und andere Statusgruppen – eine kleine Sensation.

Die FU jedoch diskutiert weiter – über den Fortbestand der AG Grundordnung und über Evaluierungskriterien für die Teilgrundordnung, damit die Auswertung stattfinden kann. Damit in ferner Zukunft womöglich eine Grundord-nung erarbeitet wird.

Die FU braucht eine Grundordnung, eine Art Verfassung. So will es das Gesetz. Veronika Völlinger über einen Findungsprozess im Schneckentempo.

Ordnung muss sein

Ordnung ist bekanntlich das halbe Leben. Politikstudentin Veronika Völlinger lebt eher in der anderen Hälfte.

Illustration: Clara Straessle

Page 20: FURIOS 10 – Lebensläufe

20 Politik

Psychologie HeuteStudentenabo

Was uns bewegt.

PSYCHOLOGIEHEUTE

+ 3 aktuelle compact-Hefte als Begrüßungsgeschenk

+ 12 Hefte jährlich

+ Kostenfreier Zugang zum Archiv

+ Nur € 62,90 (statt € 78,–)

www.abo-psychologie-heute.de

Jetzt abonnieren undGeschenk sichern!

fast

20%günstiger

Abo plus: Zu den 12 Heften PsychologieHeute gibt es ein Jahr lang alle dreiaktuellen monothematischen SonderheftePsychologie Heute compact kostenlos.

Kostenlos:UpgradeAbo plus

PHS_StudAbo2_210x74_FuriosSpreeKombi:Layout 1 14.05.2013 12:44 Uhr Seite 1

Auf dem Wohnzimmertisch stehen in zwei Porzellanschalen Paprikachips und kirschförmige Gummibärchen. Es

ist Samstag, Eunjie Wie und ihre zwei Freunde planen einen Filmabend – irgendetwas zum Lachen. Doch es kommt anders. Die Mode-ratorin der Nachrichtensendung verliest eine Meldung der nordkoreanischen Nachrichten-agentur. Nordkorea hat Südkorea den Krieg erklärt. Eunjie und ihre zwei Freunde auf dem Sofa irgendwo in Seoul sagen erstmal nichts.

Damals war sie erst seit zwei Monaten zurück in ihrer Heimat, der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. »Ich hatte wirklich Angst«, sagt Eunjie im Rückblick. Zuvor hatte sie das Wintersemester an der Freien Universität in Berlin verbracht, hier Englisch auf Lehr-amt studiert. Da waren die Probleme mit Nordkorea ganz weit weg. Die 21-Jährige aß Schweinshaxe, tauchte in das hippe Stadtle-ben Berlins ein und erlebte den kältesten Win-ter ihres Lebens. »Die vielen Eindrücke haben mich mein Heimatland manchmal völlig ver-gessen lassen.« Seit Eunjie zurück in Seoul ist, ist alles wieder da.

Zuerst provozierte der nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un Südkorea und die USA Mitte Mai 2012 mit einem makabren Propagandavideo, dann kündigte er an, seine Atomwaffen in Stellung zu bringen, schließlich dann die Kriegserklärung. Doch das alles ist nur der medienwirksame Höhepunkt einer viel längeren Geschichte: Schon seit Ende des Koreakrieges 1953 herrscht zwischen den beiden koreanischen Staaten eine Pattsitua-tion.

Im Leben von Eunjie hat das nie eine Rolle gespielt. Als Kind spielte sie draußen, als Teenager stürzte sie sich ins Gewusel der Seouler Innenstadt, auch heute bewegt sie sich dort frei. Nur in der Schule war der Kalte

Krieg Thema. »Uns wurde beigebracht, dass Nordkorea die gleichen Wurzeln hat und dass sich die Südkoreaner die Wiederverei-nigung wünschen.«

Dieser Wunsch wird auch auf diploma-tischer Ebene immer wieder betont. Eunjies Generation ist dennoch mit der Teilung aufge-wachsen. Die Studentin hat sich an die zwei koreanischen Staaten gewöhnt: »60 Jahre leben wir jetzt schon so«, sagt sie. Die zwei Nachbarstaaten trenne längst mehr als nur der Grenzstreifen. Sogar die Sprache sei teilweise anders. »Wir sind uns fremd gewor-den.« Mit einer Wiedervereinigung würden außerdem viele Nordkoreaner nach Seoul kommen, um Arbeit zu finden. Die Studentin

fürchtet, dass Kriminalität, Gewalt und Ar-beitslosigkeit dann wachsen würden – »das möchte ich hier nicht«.

Zwar hat sie, als sie in Berlin war, die deutsche Geschichte der Wiedervereinigung

kennengelernt – und gese-hen, dass es geht. Trotzdem: »Die Situationen sind ver-schieden«, sagt sie. Während das DDR-System 1989 schon bröckelte, sei das Regime in Nordkorea immer noch sehr widerstandsfähig. Eine Ab-neigung gegenüber Nordko-reanern habe sie aber nicht. Es sei nicht die Bevölkerung, die sie nicht ausstehen kann: »Es sind Kim Jong Un und sei-ne Regierung.« Er sei für die sozialen Missstände in Nord-

korea verantwortlich.Doch seine Drohungen nimmt die 21-Jäh-

rige mittlerweile nicht mehr ernst. »Er will uns nur einschüchtern.« Sie redet viel mit ihren Freunden über die Situation, einige davon sind im Wehrdienst. »Sie vermuten, dass er nur Geld will.« Ein Krieg würde ihm überhaupt nichts bringen. Das hat sie beruhigt. »Jetzt habe ich keine Angst mehr.«

Nordkorea droht seinem südlichen Nachbarn mit einem Atomkrieg. Beobachter sagen, die Lage sei angespannt wie nie – »Ich habe keine Angst mehr«, sagt Südkoreanerin Eunjie Wie. Von Vanessa Ly

Der Nachbar mit der Bombe

Vanessa Ly hat mehr Angst vor ihrer alten Mathelehrerin als vor Kim Jong Un – denn die schlägt wirklich zu, wenn sie das sagt!

Foto: privat

Eunjie Wie ist 21 Jahre alt und lebt in Südkorea. Vergangenes Wintersemester hat sie an der FU Englisch studiert

Page 21: FURIOS 10 – Lebensläufe

Stephan van Gasselt seufzt. »Ich konnte nicht ruhig schlafen«, sagt er. Seit einem Jahr trägt der Wissen-schaftler die alleinige Verantwortung für die Arbeits-

stelle Planetologie und Fernerkundung an der FU – und für die 25 Mitarbeiter dort. Das heißt: Drittmittel einwerben, Papierkram erledigen und die Arbeitsgruppe leiten. Normal ist das nicht: Van Gasselt ist Juniorprofessor. Eigentlich soll-te er sich um seine Forschung kümmern, um sich so für eine Lebenszeitprofessur zu qualifizieren.

Vor einem Jahr aber verließ der Planetologie-Professor Gerhard Neukum das Institut, seine Stelle blieb vakant. Die Planetologie an der FU ist seitdem im Umbruch – ihre Zu-kunft ungewiss. Genauso wie die von van Gasselt. Denn im April 2016 endet seine sechsjährige Anstellung als Junior-professor. Da er bereits an der FU promoviert hat, darf er nicht bleiben – das sieht das Berliner Hochschulgesetz vor. »Ich habe derzeit hier an der Uni keine Zukunftsaussichten«, sagt er.

Dabei soll die Junioranstellung, die so genannte W1-Professur, Nachwuchswissenschaftlern eine Perspektive schaffen. Sie wurde 2002 deutschlandweit eingeführt und ist die Alternative zur früheren Habilitationsstelle. Die Vorteile: Junge Nachwuchswissenschaftler können schon früher den Titel »Professor« tragen. Außerdem können sie selbstständi-ger arbeiten, weil sie keinem Professor untergeordnet sind. An der FU ist das ein beliebtes Modell: Mittlerweile tragen schon 100 der 460 Professoren einen »Junior« vor dem Titel.

Die Juniorprofessuren sind auf sechs Jahre begrenzt. An vielen ausländischen Universitäten haben die Nachwuchs-wissenschaftler dann die Aussicht auf eine Lebenszeitpro-fessur – diese Option nennt man »Tenure-Track«. An der FU gibt es das nicht. Das »Tenure-Track-Modell« sei für die Uni nicht finanzierbar, sagt der Präsidiumssprecher Goran Krstin. Das bedeutet: Wenn ihre Juniorprofessur ausläuft, müssen sich die Wissenschaftler an anderen Unis bewer-ben. Nur im Einzelfall bietet die FU ihnen eine befristete W2-Professur an. Die meisten müssen aber gehen.

Die Uni profitiert, wenn ständig neue Juniorprofes-soren kommen – die Fachbereiche können flexibler neue Forschungsprojekte einrichten. Ein zusätzliches Argument gegen den »Tenure-Track«: Wenn klar ist, dass nach der Juniorprofessur eine Langzeitanstellung folgt, ginge für die

Nachwuchswissenschaftler der Anreiz verloren, ehrgeizig zu arbeiten. Darunter leide ihre Arbeit.

Eine weitere Juniorprofessorin an der FU findet das absurd. »Diejenigen, die das entscheiden, sitzen selbst auf den Lebenszeitprofessuren«, sagt sie. »Die Machtstrukturen sind für sie angenehm – sie profitieren von der Abhängig-keit anderer.« Die Kurzfristigkeit und Unsicherheit, die mit dem System einhergehen, seien belastend. »Man ist stets auf Abruf.«

Für die Uni sind die Juniorprofessoren vor allem eines: billige Arbeitskräfte, die sie temporär einsetzen kann. Denn sie kosten weniger als Vollprofessuren und machen fast den gleichen Job. Früher führte der Weg zur Lebenszeitprofes-sur über eine Habilitationsstelle, die an der FU immer unüb-licher wird. Für diese Stellen muss die Uni Sozialleistungen zahlen – für die Juniorprofessuren nicht.

Van Gasselt habilitiert jetzt noch – neben seiner Juniorprofessur. Denn für ihn ist klar, dass er nicht bleiben kann. Seine Qualifikation als Junior-professor allein helfe ihm bei Bewerbungen nicht, da sie wenig anerkannt sei. »Ich kann nicht warten, dass et-was von selbst passiert – der Te n u r e -Tr a c k wird nicht kom-men«, sagt van Gasselt. »Ich muss versuchen, den Ab-sprung zu schaffen.«

Juniorprofessoren an der FU – junge Wissenschaftler mit Karriereaussicht oder billige Ar-beitskräfte mit schlechten Arbeitsbedingungen? Fanny Gruhl hat bei einigen nachgehakt.

