218

Geheim Akte Y

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Geheim Akte Y
Page 2: Geheim Akte Y

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Brezina, Thomas: Die Knickerbocker-Bande Thomas Brezina. – Wien; Stuttgart: hpt-breitschopf

Geheimakte Y. – 1. Aufl. - 1996 ISBN 3-7004-3737-4

1. Auflage 1996 Illustrationen: Ulrich Reindl

Umschlagillustration: Atelier Bauch-Kiesel Umschlagfotografie: Michael Fantur

Lektorat: Wolfgang Astelbauer Satz und Repro: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrbach

Druck und Bindung: Ueberreuter Print Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

Die Fälle „Das Alptraumhaus“, „Rache aus dem Jenseits“, „Das Monstergift“ und „Hotel des Grauens“ sind bei hpt-breitschopf in gekürzter Form in englischer Sprache als „Alice in Horrorland“, „Horror in Hollywood“, „Who is Robin Horror?“ und „Welcome to Horror

Hotel“ erschienen und wurden für die vorliegende Ausgabe neu bearbeitet.

© hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG, Wien 1996 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe,

der Übersetzung und der Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten.

- 1 -

Page 3: Geheim Akte Y

Inhalt

.....................................................Seite 7

...................................................Seite 58

.................................................Seite 100

.................................................Seite 136

.................................................Seite 175

- 2 -

Page 4: Geheim Akte Y

Der Name KNICKERBOCKER BANDE… ...entstand in Österreich. Axel, Lilo, Poppi und Dominik waren

die Sieger eines Zeichenwettbewerbs. Eine Lederhosenfirma hatte Kinder aufgefordert, ausgeflippte und knallbunte Lederhosen zu entwerfen. Zum großen Schreck der Kinder wurden ihre Entwürfe aber verwirklicht, und bei der Preisverleihung mußten die vier ihre Lederhosen vorführen.

Dem Firmenmanager, der sich das ausgedacht hatte, spielten sie zum Ausgleich einen pfiffigen Streich. Als er bemerkte, daß er auf sie hereingefallen war, rief er den vier Kindern vor lauter Wut nach: „Ihr verflixte Knickerbocker-Bande!“

Axel, Lilo, Dominik und Poppi gefiel dieser Name so gut, daß sie sich ab sofort die Knickerbocker- Bande nannten.

KNICKERBOCKER MOTTO 1: Vier Knickerbocker lassen niemals locker!

KNICKERBOCKER MOTTO 2: Überall, wo wir nicht sollen, stecken wir die Schnüffelknollen,

sprich die Nasen, tief hinein, es könnte eine Spur ja sein.

scanned by: crazy2001 @ Dezember 2003 corrected by: stumpff

- 3 -

Page 5: Geheim Akte Y

Hallo, Detektivkollegen!

Unheimlich sind fast alle unsere Fälle. Aber einige Male haben wir es mit Vorgängen zu tun bekommen, die uns mehr als ein Rätsel aufgegeben haben.

Können manche Menschen tatsächlich mit außerirdischen Lebewesen Kontakt aufnehmen?

Warum beginnt eine Statue auf einmal zu sprechen, und wie wird aus einem harmlosen Gartenschlauch eine Schlange?

Ist es möglich, daß ein Verstorbener aus dem Jenseits zu­rückkehrt, um Rache zu üben?

Gibt es Gifte, von denen bisher niemand etwas geahnt hat? Ist der Spuk in dem alten Hotel vielleicht doch echt? Achtung: Du kannst bei unseren Ermittlungen mitmachen. Viel

Spaß und Spannung bei den fünf unheimlichen Fällen und den kniffligen Fallfragen.

Immer wenn Du auf eines der folgenden Zeichen triffst, ist Deine Mitarbeit gefragt.

- 4 -

Page 6: Geheim Akte Y

- 5 -

Page 7: Geheim Akte Y

Versuch, eine Antwort zu finden! Lies erst dann weiter! Ob Du mit Deiner Antwort richtig liegst, erfährst Du im Laufe der Nachforschungen.

Also dann: Bleib auf der Spur!

Wenn Du Fragen hast und uns schreiben willst, schick Deinen Brief an folgende Adresse:

Die Knickerbocker-Bande Postfach 71

A-1096 Wien

- 6 -

Page 8: Geheim Akte Y

- 7 -

Page 9: Geheim Akte Y

Grelles Licht

Ein gleichmäßiges Surren drang langsam in Axels Bewußtsein. Es schien von weither zu kommen. Es hörte sich so gleichmäßig an wie eine Nähmaschine, die unermüdlich lief.

Selbst durch die geschlossenen Lider spürte Axel das grelle Licht. Der Raum, in dem er sich befand, mußte hell erleuchtet sein.

Langsam öffnete er die Augen, machte sie aber sofort wieder zu. Das Licht war noch viel greller, als er erwartet hatte. Mehrere Lampen waren auf ihn gerichtet, die ein besonders starkes, besonders kaltes Licht gaben.

„Los, mach die Augen auf! Du mußt herausfinden, wo du bist!“ sagte der Knickerbocker zu sich.

Doch er schaffte es nicht. Das Licht blendete ihn zu stark. Also begann er zu tasten. Seine Finger berührten kühles Metall.

Nur an der Stelle, wo sein Körper auflag, war es etwas wärmer. Axel lag auf einer Art Tisch. Er konnte die Kante spüren. „Aufstehen, du mußt aufstehen!“ dachte er. Leicht gesagt! Obwohl er weder gefesselt noch an die

Metallplatte geschnallt war, konnte er sich nicht bewegen. Seine Arme und Beine schienen tonnenschwer zu sein. Es gelang ihm nicht, sie zu heben.

Mehrere Versuche, sich aufzurichten, schlugen fehl. Auch sein Oberkörper schien das Gewicht eines Elefanten zu haben. Endlich brachte er die Augen auf. Er blinzelte zwischen den Wimpern durch und drehte den Kopf nach links und nach rechts.

Es war unmöglich, etwas zu erkennen. Er war umgeben von grellem Licht.

„Ich bin tot“, murmelte Axel. Er hatte vor einiger Zeit einen Bericht über Menschen gelesen,

die dem Tod schon ins Auge gesehen hatten. Allen war ein helles Licht in Erinnerung, das sich auf sie zu bewegt hatte. Manche hat­ten das Gefühl gehabt, in einen Tunnel gesogen zu werden, und hatten große Wärme verspürt.

- 8 -

Page 10: Geheim Akte Y

„Ich bin nicht tot!“ war Axels nächster Gedanke. In dem Raum, in dem er lag, war es nämlich nicht warm, sondern kühl – sehr kühl sogar.

Axel öffnete den Mund und versuchte zu rufen. Doch er brachte keinen Ton heraus.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als dazuliegen und zu warten. Wenn er sich nur an irgend etwas erinnern könnte! Weshalb war er nicht zu Hause? Warum war er nicht bei seinen Knickerbocker-Freunden? Wie war er auf diesen Tisch gekommen?

Nichts. Sein Gedächtnis war wie ein weißes Blatt Papier. Halt! Das stimmte doch gar nicht! Er konnte sich nur an die

letzten Tage nicht erinnern – an die Zeit davor schon. Er wußte auch, wie er hieß, was seine Hobbys und wer seine Freunde waren.

Links von Axel zischte es. Es hörte sich an wie eine Schiebetür. Schritte kamen auf ihn zu. Axel drehte den Kopf. Ein riesiger Schatten tauchte auf. Es war der Schatten eines

Menschen mit einem merkwürdig flachen, aber sehr breiten Kopf, der zwei beulenförmige Aufsätze hatte.

Die Gestalt schien sehr schmächtig zu sein; von Armen und Beinen war kaum etwas zu erkennen.

Der Schatten kam näher und blieb direkt neben ihm stehen. Nun konnte Axel den Unbekannten sehen. Er war aus dem Licht getre­ten und wurde von den zahlreichen Leuchten angestrahlt.

„Nein... nein... das gibt es nicht! Nein! Das kann nur ein Traum sein!“ stöhnte Axel.

Aber es war kein Traum. Die Erscheinung war wirklich – eben­so wirklich wie seine Regungslosigkeit.

Allmählich fiel Axel nun ein, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte...

- 9 -

Page 11: Geheim Akte Y

Ein silberfarbener Umschlag

Drei Tage zuvor hatte keiner der Knickerbocker-Freunde geahnt, was auf sie zukommen würde.

Sie waren am frühen Nachmittag in Salzburg am Bahnhof angekommen. Dort sollten sie von Axels Vater abgeholt und an den Wolfgangsee gebracht werden.

Herr Klingmeier hatte beruflich viel in dieser Gegend zu tun und deshalb ein kleines Häuschen gemietet. Es lag in einem ver­wilderten Garten direkt am Ufer des Sees und war urgemütlich.

Axels Eltern waren geschieden, und sein Vater hatte meistens ein schlechtes Gewissen, weil er sich zu wenig um Axel kümmer­te. Deshalb hatte er auch nie etwas dagegen, wenn Axel seine Knickerbocker-Freunde mitbrachte.

Als die vier Junior-Detektive aus dem Zug stiegen, war von Herrn Klingmeier weit und breit nichts zu sehen. Sie gingen den Bahnsteig entlang bis zu den Treppen der Unterführung.

Kein Herr Klingmeier. „Der gute Mann wird wieder einmal einen wichtigen Geschäfts­

termin gehabt haben! Wenn es um die Zufriedenheit seiner Kunden geht, vergißt er alles andere. Geschäft ist eben Geschäft“, sagte Axel bitter.

„Reg dich ab! So ist er eben. Hauptsache, wir haben ein paar tolle Tage am See!“ meinte Lieselotte.

Sie schnappten die Rucksäcke und gingen in die Bahnhofshalle. Da Axels Vater auch dort nicht auf sie wartete, stellten sie sich vor den Haupteingang.

Die Minuten verstrichen, aber Herr Klingmeier tauchte nicht auf.

Vor dem Haupteingang durften nur Taxis halten. Da viele das Verbot nicht beachteten, stand in der Nähe ein Abschleppwagen bereit.

Mit quietschenden Reifen blieb ein kleiner grüner Wagen stehen. Das Auto war bestimmt schon ziemlich alt.

- 10 -

Page 12: Geheim Akte Y

Eine junge Frau sprang heraus. Sie trug Reithosen, Stiefel und ein helles T-Shirt und war ziemlich verschwitzt. Das T-Shirt klebte an ihrem Körper und hatte mehrere bräunliche Flecken.

„Igitt, wie sieht denn die aus?“ sagte Dominik naserümpfend. „Wenn sie so riecht, wie sie aussieht, kann man sie als Stink­

bombe einsetzen!“ meinte Poppi kichernd. Die Frau hielt einen kleinen silberfarbenen Umschlag in der

Hand. Sie blickte sich suchend um und schloß den Wagen ab. Mit großen Schritten eilte sie auf das Haupttor zu.

Der Abschleppwagen setzte sich bereits in Bewegung. „He, Sie! Vorsicht! Die wollen Ihr Auto abschleppen!“ warnte

Axel und zeigte auf den heranrollenden Wagen. „Die spinnen hier!“ knurrte die Frau. „Die Parkplätze sind

entweder voll oder kilometerweit entfernt. Ich muß das jemandem bringen, dessen Zug in zwei Minuten abfährt.“

Sie überlegte kurz und sagte dann: „Paßt auf, könntet ihr das nicht für mich machen?“

„Für wen ist der Umschlag?“ fragte Axel. Die Frau zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich selbst nicht.

Ich mache das nur aus Gefälligkeit. Ein guter Freund hat mich darum gebeten. Wie sind miteinander ausgeritten, und als wir auf den Hof zurückgekommen sind, hat er gesagt: ‚Ricarda, Schätz­chen, bitte bring Willi das! Er braucht es unbedingt, aber ich kann nicht mehr zum Bahnhof. Ich muß nach diesen wunderbaren Stunden mit Hassan sofort nach Hause, weil mein Swimmingpool heute morgen leck geworden ist und die Handwerker kommen!’ Mein Freund hat eine Villa in der Nähe von –“, die Frau holte Luft.

„Jajajaja, aber wie sollen wir jemandem einen Umschlag über­geben, wenn wir nicht wissen, wer es ist?“ fragte Lieselotte.

„Ach, ganz einfach! Bahnsteig 6. Haltet das Ding hoch und lauft an den Fenstern des Zuges entlang! Der Typ wird sich zu erken­nen geben. Er wartet darauf! Würdet ihr das für mich tun?“

Die Bande war einverstanden. Bis zur Abfahrt des Zuges blieb inzwischen nur mehr eine

Minute.

- 11 -

Page 13: Geheim Akte Y

Axel schnappte den Umschlag und rannte los. Er war ein groß­artiger Sprinter und flitzte wie ein Wiesel durch die Menschen­menge in der Halle und den Zugang zu den Bahnsteigen. Keuchend hastete er die Treppe zu Bahnsteig 6 hinauf und schluckte.

Der Zug, der dort stand, schien kein Ende zu nehmen. Er hatte mindestens zwanzig Waggons.

Axel hielt das silberne Kuvert hoch und lief an den Wagen­fenstern entlang. Die meisten Fahrgäste schüttelten nur verwun­dert den Kopf.

„Achtung: Gleis 6! Bitte einsteigen, Türen schließen automatisch! Zug fährt ab!“ verkündete eine Lautsprecherstimme.

Axel hatte noch nicht einmal den halben Zug abgeklappert und bisher nur verständnislose Blicke geerntet.

Zischend schlossen sich die Türen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Noch sechs Waggons. Da tauchte eine Hand auf und entriß dem Knickerbocker den

Umschlag.

- 12 -

Page 14: Geheim Akte Y

„Hilfe, ein Taschendieb!“

„Danke, der ist für mich!“ sagte eine Frau schnippisch. Sie war klein, trag extrem altmodische Klamotten und hatte eine Brille der Marke „Supervernünftig“ auf der Nase. Ihr Haar war zu einem dünnen Rattenschwanz gebunden, und ihr Mund wirkte verkniffen.

Sie drehte sich um und stöckelte mit schnellen Schritten davon. „He, Sie... hallo!“ rief Axel. Ricarda hatte doch von jemandem gesprochen, der im Zug saß

und Willi hieß. Axel rannte der Frau nach. „Heißen Sie Willi?“ fragte er. Es war ihm in der Eile nichts

Besseres eingefallen. „Natürlich nicht!“ zischte die Frau. „Aber der Umschlag ist für einen gewissen Willi, der in diesem

Zug sitzt!“ Axel deutete auf den gerade abfahrenden Zug. Als er sich umdrehte, sah er einen blonden Mann, der sich aus

einem der Fenster beugte. Er winkte, doch auf dem Bahnsteig war niemand, von dem er sich verabschieden hätte können.

„Das Kuvert war nicht für Sie bestimmt!“ sagte der Knicker­bocker entschieden und versuchte, der Frau den Umschlag abzu­nehmen.

Doch diese drückte ihn an sich und kreuzte die Arme davor. „Verschwinde, sonst hole ich die Polizei!“ kreischte sie hyste­risch.

„Aber Sie können das Kuvert nicht einfach behalten!“ erwiderte Axel.

„Hilfe! Polizei!“ schrie die Frau und begann um sich zu schlagen, als hätte Axel sie angegriffen.

Einige Leute schenkten ihr gar keine Beachtung, andere drehten sich aber um.

Als der Junior-Detektiv noch immer nicht locker ließ, schrie die Frau lauter. Sie ließ den Umschlag unter ihrem Pulli verschwin­

- 13 -

Page 15: Geheim Akte Y

den und begann regelrecht zu brüllen. „Hilfe, ein Taschendieb! Hilfe!“

Zu Axels Entsetzen tauchte tatsächlich ein Polizist auf. Er näherte sich mit strenger Miene und fragte: „Gnädige Frau, was kann ich für Sie tun?“

„Dieses Bürschchen wollte mich bestehlen. Ich habe seine Hand an meiner Tasche gespürt!“ meldete die Frau aufgebracht. Ihre Stimme überschlug sich.

Der Polizist musterte Axel prüfend. „Was hattest du an der Tasche der Dame zu suchen?“ fragte er.

„Gar nichts. Ich sollte jemandem einen Umschlag übergeben, der in dem Zug sitzt, der gerade von Bahnsteig 6 abgefahren ist. Aber die Frau hat ihn mir einfach aus der Hand gerissen. Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich will ihn zurück!“ verteidigte sich der Knickerbocker, dem allmählich mulmig wurde.

„Stimmt das?“ fragte der Polizist die Frau. Er gehörte zu den Polizisten, die Axel nicht leiden konnte. Mit der Frau sprach er freundlich, mit Axel wie mit einem gesuchten Verbrecher.

„Natürlich lügt der Bengel! Sie werden doch so einem Frücht­chen nicht glauben!“ empörte sich die Frau und rückte ihre Brille zurecht.

„Sie kommen am besten beide mit auf die Wachstube!“ entschied der Polizist.

„Aber... aber ich habe... ich habe doch nichts getan!“ rief Axel empört.

Plötzlich packte ihn die Panik. Wenn man dieser Frau Glauben schenkte, bekam er mächtigen Ärger. Er rannte los, so schnell er konnte.

Der Polizist machte Anstalten, ihn zu verfolgen, gab aber schnell auf. Es waren zu viele Reisende am Bahnhof, zwischen denen Axel bald untergetaucht war.

„Wurde Ihnen etwas gestohlen, gnädige Frau?“ fragte der Polizist.

Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe die Rotznase zum Glück rechtzeitig bemerkt“, sagte sie.

Der Polizist legte die Hand an die Kappe und ging.

- 14 -

Page 16: Geheim Akte Y

Die Frau atmete erleichtert auf und klopfte triumphierend auf den Umschlag unter ihrem Pulli.

Sie eilte auf die nächste Telefonzelle zu, trat ein und sah sich um. Sie schien sich vergewissern zu wollen, daß sie nicht beob­achtet wurde. Nachdem sie mehrere Münzen eingeworfen hatte, wählte sie eine Salzburger Nummer.

Es läutete nur ein einziges Mal am anderen Ende der Leitung, da wurde schon abgehoben. „Hallo?“

„Es wurde genauso übergeben wie bei Eugen. Ich habe es einem dämlichen Jungen abgenommen. Diesmal schaffen wir es!“ sagte sie hoffnungsvoll.

Ein erleichtertes Seufzen war die Antwort. Nachdem sie aufgelegt hatte, steuerte die Frau auf den Ausgang

des Bahnhofs zu.

- 15 -

Page 17: Geheim Akte Y

Was steckt in dem Umschlag?

Als Axel zurückkehrte, warteten die Knickerbocker-Freunde noch immer auf seinen Vater. Ricarda war inzwischen schon abge­fahren. Sie hatte voll darauf vertraut, daß Axel ihren Auftrag ausführte.

In Stichworten schilderte der Knickerbocker seinen Kumpeln, was sich ereignet hatte.

„Unwichtig scheint der Umschlag also nicht gerade zu sein!“ stellte Lieselotte fest.

„Los, gehen wir! Ich habe keine Lust, von der Polizei ge­schnappt zu werden“, meinte Axel.

„Aber dein Vater!“ gab Poppi zu bedenken. Axel ging hinter Lieselottes Rücken in Deckung. „Spinnst du?“ fragte ihn das Superhirn der Bande. „Nein, aber da ist die Frau. Siehst du irgendwo einen Polizis­

ten?“ flüsterte Axel. „Ich sehe keinen“, beruhigte ihn Dominik. „Ich möchte wirklich wissen, was in dem Kuvert drinnen ist“,

grübelte Lieselotte vor sich hin. Die kleine Frau trippelte gerade an den Taxis vorbei. Sie hatte

den silberfarbenen Umschlag unter ihrem Pullover hervorgeholt und hielt ihn in der Hand.

„Das Kuvert war nicht für sie bestimmt. Und wenn wir Knicker­bocker einen Auftrag erhalten, führen wir ihn auch verläßlich aus!“ sagte Axel bestimmt und schlich ohne weitere Erklärungen geduckt los. Er folgte der Frau im Schutz der Passanten, Autos und Busse. Sie näherte sich einem der etwas entfernteren Park­plätze, auf dem kein Betrieb herrschte.