Junioren in der Warteschleife

Fanny Gruhl studiert Publizistik, Poli-tik und Philosophie. Sie hofft auch auf Verlängerung – nach ihrem Bachelor.

Illustration: Cora-Mae Gregorschewski

21Politik

Page 22: FURIOS 10 – Lebensläufe

22 Politik

Wie erklärt man Kindern den Satz des Pythago-ras? Jennifer, ehemalige Lehramtsstudentin, weiß es nicht. Das Gefühl didaktisch nichts zu lernen,

quält viele Lehramtsstudierende an der FU. Statt ihnen das Unterrichten beizubringen, bombardieren die Dozenten sie mit Herleitungsformeln aus den Abgründen der Mathema-tik. »Wir lernen Dinge, die wir im Beruf nie benötigen wer-den«, beklagt sich die 22-Jährige.

Vor zwei Semestern ist die Studentin daher vom Ethik- und Mathelehramt zur Grundschulpädagogik gewechselt.

Jetzt sitzt sie in anderen Seminaren als die Lehramts-studierenden. Während diese meistens

zwei Fächer studieren und die Pädago-gik nur am Rande abdecken, hat Jen-nifer nun neue Fächer: In Seminaren lernt sie, wie sie Mathe, Deutsch und Sachkunde am besten vermittelt. »In meinem neuen Studiengang wird sehr viel stärker auf Didaktik und Pädagogik

eingegangen«, sagt Jennifer.Doch jetzt ist ein neues Gesetz in Ar-

beit, das die Grundschulpädagogen beun-ruhigt: Wird es verabschiedet, könnte sich das Problem der Lehramtsstudierenden an der FU auch auf die Grundschulpäda-gogik ausweiten.

In einem ersten Vorschlag einer Ex-pertenkommission aus SPD-Politikern und Universitätsprofessoren heißt es, dass für Grundschulpädagogen »die Studienfelder sprachliche Grundbil-dung in Mündlichkeit und Schriftlichkeit

(Lernbereich Deutsch) sowie mathema-tische Grundbildung (Lernbereich Mathe-matik)« verbindlich werden sollten.

Das heißt: Alle angehenden Grund-schullehrer sollen in Deutsch und Mathe

das gleiche lernen wie spätere Germa-nisten und Mathematiker. Theoretisch

können damit die Berliner Abschlüsse in Grundschulpäda-gogik auch in anderen Bundesländern anerkannt werden. Praktisch müssten künftig wohl die Didaktikseminare den Fachvorlesungen der jeweiligen Institute weichen. Die ange-henden Lehrer würden also Mittelhochdeutsch und partielle Integration büffeln, um am Ende das Alphabet und das Ein-Mal-Eins zu vermitteln.

Diese Idee erntet sogar parteiintern Kritik. Der SPD-Fachausschuss sprach sich dafür aus, dass die Pädagogik im Mittelpunkt des Studiums stehen soll. Es schwäche die Attraktivität der Berliner Grundschulen, wenn zu sehr nur auf Fachwissen gesetzt werde. Auch die Grundschulpäda-gogen sind wenig begeistert. »Mit der neuen Regelung wäre ich total überfordert«, sagt Jennifer, »sowohl fachlich als auch später pädagogisch.«

Was sie an den Änderungsvorschlägen schätzt: Im Master ist ein Praktikumssemester vorgesehen. Mehr Pra-xiserfahrung wäre für sie eine wichtige Verbesserung.

Fest steht bis jetzt aber noch nichts. Ein erster Entwurf für das neue Gesetz stand bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch aus. Trotzdem hat Jennifer Angst – davor, dass die Grundschulen bald mit Fachidioten beliefert wer-den. Wer auf diese Weise ein guter Pädagoge werden will, müsste sich sein Wissen dann in seiner Freizeit aneignen.

Hilflos vor der KlasseLehramtsstudierende werden zu Fachidioten. Ein neues Lehrerbildungsgesetz soll das noch verschärfen – und erntet schon jetzt Kritik. Von Rebecca Eickfeld und Max Krause

Max Krause studiert Mathematik und ist gern ein Fachidiot. Rebecca Eick-feld studiert auf Lehramt und war schon immer von Fachidioten genervt.

Illustration: Luise Schricker

Alle weiteren Entwicklungen auf furios-campus.de/politik

Page 23: FURIOS 10 – Lebensläufe

Der neue Rundfunkbeitrag

• Ich wohne alleine. Was muss ich tun?• Ich wohne in einer WG oder bei den Eltern. Wer muss zahlen?• Ich wohne im Studentenwohnheim. Was ist zu beachten?• Ich erhalte BAföG. Kann ich mich befreien lassen?

Alle Antworten, Anträge und Formularegibt‘s hier: www.rundfunkbeitrag.de

Für alle einfacher. Für viele günstiger.

Anzeige Gebühren A4-1.indd 1 29.05.13 10:12

Page 24: FURIOS 10 – Lebensläufe

24 Campus

Die dritte LaubeStahlstreben, Beton, Kräne: Was entsteht da eigentlich neben der Rost- und Silberlaube? Margare-the Gallersdörfer hat einen klei-nen Spaziergang gewagt – durch die »Holzlaube« im Jahr 2015.

Die Rost- und Silberlaube wird er-weitert. Seit Anfang 2012 laufen die Bauarbeiten, Ende 2014 sollen

sie beendet sein. 51,5 Millionen Euro soll das Projekt insgesamt kosten, der Bund zahlt ein Drittel davon. An der Ostseite des FU-Hauptgebäudes entsteht eine neue Bi-bliothek. Außerdem bekommen die so ge-nannten »Kleinen Fächer« des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften ein gemeinsames Dach über dem Kopf – Insti-tute wie die Iranistik, die Judaistik oder das Ägyptologische Seminar. Noch sind sie in Dahlem verteilt und in Villen untergebracht, denen der Zahn der Zeit an der Bausubstanz knabbert – feuchte Keller, schimmelnde Bü-cher, einsturzgefährdete Balkone. Auch von Barrierefreiheit kann vielerorts keine Rede sein. Im Sommersemester 2015 soll mit all-dem Schluss sein: 17 Institute siedeln auf das Obstbaugelände um, die 16 Teilbibliotheken der Kleinen Fächer sowie die der Mathe-matik, der Informatik und der Naturwissen-schaften werden im Bibliotheksneubau unter einem Dach vereint. Der Neubau ist in jeder Hinsicht eine Fortsetzung der »Rost- und Silberlaube«; was die Fassaden angeht, ist nach Kupfer und Aluminium jetzt Holz an der Reihe. Die Folgen sind klar: »Ein offizieller Name für den Neubau für die Kleinen Fächer mit Naturwissenschaftlicher Bibliothek steht bisher nicht fest«, lässt das Präsidium zwar verlauten – dabei hat man selbst Universi-tätspräsident Peter-André Alt das Gebäude schon »Holzlaube« nennen hören. Sehen wir uns in ihrem Inneren um!

Fotos: Christopher Hirsch

Bauplan und Visualisierung: Florian Nagler Architekten

Der Spaziergang beginnt im L-Gang

der Silberlaube ●1 . Wir gehen durch den neuen Eingang; direkt

an die bestehende Erziehungswissen-

schaftliche Bibliothek ●2 angeschlossen

ist ein Büro- und Auskunftsbereich ●3 , der gleichzeitig auch Teil der neuen Bib-

liothek ●4 sein wird. Hier stehen wir in ei-

ner Art mehrstöckigem Atrium ●5 in der Mitte der Bibliothek. Durch ein Glasdach fällt Tageslicht bis in die unterste Ebene. Im Erdgeschoss, wo wir stehen, und im ersten Stock sind die Teilbibliotheken der Kleinen Fächer untergebracht; im Keller befinden sich die Bestände der Mathe-matik, der Informatik und der naturwis-senschaftlichen Bibliotheken. Etwa 920 Arbeitsplätze für die Besucher sollen in der Erziehungswissenschaftlichen Biblio-thek, die derzeit saniert wird, und in der neuen Bibliothek entstehen.

Die Baustelle betrachtet von der Südseite. Gut zu erkennen: der Säulengang, in dem sich die L-Straße der Silberlaube fortsetzt

Anschlussstelle: Hier wird die neue Bibliothek mit der Erziehungswissenschaftlichen Biblio-thek (links) verbunden

Margarethe Gallersdörfer studiert Literatur und Po-litik. Seit ihrer Liebeser-klärung an die Silberlaube ist sie Gebäudebeauftrag-te bei FURIOS.

Page 25: FURIOS 10 – Lebensläufe

25Campus

Die Wiese ●13, die den Eingangsplatz noch von der Silberlaube trennt so-wie der ganze Bereich zwischen den

Achsen der J- und der K-Straße bleiben frei. Auf der Homepage des Münchner Archi-tekturbüros »Florian Nagler Architekten« ist noch zu sehen, dass ursprünglich auch diese Flächen bebaut werden sollten. Nun dienen sie als »Baulandreserve« – FURIOS freut sich schon auf die Goldlaube!

Wir verlassen die Bibliothek und stehen im zweiten Teil des Neubaus, in der »Seminarspange« ●6 . Hier befinden sich die Lehrräume. Zu unserer Linken sind es sechs Stück – jeweils zwei auf einer Etage. Auf

der anderen Seite der Spange gibt es auf allen drei Etagen jeweils einen großen Raum. Die Spange ist geteilt durch einen Innenhof ●7 , denn auch dieses Prinzip der Rost- und Silberlaube wird im Neubau fortgeführt: Die Gebäudezüge laufen wie Straßen um quadratische bepflanzte Innenhöfe mit Sitzgelegenheiten her-um. Drei von ihnen wird es in der Holzlaube insgesamt geben. Auch die tieferen Höfe, die durch die Feuerwehrzufahrt entstehen, sollen begrünt werden.

Hier befinden wir uns im Herz des dritten Gebäudeteils, in dem auf Ebene 0 und 1 die 17 Institute

●8 des Fachbereichs Geschichts- und Kul-turwissenschaften ansässig sein sollen. Im Keller werden Drittmittelprojekte und Archi-ve untergebracht. Schon machen Gerüchte die Runde, der Platz werde nicht ausreichen, Dozenten ohne feste Stelle und Doktoran-den beispielsweise bekämen keine Büros. Laut Michael Vallo, Verwaltungsleiter des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwis-senschaften, wird über die Belegung des Gebäudes erst entschieden, wenn feststeht, wie viel Personal 2014 am Fachbereich ar-beiten wird.