Schließlich steuerte die Frau auf einen Wagen zu. Es war ein klappriger VW-Käfer mit durchgerosteten Kotflügeln. Sie wollte den Kofferraum öffnen, der sich bei diesem Autotyp vorne befand, und holte deshalb den Wagenschlüssel heraus. Als sie aufsperrte, schlug Axel blitzschnell zu.

- 16 -

Page 18: Geheim Akte Y

Er sauste aus seinem Versteck und riß ihr den Umschlag aus der Hand. Ohne ein Wort zu sagen, verschwand er wieder.

Um sie zu täuschen, rannte er vom Bahnhof weg. Die Frau verfolgte ihn, gab aber bald auf. Als sie am Ende des Parkplatzes angekommen war, mußte sie feststellen, daß Axel verschwunden war.

Der Junge machte einen großen Bogen und kehrte zum Bahn­hofsgebäude zurück, vor dem jetzt endlich sein Vater eingetroffen war. Herr Klingmeier entschuldigte sich mehrfach; es war genau, wie Axel vermutet hatte: Ein Kunde hatte ihn aufgehalten.

„Hast du ihn?“ fragte Lieselotte. Axel zog den silberfarbenen Umschlag triumphierend unter dem

T-Shirt hervor. Die vier Junior-Detektive stiegen schnell in den großen Wagen

von Herrn Klingmeier und drängten zur Abfahrt. Als Axels Vater das Bahnhofgelände verließ, sah Lieselotte die

Frau erschöpft am Straßenrand stehen. Sie starrte mißmutig vor sich hin.

Dominik zeigte ihr die lange Nase, als sie vorbeifuhren. „Nicht, laß das, du Idiot!“ zischte Lilo. Es war zu spät! Die Frau hatte sie bemerkt und Axel im Wagen

entdeckt. Als sie vor einer roten Ampel anhalten mußten, sah die Frau ihre letzte Chance gekommen, raffte sich auf und stürzte auf den Wagen zu.

Sie war kaum noch zehn Schritte entfernt, als die Ampel auf Grün sprang und Axels Vater losfuhr.

Dominik schnitt eine spöttische Grimasse. Die Frau tobte. Dann aber fiel ihr Blick auf das Kennzeichen

des Wagens, und sie begann, die Zahlen und Buchstaben vor sich herzusagen – und das so lange, bis sie sie aufgeschrieben hatte.

Davon ahnten die Knickerbocker freilich nichts. Das Häuschen, das Herr Klingmeier gemietet hatte, lag am

wunderschönen Wolfgangsee in der Nähe von St. Gilgen. Es war ein dunkelbraunes Holzhaus mit weiß-grünen Fensterläden und einem kleinen Balkon im Obergeschoß.

- 17 -

Page 19: Geheim Akte Y

Der Garten war nicht besonders groß, erstreckte sich aber direkt bis ans Ufer des Sees. An einem Steg war ein Ruderboot vertäut.

Die vier Freunde sprangen sofort ins Wasser, das allerdings ziemlich kalt war. Sie badeten nur kurz und legten sich dann in die Sonne.

„Was machen wir mit dem silbernen Umschlag?“ fragte Axel seine Freunde.

„Wir geben ihn am besten zurück“, entschied Lieselotte. „Und wem? Wir haben von dieser Ricarda weder eine Adresse

noch eine Telefonnummer.“ Dominik nickte. „Aber wir wissen einiges über sie: Sie reitet,

und das auf einem Reiterhof. Dort gibt es ein Pferd namens Hussein – nein: Hassan. Auf diesem Pferd ist heute ein Mann ausgeritten, der eine Villa mit einem Schwimmbecken besitzt, das leck geworden ist!“

Seine Freunde waren beeindruckt. Dominiks Gedächtnis war wirklich sensationell.

Lieselotte machte einen Vorschlag: „Wir hängen uns ans Telefon und rufen einfach bei allen Reiterhöfen der Umgebung an. Da Ricarda noch Reithosen und Stiefel trug, nehme ich an, daß sie direkt aus dem Stall kam.“

„Ich möchte aber schon gerne wissen, was in dem Kuvert ist!“ meinte Axel.

Poppi und Lilo bückten ihn überrascht an. „He, schon mal was von Briefgeheimnis gehört?“ fragte

Dominik vorwurfsvoll. „Schon, aber es ist kein Brief!“ antwortete Axel, „Es steht

weder Adresse noch Absender drauf. Seid ihr denn gar nicht neugierig? Immerhin scheint der Inhalt dieses Briefes mehrere Leute zu interessieren.“

Da mußten ihm seine Kumpel recht geben. Axel holte den Umschlag, den er in seinem Rucksack verstaut

hatte, hervor und tastete ihn ab. „Das ist nicht verboten“, meinte er mit entschuldigendem Grinsen.

„Und weißt du jetzt, was es sein könnte?“ fragte Poppi neugierig.

- 18 -

Page 20: Geheim Akte Y

„Hmm... auf jeden Fall kein Blatt Papier. Vielleicht eine flache Schachtel... oder eine Hülle... es ist hart und quadratisch und ziemlich dünn... Ich glaube, ich weiß, was es ist!“

Was könnte der silberfarbene Umschlag enthalten?

Axel sprang auf und lief in das Zimmer seines Vaters. Er streckte seinen Freunden eine Hülle entgegen, in der eine Computerdis­kette steckte. Sie verglichen die Größe der Schutzhülle mit der des Gegenstandes im Umschlag und kamen zu dem Schluß, daß es sich tatsächlich um eine Diskette in einer Hülle handeln mußte.

„Gut, jetzt wissen wir Bescheid, aber das reicht!“ stellte Lilo fest.

Axel war noch nicht ganz zufrieden: „Naja, wir wissen aber nicht, was auf der Diskette drauf ist...“

„Das geht uns auch angesichts der Umstände nichts an!“ meinte Dominik mit erhobenem Zeigefinger.

„Ja, Herr Oberlehrer!“ knurrte Axel, dem Dominiks altkluges Gequatsche manchmal schwer auf den Geist ging.

„Los, wir hängen uns ans Telefon!“ entschied Lieselotte. Im Haus gab es allerdings keines, und Axels Vater war nicht

bereit, sein Handy herauszurücken. Die Knickerbocker brachen also zur nächsten Telefonzelle auf.

- 19 -

Page 21: Geheim Akte Y

Affen am See?

Auf dem Rückweg besprachen sie, was sie herausgefunden hatten. „Wir haben siebzehn Reiterhöfe angerufen und auf zweien gibt

es Pferde, die Hassan heißen“, rekapitulierte Poppi. „Und auf beiden reitet öfter jemand aus, der Ricarda heißt!“

fügte Dominik hinzu. „Über die lecken Schwimmbecken der Reiter wußte natürlich

niemand Bescheid!“ seufzte Lieselotte. Die beiden fraglichen Reiterhöfe waren leider weit von St. Gil­

gen und weit voneinander entfernt – ohne Bus ließ sich da nichts machen.

In keinem Büro war man bereit gewesen, einen Kontakt zu Ricarda herzustellen. Die Telefonnummer hatte man ihnen schon gar nicht verraten wollen.

„Uns bleibt nichts anderes übrig, als morgen zu einem der Reiterhöfe zu fahren und selbst nach unserer Ricarda zu suchen. Haben wir kein Glück, nehmen wir uns übermorgen den anderen vor“, meinte Lieselotte.

Sie betraten das Haus und wurden dort bereits von Axels Vater erwartet. „Stellt euch vor! Aus einem Tierpark in der Nähe sind heute sechzehn Affen ausgerissen. Sie sind in diese Gegend geflüchtet und verstecken sich in den Gärten und Häusern. Es war jemand vom Tierpark da und hat alles abgesucht!“

Poppi runzelte die Stirn. „Affen aus einem Tierpark? Ich hoffe nur, daß es keiner dieser fahrenden Zoos ist, in denen die Tiere in viel zu kleinen Käfigen leben müssen?“

Herr Klingmeier zuckte mit den Schultern. Poppi lief nach oben und holte ihr Notizbuch. Sie hatte darin

alles Mögliche über Tiere gesammelt: ihre Begegnungen und Erlebnisse mit Tieren, Daten über ihre eigenen Tiere, Angaben, die ihr so unterkamen, und viele nützliche Adressen. Das Notiz­buch enthielt unter anderem eine Liste aller Zoos in Österreich.

„Hier in der Gegend gibt es keinen Tierpark mit so vielen Affen!“ sagte sie leise zu ihren Freunden.

- 20 -

Page 22: Geheim Akte Y

Ihre Kumpel erschraken. „Vati, war eine Frau da oder ein Mann?“ erkundigte sich Axel. „Eine Frau – eine kleine, energische Person, die bestimmt nur

für ihre Tiere lebt. Die Klamotten, die sie trägt, müssen aus der Altkleidersammlung stammen!“ antwortete Herr Klingmeier.

Die Knickerbocker warfen einander einen Bück zu. „Und sie war oben? Auch in den Zimmern, in denen wir

schlafen?“ fragte Axel aufgeregt. Sein Vater nickte. Wie auf Kommando stürmten die Junior-Detektive nach oben. „Hat sie die Diskette gestohlen?“ hauchte Lieselotte. Axel antwortete zuerst nicht. „Äh... ich muß euch etwas sagen“,

begann er schließlich. „Ich habe entdeckt, daß der Umschlag einen Adhäsionsverschluß hat.“

„Was ist das?“ unterbrach ihn Poppi. „Ein Klebverschluß, den man mehrfach verwenden kann“,

erklärte Axel. „Das Wort merke ich mir auch nur, weil wir es einmal bei einem Fremdwörtertest in der Schule hatten.“

Lilo wippte ungeduldig mit dem Fuß. „Ja und? Was willst du uns damit sagen?“

„Also ich habe reingeschaut, um zu sehen, ob die Diskette beschriftet ist. Und weil ihr dann so schnell los wolltet, ist mir ein Fehler passiert!“

„Was denn?“ drängte Lieselotte. „Ich habe die Diskette meines Vaters in den Umschlag gesteckt

und die Diskette aus dem Kuvert in seine Diskettenbox zurückge­geben. Die Frau hat also die falsche Diskette erwischt!“

Dominik blickte ihn über den Rand seiner Brille an und meinte: „Obwohl dein Verhalten nicht wirklich als völlig korrekt zu bezeichnen ist, war es wahrscheinlich richtig!“

„Quatsch nicht so kariert!“ gab Axel zurück. Lilo grinste. „Unsere Freundin wird staunen. Ich fürchte aller­

dings, daß sie den Fehler bald bemerken und vielleicht zurück­kommen wird. Wie hat sie denn überhaupt herausgefunden, wo wir wohnen?“

- 21 -

Page 23: Geheim Akte Y

„Das kann nur über die Autonummer gelaufen sein!“ meinte Axel. „Sie muß jemanden kennen, der zum Computer der Polizei Zugang hat und bereit war, den Wagenbesitzer für sie zu ermitteln.“

Er griff nach dem Handy seines Vaters, der gerade zum See hinuntergegangen war, und rief im Büro der Firma Klingmeier an. Die Sekretärin hatte tatsächlich mit einer Frau gesprochen, die unbedingt Herrn Klingmeier aufsuchen wollte. Sie hatte ihr die Adresse des Häuschens gegeben.

„Das wäre geklärt, aber was auf der Diskette drauf ist, wissen wir noch immer nicht!“ meinte Axel, nachdem er das Gespräch mit einem Tastendruck beendet hatte.

Er holte die Diskette, die mit einem gelben Etikett versehen war, das die Aufschrift „Geheimakte Y“ trug. Darunter stand: „Streng vertraulich!“

„Mir ist egal, ob verboten oder nicht!“ sagte Axel und holte den Laptop seines Vaters. Der flache tragbare Computer hatte einen großen Speicher und verfügte über viele Funktionen. Sein Vater konnte sich zum Beispiel über die Telefonleitung in den Compu­ter seines Büros einschalten und Daten aus ihm abrufen. Selbstverständlich hatte er auch Zugang zum Internet, dem weltweiten Computernetzwerk.

Poppi sollte sich darum kümmern, daß Herr Klingmeier noch eine Weile draußen blieb. Er hätte den vieren niemals erlaubt, seinen Laptop in Betrieb zu nehmen.

Das Mädchen lief zum Steg und überredete Axels Vater zu einer kleinen Bootstour.

Die drei Junior-Detektive waren ziemlich aufgeregt, als sie die Diskette seitlich in das Laufwerk des Computers steckten. Was war darauf nur gespeichert? Was verbarg sich hinter dem Namen „Geheimakte Y“?

- 22 -

Page 24: Geheim Akte Y

Fritz, der Freak

Axel kannte sich mit dem Computer seines Vaters recht gut aus. Er öffnete die Diskette per Tastendruck, um zu sehen, was alles darauf gespeichert war.

„Y.DOC“ stand auf dem Bildschirm. „Was bedeutet das?“ wollte Dominik wissen. „Das bedeutet, daß wir es mit einem Dokument zu tun haben.

Das kann alles Mögliche sein: ein Text, eine Kartei, ein Brief, Adressen, Namen und so weiter!“ erklärte Axel.

Er führte den Mauszeiger auf den Namen der Datei und klickte zweimal. Falls der Laptop seines Vaters über ein geeignetes Programm verfügte, würde das Dokument geöffnet werden.

„DAS BENÖTIGTE PROGRAMM KONNTE NICHT GEFUNDEN WERDEN“, meldete der Computer.

„Mist!“ brummte Axel. „Was machen wir jetzt?“ fragte Lilo. Axel zuckte mit den Schultern. Es gab keine Möglichkeit, mehr

zu erfahren, wenn sie das zum Öffnen der Datei erforderliche Programm nicht hatten. Leider gab der Computer nicht an, welches Programm nötig war.

„Fritz!“ sagte Axel plötzlich. Er stand auf, lief durch das kleine Zimmer und murmelte: „Fritz,

Fritz, Fritz...!“ „Spinnst du?“ fragte Lilo vorsichtig. „Nein, aber ich muß Fritz die Diskette zukommen lassen. Er kann da sicher was machen. Fritz ist ein Kollege meines

Vaters – ein völlig verrückter Typ!“ Beim Gedanken an den Mann mußte Axel lachen.

Fritz verbrachte den Großteil seines Lebens am Bildschirm. Er hatte mehrere Modelle, und sogar am Klo und im Badezimmer standen Computer.

Seine Frau hatte sich wegen der Computerleidenschaft ihres Mannes scheiden lassen, und da er kaum das Haus verließ, sah Fritz meistens wie ein Mehlwurm aus.

- 23 -

Page 25: Geheim Akte Y

„Aber ich traue mich nicht, ihm die Diskette zu schicken!“ meinte Axel. „Vielleicht müssen wir sie Ricarda zurückgeben, und es wäre peinlich, wenn wir sie dann nicht haben.“

Er nahm das Handy seines Vaters und rief Fritz an. Axel schilderte sein Problem, das den Computerfreak nur ein müdes Lächeln kostete.

Wie kommt Fritz an die Datei, ohne die Diskette zugeschickt zu bekommen?

„Schick mir die Datei einfach per E-Mail, und ich sehe sie mir mal an!“ meinte er.

Mit E-Mail konnte man Textdateien, aber auch Bilder innerhalb kürzester Zeit von einem Computer an einen anderen senden.

Fritz beschrieb Axel jeden Schritt. Herrn Klingmeiers Computer war dafür bestens ausgerüstet.

Achtung! Dein alter Herr kommt zurück!“ meldete Lieselotte. Axel hatte bereits den Sendebefehl eingegeben. Doch die Datei

schien ziemlich umfangreich zu sein, und deshalb dauerte die Übertragung lange.

„Er ist schon fast da!“ rief Lieselotte aufgeregt. „Dreh nicht durch! Halt ihn auf!“ fauchte Axel. Lilo lief Poppi und Herrn Klingmeier entgegen und faselte

etwas von Karpfen am Steg. Sie zog die beiden zum See. Axel kaute an seiner Unterlippe, während er den Balken am

unteren Bildschirmrand beobachtete. Er wurde länger und länger,

- 24 -

Page 26: Geheim Akte Y

aber bis zum Ende des offenen Kästchens fehlte noch ein gutes Stück.

„Lilo, mir ist kühl. Ich muß ins Haus!“ hörte er seinen Vater sagen. Wenn er ihn mit dem Laptop erwischte, gab es Krach.

Ein Pling zeigte an, daß die Übertragung beendet war. Der letzte Teil von „Y.DOC“ war schneller gesendet worden als der Anfang. Axel schaltete den Computer aus und verstaute ihn hastig.

Noch immer war Fritz am Apparat. „Ich sehe mir die Sache an, und du meldest dich morgen!“ sagte er. „Übrigens habe ich im Internet ein cooles Spiel entdeckt. Du mußt dir das einmal vorstellen...“ Fritz war nicht zu stoppen. Axel wollte ihn aus der Leitung werfen, doch er wußte, daß der Computerexperte dann beleidigt sein würde.

„Warum benutzt du mein Handy?“ fragte Herr Klingmeier streng, als er das Zimmer betrat.

Sein Vater hatte ihm einmal ein eigenes Handy geschenkt, doch das war leider in einen Fluß gefallen und funktionierte nicht mehr. „Äh... weil Fritz gerade angerufen hat. Er will dich sprechen!“ schwindelte Axel.

„Was soll ich ihm denn sagen?“ protestierte Fritz am anderen Ende der Leitung.

Axel reichte seinem Vater das Handy. Ja, was gibt’s? Mir ist kalt!“ Fritz hatte eine großartige Idee. „Zieh dich in Ruhe an! Wir

reden später!“ meinte er und legte auf. „Das war knapp!“ sagte Lilo, als Herr Klingmeier nach oben in

sein Kämmerchen verschwunden war. Es klopfte an der Tür, und Poppi machte auf. Sie stieß einen Schrei aus, der ihre Freunde alarmierte...

- 25 -

Page 27: Geheim Akte Y

Die Stimme

Die Frau war zurückgekommen. Sie packte Poppi und hielt sie mit ihrer dürren, krallenartigen Hand fest.

„Gebt die Diskette her!“ keuchte sie. „Und wenn ihr nicht die Klappe haltet, gibt es ein Unglück!“

Sofort brachte Axel die Diskette. Die Frau riß sie ihm aus der Hand und stieß Poppi zurück ins

Haus. „Wenn ihr nur ein Wort zu jemandem sagt, könnt ihr was erleben! Spielt nicht mit mir, ihr kleinen Wichtigtuer! Ich meine es sehr, sehr ernst.“

Sie lief zur Straße und stieg in ihren VW-Käfer. Knatternd fuhr der Wagen davon.

„Wer war das?“ fragte Herr Klingmeier, der sich die Haare frottierend die Treppe herunterkam.

„Äh... eine Ausflüglerin, die nach dem Weg gefragt hat!“ sagte Axel und grinste. „Und ich habe Hunger!“ wechselte er schnell das Thema.

„So ein Blödmann! Jetzt sind wir das Ding los und wissen nicht, was drauf ist!“ zischte Poppi.

Axel schüttelte den Kopf. Als sie wieder allein waren, erklärte er ihr, warum der Inhalt der

Diskette nicht verloren war: Fritz hatte die Datei nun in einem seiner Computer.

Innerhalb von Sekunden waren diese Ereignisse dem wie gelähmt daliegenden Junior-Detektiv durch den Kopf geschossen. Ausge­löst hatte die Erinnerungen die geheimnisvolle Gestalt mit dem flachen Kopf.

Die Kreatur stand drei Schritte von ihm entfernt und schien ihn zu betrachten.

Noch immer konnte sich der Knickerbocker nicht bewegen. Seine Arme und Beine waren nach wie vor schwer wie Blei. Es war nicht möglich, sie zu heben. Auf seiner Brust schien ein ungeheures Gewicht zu lasten, das ihm fast den Atem nahm.

- 26 -

Page 28: Geheim Akte Y

Das Surren wurde lauter. Das Licht erschien ihm plötzlich noch greller. Rote, grüne und gelbe Blitze zuckten über ihm durch den Raum. Und er hörte ein rhythmisches Pochen, das ihn an etwas erinnerte.

Was war das nur? Herzschläge! Kein Zweifel: es waren verstärkte Herzschläge! Handelte es sich

um seine eigenen? Langsam, aber unerbittlich begannen sich die Blitze zu nähern. Axel wollte fliehen. Er mußte weg! Die Blitze würden ihn töten.

Außerdem machte ihn das dumpfe Pochen wahnsinnig. Er fühlte sich wie eine Uhr, bei der jemand das Pendel immer

wieder anhält und aus dem Takt bringt. Regungslos stand das seltsame Wesen neben ihm. Was wollte es

nur? Axel warf den Kopf von einer Seite auf die andere und schrie. Wie aus weiter Ferne drang eine merkwürdige Stimme an seine

Ohren. Sie sprach langsam, aber sehr, sehr eindringlich. Es war eine

Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

- 27 -

Page 29: Geheim Akte Y

Die Landung

Am nächsten Morgen piepste bereits um halb sieben Uhr morgens Herrn Klingmeiers Handy. Er hatte am Abend vergessen, es abzuschalten, und drückte murrend die Empfangstaste.

„Tag, Alter! Kann ich deinen Sohnemann sprechen?“ hörte er Fritz’ aufgeregte Stimme.

„Meinen Sohn? Was willst du von Axel?“ knurrte Herr Kling­meier. In der Früh war mit ihm nichts anzufangen.

„Ich hänge hier bei einem Computerspiel fest. Ich bin auf Level 26 und komme nicht weiter. Er muß mir helfen!“ log Fritz. „Gestern wollte ich dir übrigens zu ihm gratulieren!“

„Du spinnst ja!“ schnaubte Herr Klingmeier, erhob sich und klopfte an die Tür des Jungenzimmers.

„Ja?“ kam Axels verschlafene Stimme. Herr Klingmeier öffnete die Tür. „Da, fang!“ rief er und warf seinem Sohn das Handy zu. „Axel, wo hast du denn diese Datei her?“ fragte Fritz gespannt. „Äh... naja... das ist eine lange Geschichte!“ brummte Axel.

„Wieso?“ „Weil ich mich ziemlich anstrengen mußte, um sie zu öffnen.

Als ich es endlich geschafft hatte, gab es die nächste Überra­schung: Der Text war verschlüsselt. Ich habe versucht, den Kode zu knacken, hatte aber keinen Erfolg.“

„Und wie ist es dir dann doch gelungen?“ fragte Axel. Fritz lachte zufrieden. „Mit Geduld und Spucke und mit Hilfe

meines Kumpels Henry in den USA. Ich habe ihn zwar noch nie gesehen, bin aber jetzt schon einige Zeit per Internet mit ihm in Verbindung. Er ist Experte für Dekodierungen.

Ich habe ihm die Datei geschickt, und er hatte nicht allzugroße Schwierigkeiten damit.

Halt dich fest: Der Kode wurde im Kalten Krieg vom amerika­nischen Geheimdienst verwendet.“

Axel holte hörbar Luft. „Und was enthält die Datei?“

- 28 -

Page 30: Geheim Akte Y

„Du wirst es nicht glauben! Angaben über die Landung eines UFOs. Und der Text stammt von keinem Scherzbold, sondern von der ‚Gesellschaft zur Erforschung von Leben aus dem All’. Sie hat ihren Sitz nicht weit von Salzburg. Die Nachricht wurde verschlüsselt, weil sie streng geheim ist.

Der Gesellschaft ist es gelungen, Funkkontakt mit Außerirdi­schen aufzunehmen. Kurze Zeit später ist in der Nähe der Zentrale der Forschungsgemeinschaft ein UFO gelandet. Es wird als Lichterscheinung beschrieben, die in keinerlei Hinsicht mit herkömmlichen UFO-Formen vergleichbar ist.

An Bord befanden sich zwei Außerirdische, und es kam zu nahen Begegnungen der vierten Art. Die Außerirdischen scheinen tatsächlich Kontakt mit den Menschen aufgenommen zu haben. Sie verständigten sich durch eine Zeichensprache, die die Allfor­scher mit Hilfe eines Computerprogramms entschlüsseln konnten. Der Empfänger der Datei wird aufgefordert, sich bei der Gesell­schaft zu melden. Er dürfte für die Kontaktaufnahme mit den Außerirdischen eine zentrale Rolle spielen.“

Axel sagte eine Weile gar nichts. „Bist du noch dran?“ fragte Fritz. „Jaja, ich... ich habe nur nachgedacht, wie das alles möglich ist.

Glaubst du, daß da etwas Wahres dran ist?“ murmelte der Knickerbocker dann.

Nachdem Fritz eine Weile ratlos vor sich hingebrummt hatte, meinte er: „Mein Freund in Amerika hat mich darauf aufmerksam gemacht, wie schwierig es gewesen sein muß, sich den Kode zu beschaffen. Und die Sprache, in der der Bericht abgefaßt ist, klingt höchst sachlich und professionell.“

Axel kramte aus seinem Rucksack etwas zum Schreiben hervor und ließ sich die Adresse der Gesellschaft durchgeben.

Nachdem er aufgelegt hatte, fiel er wieder in die Kissen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Er wußte jetzt, warum die Frau so wild auf die Diskette war. Aber wem sollte die Diskette am Bahnhof übergeben werden?

Und warum hatte der Mann mit dem lecken Schwimmbad sie Ricarda in die Hand gedrückt?

- 29 -

Page 31: Geheim Akte Y

Genau diese Frage stellte sich auch Lieselotte, als sie nach dem Frühstück den Fall besprachen. Nachdenklich meinte sie: „Mich wundert vor allem, daß ein so wichtiges Dokument so primitiv durch die Gegend gereicht wird.“

„Ich habe die Adresse der Forschungsgesellschaft. Sollen wir dem Verein einen Besuch abstatten und herauszufinden versu­chen, ob an der Sache mit den Außerirdischen etwas dran ist?“ Axel sah seine Freunde der Reihe nach an.

„Wer eine Botschaft so verschlüsselt, wird uns bestimmt keine Auskunft erteilen“, meinte Lilo. Sie hatte einen anderen Vor­schlag auf Lager: „Wir stöbern diese Ricarda auf und lassen uns den Mann von ihr zeigen. Vielleicht können wir über ihn mehr erfahren.“

Die Junior-Detektive stimmten ab: Lilos Idee leuchtete allen ein.

Axels Vater hatte am Vormittag in der Nähe eines der beiden Reiterhöfe zu tun. Er erklärte sich bereit, die vier mitzunehmen.

Auf dem Gestüt wurden die Knickerbocker höchst unfreundlich empfangen: Kinder waren hier einfach unerwünscht.

Erst als einem der Stallburschen ein Hengst durchging und Poppi es schaffte, ihn einzufangen und zu beruhigen, wurde der Leiter des Gestüts merklich netter. Die Knickerbocker-Detektive erkundigten sich nach Ricarda, doch er schien sie nicht wirklich zu kennen.

Die Bande schlenderte noch einige Zeit über den Hof und befragte auch die Stallburschen. Schließlich erinnerte sich einer von ihnen an eine etwa 70jährige Dame dieses Namens, die im Sommer manchmal ihren Enkel begleitete.

Fehlanzeige. Reiterhof Nr. 2 lag noch weiter entfernt. Wie sollten die vier

Freunde Herrn Klingmeier dazu überreden, sie dorthin zu bringen?

Da fiel Axel etwas ein. Er betrat das Büro des Gestüts und plauderte mit der Sekretärin, der etwas langweilig zu sein schien.

Grinsend kam er zurück. „Ganz in der Nähe des anderen Reiterhofes gibt es ein barockes Schlößchen, das man besichtigen

- 30 -

Page 32: Geheim Akte Y

kann. Mein Vater ist – wie ihr ja wißt – überzeugt, daß ich zu wenig Kultur mitbekomme. Ich wette, daß wir ihn damit herum­kriegen!“

Axel behielt recht. Herr Klingmeier war begeistert, mit den vieren ein Schloß besichtigen zu können. Fix erledigte er seine Termine, so daß sie am frühen Nachmittag bereits an Ort und Stelle eintrafen.

Da es keine Führung gab, konnten die Knickerbocker und Axels Vater einfach so durch die Räume gehen. Eigentlich hatten die Junior-Detektive gehofft, auf diese Weise schneller zu sein. Doch das stellte sich bald als Irrtum heraus.

Herr Klingmeier hielt ihnen lange Vorträge über das Barock und erklärte ihnen jeden Engel und jedes Stuckwölkchen an der Decke. Nur mit Mühe unterdrückten Axel, Poppi und Lilo ein Gähnen. Dominik aber mimte den aufmerksamen Besucher und stellte sogar interessierte Fragen.

„Du bist wirklich ein toller Schauspieler“, raunte ihm Lilo zu. Nach der Besichtigung des Schlosses bekam Herr Klingmeier

Hunger. Die vier wollten sich noch etwas in der Gegend umsehen. Axels Vater war einverstanden und ließ sich an einem der Tische des Cafés auf der Terrasse vor dem Schloß nieder.

Der Reiterhof war wirklich nicht weit vom Schloß entfernt. Als die Knickerbocker die Auffahrt hinaufliefen, begannen ihre Her­zen schneller zu schlagen – würden sie Ricarda vielleicht sogar antreffen?

- 31 -

Page 33: Geheim Akte Y

Eine unerwartete Entdeckung

Die Bande hatte großes Glück. Als die vier durch das große Tor des Hofes kamen, stieg Ricarda

gerade in ihr altes Auto. „Halt!“ rief Axel und winkte ihr zu. Sie erkannte die Knickerbocker sofort wieder. „So eine Überraschung! Wie kommt denn ihr hierher? Wohnt

ihr in der Nähe oder reitet ihr auch auf dem Frühtalerhof?“ „Keines von beiden. Wir haben Sie gesucht, weil wir Sie etwas

Wichtiges fragen müssen!“ platzte Axel heraus. Lilo hätte ihm dafür am liebsten einen Tritt verpaßt. Warum

nahm er es in diesem Moment mit der Wahrheit so genau? „Was ist denn?“ Ricarda sah sie fragend an. Mist, dachte Lilo. Es wird ihr sicher sonderbar vorkommen,

wenn wir uns nach jemandem erkundigen, den wir nur vom Hörensagen kennen und mit dem wir nichts zu tun gehabt haben. Wir müssen vorsichtig sein.

Zu spät! „Wir möchten unbedingt mit dem Mann sprechen, dessen Pool

undicht geworden ist!“ sprudelte Poppi los. Für den Bruchteil einer Sekunde geriet Ricarda aus der Fassung.

„Was um Himmels willen...?“ Sie brach mitten im Satz ab und beruhigte sich schnell wieder. „Was wollt ihr von ihm?“ sagte sie bemüht sanft.

„Äh... es hat mit dem Mann im Zug zu tun und mit der Disket­te... weil... weil... sie... also... die Diskette wurde uns gestohlen!“ stammelte Lilo.

„Was? Gestohlen? Könnt ihr nicht einmal auf einen Umschlag aufpassen?“ brauste Ricarda auf.

Abermals fing sie sich schnell und fuhr fort: „Hugo wird ganz schön wütend sein, wenn er das erfährt. Ich glaube, der Umschlag hat wichtige Geschäftsunterlagen enthalten.“

„Ist Hugo hier?“ erkundigte sich Poppi.

- 32 -

Page 34: Geheim Akte Y

„Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Aber gebt mir eure Telefonnummer, daß er sich bei euch melden kann“, erwiderte Ricarda.

„Wo wir wohnen, gibt es leider kein Telefon“, sagte Axel entschuldigend.

„Aber wir rufen Hugo gerne an, wenn Sie uns seine Nummer geben!“ schlug Lieselotte vor.

Ricarda zögerte. Sie schüttelte den Kopf. „Da wird nichts draus: Ich habe meinen

Kalender nicht bei mir – und auswendig weiß ich die Nummer leider nicht! Habt ihr eigentlich den Umschlag geöffnet?“

Lilo verneinte. Ricarda überlegte kurz und sagte dann: „Sagt mir, wo ihr wohnt.

Hugo wird bei euch vorbeikommen – vielleicht heute noch.“ Axel nannte ohne zu zögern die Adresse des Seehäuschens. Ricarda warf einen Blick auf die Uhr und hatte es plötzlich sehr

eilig. Sie verabschiedete sich hastig. Als die vier Freunde den Reiterhof verließen, sprachen sie kein

Wort miteinander. Jedem von ihnen war ein fürchterlicher Ver­dacht gekommen.

Auch die Heimfahrt verlief sehr still. Zu Hause angekommen, fuhren die Junior-Detektive mit dem

Ruderboot langsam auf den Wolfgangsee hinaus. Dort konnten sie ungestört sprechen und liefen nicht Gefahr, belauscht zu werden.

„Wenn jemand einen guten Freund hat, weiß er doch dessen Telefonnummer auswendig – oder?“ murmelte das Superhirn.

„Klar!“ sagten die anderen. Genau das war ihnen auch aufgefal­len. Ricarda hatte ihnen die Telefonnummer nicht geben wollen.

„Das läßt eigentlich nur den Schluß zu, daß sie ihren Freund Hugo decken will!“ meinte die Anführerin der Knickerbocker-Bande.

„Vielleicht gibt es diesen Freund auch gar nicht!“ sagte Dominik.

Lilo begann ihre Nasenspitze zu kneten. „Meint ihr, daß die Eile und das Stehenbleiben im Halteverbot nur Theater waren? Ja, vielleicht wollte Ricarda, daß sie jemand auf die Abschleppgefahr

- 33 -

Page 35: Geheim Akte Y

aufmerksam macht und ihr das Überbringen der Diskette abnimmt...“

Axel nickte. Auch für Poppi und Dominik war das sehr gut vorstellbar. „Sie hat nach jemandem gesucht, der mit der Sache nichts zu

tun hat, um dieser komischen Frau nicht in die Arme zu laufen. Vielleicht wollte sie aber auch von dem Mann im Zug nicht gesehen werden“, kombinierte Lilo weiter. „Wir haben also einen Botendienst für sie erledigt – Ricarda hat das gut eingefädelt: Selbst wenn der Umschlag in falsche Hände geraten wäre, hätte niemand mit der Diskette etwas anfangen können. Nicht jeder kennt einen Fritz, der so eine Datei entschlüsseln kann!“

„Willi kennt den Kode sicher, denn schließlich war die Nachricht für ihn bestimmt. Warum man ihn wohl für die Kontaktaufnahme mit den Außerirdischen braucht?“ meinte Axel.

Plötzlich wurde Lilo bewußt, daß sie einen Fehler begangen hatte.

Sie hatte sich versprochen und Ricarda erkennen lassen, daß sie mehr wußte, als sie vorgab.

- 34 -

Page 36: Geheim Akte Y

Wodurch hat sich Lilo verraten?

„Ich habe von einer Diskette gesprochen und dann behauptet, wir hätten den Umschlag nicht geöffnet!“ knurrte Lieselotte und schlug sich gegen die Stirn.

„Axel!“ rief Herr Klingmeier am Ufer und winkte den Knicker­bockern zu.

Als sie sich dem Steg näherten, formte er mit den Händen einen Trichter und rief: „Ich muß noch einmal weg! Es geht um einen Vertrag. Tut mir schrecklich leid. Nehmt euch was zu essen: es ist genug da! Ich komme wahrscheinlich ziemlich spät zurück!“

Die Junior-Detektive riefen ihm zu, daß sie bestimmt nicht verhungern würden.

An diesem Abend zog ein schweres Gewitter auf. Grelle Blitze zerrissen die Dunkelheit. Der Donner dröhnte so laut, daß die Holzwände des kleines Hauses erbebten.

Die Knickerbocker-Freunde saßen in der Stube, lasen und hörten Musik.

Da der Tag schon früh begonnen hatte und anstrengend gewesen war, gingen sie früh zu Bett. Sie löschten die Lichter und waren bald eingeschlafen.

Poppi wachte plötzlich auf, weil sie einen bohrenden Schmerz im Bauch fühlte. Es war wie ein Messerstich. Sie stöhnte auf und tastete sich ab. Ihr Bauch war dick aufgebläht.

„O nein, was habe ich nur gegessen!“ murmelte sie verzweifelt und kroch aus dem Schlafsack.

Sie sah auf die Uhr. Es war erst halb elf. Sie hatte nur etwas mehr als eine Stunde

geschlafen.

- 35 -

Page 37: Geheim Akte Y

Auf Zehenspitzen schlich sie nach unten zur Toilette. Die Tür zum Zimmer von Axels Vater stand weit offen. Er war noch nicht zurückgekommen.

Das Mädchen erleichterte sich und hoffte, daß niemand die unangenehmen Geräusche hörte – das wäre ihm peinlich gewesen.

Bevor sie nach oben ging, tappte sie in die Küche, um Wasser zu trinken. Der Hahn klemmte, und sie hatte Mühe, ihn aufzu­drehen.

Eher zufällig fiel ihr Blick durch das kleine Fenster hinaus in den Garten.

Das Gewitter hatte sich verzogen, und die Wolkendecke war aufgerissen. Der Mond kam durch und tauchte die Bäume in blasses Licht.

Poppi schob den Vorhang zur Seite und zuckte zusammen. Sie konnte es nicht fassen!

Unten am Bootssteg standen zwei Gestalten. Eine der beiden warf einen Blick auf die Uhr und nickte der

anderen zu. Dann kamen sie mit langsamen Schritten auf das Haus zu.

Poppis Knie begannen zu zittern. So schnell sie konnte, huschte sie nach oben und weckte Lieselotte.

Nur langsam wachte das Superhirn auf. „Was gibt es denn? Sag schon!“

„Draußen ist jemand!“ hauchte Poppi. „Im Garten! Sie kommen!“

Der Schreck zuckte ihr durch alle Glieder, als sie ein Geräusch an der Tür hörte. Jemand versuchte, das Schloß zu knacken!

Verschlafen richtete Lilo sich auf und rieb sich die Augen. „Verdammt, du hast recht!“

Die Mädchen schlichen ins Jungenzimmer und rüttelten Axel und Dominik aus dem Schlaf.

Die steile Holztreppe, die nach oben führte, knarrte. „Sie sind im Haus, sie kommen!“ keuchte Poppi. Nachdem sich die Knickerbocker mit Kissen bewaffnet hatten,

bezogen sie hinter der Tür des Jungenzimmers Stellung. Axel hatte im letzten Augenblick sogar einen Krug entdeckt und war zu

- 36 -

Page 38: Geheim Akte Y

allem entschlossen: Die beiden Eindringlinge sollten gebührend empfangen werden.

Die Junior-Detektive hörten, wie jemand zum Mädchenzimmer ging.

Dann steuerten die Besucher auf das Jungenzimmer zu. Langsam schwang die Tür auf. Axel gab den anderen ein Zeichen: Angriff!

Wer hat das Haus betreten?

Dominik, Lilo und Poppi hatten die Kissen an nur einem Zipfel gepackt und schleuderten sie mit aller Kraft gegen die Eindring­linge. Axel holte mit der Vase aus, um zumindest einen der beiden zu erledigen.

„Seid ihr verrückt?“ sagte sein Vater. Wie sich herausstellte, war er mit einer Kollegin gekommen, um

ihr das Häuschen zu zeigen. Da er seinen Schlüssel vergessen hatte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als die Hintertür zu benutzen. Der Schlüssel dafür lag immer unter einem Stein an der Wand.

Erleichtert gingen die vier Freunde wieder zu Bett. Als sie um Mitternacht tief und fest schliefen, kam allerdings

noch einmal Besuch.