Für Studierende interessant: Neben Büros und Seminarräumen sollen

hier zwei Aufenthaltsflächen ●9 ent-stehen, jeweils 100 Quadratmeter groß. Im Kellergeschoss wird es nur eine dieser »Multifunktionsflächen« geben, da hier die

Feuerwehrzufahrt ●10 verläuft. Tische und Sitzgelegenheiten sind geplant – ob man sich dann dort auch wirklich aufhalten möch-te, bleibt abzuwarten. Schon einmal ist ein solcher Plan nicht ganz aufgegangen: Auch das Foyer der großen Mensa in der Silber-laube war als Aufenthaltsraum gedacht, ist aber im Unialltag eher ein Durchgangsbahn-hof geworden.

Wir haben das Gebäude auf der Südseite verlassen und einen

Säulengang ●11 durchquert, der die Fortsetzung des L-Gangs der Silberlaube ist. Jetzt stehen wir auf einer der einschnei-dendsten Neuerungen für den gesamten

Komplex: ein Eingangsplatz ●12, auf der Internetseite des Bauamts etwas pompös »Kirschbaumhain« genannt. Mit 48 Bäumen ist er bepflanzt – leider nur Zierkirschen. Sie sind Auflage des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf, weil die FU für den Neubau 40 Apfelbäume hat fällen lassen. Der Platz ist etwa so groß wie der Institutsteil des Neu-baus und endet an der Achse der K-Straße.

Noch braucht es viel Fantasie, um hier ein Unigebäude zu erkennen. Ende 2014 sollen die Arbeiten beendet sein

Die Fassaden der Holzlaube, von einem Innenhof aus gesehen. Die Visualisierung basiert noch auf dem ursprünglichen Plan, der drei oberirdische Stockwerke vorsah

Weitere Hintergrund-informationen zumNeubau auffurios-campus.de

Page 26: FURIOS 10 – Lebensläufe

26 Campus

Georg Classen ist kein Freund der Hektik. Der Mann mit den kurzen lockigen Haaren und der silbernen Nickelbrille hat sein Büro in der Thielallee 38. Seit

mehr als 20 Jahren unterstützt er von hier aus FU-Studie-rende mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigun-gen. Er kämpft für barrierefreie Gebäude und hilft bei der Beantragung von Hilfsmitteln oder Assistenten. Dinge, die nicht auffallen, wenn sie da sind – wohl aber, wenn sie feh-len. Mit Dozenten diskutiert er über Ersatzleistungen oder verlängerte Schreibzeit in Klausuren, sogenannte Nachteils-ausgleiche.

All das tut er ohne eine Bestellung als Beauftragter für Studierende mit Behinderung, offiziell eingesetzt wur-de Classen nie. Seit zwei Jahren schreibt das aber der Artikel 28a des Berliner Hochschulgesetzes vor. Die for-male Bestellung stärkt die Rechte der Beauftragten. Bisher konnten sie nur beratend zur Seite stehen. Eingesetzte Be-auftragte müssen dagegen über alle Entscheidungen, die Studierende mit Behinderung betreffen, informiert werden. Ihnen steht das Recht zu, in allen universitären Gremien mit-zuarbeiten.

An der HU und der TU erfolgte die Bestellung der Be-auftragten schon wenige Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes. Die FU dagegen zögert – und darf das prinzipiell auch, weil für die Einsetzung keine Frist festgelegt ist.

Welche Hindernisse Classen dadurch entstehen, zeigen die Verhandlungen um die kürzlich erlassene Rahmenstudi-en- und Prüfungsordnung (RSPO). »Erst durch die studen-tischen Proteste habe ich überhaupt von den Plänen zur Erarbeitung einer RSPO erfahren«, erzählt er. Seine Beteili-gung habe er nachdrücklich einfordern müssen.

Schließlich habe er mit viel Einsatz erreichen können, dass Nachteilsausgleiche in der neuen Ordnung nicht wie bisher nur auf körperliche Behinderungen begrenzt sind, sondern auch bei psychischen Einschränkungen gewährt werden. Als offizieller Beauftragter hätte Classen die RSPO

womöglich stärker zugunsten behinderter Studierender beeinflussen können. Das Präsidium habe im Vorfeld aus-führliche Gespräche mit Experten geführt und sich beraten lassen, erklärt Präsidiumssprecher Goran Krstin die Ver-zögerung. Das Einsetzen eines Behindertenbeauftragten solle noch in diesem Sommersemester erfolgen. Trotz der bisher nicht erfolgten Bestellung nehme die Universität die Belange behinderter Studierender sehr ernst, sagt er und verweist auf das weitreichende Beratungsangebot.

Das Sozialreferat des Astas sieht diese Darstellung kri-tisch. Auf der Internetseite der FU werde Classen fälschli-cherweise bereits als Beauftragter präsentiert. »Es ist eine Schande, dass das Präsidium diesen Posten benutzt, um sich nach außen hin zu profilieren«, kommentiert ein Refe-rent die Verzögerung. »Ein wirkliches Interesse für die Be-lange behinderter Studierender scheint die Unileitung nicht zu zeigen.« Mehrere Versuche, den Fall Georg Classen im Akademischen Senat zur Sprache zu bringen, seien ohne Erfolg geblieben.

Doch selbst wenn offiziell ein Behindertenbeauftragter eingesetzt wird, muss Georg Classen nicht zwangsweise auf den Posten rücken. Zwar kennt Classen die Bedürfnisse behinderter Studierender mittlerweile sehr genau, doch es steht dem Präsidium frei, die Stelle neu auszuschreiben.

Beauftragt mit BarrierenStudierende mit Behinderung bekommen an der FU Unterstützung von Georg Classen. Doch mit dem Einsetzen eines offiziellen Beauftragten für sie lässt sich die Universitäts-leitung weiterhin Zeit – zu lange? Melanie Böff hat nachgefragt.

Melanie Böff studiert Publizistik und Politik. Zurzeit ist sie auf Krücken unterwegs – und freut sich daher über jedes Stückchen Bar-rierefreiheit an der FU.

Foto: Cora-Mae Gregorschewski

Mehr Infos zum Thema auf furios-campus.de/campus

Page 27: FURIOS 10 – Lebensläufe

27Campus

Auf einen Kaffee bei Kommilitonen

Keine Lust auf die große, volle Mensa? Studentische Cafès bieten eine Alternative. Wo es gemütlich ist und wo es die Mate am güns-

tigsten gibt, verraten Lisa Paul, Laura Betram und Helena Moser.

Weitere Cafes und zusätzliche Informationen

findet ihr auf furios-campus.de

PI-CAFÉ Wer sich einmal am Ende des K-Ganges die Treppe ganz hoch zum Pi-Café verläuft, soll-te hier auf jeden Fall eine kleine Pause ein-legen. Die große Terrasse und viele grüne Pflanzen laden über den Dächern der Rost- und Silberlaube zum sonnigen Ausspannen mit Urlaubsflair ein. Betreiber: Studierende Specials: Rundum-Dachterrasse mit Blick über die SilberlaubeUnser Tipp: Veganer Kuchen Kaffeepreis: 1 € Matepreis: 1,60 €Angebotsvielfalt: Ökoindex (vegan, vegetarisch):

CAFÉ TATORTDas Café Tatort in der Boltzmannstraße 3 lässt nicht nur Juristenherzen höher schla-gen. Die studentenfreundlichen Preise und die gemütliche Atmosphäre machen das Café zu einem angenehmen Ort für eine entspannte Pause. Betreiber: FSI Jura Specials: PC mit Internet für Besucher Unser Tipp: Hier gibt‘s die billigste Mate und den billigsten Kaffee - trotzdem Bio Kaffeepreis: 0,30 € Matepreis: 1,15 €Angebotsvielfalt: Ökoindex:

CAFÉ TRICKYWer einen günstigen Kaffee sucht, sollte an der Garystraße 55 einen Blick ins Café Tricky werfen. Hierbei handelt es sich um ein klei-nes, neu eingerichtetes Café, das im Som-mer außerdem mit seinem Außenbereich zum gemeinsamen Lernen mit den Kommili-tonen einlädt. Nichtstun ist auch ok. Betreiber: FSI PuK Specials: BierUnser Tipp: Jeden Dienstag Filmabend Kaffeepreis: 0,50 € Matepreis: 1,50 €Angebotsvielfalt: Ökoindex:

CALEDONIAN CAFÉDas Caledonian Café im Raum JK 29/231 in der Rost- und Silberlaube lädt vor allem durch seine helle und freundliche Atmo-sphäre ein. In dem großen Raum kann man sich seiner Arbeit widmen oder mit seinen Kommilitonen einen fair gehandelten Kaffee trinken. Betreiber: FSI Anglistik Specials: Antisexistische Leseecke Unser Tipp: Sandwiches mit hausgemach-ten vegetarischen und veganen Aufstrichen Kaffeepreis: 0,60 € Matepreis: 1,20 €Angebotsvielfalt: Ökoindex:

ROTES CAFÉDas kleine rote Häuschen mit Café im Hin-terhof der Ihnestraße 22 hat unter anderem einen Raucher- und einen Frauenraum. Statt eines festen Angebotes findet man hier täg-lich etwas Neues, donnerstags kochen Stu-dierende veganes Essen für Kommilitonen in der VoKü. Betreiber: FSI OSI Specials: im Sommer auch Party-Location Unser Tipp: Erst Tischkicker spielen, dann auf der Wiese rund um das Café chillen Kaffeepreis: 0,50 € Matepreis: - Angebotsvielfalt: Ökoindex:

Laura Bertram, Helena Moser und Lisa Paul studieren Publizistik. Die Nase voll vom Mensa-Essen, suchten

sie nach Alternativen: Studentische Cafés!

Fotos: Christopher Hirsch und Christoph Spiegel

Page 28: FURIOS 10 – Lebensläufe

wo bin hier gelandet?

ich

Prügeleien waren bisher nicht gerade Isabelle Caps-Kuhns Sache. Trotzdem traute sich die Filmwissenschaftsstuden-tin in eine Trainingseinheit der asiatischen Kampfsportart »Arnis Stockkampf«.

Kämpfen wie Mary Poppins

Vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon mit aufgeklapptem Regenschirm gegen eine Horde philippinischer Macheten-Kämpfer antreten. Die

Kampfsportler des philippinischen Arnis-Stockkampfs üben ihre Kampfkunst nämlich auch mit Alltagsgegenständen wie Hut, Stock oder Regenschirm, um sich auf der Straße ver-teidigen zu können. Mary Poppins lässt grüßen!