- 37 -

Page 39: Geheim Akte Y

Zwei ungewöhnliche Pistolen

Für den nächtlichen Besucher war es eine Kleinigkeit, in das Haus zu gelangen. Er trug zwei klobige Pistolen in der Hand, als er durch die unverschlossene Gartentür in die Küche trat.

Er steckte sich eine zigarettengroße Stabtaschenlampe in den Mund und leuchtete sich damit den Weg. Die Pistolen waren entsichert.

Geschickt schmiegte er sich gegen die Wand des Stiegenhauses und rutschte mit dem Hinterteil am Treppengeländer nach oben. So lastete nicht das ganze Gewicht auf den Beinen: die Treppe knarrte kaum.

Im Obergeschoß angekommen, blieb er stehen und wartete. Aus allen Zimmern kam ruhiges, regelmäßiges Atmen. Die Türen waren nur angelehnt.

Der nächtliche Besucher drückte mit der Schulter eine Tür auf und betrat den Raum.

Unter seinen Schuhen, die eine dicke, weiche Sohle hatten, ächzte ein Bodenbrett.

Axels Vater hob erschrocken den Kopf. Er hatte einen sehr leichten Schlaf.

„Ist da wer?“ fragte er leise. Der Unbekannte zögerte keine Sekunde und stürzte sich auf ihn.

Er setzte die Pistole, die er in der rechten Hand trug, an Herrn Klingmeiers Arm und drückte ab.

Ein kurzes Zischen war zu hören. Herr Klingmeier wollte schreien, aber er kam nicht mehr dazu.

Kraftlos sank er auf das Bett zurück. Sofort zückte der Mann die zweite Pistole, setzte sie ihm ebenfalls an den Arm und drückte ab. Abermals zischte es.

Auf der Pistole blinkte ein rotes Lämpchen auf. Der Unbekannte fluchte. Es war zu spät, sich jetzt mehr Serum

zu holen! Ein paar Sekunden schien der nächtliche Besucher zu überlegen,

was er jetzt tun sollte. Dann schlich er ins Mädchenzimmer.

- 38 -

Page 40: Geheim Akte Y

Lilo und Poppi war warm geworden. Ihre bloßen Oberarme lachten ihm entgegen. Er verpaßte jedem der beiden Mädchen eine Dosis des ersten Mittels und hastete dann in das Zimmer der Jungen.

Nachdem er auch Dominik damit versorgt hatte, wandte er sich Axel zu. Der Eindringling zitterte vor Wut, weil er so nachlässig gewesen war und nicht überprüft hatte, wieviel Serum die Pistolen enthielten. Er beugte sich über Axel, der sich in diesem Moment auf die andere Seite drehte. Der Knickerbocker streifte dabei das Hosenbein des Besuchers und zuckte zusammen.

Axel fuhr hoch und sah die dunkle Gestalt über sich. Er wollte schreien, aber der Unbekannte hielt ihm den Mund zu. Brutal schob der Eindringling den Kopf des Jungen zwischen seine Knie und versuchte, an den Oberarm seines Opfers zu gelangen.

Wild schlug Axel auf den Angreifer ein, doch dieser ließ sich nicht beirren.

Schließlich gelang es dem Eindringling, die Pistole anzusetzen. Axel spürte den kühlen Lauf und geriet in Panik. Er bäumte sich

auf, als der Unbekannte abdrückte. So drang nur ein Teil der Dosis in seinen Körper.

Nun blinkte auch bei dieser Pistole das rote Lämpchen auf. Der Eindringling bekam einen Wutanfall. Axel sank schlapp zurück. Er war wie die anderen betäubt

worden. Die Menge, die ihm verabreicht worden war, würde ihn jedoch nicht einmal eine Stunde schlafen lassen. Seine Freunde und sein Vater hingegen würden erst nach frühestens zwölf Stunden erwachen. Doch bis auf Herrn Klingmeier hatte niemand das zweite Serum erhalten – das Serum, auf das es ankam...

- 39 -

Page 41: Geheim Akte Y

Von wem werden solche Pistolen, die nicht in Waffengeschäften erhältlich sind,

üblicherweise eingesetzt?

Nachdem der Unbekannte die beiden Impfpistolen, die von einem befreundeten Arzt stammten, in den Taschen seines Sakkos hatte verschwinden lassen, schnappte er Axel und warf ihn sich wie einen Sack über die linke Schulter. Er schlich aus dem Haus und legte den betäubten Jungen in den Kofferraum seines Wagens. Dann schwang er sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und gab Gas.

Er wollte dem Jungen zuerst eine zweite Dosis des Betäubungs­mittels verabreichen und ihm dann das Serum injizieren, das er nur Herrn Klingmeier gespritzt hatte. Erst dann würde er wieder in das Häuschen am See zurückkehren und sich den drei Kindern widmen.

Wenn der Mann auch wußte, daß das Serum gerade bei Kindern nicht immer wirkte, mußte er es versuchen: Vielleicht klappte es, und sie würden sich, wenn sie wieder zu sich kamen, an nichts mehr erinnern, was in den letzten Tagen geschehen war.

- 40 -

Page 42: Geheim Akte Y

Völlig schwerelos

Heftiges Knirschen drang an Axels Ohren. Es weckte ihn aus der Narkose, die noch weniger lang angehalten hatte, als der nächtli­che Besucher erwartet hatte.

Stöhnend wollte sich der Knickerbocker aufrichten. Sein Schädel dröhnte. Er stieß mit dem Kopf gegen etwas Hartes, begriff, daß er sich in einem engen, geschlossenen Raum befand, und bekam Platzangst.

Wo lag er? In einem Blechsarg? Das Rumpeln und Rütteln verriet ihm dann, daß er in einem

Auto unterwegs war. Wir rollen über einen Kiesweg, dachte er. Der Wagen hielt. Axel ballte die Fäuste, spürte aber, wie wenig

Kraft er hatte. Niemals würde er denjenigen überwältigen können, der den Kofferraum öffnen und sich über ihn beugen würde.

Der Fahrer des Wagens stieg aus. „Und, hast du alles erledigen können?“ fragte ihn eine Frauen­

stimme. Axel horchte auf. War das nicht Ricarda? Die Ähnlichkeit war

groß. „Es war wie verhext! Die Pistolen waren nicht ganz gefüllt – ich

habe nur dem Mann das Vergessensserum verabreichen können. Die Kinder konnte ich nur betäuben, und einen der beiden Jungen habe ich dann auch noch schlecht erwischt, als mir das Mittel ausging. Er liegt im Kofferraum“, antwortete der Mann.

„Bist du wahnsinnig? Wie konntest du ihn herbringen? Diese verdammten Kinder haben nichts als Ärger gemacht!“ tobte die Frau.

„Du hast sie selbst ausgesucht!“ sagte der Mann vorwurfsvoll. „Und was machen wir mit dem kleinen Dreckskerl?“ wollte die

Frau wissen. „Die kleinen Wichtigtuer dürfen uns nicht mehr in die Quere kommen!“

- 41 -

Page 43: Geheim Akte Y

„Reg dich ab, du überschätzt die Kinder total!“ meinte ihr Komplize. „Kümmere dich lieber um Willi! Er muß die Diskette erhalten – wir brauchen ihn.“

„Es ist alles geregelt. Es wird jemand in Wien mit ihm Kontakt aufnehmen!“ brummte die Frau.

Sie traten an das Auto und öffneten den Kofferraum. Axel war so durcheinander, daß er nicht reagierte: Er schloß seine Augen erst, als der Schein einer Lampe auf ihn fiel.

„Der Kleine ist wach!“ kreischte die Frau. „Das gibt es nicht!“ staunte der Mann. Finger fuhren über Axels Gesicht und zogen die Augenlider

hoch. Eine Lampe wurde auf ihn gerichtet. „Natürlich ist er wach!“ rief die Frau. Der Mann rannte ins Haus und kehrte mit einer Impfpistole

zurück. „Los, hol Alpha!“ schrie er. „Wieso? Er ist keiner der Auserwählten!“ entgegnete seine

Komplizin. Da spürte der Junior-Detektiv abermals einen kleinen Stich am

Arm. Er war machtlos. Kaum hatte die Pistole seinen Arm berührt, spürte er schon die Wirkung des Mittels, das sich in seinem Körper ausbreitete. „Es ist tatsächlich Ricarda!“ schoß es ihm noch durch den Kopf, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

Und nun lag er in diesem Raum mit dem gleißenden Licht. Und neben ihm stand jemand, der aussah wie ein Außerirdischer.

Die Stimme hatte nichts Menschliches an sich und drang tief in sein Bewußtsein.

Die Sprache war Axel fremd. Dennoch taten die Sätze ihre Wirkung. Es waren Befehle, die von ihm Besitz ergriffen, ihn ausfüllten.

Das Wesen mit dem merkwürdigen Kopf schien sich allmählich ganz und gar seines Willens zu bemächtigen.

Die Blitze verdoppelten sich, die Herzschläge auch. Das grelle Licht hüllte Axel ein, und nun hatte ihn die Kreatur in seiner Gewalt. Das Junge verspürte keinerlei Widerstand mehr.

„Es gibt Außerirdische. Sie sind gelandet. Sie beginnen uns zu beherrschen“, schoß es ihm durch den Kopf.

- 42 -

Page 44: Geheim Akte Y

Plötzlich schien der Raum zu zerbersten. Die Rhythmen über­schlugen sich, das Licht brach, und eine gespenstische Dämme­rung breitete sich aus. Das sonderbare Wesen war verschwunden.

Axel hatte das Gefühl, im All zu schweben. Schwerelos glitt er durch unendliche Weiten.

Bevor er die Besinnung verlor, ging ihm ein Gedanke durch den Kopf – wieder und immer wieder: „Ich bin ein Auserwählter. Ich bin ein Auserwählter. Ich bin ein Auserwählter!“

- 43 -

Page 45: Geheim Akte Y

Die Entführung

Dominik kam langsam zu sich. Seit der Abfahrt des Mannes waren erst zwei Stunden vergan­

gen, doch die Wirkung des Betäubungsmittels ließ bereits nach. Der Grund dafür war Dominiks T-Shirt: Es hatte am Rand des

Ärmels einen ringförmigen Aufdruck, dessen Farbe eine gummiartige Schicht bildete.

Der Mann hatte die Impfpistole nicht direkt am Arm angesetzt. In seiner Panik, daß jemand aufwachen könnte, hatte er Dominik die Dosis durch den kurzen Ärmel des T-Shirts injiziert. Dadurch war nur eine geringe Menge in den Körper des Jungen einge­drungen.

Der Knickerbocker richtete sich auf und tastete nach Axel. Die Luftmatratze und der Schlafsack neben ihm waren leer.

War sein Kumpel vielleicht schon aufgestanden? Mühsam kämpfte sich Dominik auf die Beine und torkelte zum

Zimmer der Mädchen. Er rüttelte Poppi und Lieselotte, aber sie wachten nicht auf.

Bei Herrn Klingmeier erging es ihm nicht besser. „Was ist nur mit denen los?“ fragte sich der Knickerbocker

besorgt. Dominik spürte einen leichten Schmerz an seinem linken Ober­

arm, der ihn an die letzte Impfung erinnerte, die er erst vor wenigen Wochen bekommen hatte.

Im Badezimmer knipste er das Licht an und betrachtete seinen Arm. Er entdeckte einen winzigen roten Punkt. War das ein Einstich?

Er ließ eiskaltes Wasser ins Waschbecken laufen und holte mehrere Handtücher. Er tauchte sie ein und begann dann damit seine Knickerbocker-Freundinnen und Axels Vater zu bearbeiten.

Die beiden Mädchen stöhnten leise und schüttelten sich, wach­ten aber nicht auf. Herr Klingmeier reagierte überhaupt nicht.

„Ich muß die Rettung rufen!“ fiel Dominik ein.

- 44 -

Page 46: Geheim Akte Y

Er suchte nach dem Handy von Axels Vater, konnte es aber nicht finden.

„Ich muß die Rettung und die Polizei verständigen!“ hämmerte es in Dominiks Kopf.

Er schlüpfte in seine Jeans und zog einen Pulli über. Mit bloßen Füßen tappte er aus dem Haus, durch den Garten und auf die Straße. Wo war nur die nächste Telefonzelle?

Hinter ihm kam ein Auto. Dominik drehte sich um und winkte. Der Wagen bremste ab, und das Fenster auf der Fahrerseite

wurde nach unten gekurbelt. Dominik stieß einen Schrei aus und rannte los. Er hatte in das

runzelige Gesicht der Frau geblickt, die ihnen die Diskette abgenommen hatte.

Dann kam aber noch ein Wagen. Er kam Dominik entgegen, fuhr an ihm vorbei und bremste vor dem Gartentor des Seehauses.

Ein Mann stieg aus und lief auf das Haus zu. Verwirrt sah er mehrmals in Dominiks Richtung.

Der Junior-Detektiv hatte sich hinter einem Laternenpfahl versteckt und spähte vorsichtig zum Haus hinüber.

Die kleine drahtige Frau sprang aus ihrem Wagen und stolperte auf den Mann zu. Sie rief etwas, das Dominik nicht ganz verstehen konnte. Ein heftiger Windstoß fegte gerade über das Seeufer und ließ die Bäume laut rauschen.

Der Mann packte die Frau und zerrte sie zu seinem Auto. Er hielt ihr den Mund zu, so daß sie nicht schreien konnte. Ihre Kraft reichte nicht aus, um sich gegen diesen Kerl zur Wehr zu setzen.

Dominik sah, wie der Mann eine Pistole aus dem Handschuh­fach holte und sie der Frau am Arm ansetzte. Gleich darauf sackte sie in sich zusammen, und er verstaute sein Opfer im Kofferraum seines Wagens.

Der Knickerbocker faßte sich an den Arm. Er war bestimmt auch auf diese Art betäubt worden.

Der Mann rannte ins Haus, kam aber bald wieder auf die Straße gestürzt. Er lief in Dominiks Richtung und suchte die Umgebung nach ihm ab.

- 45 -

Page 47: Geheim Akte Y

Fluchend gab er nach ein paar Minuten auf und verschwand wieder im Seehaus.

Dominik war inzwischen unter einem am Straßenrand abgestell­ten Fahrzeug in Deckung gegangen und hatte von dort aus beob­achtet, was der Mann tat. Als dieser sich an ihm vorbeigepirscht hatte, war dem Junior-Detektiv fast das Herz stehengeblieben. Der Mann hatte direkt neben dem parkenden Wagen angehalten und sich umgedreht. Dominik hatte damit gerechnet, jeden Augen­blick entdeckt und aus seinem Versteck gezerrt zu werden.

Nun stockte dem Jungen der Atem. „Nein, nicht!“ hauchte er. Dominik wußte nicht, was er tun sollte: Der Mann trug eben die beiden Mädchen aus dem Haus und verlud sie in den Wagen. Schon fuhr er davon.

Dominik kroch aus seinem Versteck und schämte sich, nichts unternommen zu haben.

Er rannte und rannte, bis er endlich St. Gilgen erreichte. Nach langem Suchen fand er eine Telefonzelle und benachrichtigte die Polizei von der Entführung.

Dann machte er sich auf den Rückweg. Der Junior-Detektiv traf zur gleichen Zeit beim Seehaus ein wie der Streifenwagen. Stammelnd berichtete er den beiden Polizisten, was sich ereignet hatte.

Die Männer waren freundlich, doch Dominik sah ihnen an, daß sie ihm nicht glaubten. Sie folgten ihm ins Haus und beäugten die leeren Luftmatratzen und Schlafsäcke.

Dann beugten sie sich über Herrn Klingmeier. „Ruf die Rettung!“ trug der eine seinem Kollegen auf. In diesem

Augenblick entdeckte er jedoch auf dem Nachtkästchen eine Schachtel Tabletten. Er las den Beipackzettel und kontrollierte, wie viele Tabletten noch in der Packung waren: „Der gute Mann hat Schlaftabletten genommen. Kein Wunder, daß er nicht wach­zubekommen ist!“ brummte er und warf Dominik einen mißtraui­schen Blick zu.

Der gerufene Arzt konnte auch nur feststellen, daß Herr Kling­meier aufgrund einer großen Dosis Schlaftabletten tief und fest

- 46 -

Page 48: Geheim Akte Y

schlief. Zur Sicherheit ließ er Axels Vater jedoch ins Krankenhaus bringen.

„Aber meine Freunde sind verschwunden! Zuerst konnte ich Axel nicht finden, und dann hat ein Mann Lilo und Poppi geholt!“ sagte Dominik.

Da piepste das Handy. Dominik drückte die Empfangstaste und meldete sich.

„Hallo, ich bin’s, Axel!“ hörte er die aufgeregte Stimme seines Kumpels. „He, du alter Langweiler, warum bist du nicht nachgekommen? Es ist super hier. Wir haben einen irren Spaß und werden garantiert nicht zum Schlafen kommen.“

„Aber wo... wo steckt ihr?“ stammelte Dominik. „Na, wo schon? Tu nicht so!“ kicherte Axel. „Das weißt du

doch genau!“ fügte er hinzu und legte auf. Der Polizist hatte mitgehört. „Also, es klärt sich alles auf. Deine

Freunde scheinen irgendwo eine Mitternachtsparty zu feiern. Aber ohne dich! Beim nächsten Mal würde ich nicht kneifen! Sollen wir dich in ein Kinderheim bringen oder bleibst du allein im Haus?“

Dominiks Stolz war mehr als verletzt. Er ließ sich nicht gerne als Feigling und Dummkopf hinstellen. „Ich bleibe da“, brummte er und wandte sich um.

Nachdem die Polizisten gegangen waren, rannte er wie ein gefangenes Tier durch die Zimmer und bebte am ganzen Körper.

Was sollte er tun, wenn der Mann zurückkehrte? Er lief zum Steg, band das Boot los und ruderte auf den stillen,

spiegelglatten See hinaus. Ein großes Stück vom Haus entfernt legte er an. Hier fühlte er sich sicherer.

Was sollte er nur unternehmen? Plötzlich kam ihm eine Idee.

- 47 -

Page 49: Geheim Akte Y

Was wird Dominik tun?

- 48 -

Page 50: Geheim Akte Y

Dominik gibt nicht auf

Axel saß in einem völlig leeren Raum. Die Wände und der Boden waren aus gebürstetem Metall. Er fühlte sich wie in einem riesi­gen Abwaschbecken.

Der Raum war hell, denn zwischen den Wänden und der Decke befand sich eine schmale Fuge, aus der helles Licht drang.

Axel wußte nicht, ob Tag oder Nacht war. Seine Uhr war ihm abgenommen worden. Er spürte nicht einmal, ob er müde oder ausgeruht war.

Hauptsache, die Schwere war aus seinen Gliedern gewichen. Er konnte sich wieder normal bewegen.

Vor einiger Zeit hatte er Dominik angerufen. Er war auf ein Telefon zugegangen und hatte mit ihm gesprochen. Die Worte waren aber nicht aus seinem Kopf gekommen. Er hatte sie sagen müssen, er hatte keine andere Wahl gehabt. Etwas hatte ihn dazu gezwungen. Eine innere Stimme. Sobald er auch nur daran dachte, sich dieser Stimme zu widersetzen, verspürte er starke Schmerzen in der Brust.

Jetzt waren nebenan Geräusche zu hören. Axel erinnerte sich, schon einmal dieselben Geräusche vernommen zu haben. Wann das gewesen war, wußte er aber nicht.

Irgendwie fühlte sich Axel, als stünde er neben sich, als wäre er gar nicht in seinem Körper.

Der Raum hatte keinen Ausgang. Auch Fenster gab es keine. Axel verstand nicht, wie er hierher gelangt war. Doch eines wußte er: Er befand sich im Energiefeld einer unheimlichen fremden Macht. Es war kein Raumschiff, nichts Gegenständliches, sondern ein umrißloses Gebilde aus Energie und Licht.

Axel mußte pinkeln. Er stand auf und sah sich suchend um. Sollte er seine Notdurft einfach in einer Ecke verrichten? Ihm ekelte bei dem Gedanken. Er kam sich plötzlich wie ein Hund in einem Zwinger vor.

„He, rauslassen, ich muß mal! Laßt mich raus!“ rief er und trommelte gegen die Metallwände, die zu seiner Überraschung

- 49 -

Page 51: Geheim Akte Y

nicht besonders dick zu sein schienen. Waren sie aus Blech? Er warf sich gegen jede der vier Wände und spürte plötzlich, daß es heller wurde.

Durch eine der senkrechten Kanten drang Licht. Axel entdeckte, daß er die Wand links von sich verschoben hatte. Er drückte weiter dagegen und stemmte sie schließlich so weit auf, daß er seine Zelle verlassen konnte.

Nun stand er in einem Saal mit hohen Bogenfenstern. Draußen erstreckte sich ein prachtvolles Bergpanorama.

Axel tappte wie ein Schlafwandler durch den Saal. Seine Augen schmerzten im Tageslicht. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte um die Mittagszeit sein.

Was Axel nicht wußte, war, daß Dominik vor dem Haus stand. Der Junior-Detektiv hatte in Lilos Rucksack Aufzeichnungen

über die geheimnisvolle Gesellschaft zur Erforschung von Leben aus dem All gefunden. Das Superhirn hatte natürlich auch die Adresse festgehalten, die sich Axel von Fritz hatte durchgeben lassen.

Am Vormittag hatte es für Dominik noch eine schlimme Über­raschung gegeben. Die Polizei war vorbeigekommen und hatte ihn gerügt, weil er gelogen hatte. Als Axels Vater munter gewor­den war, hatte man ihn umgehend befragt: Herr Klingmeier war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, als er erfuhr, was Dominik der Polizei erzählt hatte.

Der Junior-Detektiv hatte beschlossen, die Sache nun selbst in die Hand zu nehmen. Er zitterte bei dem Gedanken, der unbe­kannten Gefahr ganz auf sich allein gestellt gegenüberzutreten, aber er konnte und wollte seine Freunde nicht im Stich lassen. Bis die Polizei ihm endlich glaubte, war es vielleicht zu spät.

Der Sitz der Gesellschaft war ein Barockschloß, das ihn an die Anlage erinnerte, die sie besichtigt hatten. Ein langer Kiesweg führte durch einen Park darauf zu.

Dominik sah den Wagen vor dem Schloß stehen, den er in der Nacht beobachtet hatte. In ihm waren seine Freunde weggebracht worden. Wie sollte er in das Haus gelangen? Ricarda durfte er auf keinen Fall über den Weg laufen.

- 50 -

Page 52: Geheim Akte Y

Dominik hörte hinter sich Schritte im Kies. Er versteckte sich hinter einem dicken Baum und sah einen jungen Mann kommen. Es war ein zarter, schwächlich aussehender Bursche mit großen abstehenden Ohren und einer artig geschnittenen Frisur. Er eilte auf das Haus zu, und Dominik folgte ihm im Schutz der Büsche.

Der Mann betätigte die Klingel. „Bitte nennen Sie Ihren Namen!“ forderte ihn eine Stimme aus

einem Lautsprecher auf. „Willi. Willibald Wurzer!“ sagte der junge Mann. „Ich kann es

noch kaum glauben, aber ich wußte es. Natürlich habe ich niemandem davon erzählt – ich will doch nicht wieder ausgelacht werden.“

Die Tür öffnete sich automatisch und lud zum Eintreten ein. Dominik nahm allen Mut zusammen und überquerte den

Vorplatz. An der Hausmauer entlang schlich er geduckt zur Tür, die sich langsam schloß.

Über seinem Kopf surrte etwas. Er blickte auf und sah eine Überwachungskamera. Sie war auf die Tür gerichtet, begann jetzt aber zu ihm herüber zu schwenken.

Die Tür war nur noch einen Spaltbreit offen. Dominik vermutete, daß die Kamera mit einem Infrarotsensor

ausgestattet war, der auf Körperwärme reagierte. Plötzlich trat er auf etwas, das ihn fast ausrutschen ließ. Er sah

zu Boden. Es war der Gartenschlauch. Er hing an einem Wasserhahn der Hausmauer.

Dominik schnappte den Schlauch, öffnete die Düse – und schon schoß ein Strahl in Richtung Kamera. Sofort schwenkte diese nach unten. Sie war darauf programmiert, das Objektiv vor Wasser zu schützen.

Im letzten Moment schaffte es Dominik, durch den Türspalt zu schlüpfen. Klickend rastete das automatische Schloß ein.

„Hoffentlich haben die mich nicht bemerkt“, dachte er. Er konnte Willi sehen, der die breite Freitreppe in den oberen

Stock hinaufstieg. Er wirkte fast andächtig. Es schien ein großer Moment für ihn zu sein.

- 51 -

Page 53: Geheim Akte Y

„Ich wette, es ist alles Schwindel!“ murmelte Dominik. „Wenn an der Landung der Außerirdischen was dran wäre, wozu dann die krummen Touren?“

„Hallo, ist da niemand?“ hörte der Junior-Detektiv Willi rufen. Ein Surren war die einzige Antwort. Dominik schlich ihm nach und beobachtete, wie der Mann auf

eine offene Tür zuging. Unheimlich grelles Licht strömte heraus. Feierlich setzte WM seinen Weg fort. Das Licht schien ihn zu

verschlucken. Dominik hörte einen leisen Aufschrei. Danach ertönte ein

metallisches Klicken, das den Jungen an Handschellen erinnerte.

- 52 -

Page 54: Geheim Akte Y

Eine verblüffende Wendung

Der Junior-Detektiv spähte durch die offene Tür, konnte aber nichts erkennen, weil das Licht ihn so blendete. Er legte die Hän­de vor die Augen und äugte zwischen den Fingern in den Raum.

Dort standen Ricarda und ein rotbärtiger Mann. Sie stützten Willi, der kraftlos in ihren Armen hing. Vermutlich hatten sie ihn betäubt. Sie schickten sich gerade an, ihm einen breiten Gürtel um die Hüfte zu legen, der an einer Art Trapez hing. Zwei dünne Stahlseile führten zur Zimmerdecke, wo Hunderte Halogenlam­pen angebracht waren.

Dominik kannte die Vorrichtung, in die Willi eingespannt wurde. Sie wurde am Theater für Schwebeeffekte eingesetzt. Der Knickerbocker hatte das Gerät sogar schon einmal ausprobiert. Man fühlte sich fast schwerelos darin.

Dann legten die beiden Willi auf einen Metalltisch. An seinem Kopf brachten sie Kabel an, die zu einem Gerät mit Dutzenden Anzeigen führten.

Sollte der Mann einer Gehirnwäsche unterzogen werden? Hinter Dominik surrte es. Er wirbelte herum und fuhr erschrok­

ken zusammen. Ein Außerirdischer mit breitem Kopf und riesigen Augen kam auf ihn zu.

Axel hatte die Hintertreppe des Hauses erreicht und tappte langsam nach unten. Er hatte völlig die Orientierung verloren, und sein Kopf war schrecklich leer.

Auf der Suche nach einer Toilette öffnete er jede Tür, auf die er stieß. Nun war er im Keller angelangt. Axel konnte sich kaum mehr zurückhalten, als er endlich sein Ziel erreicht zu haben glaubte.

Er stürzte in den Raum und – stand vor einer Tresortür. Sie war nur angelehnt. Neugierig zog er sie auf.

An der Decke gingen mehrere Lichtröhren an: Im Tresor lager­ten an die dreißig rechteckige Metallbehälter. Die gelbschwarzen Zeichen auf den Kisten ließen das Schlimmste befürchten.

- 53 -

Page 55: Geheim Akte Y

Was bedeutet das Zeichen auf den Behältern?

Dominik wich zur Seite und der Außerirdische wankte an ihm vorbei. Bei jedem seiner Schritte war ein metallisches Knirschen und Knacken zu hören.

Ein Roboter! Es war ein Roboter, kein Zweifel! „Bring ihn in Position, dann können wir anfangen“, sagte

Ricarda. „Das Ding funktioniert jetzt einwandfrei, wie wir an unserem jungen Freund feststellen konnten. Obwohl er nicht an UFOs glaubt, führt er alles aus, was wir ihm mit der Alphastimme befehlen.“

„Was tun wir eigentlich mit den anderen? Sie müßten schon wach sein“, fragte der Bärtige.

„Wir machen sie uns auch gefügig. Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?“ meinte Ricarda grinsend.

- 54 -

Page 56: Geheim Akte Y

Dominik überlegte fieberhaft, was er jetzt unternehmen sollte. Die beiden würden ihn sehen, wenn sie das Zimmer verließen.

Aber plötzlich erschien ihm die Lösung ganz einfach. Er sah sich um und entschied sich für einen barocken Stuhl, der an einer Wand stand. Auf Zehenspitzen holte er ihn, und dann ging alles ganz schnell.

Was hat Dominik vor?

Axel hatte doch noch eine Toilette gefunden. Als er sie verließ, fielen ihm die Geräusche ein, die er gehört hatte, als er in dem Stahlraum gefangen gewesen war.

Er lief in den oberen Stock und kehrte zu dem Gebilde aus Blechplatten zurück, in dem er erwacht war. Gleich dahinter be­fand sich eine Tür. Sie war abgesperrt, aber der Schlüssel steckte.

Axel öffnete sie und riß die Augen auf. Vor ihm auf dem Boden lagen Lilo und Poppi. Ein Stück entfernt sah er die Frau vom Bahnhof. Durch das Geräusch der Tür geweckt, richteten sich alle drei auf.

„Axel...“, stöhnte Lilo. „Was... wo sind wir... Was ist los?“ „Das darfst du mich nicht fragen! Ich weiß nur, daß im Keller

radioaktives Material lagert. Ich habe das Zeichen eindeutig erkannt. Vielleicht brauchen die Außerirdischen das Zeug...“, meinte der Junior-Detektiv.

„Es gibt keine Außerirdischen!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Jetzt war die Verblüffung von Axel, Poppi und Lilo perfekt.

Dominik stand in der Tür. „Wie kommst du hierher?“ fragten sie wie aus einem Munde.

- 55 -

Page 57: Geheim Akte Y

„Egal! Wichtig ist, daß wir hier wegkommen! Die beiden Gau­ner habe ich eingesperrt. Aber es steckt nur ein Stuhl unter der Klinke, und ich weiß nicht, wie lange der sie aufhält.“

Im Keller des Schlosses lagerte also Plutonium, ein radioaktives Material, aus dem Atombomben hergestellt werden konnten. Der Handel damit war strengstens verboten, und skrupellose Waffen­händler zahlten Milliardenbeträge dafür.

Ricarda und ihr Komplize hatten das Plutonium vor Jahren einem Schmuggler abgekauft. Der Schmuggler war in Österreich in Bedrängnis geraten und hatte die heiße Ware schnell abstoßen müssen. Da er unter großem Druck gestanden war, hatten der Bärtige und Ricarda das Material zu sehr günstigen Bedingungen erstanden.

Um das Plutonium teuer weiterverkaufen zu können, entschloß sich das Gaunerpaar, es ins Ausland zu schaffen – was natürlich die Gefahr in sich barg, dabei erwischt zu werden. Deshalb waren sie auf die Idee verfallen, Kuriere auszubilden, die den Transport für sie übernahmen.

Ricardas Komplize, Ernst Egon Lutovsky, war früher einmal ein begeisterter Ufologe gewesen und mehreren Vereinigungen und Klubs beigetreten. Er kannte daher viele Menschen, die von der Landung Außerirdischer in einer Weise überzeugt waren, die an Fanatismus grenzte. Dieser Besessenheit hatte sich das Gauner­paar für seine Zwecke bedient und die Kuriere zu manipulieren verstanden. Die Stahlkammer hatte dabei eine entscheidende Rolle gespielt.

Die seltsame Stimme, die Axel gehört hatte, war eine elektroni­sche Konstruktion und wirkte hypnotisch. Bekam die behandelte Person von dieser Stimme – direkt oder per Telefon – etwas aufgetragen, mußte sie es tun – und das im Glauben, im Auftrag außerirdischer Kräfte zu handeln. Wurde ein Kurier festgenom­men, war aus ihm nicht der geringste Hinweis auf die Drahtzieher im Hintergrund herauszubekommen. Alles, was die Polizei zu hören bekam, waren Geständnisse, sich den Befehlen außerirdi­scher Mächte gefügt zu haben.

- 56 -

Page 58: Geheim Akte Y

Glücklicherweise konnte die Hypnose rückgängig gemacht wer­den. Sowohl Axel als auch seinem Vater wurde ein Gegenmittel verabreicht, und bald waren die beiden geheilt.

Die Frau, die die Diskette am Bahnhof gestohlen hatte, war die Schwester eines der Opfer, bei dem die Hypnose nicht so ganz funktioniert hatte.

Friederike Radinger hatte von der UFO-Leidenschaft ihres Bruders gewußt und eines Tages eine seltsame Veränderung an ihm festgestellt. Mehrfach war er plötzlich verreist und konnte sich bei seiner Rückkehr an nichts erinnern. Er hatte nur mehr von den Befehlen seiner Freunde aus dem All gesprochen, die er befolgen mußte, um ihnen zu helfen.

Mit viel Mühe und großer Geduld war es ihr gelungen, aus ihm herauszubringen, was sich ereignet hatte. So war sie auf den Kontaktpunkt am Salzburger Bahnhof gestoßen, wo sie tagelang gewartet hatte. Bei Antritt seiner letzten Reise hatte ihr Bruder kurz vor der Abfahrt des Zuges auf Gleis 6 einen silberfarbenen Umschlag erhalten.

Die Frau ahnte, daß die Knickerbocker-Bande nicht so einfach aufgeben würde. Ihr Cousin, der ihr beim Entschlüsseln der Diskette geholfen hatte, war auf ein kodiertes Signal aufmerksam geworden, das ihm verraten hatte, daß die Diskette kopiert worden war.

„Die Geheimakte Y können wir also schließen“, sagte Lieselotte zufrieden. „Das ist ja gerade noch einmal gutgegangen!“

Axel schmunzelte und rieb sich freudig die Hände. „Ich bin schon auf die nächste Akte gespannt!“ rief er. Die Schrecken waren vergessen, und er konnte kaum erwarten, was mit dem nächsten Abenteuer auf ihn und seine Freunde zukommen würde...

- 57 -

Page 59: Geheim Akte Y

- 58 -

Page 60: Geheim Akte Y

Willkommen im Horrorland

Lieselotte erwachte als erste. Verschlafen rieb sie sich die Augen und richtete sich auf.

Da war ein Geräusch! Dann ein Stöhnen und Wimmern. Rief da jemand um Hilfe?

Unruhig starrte das Superhirn der Knickerbocker-Bande in die stockfinstere Nacht.

Lilo war sehr froh, daß ihre drei Freunde Axel, Poppi und Dominik im selben Raum schliefen. Das gab ihr ein wenig Sicher­heit.

Die schaurigen Rufe setzten von neuem ein, und Lilo zog den Kopf zwischen die Schultern.

Das Mädchen weckte seine Freunde. „Hört ihr das auch?“ fragte es sie.

Sehr müde und unwillig lauschten Axel, Dominik und Poppi in die Dunkelheit.

„Da... ist eine Stimme!“ murmelte Dominik. Axel zog unter seiner Decke eine starke Taschenlampe hervor

und knipste sie an. Langsam ließ er den Lichtkreis über die Bücherregale gleiten,

die die ganze Wand entlang liefen und dem Raum etwas Bedrückendes gaben.

Der Schein der Taschenlampe fiel nun auf eine der zahlreichen Buchstützen aus Bronze, die Voodoo-Priester mit eigenartig verzerrten Gesichtern darstellten.

Axel fuhr zusammen. Die gruseligen weißen Ringe, die um die Augen des Priesters gezogen waren, hatten sich bewegt.

Der Mund des Jungen war staubtrocken. „Seht ihr... das auch?“ hauchte er. „Der Kopf verwandelt sich in einen Totenschädel!“

„Eine Schlange!“ wisperte Poppi. „Da kriecht eine Schlange aus dem Mund des Mannes. Eine Mamba!“

Lieselotte kniff die Augen zusammen und murmelte: „Nein! Das sind... das sind Skorpione in seinen Haaren!“

Dominik sah Vogelspinnen aus der Nase hervorkommen.

- 59 -

Page 61: Geheim Akte Y

Das Stöhnen und Flehen des Voodoo-Priesters wurde immer eindringlicher.

Axel sprang aus dem Bett und tastete sich zur Tür. „Raus hier! Raus!“ rief er. „Da kommt ein Mann aus der Wand... er hat einen Stab mit einem Totenkopf in der Hand! Er will uns etwas antun!“

Jetzt schossen auch die anderen aus den Betten und stolperten aus dem Raum.

Sie gelangten auf eine Veranda, von der einige Stufen hinab in den Garten führten. Im schwachen Licht des Mondes wirkten die prachtvollen Palmen, Sträucher und Blumen wie Gebilde aus Metall.

Als Axel, Lilo, Poppi und Dominik sich genauer umsahen, erreichte der Schrecken dieser gespenstischen Nacht seinen Höhe­punkt.

Auch die handtellergroßen Blüten des Busches direkt vor Axel nahmen für ihn nun die Gestalt von Totenköpfen an. Poppi ver­folgte entsetzt, wie aus einem Gartenschlauch eine Schlange wurde, für Lieselotte verwandelte sich eine Sichel in einen Riesenskorpion, und ein harmloser Laubrechen kroch Dominik als mächtige Spinne entgegen.

Für jeden der vier Knickerbocker war ein Alptraum Wirk­lichkeit geworden...

- 60 -

Page 62: Geheim Akte Y

Wo ist Axel?

Lieselotte packte Poppi und Dominik an den Händen. „Kommt mit... wir bleiben keine Sekunde länger hier!“ rief sie.

Keiner der beiden widersprach ihr. Bei Tag hatte das weiß gestrichene Holzhaus mit dem roten Dach und den rot-weiß gestreiften Markisen so freundlich und harmlos ausgesehen. Es lag so friedlich auf dem Hügel über dem Meer.

In der Nacht hatte es nun sein wahres Gesicht gezeigt. Es war ein Spukhaus, auf dem tatsächlich ein böser Fluch lasten mußte.

Der Voodoo-Priester, der zum Leben erwacht war, ließ die Knickerbocker-Bande nicht los.

Lilo, die noch immer Poppi und Dominik im Schlepptau hatte, erreichte den Zaun und sprang einfach darüber. Die beiden jüngeren Mitglieder der Bande hatten große Mühe, ihr zu folgen.

Der Kies knirschte unter den bloßen Füßen der sich langsam vorantastenden Freunde. Der Mond gab nur wenig Licht, und ihre Taschenlampen hatten sie im Schlafzimmer vergessen. Dorthin würden sie allerdings keine zehn Pferde mehr zurückbekommen!

Auf einmal blieb Lilo stehen. „Und wo ist Axel?“ rief das Superhirn.

Suchend blickten sich die drei um. Sie hatten nicht auf ihren Kumpel geachtet. Wo steckte er?

„Axel! Axel! Wo bist du?“ riefen sie in die Nacht. Keine Antwort. Was jetzt? „Wir müssen umkehren!“ stieß Lieselotte hervor. „Muß das sein?“ murmelte Poppi. „Wir können ihn nicht im Stich lassen!“ meinte Lilo entschie­

den. Die drei Junior-Detektive drängten sich eng aneinander, als sie

sich dem Haus auf dem Hügel näherten. Eine unsichtbare, aber sehr, sehr starke Kraft schien sie abhalten zu wollen.

„Ein Feuer!“ flüsterte Dominik. Zwischen den dicken Stämmen der Palmen im Garten tanzte ein flackernder Lichtschein.

- 61 -

Page 63: Geheim Akte Y

Fast gleichzeitig entdeckten die drei ihren Kumpel. Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Baum und starrte mit weit aufge­rissenen Augen auf eine Metallschale. Sie stand vor ihm auf dem Boden, und kniehohe grüne Flammen loderten aus ihr empor.

Von der Seite tauchte eine zweite Gestalt auf, deren Anblick den Knickerbockern den Atem verschlug: Es war der Voodoo-Priester.