Als ich jedoch bei meinen 15 Mitkämpfern im Sportzen-trum ankomme, sehen die Stöcke zum Glück nicht angstein-flößend aus. Sie sind auch viel kleiner, als ich gedacht hatte. Erst einmal ist alles ganz simpel: Die Kampfgeräte liegen auf dem Boden, wir springen darüber. Das kann ich! Wer die Stöcke berührt, muss Liegestützen machen.

Jetzt folgen Koordinationsübungen: In jeder Hand ein Stock, den wir in unterschiedliche Richtungen kreisen las-sen. Klingt einfacher als es ist. Sieht auch ziemlich dämlich aus. Aber zum Glück nicht nur bei mir.

Danach fangen wir tatsächlich an zu kämpfen: Wir ler-nen eine Schlagabfolge, die es anschließend zu parieren gilt. Links, rechts, oben, unten, über Kreuz – falsche Handhal-tung! Links, rechts, oben, unten. Mir schwirrt der Kopf. Die Übung ist zu Ende, ich inspiziere meine Übungspartnerin: Puh, sie atmet noch. Ich bin stolz auf mich.

Nach 90 Minuten habe ich dann vor allem eines: schmerzende Füße. Erschöpft fahre ich nach Hause; im Bus treffe ich einen meiner Mitkämpfer. Aus seiner Tasche ragt ein philippinischer Holzstock. Sieht gefährlich aus, meine neu antrainierten Reflexe springen an. Mist! Nie habe ich meinen Regenschirm dabei, wenn ich ihn brauche.

Von Gameboys und Gigahertz haben auch Politikstudenten schon mal gehört. Die Details sollten sie aber doch besser den Informatik-Nerds überlassen, wie Ines Küster merkte.

Algorithmus im Blut

Zuallererst bin ich maßlos enttäuscht: Wir hacken uns nicht auf CIA-Seiten ein. Wir bauen nicht einmal Com-puter zusammen! Mein Sitznachbar klärt mich auf:

»Hier geht’s darum, wie Computer aus technischer Sicht aufgebaut sind.« Langweilig!

Etwas geknickt schaue ich mich in der Einführungsvor-lesung für Informatiker um. Mit mir sitzen noch 200 andere Studierende im Hörsaal. Einige von ihnen sind allem An-schein nach sogar weiblich. Es gibt sie also: Frauen in der Informatik! Eine davon bin heute ich.

Das Modul ist für Erst- und Zweitsemester gedacht. Theoretisch also könnte sogar ich als Politologin etwas ver-stehen – dachte ich. Praktisch scheitere ich schon an der ersten Folie: »Principle of Operation of Computer Instruc-tion Execution«. Aha. Jedes Mal, wenn ich etwas Bekanntes höre, freue ich mich dafür umso mehr: Daten, Befehle, Play Station 2, Game Boy, Gigahertz. Als es ans Rechnen geht, schaffe ich es sogar, eine Zahl ins Zehnersystem umzurech-nen – Nerd-Feeling pur.

Eins aber fehlt mir noch: mysteriöse Formeln. Doch ich habe Glück! Der Dozent erklärt einen »euklidischen Algo-rithmus« – Fragezeichen in meinem Kopf. Die anwesenden Informatiker scheint es nicht zu stören. Die haben wohl den Algorithmus im Blut.

Um eins beneide ich Informatik-Studierende jedoch defi-nitiv: um ihre Dozenten. Wenn meine Profs auch so lebendig vortrügen, könnte mich selbst »Politische Ideengeschichte« vom Hocker reißen!

28 Campus

Page 29: FURIOS 10 – Lebensläufe

29Campus

Matthias Matussek wurde 1954 in Münster geboren. An der FU studierte der Journalist Anglistik, Germanistik, Ameri-kanistik, Komparatistik und Pu-blizistik. Nach Stationen beim »Berliner Abend«, »TIP« und »Stern« landete Matussek beim »Spiegel«. Er lebte als Korres-pondent u.a. in New York, Rio de Janeiro und London. Von 2003 bis 2007 leitete er das Kulturressort des Spiegels und arbeitet dort heute als freier Autor. Matussek lebt in Ham-burg.

West-Berlin im Jahr 1973: Haus-besetzer, Drogenabhängige, RAF-Anhänger, Aussteiger. Und

mittendrin: Matthias Matussek, der einfach nicht zur Bundeswehr wollte. Deswegen schrieb sich der damals 19-Jährige an der FU ein. Der heutige »Spiegel«-Journalist war damals noch genauso unruhig wie seine Zeit: Am Anfang studierte er fünf Fächer auf einmal, zog gleichzeitig etliche Male um – ziellos, immer unterwegs. Am Ende landete er in Neukölln, von wo aus er täglich in die U-Bahn Richtung FU stieg, um Vorlesungen in Germanistik und Anglistik zu hören.

In Dahlem lag zu dieser Zeit noch ein Hauch der 60er in der Luft. Viele Studie-rende hatten die Revolution vor Augen, gingen auf die Straße um Deutschland zu verändern. Doch der Student Matussek, der mit 17 »Das Kapital« von Karl Marx gelesen hatte, erklärte seine revolutionäre Laufbahn

schon mit 20 für beendet. Die Protestkultur an der FU ging ihm auf die Nerven: »Das war teilweise unerträglich«, sagt der 59-Jährige heute. »Diskussion war nicht mehr möglich, es ging um fest umrissene Welt- und Feind-bilder.«

Matussek ging stattdessen voll in seinem Studium auf: Er vertiefte sich in Kafka-Lek-türe, betete Gedichte von den Beat-Poeten vor sich her und lauschte der Musik von Jim Morrison oder The Cream. »Die hat man am besten verstanden, wenn man bekifft war«, sagt er und lacht. Ein Seminar zu Adornos ästhetischer Theorie beeinflusste ihn noch Jahre später zu seiner Zeit als Theaterkriti-ker.

Am meisten aber hat ihn ein privater Zir-kel von gleichgesinnten Studenten geprägt. Dort haben sie sich mit den Dingen beschäf-tigt, die damals dem politischen Aktionis-mus geopfert wurden, erzählt Matussek. Sie schrieben Kurzgeschichten und lasen Gedichte, sprachen über Sehnsüchte und Empfindungen, diskutierten die Schönheit und die Literatur. »Wir haben gespürt: Das war das eigentlich Wichtige.«

Bald jedoch fragte er sich, was er mit der Kombination seiner Orchideenfächern anfangen sollte. An einem Gymnasium in Steglitz probierte Matussek sich als Lehrer. Schnell aber merkte er, dass er dafür nicht

geboren war – er wollte einen antiautori-tären Unterricht. »Aber das Diskutieren im Stuhlkreis hat die Schüler nicht interessiert«, sagt er. »Und als Solo-Entertainer an der Ta-fel habe ich mich nicht wohl gefühlt.«

Also begann Matussek neben seinem Studium als freier Mitarbeiter bei Stadtteil-zeitungen zu arbeiten. Das Journalisten-Dasein wurde schnell zu seinem Traumbe-ruf. Und er hatte großes Glück: Mitten im Studium wurde Matussek an der Deutschen Journalistenschule in München angenom-men. Sein Plan, parallel seine Magisterarbeit zu schreiben, ging neben seiner journalisti-schen Arbeit unter. Auch, wenn er es damals noch nicht wusste – er ist nie an die FU zu-rück gekehrt.

»Mein Weg war eben ein anderer«, schaut Matussek heute zurück. Er stand da-mals erst am Anfang seiner journalistischen Karriere. Auch ohne Studienabschluss.

Kiffen mit KafkaAnfang der 1970er-Jahre gingen die meisten Studierenden auf die Straße statt zur Vorlesung. Matthi-as Matussek blieb im Hörsaal. Maik Siegel fragte den Journalisten warum.

Maik Siegel wohnt in Neu-kölln – und ist richtig froh, dass er keinen Kohleofen hat.

Foto: Frank Siemens (Pressefoto)

ewigerehemaliger

Page 30: FURIOS 10 – Lebensläufe

30 Kultur Matthias Nizinski (Mitte) und Tilman Kalckhoff (übrige Aufnahmen) entwickeln in der Dunkelkammer ihre Fotos

Abgedunkelte alte Kellerräume sind Tilman Kalkhoffs Lieblings- und Arbeitsplatz: Nein, der 29-jährige

FU-Student ist nicht professioneller Dark-Room-Betreiber – wobei die Bezeichnung nicht ganz falsch ist. Denn wörtlich übersetzt arbeitet Tilman genau dort, in einer Dunkel-kammer.

Im Kellerraum der »Ida Nowhere«, ei-nem Projektraum für Kunst und Kultur in Neukölln, können Fotoliebhaber und Laien lernen, dass zur analogen Fotografie mehr gehört, als im richtigen Moment den Aus-löser zu drücken. Das Konzept der »Dun-kelkammer für alle«, wie Tilman sagt, sei in Berlin einzigartig. Zusammen mit vier anderen Fotonarren betreibt der Englisch- und Geschichtsstudent das Labor seit knapp zwei Jahren.

Zwar gebe es in der Stadt viele soge-nannte »Laborgemeinschaften«. Deren Be-nutzung sei mit 25 Euro jedoch sehr teuer, sagt Tilman. Im »Ida Nowhere« können Bil-der für etwa 8 Euro entwickelt werden. Kom-plette Foto-Ausstellungen sind schon in dem Keller entwickelt worden.

Das Fotolabor gehört zu einem gemein-nützigen Verein. »Unser Equipment setzt sich komplett aus Mitglieds- und Spenden-

beiträgen zusammen«, erklärt der Student. Manche Teile der Ausrüstung lassen sich im Fachhandel kaum noch erwerben.

Tilman betritt die Dunkelkammer und erklärt, wie ein authentisches Bild entsteht, ganz ohne Instagram: Das fertige Bild, die Kontraste, die Helligkeit, der Schatten – al-les hänge nur noch von der Fähigkeit des Entwicklers ab. »Das ist doch viel besser als Photoshop«, sagt Tilman und grinst. »Und das Schöne ist: Bei uns kannst du mit den Bildern machen, was du willst.«

Das Entwickeln allein sei eigentlich ganz einfach. Zunächst müsse man die Bilder un-ter dem Vergrößerer belichten, erklärt er. Dann legt Tilman das noch weiße Fotopapier nacheinander in verschiedene Chemikalien: Im »Entwickler« wird plötzlich das Bild sicht-bar, der »Stopper« beendet diesen Prozess und der »Fixierer« sorgt dafür, dass die Mo-tive nicht verschwimmen. Ein Wasserbad reinigt das Fotopapier schließlich von den verbliebenen Chemikalien. Das Ganze geht so schnell, dass man gern noch ein zweites Mal hinsehen würde, um zu verstehen, wie aus dem Nichts plötzlich ein Bild entsteht.