Mit Entsetzen sahen Poppi, Lilo und Dominik die Kiste, die er gerade neben sich abstellte. Sie hatte die Form eines Fisches.

„Das... das ist ein Voodoo-Sarg!“ keuchte Dominik. Er kannte sich bei diesen Dingen einigermaßen aus, da er bereits mehrere Bücher über den Geheimkult gelesen hatte.

„Der Mann will Axel in den Sarg legen und... lebendig be­graben!“

Lilo schüttelte immer wieder stumm den Kopf. „Nein... nein... das darf nicht geschehen... Nein!“ Aber wie sollten sie dem Jun­gen zu Hilfe kommen, ohne selbst in die Gewalt des Priesters zu geraten? Zweifellos hatte er Axel mit einer Droge betäubt oder berauscht.

- 62 -

Page 64: Geheim Akte Y

Der Zauberer

Der Voodoo-Magier hob beschwörend die Arme und warf eine Handvoll Körner in das Feuer. Sofort änderte sich die Farbe der Flammen.

Der Zauberer, dessen Gesicht wie eine Totenkopffratze wirkte, öffnete den Sarg, richtete die gespreizten Finger auf Axel und schloß die Augen.

Der Junge gehorchte widerspruchslos und torkelte los. Mit star­rem Blick schritt er in sein Verderben. Dicke gelbe Rauchschwa­den quollen aus der Feuerschale und umnebelten ihn.

Lieselotte atmete schwer. Lautstark sog sie die Luft ein und knabberte nervös an den Spitzen ihrer Zöpfe. Es mußte ihr etwas einfallen!

Poppi hatte die Hände zu Fäusten geballt. Warum waren sie so machtlos?

Das Mädchen trat von einem Fuß auf den anderen, und seine Zehen berührten dabei etwas Dünnes, Kühles und Hartes. Poppi überlegte kurz und wagte es dann, sich zu bücken und danach zu greifen.

Das war es! Das war die Rettung! Das Mädchen beugte sich zu Dominik und flüsterte ihm etwas

ins Ohr. Der Junge nickte und tastete sich nach links in die Dunkelheit.

Bald hatte er gefunden, wonach er suchte. Er drehte den Hahn ganz auf, und schon begann das Wasser aus dem Schlauch zu schießen. Poppi hatte ihn genau auf den Voodoo-Magier gerichtet, der einen hohen, langgezogenen Schrei ausstieß, als er von dem scharfen Strahl am Kehlkopf getroffen wurde. Zischend erlosch das Feuer.

Nun spritzte das Mädchen auch seinen Kumpel an, der zusam­menfuhr und sich dann wie ein Hund schüttelte.

„Was ist los... wo bin ich?“ prustete Axel.

- 63 -

Page 65: Geheim Akte Y

„Komm her! Schnell! Hier sind wir!“ schrie Lieselotte und kam ihrem Freund entgegen. Sie packte ihn am Unterarm, und gemein­sam hastete die Knickerbocker-Bande nun den Hügel hinunter.

Dabei sahen sich die vier Junior-Detektive kein einziges Mal um. Ihr einziger Gedanke war, dem unheimlichen Ort zu entkom­men.

Endlich erreichten sie die breite, aber ziemlich mitgenommene Landstraße, die zum nächsten Dorf führte. Lilo breitete die Arme aus. „Stopp! Da ist jemand! Seht ihr den Wagen?“ flüsterte sie.

Die Autotür wurde geöffnet, und eine junge Frau stieg aus. „Lieselotte, ich bin es!“ rief im nächsten Augenblick eine

bekannte Stimme. „Alice!“ jubelten die Knickerbocker und eilten auf die Frau zu.

Erleichtert fielen sie ihr um den Hals. „Bitte bring uns von hier fort!“ flehten die sonst gar nicht so ängstlichen Abenteurer.

„Es war der blanke Horror!“ berichtete Dominik, sobald der Wagen losfuhr.

„Ihr... ihr habt es also auch erlebt? Dann war es also keine Einbildung!“ sagte Alice. „In dem Haus geht es nicht mit rechten Dingen zu!“

Die Knickerbocker-Bande war ratlos, aber die vier wollten der Sache auf den Grund gehen, sobald sie sich ein wenig gefangen hatten.

- 64 -

Page 66: Geheim Akte Y

Horror im „Wunderland“

Alice war Lieselottes Brieffreundin. Sie war um sieben Jahre älter als das Superhirn, aber sie verstand sich prächtig mit ihrer jünge­ren Freundin. Lilo hatte Alices Namen und Adresse in einer Jugendzeitschrift gefunden und ihr geschrieben.

Die junge Frau lebte in Miami und hatte vor einigen Monaten das weiße Holzhaus samt Garten und einem Stück Strand von ihrem Onkel Harry geerbt.

Das Grundstück lag auf der traumhaften Insel St. Thomas in der Karibik.

Zuerst war Alice von diesem „Wunderland“, wie sie es genannt hatte, begeistert gewesen, aber schon im nächsten Brief hatte sie Lieselotte von den schaurigen Erscheinungen erzählt, die sie Nacht für Nacht verfolgten. Da sie wußte, wie erfolgreich die Knickerbocker im Aufdecken mysteriöser Ereignisse waren, hatte sie die Bande in den Weihnachtsferien eingeladen, in die Karibik zu kommen.

Wenn der erste Eindruck von der Insel auch die absoluten Traumferien versprochen hatte, sehnte sich Axel nach den Vorkommnissen dieser Nacht auf einen österreichischen Berg zum Skifahren. Für ein gemütliches Bett und spukfreie Nächte verzichtete er gerne auf Sonne und Wärme.

Bereits im Auto arbeiteten Lieselottes Gehirnzellen auf Hoch­touren.

Die Junior-Detektive hatten das Gebäude genauestens unter­sucht – innen und außen. Dabei war ihnen nichts, aber absolut nichts Verdächtiges aufgefallen.

Geistererscheinungen dieser Art konnten nur mit Hilfe kompli­zierter technischer Geräte erzeugt werden. Aber im ganzen Haus war kein Hinweis auf eine Anlage dieser Art zu entdecken gewesen.

Bis in die Abenddämmerung hinein waren sie dann im Garten gesessen und hatte das Anwesen keine Sekunde aus den Augen gelassen. Nicht einmal ins Wasser waren sie gegangen.

- 65 -

Page 67: Geheim Akte Y

„Wir fahren jetzt in das Grand Palace Hotel“, sagte Alice. „Dort wohne ich, seit der Spuk begonnen hat. Ich wußte, daß es euch nicht besser ergehen wird, und habe deshalb für euch schon zwei Zimmer reserviert.“

Erschöpft fielen die Knickerbocker in die breiten, weichen Betten. Hier waren sie in Sicherheit.

Alice war eine besonders freundliche junge Frau, die allerdings an einer Krankheit litt, die ihr das Leben schwer machte. Sie konnte den Lärm von Städten und die Hektik des Alltags nicht mehr ertragen und begann – wenn etwas ihre Kräfte überstieg – so schrecklich zu zittern, daß sie nicht einmal mehr einen Bleistift halten oder gehen konnte. Auf der Insel St. Thomas, im Traum­haus ihres Onkels hatte sie die Ruhe zu finden gehofft, die man ihr seitens der Ärzte dringend empfohlen hatte. Aber daraus war nichts geworden.

Alice war völlig verzweifelt. Und Lieselotte wollte ihr aus diesem Grund unbedingt helfen.

Das Superhirn beschloß, das Grübeln für heute sein zu lassen, und versuchte einzuschlafen.

Doch im Halbdunkel des luxuriösen Hotelzimmers schien sich immer wieder etwas zu bewegen. Ängstlich starrten Lilo und Poppi auf die altmodischen geschnitzten Pfosten ihrer Betten, die an jeder Ecke in die Höhe ragten. Die Schlangen, mit denen sie verziert waren, schienen bei näherem Hinschauen zum Leben zu erwachen und sich aufzurichten.

Es waren giftige Kobras, die ihre Hälse blähten. Poppi schrie leise auf und schlüpfte zu Lieselotte unter die

Decke. „Siehst du das auch?“ fragte sie mit zitternder Stimme. Lieselotte nickte. „Ich will raus! Ich halte es hier nicht aus!“ gestand Poppi. Lilo kniff die Augen zusammen. Als sie sie wieder öffnete,

waren die Schlangen auf den Pfosten erstarrt. Das Telefon klingelte, und Lilo hob ab. Axel war am Apparat. Er bewohnte mit Dominik das Nebenzim­

mer. „Hier... hier spukt es auch... Eine Stehlampe hat sich in eine

- 66 -

Page 68: Geheim Akte Y

Qualle verwandelt“, keuchte er in den Hörer. „Und Dominik sieht dauernd Vogelspinnen auf dem Nachtkästchen!“

Lieselotte schlüpfte aus dem Bett und öffnete die Balkontür. Die Nacht war lau, und ein warmer Wind strich über ihre nackten Beine. Gierig sog sie die salzige Luft ein. Es war seltsam, aber hier draußen fühlte sie sich eindeutig freier und sicherer! Sie lief zum Telefon zurück und sagte: „Nehmt euer Bettzeug und legt euch auf den Balkon. Frag mich nicht, warum – aber ich habe das Gefühl, das ist einfach besser für uns!“

Die Jungen und Poppi befolgten Lilos Ratschlag und waren tatsächlich bald eingeschlafen.

Das Superhirn selbst fand noch immer keine Ruhe. Es hatte ein schlimmes Gefühl. Die Knickerbocker-Bande schien es mit schwarzer Magie zu tun zu haben. Vielleicht gab es auf der Insel sogar einen Voodoo-Meister, der Alice und die vier Freunde seinem Willen unterworfen hatte.

Die Junior-Detektive mußten es schaffen, dem Bannkreis seiner Macht zu entkommen.

Kannst Du Dir die Wahnvorstellungen der vier Knickerbocker-Freunde erklären?

- 67 -

Page 69: Geheim Akte Y

Lilo gibt nicht auf

Am nächsten Morgen regnete es. Aber es war ein warmer Regen, der nicht unangenehm war.

Die Knickerbocker-Freunde erwachten bereits kurz nach acht Uhr und fühlten sich wie erschlagen. Stöhnend richteten sie sich auf. Zum Glück waren die Balkone des Hotels überdacht. Nachdem sie geduscht und Zähne geputzt hatten, klopften sie an der Tür zu Alices Zimmer.

Die junge Frau sah auch nicht sehr ausgeschlafen aus. Außer­dem bemerkte Lieselotte besorgt, daß ihre Hände wieder heftig zitterten.

Das Frühstück fand auf einer großen Terrasse statt, von der aus die Bande einen prachtvollen Blick auf das Meer und die Nach­barinseln hatte. „In euch habe ich meine letzten Hoffnungen gesetzt!“ gestand Alice. „Aber nach der letzten Nacht bin ich mir sicher, daß dieses Haus verflucht ist. Ich werde versuchen, es zu verkaufen, aber bestimmt kann ich keinen hohen Preis erzielen. Das Geld wird nicht ausreichen, um ein anderes Häuschen auf der Insel zu erstehen.“

Axel hatte begriffen: „Du glaubst also, es hat sich schon herum­gesprochen, daß es in dem Haus spukt?“

Alice nickte. „Leider habe ich dem Mann davon erzählt, der den Garten pflegt.“

„Wie lange hat denn dein Onkel Harry in dem Haus gelebt?“ erkundigte sich Lieselotte.

Alice überlegte kurz: „Ich denke, 20 Jahre oder sogar länger. Aber ich weiß es nicht genau, denn ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen. Er wollte von seiner Familie nichts wissen.“

Lilo verzog das Gesicht. „Du weißt also auch nicht, was er in dem Haus erlebt hat“, folgerte sie. „Ob ihm wohl auch Kraken erschienen sind?“

Die junge Frau begann so heftig zu zittern, daß ihr fast die Kaffeetasse aus der Hand fiel. „Wie mir?“ schrie Alice. „Es war

- 68 -

Page 70: Geheim Akte Y

schrecklich! Ich sehe sie jetzt noch vor mir, wie sie mich mit ihren Armen umschlungen haben – ich wäre fast erstickt!“

Axel seufzte: „Alice, so traumhaft das Häuschen auch ist, verkauf es, bevor es zu spät ist!“

Aber davon wollte Lieselotte nichts wissen. „Nein, so schnell geben wir nicht auf! Echte Knickerbocker lassen niemals locker. Hast du das vergessen, Axel?“

Der Junge wurde rot und senkte den Blick. Er haßte es, wenn Lilo ihn wie ein Kleinkind behandelte. Noch mehr haßte er es, wenn sie mutiger war als er. „Und was schlägt Frau Professor Superschlau vor?“ zischte er empört.

„Ich schlage vor, daß wir das Haus noch einmal untersuchen!“ sagte Lilo mit bemüht fester Stimme.

„Und wie kommen wir hin?“ wollte Dominik wissen. „Zu Fuß ist es einfach zu weit!“

Alice, die sich an diesem Tag gar nicht mehr beruhigen konnte, lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, aber ich... ich kann euch nicht fahren.“

So blieb nur eine Möglichkeit: „Wir nehmen ein Taxi“, be­schloß Lieselotte. „In 15 Minuten ist Abfahrt. Wer nicht mitkom­men will, soll es sagen!“

Axel hatte keine Lust, den Helden zu spielen, und teilte das seiner Freundin auch gleich mit. Auch Poppi und Dominik konnten Lilos Plan nichts abgewinnen.

Lieselotte schnaubte verächtlich und zischte: „Gut, dann werde ich eben allein alles daransetzen, Alice zu helfen!“

Das saß wie eine Ohrfeige. Lieselottes Kumpel schienen zu zögern. Schließlich brachte jedoch keiner von ihnen den Mut auf, das Holzhaus auf dem Hügel noch einmal zu besuchen.

Mit energischen Schritten marschierte Lieselotte ein wenig später durch die Hotelhalle. Sie war so mit sich und ihren Gedanken beschäftigt, daß sie nicht bemerkte, wie sie beobachtet wurde. Seit ihrer Ankunft war die Knickerbocker-Bande verfolgt worden.

„Ich brauche bitte ein Taxi!“ sagte Lilo zu der Frau an der Rezeption.

- 69 -

Page 71: Geheim Akte Y

Nur eine Minute danach kam schon der Ruf vom Eingang: „Taxi!“

Würdest Du dieses Taxi nehmen?

Das Mädchen verließ das Hotel und stieg in einen ziemlich ver­beulten grünen Wagen. Hinter dem Steuer saß eine etwas rundli­che Schwarze. Kaum hatte Lilo die Tür zugeschlagen, fuhr sie auch schon los. Das Superhirn nannte ihr die Adresse des Hauses, aber die Frau nahm davon keine Notiz. „Haben Sie mich nicht verstanden?“ fragte Lieselotte etwas verwirrt.

Die Taxifahrerin verzog keine Miene, sondern trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Motor heulte ohrenbetäubend auf, und die Reifen drehten auf dem glatten Asphalt durch. Der Wagen schoß dermaßen plötzlich los, daß Lilo von der Rückbank rutschte und im Fußraum eingeklemmt wurde.

Während das Taxi seine Höllenfahrt fortsetzte, kämpfte sich das Mädchen allmählich nach oben.

Die Frau schien entweder betrunken oder völlig von Sinnen zu sein. Wild riß sie das Lenkrad nach rechts und nach links und ließ den Wagen von einer Kurve in die nächste schlittern.

Endlich war es Lilo gelungen, sich wieder auf die Rückbank zu setzen. Geistesgegenwärtig griff sie nach dem Sicherheitsgurt. Sie schnallte sich an und suchte nach einem Griff, an dem sie sich festklammern konnte. „Halt! Bleiben Sie stehen! Was machen Sie?“ brüllte das Superhirn aus Leibeskräften und versuchte, das Quietschen der Reifen und das Dröhnen des Motors zu übertönen.

Aber sie hatte keine Chance. Die Frau schien taub zu sein.

- 70 -

Page 72: Geheim Akte Y

Entsetzt fiel Lieselotte auf, daß der Wagen auf eine besonders schmale Küstenstraße eingebogen war. Unmittelbar neben ihr fielen die Felsen steil zum Meer hin ab. Durch den Regen war der Asphalt rutschig geworden, und einige Male schlitterte das Taxi gefährlich nahe an den Abgrund heran, der nicht durch Leitplan­ken gesichert war.

„Stopp!“ kreischte Lieselotte, deren Entsetzen immer größer wurde. „Stopp!“

Die Frau hinter dem Steuer ließ die rechte Hand unter ihren Sitz gleiten und holte eine Spraydose hervor. Sie richtete sie nach hinten und umnebelte Lieselotte mit einer weißen Wolke.

Das Mädchen spürte ein Brennen und Stechen in der Nase und in den Augen und verlor die Besinnung.

- 71 -

Page 73: Geheim Akte Y

Die Puppen im See

Als Lieselotte erwachte, hörte sie ein friedliches Rauschen und Plätschern. Es kostete sie einige Mühe, die Augen zu öffnen und sich aufzurichten. Sie saß noch immer in dem Taxi und war angeschnallt.

Das Auto hatte angehalten. Das Mädchen versuchte, einen Blick aus den Fenstern zu wer­

fen, war aber nicht sonderlich erfolgreich. Der Wagen schien von Buschwerk umgeben zu sein. War er vielleicht gar von der Straße abgekommen und einen Abhang hinuntergestürzt?

Lilo betastete ihre Gliedmaßen und stellte erleichtert fest, daß alles heil war.

Nur ihr Kopf brummte. Und ihre Augen machten Schwierigkei­ten. Sie konnte nicht klar sehen. Ihre Umgebung schien sich ständig zu verzerren.

Was war mit der Fahrerin geschehen? Wie tot hing sie in ihrem Sicherheitsgurt. Der Kopf lag schlaff und kraftlos auf der linken Schulter.

Lieselottes Herz begann wild zu jagen, als sie der Frau die Hand unter die Nasenlöcher hielt. Ja... sie atmete! Dem Superhirn fiel ein Stein vom Herzen.

Die Frau schien bewußtlos zu sein. Sie bewegte sich nicht und schien Lilos Rütteln nicht wahrzunehmen.

Lieselotte wurde die Sache unheimlich. Deshalb beschloß sie, auszusteigen und sich umzusehen.

Sie löste den Gurt und versuchte, auf der Fahrerseite auszu­steigen.

Doch die Tür klemmte und ließ sich nicht aufdrücken. Das Mädchen rutschte daher über die Rückbank und probierte sein Glück auf der anderen Seite.

Diesmal gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Das Rauschen und Plätschern wurde lauter. Ganz in der Nähe

mußte sich ein... ein Wasserfall befinden!

- 72 -

Page 74: Geheim Akte Y

Lieselotte stemmte die Füße gegen die Tür, um sie so weit aufzubekommen, daß sie aus dem Wagen klettern konnte. Das war alles andere als einfach: Die Äste des Gebüsches drückten ziemlich kräftig dagegen.

Beim dritten Anlauf hatte es Lilo geschafft. Das Holz gab nach, und der Spalt zwischen Tür und Auto war breit genug, um sich durchzuzwängen.

Die harten und stacheligen Blätter des Busches kratzten über Lieselottes Gesicht, verfingen sich in ihrem Haar und rissen an ihrem T-Shirt. Lilo biß die Zähne zusammen und drang in das Dickicht vor.

Hatte sie vielleicht wie Dornröschen 100 Jahre lang geschlafen? Endlich! Das Buschwerk schien ein Ende zu nehmen. Das Blau

des Himmels wurde sichtbar. Lilo schob die letzten Äste beiseite und wollte schon einen

großen Schritt vorwärts machen. In allerletzter Sekunde bremste sie sich jedoch ein und klammerte sich an einem Strauch fest. Spitze Dornen bohrten sich in ihre Haut, aber das war dem Mäd­chen gleichgültig.

Das Gestrüpp befand sich genau an der Kante eines kleinen Talkessels. Um ein Haar wäre Lieselotte 20 Meter in die Tiefe gestürzt.

Dort glitzerte ein tiefblauer See, in den sich ein schäumender Wasserfall ergoß.

Das Oberhaupt der Knickerbocker-Bande spürte, wie die Kraft aus seinen Knien wich. Der Schweiß trat Lilo aus allen Poren, und jeder Muskel in ihrem Körper schien sich anzuspannen. Das war doch kein Zufall! Das Taxi hatte an dieser Stelle angehalten, damit sie beim Aussteigen abstürzen mußte.

Aber warum war die Fahrerin bewußtlos? In der Mitte des kleinen Gewässers erkannte das Superhirn

einen Felsen, auf dem vier Puppen standen, die die Form von Holzkegeln hatten.

Eine der Puppen trug eine Brille, eine hatte eine Baseballmütze auf, die dritte hatte lange dunkle Haare, die vierte zwei lange blonde Zöpfe.

- 73 -

Page 75: Geheim Akte Y

Es war nicht zu übersehen, wen die Figuren darstellen sollten: die Knickerbocker!

Während Lieselotte mit weit aufgerissenen Augen die Voodoo-Puppen anstarrte, sauste vom Ufer des Sees ein brennender Klum­pen über das Wasser.

Er landete genau auf dem Felsen und ließ die Holzfiguren in Flammen aufgehen.

Lilo hatte gehört, daß ein Mensch alles spürte, was seiner Voodoo-Puppe angetan wurde. Und sie bildete sich nun ein, auch ein Brennen auf der Haut wahrzunehmen. „Nein... nein!“ schrie sie und kämpfte sich durch das Gestrüpp zurück Richtung Wagen.

Als Lieselotte das warme Blech des Taxis berührte, ließ sie sich auf den Boden nieder und kroch unter dem Fahrzeug durch. Da sah sie auf der anderen Seite zwei dicke Beine, die in ausge­latschten Turnschuhen steckten.

- 74 -

Page 76: Geheim Akte Y

Von Dämonen verfolgt

Und schon tauchte das dunkle Gesicht der Taxifahrerin vor Lilo auf.

„Da bist du ja endlich!“ rief sie und streckte Lieselotte helfend die Hände entgegen. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht!“

Die Junior-Detektivin robbte ein Stück zurück, so daß die Frau nicht nach ihr greifen konnte. Sie traute ihr nicht. Schließlich war sie es gewesen, die wie eine Verrückte über die schmale Küsten­straße gerast war und sie mit dem seltsamen Spray betäubt hatte.

„Ich... ich tu dir doch nichts!“ versicherte die Frau. „Glaub mir doch!“

Aber Lilo war sich da nicht so sicher. „Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist“, gestand die

Fahrerin. „Es war wie ein Traum. Plötzlich habe ich mich gezwungen gefühlt, dich so schnell wie möglich hierher zu bringen!“

Das Oberhaupt der Knickerbocker-Bande horchte auf. „Wer hat Ihnen das befohlen?“ wollte es wissen.

„Eine Stimme... eine tiefe Stimme... aber frag mich bitte nicht, wer das war! Wahrend der Fahrt habe ich plötzlich Angst vor dir bekommen. Du hast dich in einen Stachelrochen verwandelt, und deshalb habe ich dich mit dem Betäubungsgas besprüht. Ich habe es zu meinem Schutz immer bei mir. Aber als ich an dieser Stelle anlangte, stand plötzlich ein Mann an der Wagentür. Es war... ein... ein ...!“ Die Frau verstummte.

„Ein Voodoo-Meister?“ fragte Lieselotte. Die Taxilenkerin nickte. „Und dann habe ich die Besinnung

verloren. Als ich aufgewacht bin, warst du fort!“ Jetzt erst kam Lieselotte unter dem Auto hervor. Sie richtete

sich auf und klopfte den Staub von ihren zerfetzten Klamotten. Nachdenklich betrachtete sie das Taxi, das ganz knapp an das

Dornengestrüpp herangefahren worden war. Die linke hintere Tür war mit Stöcken verkeilt worden.

- 75 -

Page 77: Geheim Akte Y

„Was hast du getan?“ fragte die Frau plötzlich streng. „Du wirst von Dämonen verfolgt!“

Lilo zuckte zusammen. „Was???“ „Du wirst von bösen Geistern verfolgt. Du hast etwas Entsetzli­

ches angerichtet und den Zorn eines mächtigen Magiers auf dich gezogen!“

Lilo versuchte, nicht in Panik zu geraten. „Ich glaube nicht an diesen Zauber!“ sagte sie mit fester Stimme.

„Schweig!“ warnte die Frau das Mädchen. „Schweig und verlaß die Insel, so schnell du kannst! Nur so kannst du deinem Unglück entgehen!“

Lieselotte antwortete darauf nichts. Der flehende Blick der Frau hatte sie sehr unsicher gemacht. „Ich... ich will jetzt... zum Black­beard Drive!“ verlangte sie schließlich mit schwacher Stimme.

„Hör auf mich!“ drängte die Frau. „Ich kann nicht!“ erwiderte Lilo. Nachdem sie die Äste weggeräumt hatten, mit denen die Tür

verkeilt worden war, brachen sie auf. Minuten später war Lieselotte am Ziel. Allerdings weigerte sich

die Frau, ganz an Alices Häuschen heranzufahren. Sie ließ Lilo am Fuße des Hügels aussteigen und ermahnte sie immer wieder zur Vorsicht. „Der schwarze Schatten des Unheils liegt auf dir! Du mußt ihm entfliehen!“

Lieselotte rieselte ein kalter Schauer über den Rücken. War sie mit ihren Freunden tatsächlich in einen Zauberkreis geraten? Lag ein Fluch auf dem Haus?

Würdest Du der Taxilenkerin glauben?

- 76 -

Page 78: Geheim Akte Y

Endlich hatte das Superhirn das weiße Holzhaus mit dem roten Dach erreicht. Vorsichtig strich das Mädchen um das Haus.

Aufmerksam musterte es die Außenwand und die Pflanzen im Garten. Seine Blicke schweiften ständig hin und her, um nichts zu übersehen.

Als Lilo bei der Veranda angekommen war, die in das gruselige Schlafzimmer führte, blieb sie erschrocken stehen. Die Tür be­wegte sich, obwohl nicht der leiseste Lufthauch zu spüren war. Sie schien von Geisterhand geöffnet zu werden. Langsam, ganz langsam schwenkte sie nach außen. Das Quietschen ging dem Mädchen durch Mark und Bein.

Lieselotte trat den Rückzug an und wollte in Deckung gehen. Wer auch immer jetzt auftauchte, durfte sie nicht sehen. Ihre Hände ertasteten das feuchte Metall einer Tonne. Lilo machte einen ungeschickten Schritt, und das Faß kippte um. Donnernd krachte es zu Boden.

In der nächsten Sekunde flog die Tür auf, und eine grüne Gestalt sprang ins Freie.

- 77 -

Page 79: Geheim Akte Y

Der Friedhof der lebenden Toten

Lieselotte erschrak so heftig, daß sie hemmungslos zu kreischen begann. Es war nicht ihre Art, die Nerven zu verlieren, aber diesmal gelang es auch ihr nicht, ruhig zu bleiben.

„Hallo, Miss!“ rief eine hohe Stimme. Da Lieselotte noch immer etwas benommen war, schaffte sie es

erst jetzt, einen genauen Blick auf die grüne Gestalt zu werfen. Auf der Veranda stand ein grinsender junger Bursche in einer

Latzhose. Seine weißen Zähne strahlten zwischen den dicken dunklen Lippen, und in seinem Gesicht leuchteten zwei große, runde Augen.

„Nicht schreien! Sie erschrecken die Würmer in der Erde!“ scherzte er. „Sind Sie die Freundin von Miss Alice, die so klug ist wie James Bond?“

Lieselotte antwortete nicht. Zuerst wollte sie wissen, mit wem sie es zu tun hatte.

„Ich bin Jim, der Gärtner von Mister Harry und jetzt von Miss Alice. Ich bin gekommen, um das Gras zu mähen. Aber ich habe weder Miss Alice noch die Gäste gefunden, von denen sie gesprochen hat. Ich habe mir Sorgen gemacht, daß etwas gesche­hen ist, und habe mich deshalb im Haus umgesehen.“

Lieselotte beruhigte sich ein wenig, blieb aber mißtrauisch. „Jim tut Ihnen nichts, Miss!“ versicherte der junge Schwarze.

„Warum glauben Sie mir nicht?“ Er streckte Lilo die Hand entgegen, die sie zögernd ergriff und schüttelte. „Wo waren Sie? Und warum war das Haus nicht abgesperrt?“ wollte Jim wissen.

Lieselotte berichtete ihm nun nach und nach von den Ereignis­sen der Nacht und der letzten Stunden.

Jim war nicht weiter überrascht. „Das wundert mich nicht“, meinte er nur. „Mister Harry hat kaum Zeit in diesem Haus ver­bracht, weil er wußte, daß die lebenden Toten das nicht wollen.“

Lilo horchte auf. „Die lebenden Toten?“ „Dieses Haus hätte hier nie gebaut werden dürfen. Der Hügel ist

ein Friedhof – und die Toten erheben sich immer wieder aus den

- 78 -

Page 80: Geheim Akte Y

Gräbern. Wenn die Zombies aus der Erde kommen, darf ihnen niemand begegnen. Wer sie stört, bezahlt das mit dem Leben!“ schilderte Jim mit schauriger Stimme. „Mister Harry hat das gewußt und die meiste Zeit auf seinem Boot verbracht. Nur wenige Tage im Monat hat er sich hier aufgehalten. Es waren im­mer die Tage um Neumond, an denen er es gewagt hat, in seinem Haus zu schlafen. Dann ruhen nämlich auch die Zombies.“

Lilos Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie schien dem jungen Mann nicht zu glauben. „Und weshalb haben Sie keine Angst?“ fragte sie.

Jim zog ein handtellergroßes Amulett aus Silber unter seinem Hemd hervor. In das Amulett waren verschiedene Zeichen eingra­viert. „Es schützt mich vor dem Fluch der Dämonen, aber auch nur bei Tag! Ich trage es immer, seit ich hier zu arbeiten begon­nen habe. Mister Harry hat gut gezahlt, weil sich sonst keiner auf den Zombie-Friedhof getraut hat. Die Strahlungen des Bösen, die aus der Erde dringen, haben alle in die Flucht geschlagen.“

Sagt der Gärtner die Wahrheit? Was meinst Du?

Lieselotte erschauderte. Hier schienen alle an die finsteren Mäch­te zu glauben. Sollte tatsächlich etwas Wahres an dem Zauber sein? „Borgen Sie mir das Amulett?“ bat sie den Gärtner.

Dieser überlegte kurz und überreichte es ihr dann. Ohne Schutz vor den geheimnisvollen Mächten wollte sich auch

Lieselotte nicht mehr weiter vorwagen. Sie umklammerte die silberne Scheibe und trat an Jim vorbei in den Schlafraum.

- 79 -

Page 81: Geheim Akte Y

Die Gesichter der Voodoo-Zauberer in den Regalen bewegten sich nicht – keine Spur von Spinnen oder Schlangen!

Lilo wollte die Buchstützen schon anfassen, doch dann verließ sie der Mut. Sie holte sich einen Stock aus dem Garten und klopf­te die Figuren damit ab.

Wie war es nur möglich gewesen, daß so gräßliche Tiere aus ihren Köpfen hervorgekrochen waren?

Als Lilo den Blick senkte, entdeckte sie etwas auf dem Boden. Das Superhirn griff danach und zog es an sich. Hastig ließ es den Fund in seiner Hosentasche verschwinden und eilte aus dem Haus.

„Miss, gehen Sie schon wieder?“ fragte der Gärtner erstaunt. „Ja, auf Wiedersehen!“ rief Lieselotte. Bestellen Sie Miss Alice einen schönen Gruß von mir!“ rief Jim

ihr nach. Diesen Satz hörte Lieselotte nicht mehr. Sie war bereits mit

großen Schritten den schmalen Weg hinuntergeeilt, der zur Land­straße führte. Sie mußte sofort mit ihren Knickerbocker-Freunden beratschlagen, was nun weiter geschehen sollte.

Was hat Lieselotte vom Boden aufgehoben?

- 80 -

Page 82: Geheim Akte Y

Blackbeards Schatz

Im Hotelzimmer der Mädchen zeigte Lilo ihren Freunden, was sie gefunden hatte.

„Sieht wie eine Lageskizze aus“, stellte Dominik fest. Er lief in das Jungenzimmer und kam mit einem Buch über die Karibik zurück.

Er schlug die Seite mit der Karte von St. Thomas auf und verglich die Umrisse mit der Zeichnung.

„Das ist tatsächlich eine Skizze der Insel!“ verkündete er. Ungefähr zwei Kilometer vom südlichen Strand entfernt war ein Kreuz eingezeichnet. Es mußte eine bestimmte Stelle im Meer kennzeichnen.

„Haltet ihr das... für eine... Schatzkarte?“ fragte Axel seine Kumpel.

Lilo, Poppi und Dominik waren einigermaßen ratlos. Möglich war alles.

Lieselotte dachte nach und meinte dann: „Bisher hat das Haus allen, die es betreten haben, nur Horror gebracht. Ich fürchte, diese Karte führt nur zu neuen Schrecken. Das Kreuz könnte auch einen magischen Punkt im Meer markieren.“

Poppi äußerte einen Verdacht: „Vielleicht hat Alices Onkel einem Voodoo-Kult angehört – das würde doch einiges erklären! Was meint ihr?“

Lieselotte schüttelte langsam den Kopf. Diese Idee paßte irgendwie nicht mit den Ereignissen zusammen. Warum hatte Onkel Harry seiner Nichte das Haus vermacht? Wollte er sich an ihr rächen? Aber warum? Er hatte sie ja überhaupt nicht gekannt.

Da klopfte es an der Zimmertür. „Lieselotte, kannst du bitte einen Augenblick zu mir kommen?“ fragte Alice schüchtern.

Das Mädchen trat aus dem Zimmer und stand seiner Brief­freundin und einer zweiten Frau gegenüber.

„Das ist Lucie. Sie hat für meinen Onkel sieben Jahre lang den Haushalt besorgt“, stellte Alice sie vor.

Lilo nickte der Frau zu.

- 81 -

Page 83: Geheim Akte Y

,,Lucie ist gekommen, um mir etwas Wichtiges zu sagen. Aber ich kann es einfach nicht fassen“, murmelte die Erbin außer sich.

„Es handelt sich um den Onkel von Miss Alice“, begann die ehemalige Haushälterin zu erzählen. „Er hat mich wenige Tage vor seinem Tod gebeten, seiner Nichte etwas zu bestellen.“

Lieselotte zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß, daß er viele Jahre lang nach dem Schatz des Seeräu­

berkapitäns Blackbeard gesucht hat“, fuhr Lucie nach einem kur­zen Zögern fort. „Dieser Mann hat tatsächlich gelebt. Captain Blackbeard hatte auf der Insel St. Thomas ein Fort...

Angeblich soll er hier auch viele seiner erbeuteten Schätze versteckt haben. Mister Harry hat immer behauptet, daß er auf eine heiße Spur gestoßen ist. Aber er hat keinem Menschen etwas verraten. Ich sollte Miss Alice mitteilen, daß der strenge Blick des Magiers über den Weg zu Blackbeards Reichtum wacht.“

Alice blickte ihre Freundin aus Österreich fragend an: „Hast du eine Idee, was das bedeutet?“

Lieselotte zog es vor, nicht die Wahrheit zu sagen. Natürlich wußte sie es. Das war die Beschreibung des Versteckes der Schatzkarte.

Lieselotte versprach Alice, über alles nachzudenken, und verab­schiedete sich.

Sie schloß die Zimmertür und berichtete die Neuigkeit ihren Freunden.

„Wir fahren sofort aufs Meer hinaus und tauchen nach dem Schatz“, beschloß Axel. Er hatte im vergangenen Sommer einen Tauchkurs absolviert und war seither von dieser Sportart begeistert.

Dominik winkte ab. „Ich bleibe aber im Boot!“ verkündete er. „Kann ich verstehen“, sagte Axel. „Ich habe auch vor bestimm­

ten Dingen höllische Angst!“ Lieselotte, die ihre Nasenspitze zu bearbeiten begonnen hatte,

murmelte: „Irgend etwas ist da faul! Da ist auf der einen Seite der Voodoo-Zauber und auf der anderen Seite ein Piratenschatz. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun? Mir kommt das alles

- 82 -

Page 84: Geheim Akte Y

höchst merkwürdig vor. Wenn ich nur wüßte, wie die Dinge zusammenhängen...“

„Ich tauche heute noch an der angegebenen Stelle nach dem Schatz“, wiederholte Axel.

Poppi wollte mit ihm nach unten kommen. In der Karibik gab es besonders prachtvolle Korallen und Fische, die sie unbedingt einmal mit eigenen Augen sehen mußte.

Lilo entschied sich, mit Dominik im Boot darauf zu warten, was der Unterwasserausflug ihrer beiden Kumpel zutage bringen würde. „Warum Onkel Harry den Schatz wohl selber nicht geho­ben hat...?“ schoß es ihr durch den Kopf.

- 83 -

Page 85: Geheim Akte Y

Im Büro der „St. Thomas News“

Im Hafen von St. Thomas herrschte reger Betrieb. Riesige Passa­gierschiffe legten hier jeden Tag an, da viele Dinge auf der Insel zollfrei und dadurch besonders billig waren. Die Touristen wälz­ten sich durch die engen Gassen und fielen in Horden in die vielen Geschäfte ein.

„Wir brauchen jemanden, der uns begleitet“, sagte Axel. „Die See ist rauh und ohne fachkundige Hilfe werden wir die Stelle nie finden, die Onkel Harry auf dem Plan eingezeichnet hat.“

Zum Glück waren Bootsausflüge auf der Insel St. Thomas keine Seltenheit. Zahlreiche Seeleute boten ihre Dienste an.

Mit einem weißbärtigen alten Mann namens George wurden die Knickerbocker schnell handelseinig. Er verlangte weniger als seine Kollegen und schien darüber hinaus besonders freundlich und hilfsbereit zu sein.

Axel und Poppi liehen sich noch zwei Taucherausrüstungen, und George half ihnen, sie an Bord des kleinen Kutters zu bringen.

Bevor die Fahrt losging, zeigten die Junior-Detektive dem Mann die Karte.

George wußte sofort, worum es ging. „Ihr wollt also nach Blackbeards Schatz suchen!“ sagte er.

Lilo und ihre Freunde schwiegen. Sie hatten keine Lust, ihn einzuweihen.

„Ich wünsche euch viel Glück! Ich habe schon viele Taucher zu den verschiedensten Stellen gebracht, und sie sind immer mit leeren Händen heimgekehrt!“ berichtete der Seebär.

Munter schaukelte das Schiff auf den Wellen im Hafenbecken hin und her.

Lilo, die noch immer etwas benebelt war, spürte, daß sie seekrank zu werden begann. „Ich glaube, es ist besser... ich... ich bleibe an Land“, meinte sie entschuldigend. „Mir... mir geht es heute nicht gut.“

- 84 -

Page 86: Geheim Akte Y

Ihre Freunde hatten Verständnis dafür, wollten aber dennoch auf das Meer hinausfahren.

„Tut das!“ meinte Lilo. „Wir treffen uns in drei Stunden wieder hier!“

George ließ den Motor an und das Schiff tuckerte mit Axel, Poppi und Dominik an Bord los.

Lieselotte winkte ihren Freunden und machte sich dann auf den Weg in die Stadt. Sie wollte sich in das Gewühl der Touristen werfen und einen Schaufensterbummel machen. Sie konnte ein wenig Ablenkung vertragen.

Gemütlich schlenderte sie von einem Laden zum anderen. Es wurden vor allem Füllfedern, Schmuck und teure Klamotten angeboten. Zwischen einem Hamburger-Restaurant und einer superschicken Boutique entdeckte das Mädchen das Büro einer Zeitung namens „St. Thomas News“. Ein schon etwas vergilbtes Plakat verriet, daß die Zeitschrift wöchentlich erschien.