Auch Matthias Nizinski fasziniert das. Der 30-Jährige, der an der FU Theaterwis-senschaft studiert, ist von Anfang an bei

»Ida Nowhere« dabei. »Ida Nowhere heißt für mich, raus aus der Realität und rein in eine Wirklichkeit, für die man selbst verant-wortlich ist.« Es sei ein zwangloser Verein mit wenigen Regeln, sagt Tilman. An den Wochenenden gibt es Fotografieworkshops, unter der Woche Konzerte und Lesungen. Tilman und die anderen setzen dabei auf die Motivation der Gruppe: »Hier ist nicht einer der Lehrer und der Rest hört zu. Jeder kann sich einbringen«, ergänzt der Student.

Mit dem eigenen Bild zufrieden sein – das ist für Tilman besonders wichtig. So ist »Ida Nowhere« wohl für jeden Fotoliebhaber etwas, der sich nicht vor ein bisschen Kol-lektivcharakter scheut und am Ende etwas andere Bilder mitnehmen möchte – als »An-denken an die Parallelwelt«, wie Mathias sie beschreibt. Tilman fügt hinzu: »Klar, was wir hier machen ist Spielerei für Liebhaber – aber eben eine authentische Spielerei.«

»Besser als Photoshop«Fotografie ist einfach und für alle da. Das zumindest sagt Tilman Kalkhoff, FU-Student, Fotoliebhaber und der Begründer der einzi-gen »Dunkelkammer für alle«. Von Kirstin MacLeod

Kirstin MacLeod wurde end-lich aufgeklärt: Nicht nur mit Instagram lassen sich gute Fotos »entwickeln«.

Fotos: Cora-Mae Gregorschewski

Page 31: FURIOS 10 – Lebensläufe

31Kultur

Ganz hinten in der Ecke sitzt er, den obligatorischen Jutebeutel neben sich auf dem Sofa, entspannt das Knei-

penleben beobachtend. Dichter Zigaretten-qualm hängt in der kleinen Bar, das bunte Szenevolk von Friedrichshain tummelt sich an der Theke.

Seit geraumer Zeit geistert der Name Anton Mila durch die virtuelle Welt des In-ternets. Seine Kurzgeschichten begeistern zahlreiche Leser. Er veröffentlicht sie auf seinem Blog. »In unregelmäßiger Regelmä-ßigkeit«, sagt er lässig. Das Blog, das in einer alkoholgeschwängerten Nacht im Juni 2012 Gestalt annahm, gibt Einblicke in das emo-tionale Innenleben des Mittzwanzigers, der an der FU studiert. Zum Erhalt seiner Privat-sphäre schreibe er unter Pseudonym. Auch seinen Studiengang will er nicht nennen. Das mache ihn interessanter, sagt Anton und grinst.

Nicht selten bekommen seine Leser einen Spiegel vorgehalten. Als »jungen Er-wachsenen in einer Welt voller schlechter Sachen« bezeichnet sich der Blogger. Damit kann sich wohl jeder im Studentenalter iden-tifizieren, von nächtlichen Begegnungen mit Frauen bis hin zu Abschied und Selbstzwei-feln.

Kritiker warfen ihm dafür schon einmal an den Kopf, ein »Ikea-Baukasten-Autor« zu sein, weil er sich immer wieder mit diesen Inhalten beschäftige. Darauf angesprochen zuckt Anton nur mit den Schultern. Das lasse sich doch auf viele Künstler übertragen, sagt er. »Die drei großen Themen Tod, Liebe und Angst kommen vermutlich in 95 Prozent der Popliteratur vor.«

Seit der junge Literat mit elf Jahren »Herr der Ringe« gelesen hat, sei er dem Schreiben verfallen, erzählt er. Zunächst war alles nur ein »Dummer-Jungen-Quatsch«. Bis ihm das Herz gebrochen und seine Texte zur Selbst-therapie wurden - auch präventiv: »Bevor

ich nackt über den Alexanderplatz renne, schreibe ich lieber«, erklärt Anton, während er an seinem Bier nippt. Oft kommen Frauen aus seinem Leben in den Texten vor. Nicht selten muss er sich auf Diskussionen mit ih-nen einlassen, wenn sie sich in seinen Texten wiedererkennen.

Unter seinem ersten Pseudonym »berlin_bombay« begann er vor knapp drei Jahren auf »Neon.de« seine biografisch an-gehauchten Texte zu veröffentlichen. Einige Male schaffte er es sogar auf die Startseite des Magazins. Wenn er schwierige Phasen durchlebt, küsse ihn besonders häufig die Muse. Doch statt in langen Monologen vor Selbstmitleid zu zerfließen, versuche er sich knapp zu halten: »Ich will mit möglichst we-nig Worten möglichst große Bilder malen.«

Es mag der Digitalisierung und den im-mer kürzer werdenden Aufmerksamkeits-spannen geschuldet sein, dass Anton mit seinen Kurzgeschichten den Nerv der Zeit und des Publikums trifft. Auf seinem Blog weiß er das geschickt zu nutzen.

Für die Zukunft plant er den Sprung hi-naus aus der Virtualität und aufs Papier. Mit anderen Nachwuchsautoren arbeitet er am »Projekt Projekt 13«. Für die Produktion ei-nes Kurzgeschichtenbandes suchen sie der-zeit einen Verlag, um dem großen Traum von einem eigenen Buch ein Stückchen nä-her zu kommen. Ganz unrealistisch scheint das nicht. Denn schon Antons Blogbeschrei-bung titelt: Buchstaben, nichts als Buchsta-ben. Und darauf versteht er sich.

Der anonyme Blog-PoetEin FU-Student gewährt auf seinem Blog intime Einblicke in seine seelischen Abgründe. Die Leserschaft wächst stetig. Wer ist dieser Anton Mila?, fragen Ute Rekers und Bente Staack.

Ute Rekers und Bente Staack haben trotz eines Treffens mit Anton Mila noch so ihre Probleme damit, sich in ih-ren Texten kurz zu fassen.

Foto: jujurocks Anton Mila ist ein Phantom. Sein wahres Gesicht gibt er

nicht zu erkennen

Page 32: FURIOS 10 – Lebensläufe

Julia Brakel und Inga Stange sind dankbar, dass sie nicht für ihr Abitur arbeiten mussten und haben umso mehr Respekt für die Arbeit in Äthiopien.

Foto: Cora-Mae Gregorschewski

Bis zur Decke stapeln sich die vielen kleinen Holzkisten an den Wänden der Berliner Galerie Listros. Wer ge-nauer hinsieht, erkennt in ihnen Schuhputzboxen. Alle

aus altem Holz und ähnlich groß. Ihre ehemaligen Besitzer, Jugendliche aus Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, haben sie selbst zusammengebaut und auf ihnen die Schuhe unzäh-liger Passanten geputzt. Hinter jeder einzelnen Box steckt eine Geschichte – in der Galerie Listros findet sie nun Gehör.

Vor zehn Jahren gründete der gebürtige Äthiopier Da-wit Shanko die Galerie Listros und den gleichnamigen ge-meinnützigen Verein in Berlin. »Listros« werden in Äthiopien meist noch sehr junge Menschen genannt, die sich durch das Schuhputzen ihren Lebensunterhalt finanzieren. Auch Dawit Shanko hat sich so neben der Schule etwas dazu ver-dient. Nach Deutschland kam er als 17-Jähriger mit einem Stipendium.

»Der Verein Listros möchte die Sicht auf Äthiopien in eine positivere Richtung lenken«, beschreibt der 46-Jährige sein Ziel. »Außerdem sollen die Schuhputzer für ihre harte Arbeit Anerkennung erhalten, unterstützt werden und genauso als Zukunft Äthiopiens angesehen werden wie die so genannte Elite.« Obwohl die jungen Schuhputzer zum alltäglichen Stra-ßenbild in Addis Abeba gehörten, sei ihr Dasein von Vorur-teilen und einem Leben am Rande der Gesellschaft geprägt. Listros engagiert seit einigen Jahren Mentoren, die in zehn Schulen den Schülern helfen, Arbeit und Lernen miteinander zu vereinbaren.

Während der Verein vor Ort in Äthiopien mit lokalen Akteuren arbeitet, konzentriert sich die Galerie in Berlin auf Kunst mit afrikanischem Kontext. Christophe Ndabananiye nutzte diese Ausrichtung. Der 36-Jährige ist wissenschaft-licher Mitarbeiter in der Abteilung Kunst Afrikas am kunst-historischen Institut der Freien Universität Berlin. Christophe kommt aus Ruanda; dort hat er in der Hauptstadt Kigali an ei-ner Kunstschule studiert. Nach dem Genozid der Hutu an den Tutsi im Jahr 1994 verließ er das Land, kam nach Deutsch-land und begann, freie Kunst in Saarbrücken zu studieren. Unter dem Titel »Überreste« zeigt er in der Galerie nun Fo-

tografien und mit Bootslack gemalte Bilder aus Ruanda. »2011 bin ich ein weiteres Mal nach Ruanda zurückgekehrt«, berichtet er. »Meine Werke handeln von den Eindrücken und Erlebnissen dieses Besuchs.« Die Arbeit mit Bootslack gebe ihm die Möglichkeit, Veränderung darzustellen. Der Lack verändert sich, er arbeitet weiter und zeigt so den Prozess der Alterung in den Gesichtern. Inspiriert haben ihn die Menschen, Städte und die Kunst Ruandas. »Es ist auch eine Spurensuche nach Vergangenheit, um die Gegenwart zu gestalten«, sagt Christophe. Ihre afrikanischen Wur-zeln verbinden Christophe und die neun anderen Künstler der Reihe »Von dort bis hier«. Sie thematisieren in ihren Werken ihr Leben in Deutschland, die eigene Herkunft und ihre persönli-chen Erfahrungen in den jeweiligen Kulturen. Sie wollen zum Nachden-ken anregen und eine Brücke bau-en - von hier nach dort.

Hinweis: Eine der Autorinnen ar-beitet in der Galerie Listros. An der beschriebenen Ausstellung ist sie nicht beteiligt.

Kunst aus der BoxEine Berliner Galerie macht auf die Lebensbedingungen von jungen Schuhputzern in Äthiopien aufmerksam. Auch ein Mitarbeiter der FU stellt aus. Von Inga Stange und Julia Brakel

Am besten, Sie schreiben sich auch bei uns ein.Unser Einsteigermodell – das VR-StartKonto:- mit Guthabenverzinsung- mit BankCard und InternetBanking- mit Dispo (ab 18 Jahre, einwandfreie Bonität)

Die Wunschbild BankCard! Machen Sie sich Ihre ganz persönlicheBankCard. Mehr Infos unter www.berliner-volksbank.de

Wir beraten Sie gern. Besuchen Sie uns in unserer Filiale inDahlem oder vereinbaren Sie tele-fonisch einen Termin unter 30 6 30.

Adresse: Filiale DahlemKönigin-Luise-Straße 4414195 Berlin

Mieze Mustermann

Max Mustermann

Unzählige Schuhputzkis-ten wie diese zeigt die Galerie »Listros« in der

Kurfürstenstraße

32 Kultur

Page 33: FURIOS 10 – Lebensläufe

Künstler-, Bastel und

Handarbeitsartikel

in großer Auswahl

Im KaDeWePassauer Straße 1 – 3Mo – Do 10.00 – 20.00 UhrFr 10.00 – 21.00 UhrSa 9.30 – 20.00 Uhrt 030 . 21 23 56 15

Im Kant-CenterWilmersdorfer Straße 108 – 111Mo – Sa 10.00 – 20.00 Uhrt 030 . 31 99 70 35

www.idee-shop.de

Furios-Berlin-16-04-13.indd 1 16.04.2013 15:34:37

Wir sind großartig. Aber andere machen auch schöne Sachen. An dieser Stelle pflücken wir die besten Rubriken im Blätterwald und füllen sie mit unseren Inhalten. Folge III: »Post von Wagner«, »Bild-Zeitung«

POST VON FlOriaNMaTThiaS WagNer

Liebe ZEIT-Campus-Redaktion,

ich mochte Euch. Bis vor kur-zem zumindest. Bis ich vor wenigen Wochen Eure aktuelle Ausgabe aus dem Briefkasten gefingert habe. Eine gutaussehende Frau mit scheuem Blick schaute vom Cover zu mir hoch. Frauen mögen mich. Dann wanderten meine Augen zu der Schlagzeile, die Ihr neben ihr hübsches Gesicht gesetzt habt. Und mir blieb fast mein Doppelkorn im Rachen stecken! Ich musste husten! »Leben statt Lebenslauf!« Warum macht Ihr das immer? Warum müsst Ihr uns immer das Titelthema klauen?Ich weiß genau: Euch läuft stets das Wasser in den Backenta-schen zusammen, wenn Euch der FURIOS-Maulwurf mal wieder das geheime nächste Titelthema durchfaxt. Als wir 2011 über Geld schrie-ben, da wart Ihr mit der Ausgabe

03/12 noch einen Tick zu lang-sam. Ihr seid schneller geworden.Dieses Mal hatten wir uns schon im Januar auf das Thema »Lebensläufe« für unser Heft festgelegt – und dann habt Ihr abgeschrieben! Genau so wie Guttenberg! Ihr seid gewisserma-ßen die Guttenbergs des Campus-journalismus! Pfui! Schämt Euch, ZEIT Campus! Schämt Euch!

Das Geld für mein Abo werde ich in Zukunft sparen. Davon kaufe ich mir lieber Korn. Korn macht mich betrunken. Ihr nicht.

Herzlichst,

Ihr Florian Matthias Wagner

Am besten, Sie schreiben sich auch bei uns ein.Unser Einsteigermodell – das VR-StartKonto:- mit Guthabenverzinsung- mit BankCard und InternetBanking- mit Dispo (ab 18 Jahre, einwandfreie Bonität)

Die Wunschbild BankCard! Machen Sie sich Ihre ganz persönlicheBankCard. Mehr Infos unter www.berliner-volksbank.de

Wir beraten Sie gern. Besuchen Sie uns in unserer Filiale inDahlem oder vereinbaren Sie tele-fonisch einen Termin unter 30 6 30.

Adresse: Filiale DahlemKönigin-Luise-Straße 4414195 Berlin

Mieze Mustermann

Max Mustermann

Page 34: FURIOS 10 – Lebensläufe

34 Wissenschaft

Hans Brittnacher braucht keine schlaue Software, um Plagiate zu finden. Wenn eine Hausarbeit auf den ersten Seiten vor Grammatikfehlern strotzt

und dann drei Seiten makelloser Prosa folgen; wenn eine Ortsangabe in der Fußnote blau und unterstrichen ist; oder wenn zwei Studierende eine komplett identische Hausarbeit abgeben – dann erkennt er die Kopie auch mit bloßem Auge.

Brittnacher ist Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Freien Universität. Er hat schon einige Betrugsver-suche gesehen – in Master- und Bachelorarbeiten. In einer Doktorarbeit aber noch nie. Während ganz Deutschland immer wieder medienwirksam über neue Plagiatsskandale bei Promotionen diskutiert, weiß Brittnacher: Die wichtigen Probleme des wissenschaftlichen Arbeitens von Dokto-randen sind nicht die Plagiate – sie liegen ganz woanders. Etwa bei der Betreuung: Für 21 Doktoranden ist Brittnacher zurzeit verantwortlich. Zu viele? »Es ist zumindest grenz-wertig«, sagt er. »Aber wenn ich es nicht mache, macht es keiner.«

Denn nicht jeder Professor ist bereit, Doktorarbeiten zu übernehmen. Der Grund: Für das Betreuen eines Doktoran-den gibt es kein Geld. Wer promoviert, steht am Ende der universitären Nahrungskette. Unter dem Geldmangel leidet

aber nicht nur die Betreuung, sondern auch das Portemon-naie der Promovierenden. Wissenschaftliche Mitarbeiter an Lehrstühlen haben meist nur eine halbe Stelle, laut Vertrag knapp zwanzig Stunden pro Woche. De facto arbeiten drei Viertel von ihnen 40 Stunden und mehr. Dafür bekommen sie brutto je nach Dauer der Beschäftigung 1100 bis 1300 Euro.

Christof Mauersberger und Frithjof Stöppler sind nach ihrem Master dennoch im Unibetrieb geblieben. Mauers-berger promoviert in Internationaler Politischer Ökonomie (IPÖ) am Otto-Suhr-Institut, Stöppler über Unternehmens-netzwerke am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft. Beide haben eine halbe Stelle, glücklich schätzen sie sich trotzdem.

Stöppler ist Anfang 30. Begonnen hat er seine Promo-tion 2008 in einem Graduiertenkolleg. Diese Schulen sind stärker strukturiert als eine Individualpromotion. Mit ge-meinsamen Kursen und Forschungen ähnelt diese Promoti-onsform einem fortgesetzten Studium. »Das System bietet viele Vorteile«, sagt Stöppler. So gebe es statt eines Betreu-ers ganze Betreuungsteams. »Ein einzelner Professor kann schließlich nicht in allen Themen ein Experte sein.« Doch auch an den Graduiertenschulen ist die Förderung ein Pro-blem: Die Promovierenden haben keinen arbeitsrechtlichen

Copy, Paste und die wirklichen ProblemeWo über Doktorarbeiten geredet wird, ist eine Plagiatsdebatte nicht weit. Dabei haben Promovierende ganz andere Probleme. Von Valerie Schönian

Page 35: FURIOS 10 – Lebensläufe

35

Schutz, da die Stipendien eine Schenkung sind. Wer Pech hat, bekommt nach einem Jahr einfach keinen Anschluss-vertrag. Meistens würden die Stipendien zwar fortgesetzt, sagt Stöppler. »Aber krank werden kann man sich nicht leis-ten.« Denn die Finanzierung werde nicht verlängert – »wenn dir ein halbes Jahr fehlt, fehlt es.«

Stöppler ist nach drei Jahren im Graduiertenkolleg seit 2011 am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft angestellt. In seinem fünften Promotionsjahr hat er den fünften Vertrag mit der FU. Für ihn waren das fünf Mal Hoffen und Bangen, ob er sich im kommenden Jahr noch finanzieren kann. Er sagt, er hatte Glück: »Ich kenne Doktoranden, die hatten in vier Jahren zehn verschiedene Verträge.«

Mauersberger promoviert am Lehrstuhl IPÖ über Me-dienregulierung in Lateinamerika. Er geht also den klassi-schen Weg der Individualpromotion. Fragt man ihn nach seiner persönlichen Situation, kommt er ins Schwärmen: »Ich kann zu einem Thema forschen, das mich interessiert und werde dafür bezahlt.« Ihm gefällt die Kombination aus Lehre und Forschung. Und er mag die Freiheiten einer Indi-vidualpromotion. Seine Betreuerin unterstütze ihn, fordere, aber überlaste ihn nicht.

Fragt man ihn jedoch nach den strukturellen Bedin-gungen, klingt sein Urteil anders. Wer frisch von der Uni komme wie er, freue sich über das Gehalt. »Aber ich kenne genug Leute, die eine Familie gründen wollen oder keine günstige Wohnung haben – dann kann es knapp werden.«

Auch die Perspektiven der Nachwuchswissenschaftler sind nicht rosig. »Unbefristete Stellen haben nur die Profes-soren«, sagt Mauersberger. »Alle anderen erhalten Zeitver-träge und hoffen, dass irgendwann irgendwo eine Professur ausgeschrieben wird, die nicht schon intern vergeben ist.«

Nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz dürfen wis-senschaftliche Mitarbeiter, die nicht durch Drittmittel finan-ziert werden, maximal sechs Jahre lang auf Basis befristeter Verträge arbeiten. Dann müssten sie unbefristet angestellt werden – theoretisch. Praktisch müssen viele vorher, spä-testens aber dann, gehen. Ihre größte Hoffnung: Weiter an der Uni als Juniorprofessor arbeiten – wieder befristet.

»Du bist promoviert, Anfang 30 und willst eine Fami-lie gründen. Und du weißt: Es wird nicht besser, sondern schlimmer«, beklagt sich Stöppler. Ein Witz unter Doktoran-den geht so: »Und, was machst du, wenn du fertig bist?« Antwort: »Anderer Job oder anderes Land.«

Wer in Deutschland im Wissenschaftsbetrieb arbeiten will, hat Überstunden ohne Ende, dazu Geldsorgen und un-sichere Zukunftsaussichten. Wozu all diese Faktoren im Zu-sammenspiel führen ist absehbar und hat sogar schon einen Namen: »Brain Drain« – das Abwandern qualifizierter Ar-beitskräfte ins Ausland, wo sie besser bezahlt werden und eine Perspektive haben. »Und das fängt gerade erst an – im großen Stil«, sagt Stöppler.

Er selbst will in der Wissenschaft bleiben. Er weiß, dass er dafür regional sehr flexibel sein muss. Trotzdem: »Es ist der Job, in dem du dich am besten selbst verwirklichen kannst.« Professor Brittnacher nennt das »pädagogischen

Idealismus.« Der Impuls dabei: die Wissenschaft voran brin-gen und sie anderen Menschen vermitteln.

Die meisten Doktoranden besitzen diesen Idealismus, vor allem in den Geisteswissenschaften, wo der Nutzen eines solchen Titels fraglich ist. Promovierende, denen es um die Wissenschaft geht, plagiieren nicht. Deswegen trifft es sie, wenn einige »Titelhascher« den Ruf des Doktors be-schädigen. »Wir Wissenschaftler besitzen nicht viel«, sagt Professor Brittnacher. »Ich habe nur meine Redlichkeit und mein intellektuelles Kapital.« Das werde ihm durch Plagiats-skandale genommen.

Insofern hatte sogar die Causa Guttenberg und die jüngste Debatte um FU-Honorarprofessorin Anette Scha-van ihr Gutes: Das Plagiieren ist eine zu ahndende Straftat geworden – es ist Diebstahl. Aber vielleicht ist jetzt der rich-tige Zeitpunkt gekommen, um auf die alltäglichen Sorgen der Doktoranden um Arbeit und Zukunft aufmerksam zu machen.

Valerie Schönian würde niemals eine Doktorarbeitschreiben. Sie braucht schon für ihre Hausarbeiten Jahre.

Illustration: Robin Kowalewsky

Proband sein bei Parexel!HEUTE FÜR DIE MEDIZIN VON MORGEN.PAREXEL ist das führende Auftragsforschungsinstitut in Berlin mit mehr als 30 Jahren Erfahrung in der Arzneimittelforschung.

Gesunde Frauen und Männer gesucht

Wir suchen ständig für kurz- und langstationäre Studien:Gesunde Frauen und Männer ab 18 Jahre Nichtraucher und leichte Raucher bis 5 Zigaretten/Tag.

Selbstverständlich werden Sie während der gesamten Studie umfassend medizinisch betreut.

Für die Studienteilnahme erhalten Sie ein

sehr gutes Honorar.Sie erreichen uns unter:

030 306 853 61 oder 0800 1000 376*(* gebührenfrei, Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr)

Oder Sie besuchen uns im Internet:

www.probandsein.de

Wissenschaft

Page 36: FURIOS 10 – Lebensläufe

36 Wissenschaft

Ein monotones Brummen irritiert das Trommelfell. Dann steigt die Pilzwolke auf. Obwohl ihr Anblick ei-gentlich bekannt ist, schockiert sie: die Atombombe.

Ein Film über sie ist derzeit im Rahmen der Ausstellung »The Whole Earth« im Haus der Kulturen der Welt zu sehen. Die Atombombe ist vielleicht das beste Zeugnis davon, wie der Mensch Natur und Umwelt beeinflusst hat.

Im »Anthropozän« ist der Mensch der wichtigste Ein-flussfaktor auf unserem Planeten. Der Begriff stammt von dem Nobelpreisträger für Chemie, Paul Crutzen. Er schlug vor, das Anthropozän als Nachfolge-Erdzeitalter des Holo-

zäns einzuführen, das vor mehr als 11 000 Jahren begann. Es wäre wahrhaft der Beginn einer neuen Erd-Epoche. 2017 soll die »International Commission on Stratigraphy« über den Vorschlag entscheiden.

Im Haus der Kulturen der Welt diskutieren Wissen-schaftler und Künstler im Rahmen des »Anthropozän-Projekts« darüber, was die Einführung des Begriffes für die Gesellschaft bedeuten würde. Die Ausstellung »The Whole Earth« ist Teil einer zweijährigen Reihe von Konferenzen und Ausstellungen.

Auch an der Freien Universität denkt man bereits über das neue Zeitalter nach. Reinhold Leinfelder, Profes-sor für Paläontologie und Geobiologie an der FU, sitzt im Leitungsteam des Anthropozän-Projekts. In seinem hellen Arbeitszimmer auf dem Campus Lankwitz erläutert er die Relevanz des Begriffes »Anthropozän«.

»Bereits 77 Prozent der eisfreien Erde sind vom Men-schen so benutzt worden, dass sie nicht mehr als Urnatur

bezeichnet werden können«, sagt Leinfelder. Der Einfluss des Menschen sei nicht mehr wegzudenken, geschweige denn zu widerrufen. Das Anthropozän bedeute für ihn auch ein systematisches Umdenken: Die Trennung zwischen Mensch und Natur werde aufgehoben.

Die Macht, die der Mensch über die Natur ausübt, kön-ne »ins Positive gedreht werden«, sagt Leinfelder. Dabei gehe es nicht darum die Erde komplett nach unserem Wil-len zu gestalten, sondern anzuerkennen, dass sie ein komplexes System ist und es viele Umwelt-probleme keine einfachen Lösungen gibt. Er

plädiert für das »Vorsorgeprinzip«: Der Mensch soll Räume schaffen, in denen die Natur sich erholen kann.

Was die Vorsorge an der FU betrifft, platzt Leinfelder geradezu vor Ideen: Er möchte ein Urban-Gardening-Pro-jekt starten, an dem sich Studierende beteiligen können. Auch ist er im Gespräch über den Aufbau einer interdiszi-plinären Anthropozän-Arbeitsgruppe, die zu dem Thema lehren und forschen soll. Die institutionellen Hindernisse entmutigen ihn nicht: «Ich bin inzwischen an meiner fünften Universität. Ich gebe da nicht so schnell auf.« Das ist der Geist des Zeitalters: Der Mensch gestaltet seine Welt.

Der Mensch macht EpocheStrände aus Plastik, Fleisch aus dem Labor – Geologen fragen sich nun, ob es genügend Gründe gibt, ein neues Zeitalter auszurufen: das Anthropozän, das Zeitalter der Men-schen. Von Fan Ye und Josta van Bockxmeer

Fan Ye und Josta van Bockxmeer freuen sich schon darauf, im Unigarten ihre eige-nen Kartoffeln anzubauen.

Illustration: Luise Schricker

Page 37: FURIOS 10 – Lebensläufe

Moderne Städte wie Berlin sind heute 24 Stunden lang hell erleuchtet. Mit der Erfindung der Glühbir-ne hat der Mensch die Nacht erobert, gleichzeitig

aber auch eine neue Art der Umweltverschmutzung erfun-den: Lichtverschmutzung. Der kanadische Physiker Christo-pher Kyba untersucht am Institut für Meteorologie der FU, wie sich die künstliche Aufhellung des Nachthimmels auf den Menschen und seine Umwelt auswirkt.

Die Erforschung der Lichtverschmutzung steckt noch in den Kinderschuhen, doch es gibt viele Hinweise darauf, dass die Wissenschaftler hier auf ein gewichtiges Problem gestoßen sind. Ein Beispiel ist der Einfluss der Dauerhel-ligkeit auf den circadianen Rhythmus, die innere Uhr des Menschen: Bei Dunkelheit produziert unser Gehirn das Hor-mon Melatonin. Dieser körpereigene Müdemacher sorgt dafür, dass wir einschlafen. Das ist wichtig, weil im Schlaf das Immunsystem den Körper repariert und so auch Krebs vorbeugt. Licht blockiert die Ausschüttung von Melatonin, hält uns wach und scheint auf diese Weise tatsächlich das Krebsrisiko zu erhöhen. »Es gibt einen mehr als starken Ver-dacht, dass Licht in der Nacht zu einem Anstieg von Brust-krebserkrankungen führt«, sagt Kyba.

Doch nicht nur die menschliche Gesundheit ist beein-trächtigt; die nächtliche Bestrahlung stört auch Tiere und Pflanzen. Nachtaktive Lebewesen sind ohne den Schutz der Dunkelheit ihren natürlichen Feinden ausgeliefert.

Das Problem ist in der Bevölkerung noch weitgehend unbekannt. Auch deshalb ist es eines von Christoph Kybas Hauptanliegen, Nicht-Wissenschaftler in die Forschung einzubeziehen. Mit seinem Projekt »Skyglow Berlin« möchte Kyba zusammen mit Schülern aus Berlin und Brandenburg die Helligkeit des Nachthimmels messen. Die Schüler er-halten tragbare Lichtmessgeräte, mit denen sie nachts ins

Freie gehen und die Lichtbelastung dokumentieren. Auf diese Weise sollen sie nicht nur für das Problem sensibi-lisiert werden, sondern auch praktische Erfahrung in wis-senschaftlicher Feldforschung sammeln. »Mit etwas Glück werden einige dieser Schüler später zu Lichtdesignern, Ast-ronomen oder Biologen«, hofft Kyba. Die ermittelten Daten werden über eine Onlineplattform Wissenschaftlern und in-teressierten Personen weltweit zur Verfügung gestellt.

Finanziert wird das Projekt durch Crowdfunding im In-ternet – also nicht durch eingeworbene Drittmittel aus der Industrie, sondern durch eine interessierte Öffentlichkeit. Bis zum 10. Juni müssen mindestens 5000 Euro eingegan-gen sein. Mit dieser Summe könnten vier Schulen einge-bunden und 20 Lichtmessgeräte angeschafft werden. Mo-mentan sucht der FU-Forscher nach Partnerschulen, die an dem Projekt teilnehmen wollen. Mit seiner unkonventionel-len Art der Finanzierung geht er allerdings ein hohes Risiko ein. Wird der erforderliche Betrag nicht erreicht, wären alle Mühen umsonst gewesen.

Um die Lichtverschmutzung zu minimieren, so Kyba, müsste Licht sinnvoller eingesetzt werden. So ließe sich die Verschwendung etwa verringern, indem man große Leuchtreklamen in der Nacht abstellt. Eine düstere Zukunft schwebt Kyba dabei nicht vor. Wohl aber ein kluger Einsatz der Leuchtmittel, mit denen wir die Nacht erobert haben.

Zurück zur NachtDie Dauerbeleuchtung in Städten wirkt sich negativ auf Mensch und Umwelt aus. Gemeinsam mit Schülern will der Physiker Christopher Kyba das Problem angehen. Von Francis Laugstien

Francis Laugstien geht nachts joggen. Natür-lichen Feinden ist er bis jetzt zum Glück noch nicht begegnet.

Berlin bei Nacht: ESA/NASA (André Kuipers)Nachthimmel und Bearbeitung: Christoph Spiegel

Berlin bei Nacht ist alles andere als dunkel. Sogar die Teilung der Haupt-

stadt ist auf dieser Aufnahme von der Internationalen Raumstation

noch erkennbar – im Osten leuchten die Laternen in einer anderen Farbe

als im Westteil der Stadt

37Wissenschaft

Page 38: FURIOS 10 – Lebensläufe

38 Der empörte Student

der empörte student

Guten Morgen liebe Frühaufsteher,wisst ihr, ich bin ein umgänglicher

Mensch – von mittags bis abends. Mor-gens brauche ich aber einfach meine Ruhe. Der Wecker klingelt einmal, zweimal, drei-mal und mit jedem Mal sinkt meine Laune. Wenn ich dann aus dem Bett krieche und in die Küche schlurfe – die Schrecken des an-stehenden Tages schon vor Augen – bin ich sowieso schon spät dran und habe keinen Nerv für ausführliche Zwiegespräche mit dir, liebe Mitbewohnerin.

Du hast erst in zwei Stunden Uni, konn-test aber seit sechs Uhr nicht mehr schlafen? Das Leben ist ungerecht und ich fühle mit dir. Das bedeutet aber nicht, dass ich jetzt die Zusammenfassung der vergangenen 16 Stunden deines Daseins hören will. In denen ist nämlich erstaunlich viel Nichts passiert.

Nachdem du fünf Minuten lang mit der verschlossenen Badtür gesprochen hast, hinter der ich mich zwischendurch ver-schanzt habe, ist wohl auch dir klar gewor-den, dass ich deine Ausführungen nur mäßig spannend finde. Zur Strafe für mein Desinte-resse erinnerst du mich süffisant daran, dass ich heute noch bei unserem Vermieter an-rufen soll, um meinen verlorenen Schlüssel nachmachen zu lassen. Danke! Darf ich viel-leicht erst einmal richtig die Augen öffnen, ehe du mir ein schlechtes Gewissen machst?

Am U-Bahnsteig steht mir dann das nächste Treffen bevor, diesmal mit dir, mein quirliger Frühaufsteher-Kommilitone. Ich habe schon in den ersten Wochen unseres Studiums beschlossen, deine Existenz zwar zu akzeptieren, nicht jedoch zu beachten. Eigentlich dachte ich immer, dass dieses Ge-fühl auf Gegenseitigkeit beruht. Aber heute

ist es früh, du bist allein am Bahnsteig und brauchst offensichtlich jemanden, dem du dein übervolles Herz ausschütten kannst.

Selbstverständlich ergehst auch du dich ausschließlich in Belanglosigkeiten. Glaube ich jedenfalls. Nach dem dritten Satz habe ich aufgehört zuzuhören. Alles, was mich davon abhält jetzt in der Bahn einzudösen, ist meine anerzogene Höflichkeit und deine unangenehm quiekende Stimme, die jedes zweite Wort betont als würde es die Welt bedeuten.

Als die U-Bahn schließlich am Bahnhof Dahlem-Dorf ankommt, wartet dort das nächste Ärgernis. Das seid ihr, liebe Baumtöter vom U-Bahnausgang. Den fünf Kilo Totholz, die ihr mir in die Hand drückt, entnimmt mein weiches Hirn Folgendes: Ich soll eine Zeitung abonnieren, die Welt retten, den Henry-Ford-Bau besetzen und irgendein neo-liberales Campusmagazin lesen. Leider bin ich nicht Chamäleon genug, um euren geschulten Blicken zu entgehen. Und eine schlagfertige Entgegnung auf eure dubiosen Angebote wird mir auch erst in einer halben Stunde einfallen. Wehrlos nehme ich alles entgegen.

Ich habe nichts gegen euch alle. Wirklich nicht. Aber könnt ihr euch nicht einfach für die erste Stunde, nach-dem ich aufgestanden bin, kollektiv in Luft auflösen? Wenn es gar nicht anders geht, dürft ihr danach auch wieder materi-alisieren. Dann werde ich mit blanken Au-gen deinen Ausführungen lauschen, liebe Mitbewohnerin, glaubwürdig Interesse an deiner Existenz heucheln, lieber Kommilito-

ne und euch geben, was ihr verdient, liebe Zeitungswegelagerer.

Nur morgens hätte ich gerne meine Ruhe. Klar? Denn so, wie es jetzt abläuft, laugt mich der Weg zur Uni regelrecht aus. Dann komme ich in meiner Vorlesung an – und muss mich erstmal erholen. Indem ich in der ersten Stunde selig schlummere.

Illustration: Robin Kowalewsky

Morgenstund hat Gold im Mund? Nicht für Max Krause. Er würde morgens lieber ein paar unflätige Beschimpfungen in den Mund nehmen – wenn er nur nicht so müde wäre.

FUR

IOS

10 IM

PRES

SUM topher Hirsch, Robin Kowalewsky, Friederike Oertel,

Luise Schricker, Christoph Spiegel, Clara StraessleLektorat: Lisa EbinghausInserate: Katharina Fiedler, Fabian Hinsenkamp ISSN: 2191-6047

[email protected]

Jeder Autor ist im Sinne des Pressegesetzes für den Inhalt seines Artikels selbst verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansicht der Redaktion wider. Gemäß dem Urheberrecht liegen die Rechte an den einzelnen Werken bei den jeweiligen Autoren.

Knuth, Max Krause, Ines Küster, Francis Laugstien, Vanessa Ly, Kirstin MacLeod, Helena Moser, Friede-rike Oertel, Lisa Paul, Ute Rekers, Thomas Rostek, Tycho Schildbach, Florian Schmidt, Valerie Schönian, Mareike-Vic Schreiber, Maik Siegel, Bente Staack, Inga Stange, Björn Stephan, Veronika Völlinger, Frie-derike Werner, Fan YeFotografien: Cora-Mae Gregorschewski, Christo-pher Hirsch, Christoph SpiegelTitelgestaltung: Christopher Hirsch, Robin Kowa-lewsky, Friederike Oertel, Luise Schricker, Christoph SpiegelAutorenfotografien: Cora-Mae Gregorschewski, Christoph SpiegelIllustrationen: Cora-Mae Gregorschewski, Chris-

Herausgeber: Freundeskreis Furios e.V. i.G.Chefredakteur: Florian Schmidt (V.i.S.d.P, Freie Universität Berlin, JK 26/222a, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin)Stellv. Chefredakteurin: Veronika Völlinger Ressortleitung: Max Krause und Valerie Schönian (Politik), Katharina Fiedler (Campus),Kirstin Mac-Leod (Kultur), Matthias Bolsinger (Wissenschaft)Layout: Christopher Hirsch und Christoph SpiegelChef vom Dienst: Fabian HinsenkampRedaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe:Laura Bertram, Mara Bierbach, Josta van Bockx-meer, Melanie Böff, Matthias Bolsinger, Julia Brakel, Isabelle Caps-Kuhn, Rebecca Eickfeld, Katharina Fied-ler, Margarethe Gallersdörfer, Fanny Gruhl, Hannah

Page 39: FURIOS 10 – Lebensläufe

www.laser-line.de

OffsetdruckQualitativ hochwertigen Druck realisieren wir mit unserem leistungsstarken Maschi-nenpark von Heidelberg. Bis zum Bogen-format 72 x 102 cm, 80er-Raster, 5- und 4-farbig + Lack drucken wir schnell, zuver-lässig und brillant.

DigitaldruckDie Kombination von mehreren Maschinen unterschiedlicher Hersteller im Digitaldruck ist wohl einzigartig. So setzen wir jeden Wunsch wirtschaftlich um: Schnellste Fer-tigstellung, umfangreiche Personalisierung und kleine Auflagen.

VerarbeitungMit modernster Technik verarbeiten wir die Druckbogen zu Ihrem Produkt. Ob Lackieren, Cellophanieren, Schneiden, Fal-zen, Wire-O-Binden, Rillen, Perforieren, Kleben, Stanzen oder Prägen – Sie erhalten Full-Service aus einer Hand.

WerbetechnikWir bieten Ihnen ein breites Angebot an Formaten und Materialien für die Anwen-dung im Innen- und Außenbereich. Plakate, Displays, Leinwände und mehr produzieren wir auf unseren umweltfreundlichen Eco-Solvent-Druckern.

OnlineShopMillionen Produkte finden Sie im Online-Shop unter www.laser-line.de. Preiswert als Topseller/Specials und vielfältig im Indivi-dualdruck. Bestellen Sie einfach und schnell über den Onlinekalkulator und profitieren Sie vom automatischen Datencheck.

ServiceEilaufträge erhalten Sie im Sofort-Tarif innerhalb von 8 oder 24 Stunden. Im Bonusprogramm PRINT&MORE sammeln Sie mit jedem Auftrag Punkte für attraktive Prämien. Weiterbildung für die Grafik- und Druckbranche bietet Ihnen die LASERLINE ACADEMY.

Page 40: FURIOS 10 – Lebensläufe

Wir freuen uns auf Sie!

Die Ernst-Reuter-Gesellschaft ist der zentrale Förderverein der Freien Universität Berlin. Wir stärken die Freie Universität Berlin als unabhängige Stätte des freien Geistes und unterstützen sie ideell und materiell.Als Mitglied können Sie über Fach-grenzen und Studienzeit hinaus an Leben, Arbeit und Entwicklung der Freien Universität teilnehmen. Die ERG ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Spenden und Mitglieds-beiträge sind steuerlich absetzbar.

Einladungen zu Veranstaltungen der ERG und der FU

Zedat-Account mit E-Mail-Adresse

Magazin wir für die Ehemaligen

Mitarbeitertarif in der Mensa

Ermäßigung für die Gasthörer-Card

Ermäßigung auf die Jahreskarte des Botanischen Gartens

Kostenlose Kulturkarte der Freien Volksbühne Berlin für 1 Jahr

www.fu-berlin.de/erg

Alumni-Büro der Freien Universität Berlin

Sie haben an der Freien Universität Berlin studiert, geforscht, gelehrt oder gearbeitet? Sie wollen den Kontakt zu Ihrer alma mater nicht verlieren oder neu aufnehmen? Dann werden Sie Teil des Alumni-Netzwerks der Freien Universität Berlin.

Einladungen zu Veranstaltungen an der Freien Universität

aktuelle Informationen aus Wissenschaft, Forschung und Universitätsalltag

ermäßigte Teilnahme am Hochschulsport

www.fu-berlin.de/alumni

Im Rahmen Ihrer Mitgliedschaft erhalten Sie unter anderem:

(c) Freie Universität B

erlin

Ihre Vorteile der kostenfreien Anmel-dung im Alumni-Büro umfassen unter anderem:

furios2013_V2.indd 1 13.5.2013 16:13:33