Das Büro war geöffnet, und Lilo trat ein. Kühle, klimatisierte Luft schlug ihr entgegen.

„Können wir Ihnen helfen?“ fragte eine junge Frau in einem weißen Kleid.

„Ja“, antwortete Lieselotte. „Ich wollte wissen, ob Sie ein Archiv haben. Ich suche nach Artikeln über einen Verwandten von mir.“

Die Frau nickte. „Kein Problem! In unserer Datenbank finden Sie sicher, was Sie brauchen!“

Sie rief jemanden an, um Lilo anzukündigen, stand auf und begleitete die Anführerin der Knickerbocker-Bande in den hinte­ren Teil des Hauses.

So heruntergekommen das Gebäude von außen wirkte, so mo­dern war die Redaktion ausgestattet. Überall standen Computeran­lagen.

Die Artikel konnten per Stichwort im Speicher gesucht und abgerufen werden. Lieselotte ließ sich das System erklären und machte sich an die Arbeit.

Verdammt, wie hieß Onkel Harry nur mit dem Nachnamen? Das Superhirn konnte sich nicht erinnern. Hatte es Alice je erwähnt?

- 85 -

Page 87: Geheim Akte Y

Lilo tippte nun einfach Harry und den Nachnamen ihrer Freun­din ein: Littlejohn.

Der Computer suchte nach dem Stichwort und meldete: „Not found.“

Mist! Der Zuname war entweder falsch, oder es gab keinen Artikel

über den Onkel von Alice. Lieselotte gab jedoch nicht so schnell auf. Sie beschloß, ihre

Brieffreundin anzurufen und sich nach dem Nachnamen zu erkundigen.

Das Superhirn der Bande wollte sich schon erheben, als ihm eine andere Idee kam.

- 86 -

Page 88: Geheim Akte Y

Einen wesentlichen Schritt weiter

Vielleicht war der Onkel von Alice unter dem Namen Harold Littlejohn erfaßt – Harry war schließlich nur eine Abkürzung.

Lieselotte ersetzte Harry durch Harold und wartete auf das Ergebnis.

„Eine Eintragung gefunden“, lautete die Antwort des Compu­ters.

Lilo rief sie ab und wartete gespannt, was auf dem Bildschirm auftauchen würde. Etwas enttäuscht lehnte sie sich zurück. Es handelte sich bloß um die Todesanzeige, die vor etwa zwei Monaten erschienen war.

Das Mädchen wollte es schon seinlassen, als es am unteren Rand des Bildschirmes einen Hinweis entdeckte. Es gab eine Rei­he weiterer Eintragungen, die mit Harold Littlejohn zu tun hatten.

Allerdings befanden sie sich in einem anderen Speicher, der Anzeigen zu enthalten schien.

Lilo gab den Befehl ein, auch diese Eintragungen aufzurufen. Schon nach ein paar Sekunden wurde ihre Hartnäckigkeit

belohnt. Es handelte sich um eine längere Liste von Annoncen, die Onkel Harry im Laufe der Jahre aufgegeben hatte.

Besonders die letzten beiden überraschten das Superhirn völlig. Wie war das möglich? Die junge Frau trat zu Lilo und sagte: „Die Zeitungen, die vor

dem Jahr 1988 erschienen sind, konnten wir noch nicht alle erfas­sen. Sie stehen im Keller. Aber es gibt ein Stichwortverzeichnis, in dem Sie die Namen aller Personen finden, über die die ,St. Thomas News’ je berichtet hat.“

Die Junior-Detektivin bedankte sich für den Tip und folgte der Frau in den Keller. Sie blätterte die Seiten des Stichwortregisters durch und ließ ihren Zeigefinger über die langen Spalten gleiten.

„Littlejohn, Harold“! Über ihn waren drei Artikel erschienen – alle vor ungefähr 19 Jahren.

- 87 -

Page 89: Geheim Akte Y

Lieselotte suchte die Ordner mit den entsprechenden Ausgaben der Zeitung und blätterte die alten, schon etwas brüchigen Nummern behutsam durch. Gespannt studierte sie die Berichte.

In einem Artikel wurde von Protesten berichtet, die laut gewor­den waren, als Harold Littlejohn sein Haus errichtet hatte.

Der zweite Bericht stellte die Frage, ob Harold Littlejohn nicht mit einem Mann identisch war, der in Florida von der Polizei gesucht wurde.

Und der dritte beantwortete die Frage eindeutig positiv. Aller­dings hatte die Polizei trotz aller Bemühungen keine Beweise erbringen können, die ausgereicht hätten, Alices Onkel anzu­klagen.

In Lieselottes Kopf ging es drunter und drüber. Sie glaubte jetzt zu wissen, warum sich das Haus und der Garten für Alice in ein Horrorland verwandelt hatten. Allerdings vermochte sie sich noch immer nicht zu erklären, wie der Spuk erzeugt wurde.

Da fielen Lilo ihre Kumpel auf dem Meer ein! Sie waren in Lebensgefahr! Sie durften unter keinen Umständen an der gekennzeichneten Stelle tauchen. Das Mädchen rannte zum Hafen, als wäre ein Rudel bissiger Hunde hinter ihm her.

- 88 -

Page 90: Geheim Akte Y

Schrecken auf hoher See

George lenkte den ehemaligen Fischkutter geschickt durch die Wellen. Vor St. Thomas war das Meer an diesem Nachmittag aufgewühlt, und der Wind wurde zusehends rauher. Das Schiff wurde kräftig hin und her geschleudert. Der Seemann betrachtete immer wieder die Lageskizze, verglich sie mit seiner Seekarte und versuchte, den exakten Punkt zu finden. „Sehr genau ist dieser Plan nicht!“ meinte er. „Aber ich werde mein Bestes tun. Falls sich tatsächlich etwas an der Stelle befindet, werdet ihr es ent­decken. Die Karibik ist sehr klar.“

Nach eineinhalb Stunden Fahrt nickte George zufrieden. Mit dem Fernglas betrachtete er die Südküste der Insel, die hinter ihnen lag, und sagte: „Hier muß es sein, falls dieser Zettel kein Scherz ist!“

Axel war von seiner Echtheit felsenfest überzeugt. Er und Poppi schlüpften in die Taucheranzüge, die sie vor scharfen Korallen und giftigen Quallen schützen sollten. Sie schnallten sich die Sauerstoffflaschen auf den Rücken und setzten die Taucherbrillen auf. Jetzt fehlten nur noch die Flossen.

Rücklings ließen sich die beiden Knickerbocker ins Wasser fallen. Dominik und George standen an der Reling und blickten ihnen nach. Die Luftblasen, die blubbernd an die Wasserober­fläche stiegen, verrieten, wo sich die beiden Taucher bewegten. Was würde sie in der Tiefe erwarten?

Lilo rannte im Hafen von einem Boot zum anderen. Sie wollte das schnellste mieten, aber die Auswahl war nicht mehr sehr groß. Viele Verleiher hatten bereits Feierabend gemacht. Schließlich entschied sie sich für ein Sportmotorboot, das allerdings unge­heuer teuer war. Lieselotte kratzte ihre letzten Dollars zusammen, um die Summe aufzubringen, die der Kapitän als Sicherstellung verlangte.

„Vielleicht brauche ich eine Taucherausrüstung“, fiel ihr ein.

- 89 -

Page 91: Geheim Akte Y

Geld hatte sie nun keines mehr. Was tun? Sie erzählte dem Seemann ihren Kummer, und dieser gab ihr nicht nur das Geld für das Boot und die Anzahlung zurück, sondern half ihr sogar, die notwendige Ausrüstung zu beschaffen. Bevor er losfuhr, reichte er Lilo eine Schwimmweste. „Falls du über Bord gehst!“ meinte er, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

Schon nach wenigen Minuten fragte sich Lilo, ob sie sich für das richtige Boot entschieden hatte. Der Bug hob sich aus dem Wasser und zeigte in den Himmel. Wie ein Stein hüpfte das Wahnsinnsding über die Wellen und flog dabei oft viele Meter weit. Streckenweise schien es mehr in der Luft als im Wasser zu sein. Lieselotte machte sich auf der weichen Ledersitzbank so klein wie möglich und klammerte sich fest. Ihr war übel, schreck­lich übel!

Nur der Gedanke an ihre Freunde ließ sie nicht aufgeben. Am liebsten hätte sie den Kapitän gebeten, sofort umzukehren.

In der Zeitungsredaktion war dem Superhirn etwas klar gewor­den. Der Voodoo-Zauber verfolgte einen ganz bestimmten Zweck: Alice sollte nicht nur aus dem Haus geekelt werden, son­dern es auch verkaufen.

Da sie aber nicht gleich aufgegeben und die Knickerbocker-Bande zu Hilfe geholt hatte, war der Horror noch gesteigert worden. Deshalb war Lieselotte auch mit dem Taxi zu dem Wasserfall gebracht und dort erschreckt worden. Und aus diesem Grund war auch die Schatzkarte aufgetaucht, die gar keine war. Lilo war fest davon überzeugt, daß an der markierten Stelle eine große Gefahr lauerte. Etwas Entsetzliches sollte geschehen, daß Alice und die vier Junior-Detektive für immer von der Insel vertreiben würde.

Zwei, wahrscheinlich sogar drei Leute waren nämlich ganz wild darauf, das Haus in ihren Besitz zu bekommen.

Lilo hatte einen sehr genauen Verdacht, um wen es sich handel­te. Auf jeden Fall waren der Gärtner und die Haushälterin in die Sache verwickelt – und wahrscheinlich auch die tatsächliche oder angebliche Taxifahrerin.

- 90 -

Page 92: Geheim Akte Y

Jim und Lucie hatten gelogen. Beide waren keineswegs bereits seit Jahren in Onkel Harrys Diensten gestanden. Im Zeitungscom­puter hatte Lieselotte nämlich die Texte der Anzeigen gefunden, über die Harold Littlejohn einen Gärtner und eine Haushälterin gesucht hatte. Die Annoncen waren erst vor einem halben Jahr aufgegeben worden.

Das Haus stand auch nicht auf einem Zombie-Friedhof, sondern war angeblich über dem Grab von Blackbeards Geliebter errichtet worden. Beim Bau war es zu Protesten gekommen, die allerdings bald wieder verstummt waren.

Der entscheidende Punkt freilich war, warum die Polizei von Miami hinter Onkel Harry hergewesen war.

Lilo hielt sich den Bauch und krümmte sich. Warum war ihr nur so schlecht? Normalerweise wurde sie nie seekrank, aber dieses Betäubungsgas schien ihren Körper völlig durcheinandergebracht zu haben.

Ihre Knickerbocker-Freunde hatten einen Vorsprung von über einer Stunde. Den konnte auch das beste Schnellboot nicht wett­machen...

Axel und Poppi glitten mit langsamen, ruhigen Flossenschlägen durch das warme klare Wasser. In den verschiedensten Farben leuchtende Fische schwammen in einiger Entfernung an ihnen vorbei.

Gänzlich unerwartet tauchte ein mächtiger, silbrig glänzender Fisch vor ihnen auf. Er verharrte völlig regungslos und schien die beiden Taucher zu mustern.

Poppi erkannte, daß es sich um einen Barrakuda handelte. Axel warf ihr einen ängstlichen Blick zu. Das Mädchen deutete dem Jungen, sich ruhig zu verhalten. Die Zähne des Barrakudas sahen bedrohlich aus, aber er würde sie nicht angreifen. Er war nur neugierig.

So schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder, und die Knickerbocker konnten ihre Expedition fortsetzen. Von einem Schatz hatten sie bisher nichts entdeckt. War die Karte eine Fälschung?

- 91 -

Page 93: Geheim Akte Y

Poppi begann aufgeregt mit den Flossen zu schlagen und zeigte auf zwei Kalkfelsen, die sich aus dem Meeresboden erhoben. Dazwischen eingekeilt lag, zur Seite gekippt, ein Schiff. Es war zweifellos nicht sehr alt. Auf keinen Fall stammte es aus der Zeit des Piratenkapitäns Blackbeard.

Es war ein kleiner verrosteter Kutter mit einem hohen Deck­aufbau.

Gespannt näherten sich die beiden Knickerbocker dem Wrack. Zu ihrer großen Überraschung war der Schiffsname noch erkenn­bar: Er lautete „Blackbeard“.

Der Aufbau auf dem Oberdeck, der früher als Kommando­brücke und Aufenthaltsraum für die Mannschaft gedient hatte, war fast völlig intakt.

Die Junior-Detektive blickten durch eines des Bullaugen und sahen mehrere Metallkoffer, die mit einer Kette am Steuerrad befestigt waren.

Mit vereinten Kräften stemmten sie die Tür auf und schwammen in den Raum.

Hältst Du das für eine gute Entscheidung?

Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloß. Axel und Poppi näherten sich den Koffern und betrachteten sie

von allen Seiten. Etwas fiel den beiden sofort auf. Sie glänzten und schienen völlig unbeschädigt. Lange konnten

sie noch nicht im Wasser liegen. Kaum hatte der Junge die Verschlüsse des Koffers vor ihm be­

rührt, sprang dieser schon auf. Axel hob den Deckel und prallte zurück.

- 92 -

Page 94: Geheim Akte Y

Vor ihm lag eine Bombe, deren Zeitzünder er durch das Öffnen des Koffers in Gang gesetzt hatte.

Axel gab Poppi ein Zeichen, sofort von dem Wrack zu ver­schwinden. Sie strampelten zur Tür und stemmten sich dagegen.

Doch die Metallklappe klemmte. Der Junior-Detektiv geriet in Panik. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, machte ihn wahnsinnig!

- 93 -

Page 95: Geheim Akte Y

Am Ende?

„He, da ist das Schiff, das du suchst!“ schrie der Kapitän des Schnellbootes.

Lieselotte hob den Kopf und nickte. Sie war am Ziel. Egal, wie sie sich nun auch fühlte: sie mußte sich zusammenreißen.

Dominik stand an der Reling und blickte dem Schnellboot miß­trauisch entgegen. Als er Lieselotte erkannte, winkte er ihr aufge­regt zu und brüllte: „Was machst denn du da?“

„Sind Axel und Poppi schon im Wasser?“ schrie das Superhirn. „Ja! Warum?“ lautete die Antwort ihres Knickerbocker-Kum­

pels. „Hier liegt kein Schatz! Wir sind in eine Falle gegangen! Wie

lange sind sie schon unten?“ erkundigte sich Lilo. „Gut 20 Minuten!“ antwortete Dominik verzweifelt. Lieselotte kletterte an Bord des Fischkutters und berichtete in

Stichworten, was sie herausgefunden hatte. „Wir müssen sie unbedingt warnen!“ keuchte das Mädchen. „Ich habe eine Taucherausrüstung mitgebracht. Aber mir ist so schlecht...“

Hilfesuchend blickte sie die beiden Seemänner an. Aber beide winkten ab. Die Flossen und die Brille, die Lieselotte ausgeliehen hatte, waren zu klein für sie.

Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit. „Ich? Nein!“ japste Dominik. „Ich... ich kann nicht tauchen... das ist... so schrecklich für mich... wie... wie Vogelspinnen! Das weißt du doch!“

Lilo sagte nichts, sondern starrte ihn nur flehend an. Dominik atmete schwer. Er rang mit sich. Es ging um das Leben

seiner Freunde! „Ich versuch’ es!“ stieß er schließlich hervor. „Wir können Axel

und Poppi nicht im Stich lassen!“ Lilo nickte dankbar. Der Junge legte die Taucherausrüstung an und verschwand im

klaren Meerwasser. Die ersten Sekunden waren die schlimmsten. Dominik hatte, wie alle Mitglieder der Bande, einen Kurs ge­macht und bestanden. Dennoch war ihm Tauchen unheimlich.

- 94 -

Page 96: Geheim Akte Y

An Deck des Kutters lief Lieselotte auf und ab und knetete ihre Nasenspitze. Immer wieder ballte sie die Hände zu Fäusten und dachte: „Es darf ihnen nichts geschehen! Es darf ihnen nichts geschehen!“

Die Anspannung brachte die Grübelzellen der Anführerin der Knickerbocker-Bande auf Hochtouren: Dominik hatte Angst vor Vogelspinnen. Und Vogelspinnen hatte er auch in der Schrek­kensnacht in Onkel Harrys Haus gesehen. Sie selbst fürchtete sich vor Skorpionen, und genau diese Tiere waren aus dem Toten­schädel der Statuette gekrochen. Jeder der vier hatte das gesehen, wovor er sich am meisten ängstigte. Es handelte sich also be­stimmt nicht um einen technischen Trick, sondern um eine Art Droge, die Alpträume auslöste.

Die Wirkung der Droge hatte noch angehalten, als sie bereits in den Hotelzimmern lagen. Deshalb hatten sich die Bettpfosten in Schlangen verwandelt. An der frischen Luft war alles besser geworden.

Im Wrack des Schiffes rüttelten Poppi und Axel verzweifelt an der Tür. Sie klemmte noch immer. Die beiden Junior-Detektive hatten auch schon versucht, aus den Bullaugen zu klettern, aber die Öffnungen waren zu eng.

Axel geriet so sehr in Panik, daß er wild um sich zu schlagen begann und Poppi dabei den Sauerstoffschlauch aus dem Mund riß. Das Mädchen hatte große Mühe, ihn wieder zwischen die Zähne zu bekommen. Sie wußte, daß sie zu schwach war, um Axel zu bändigen. Deshalb verkroch sie sich einfach und starrte mit großen Augen auf die vierstellige Leuchtschriftanzeige der Bombe, die verriet, daß mittlerweile bereits fast zwei Drittel der Zeit verstrichen waren. Bald war alles aus. In Kürze würden sie in die Luft fliegen.

Auf einmal sah Poppi Dominiks Gesicht in einem der Bull­augen. Hatte sie auch schon Wahnvorstellungen? Das Mädchen begann zu weinen.

Aber da spürte es eine Hand an seinem Arm. Poppi blickte auf: Es war tatsächlich Dominik.

- 95 -

Page 97: Geheim Akte Y

Ihr Kumpel umrundete das Wrack und versuchte festzustellen, was los war. Poppi deutete zitternd auf die klemmende Tür.

Dominik betrachtete sie und entdeckte einen Riegel. Er hob ihn an, und die Tür ließ sich öffnen. Erleichtert verließ Poppi den Raum und zerrte den strampelnden Axel hinter sich her. Es gelang ihr, Dominik zu vermitteln, daß sie sich nun so schnell wie mög­lich davonmachen mußten.

Die drei Knickerbocker schossen an die Oberfläche und wurden von den Seeleuten und Lieselotte an Bord gehievt. „Eine Bombe! Da ist ein Wrack mit einer Bombe!“ schrie Poppi.

Sie hatte kaum ausgesprochen, als ein dumpfer Knall ertönte und eine mächtige Fontäne in die Höhe jagte. Glücklicherweise beschädigte die Bombe weder den Kutter noch das Schnellboot.

Völlig entkräftet sanken die drei Taucher auf das Deck und blieben ausgestreckt liegen.

- 96 -

Page 98: Geheim Akte Y

Der Zauber ist vorbei

Zwei Tage später hatten sich die vier Junior-Detektive einigerma­ßen von den Schrecken erholt.

„Jim, Lucy und die Taxilenkerin konnten bereits von der Polizei festgenommen werden“, berichtete ihnen Alice. „Ihr hattet recht. Jim und Lucy haben nie für meinen Onkel gearbeitet. Sie und die Taxilenkerin stammen, wie ich, aus Miami und werden dort wegen verschiedener Betrügereien gesucht.“

Lieselotte war gespannt, ob ihre Vermutungen zutrafen. „Haben sie verraten, was es mit dem Spuk auf sich hatte?“

Alice nickte. Lilo gab ihr ein Zeichen, nichts zu sagen, und verkündete: „Sie

haben im Schlafzimmer eine Droge versteckt, die eingeatmet wird und Alpträume erzeugt.“

Bewundernd stimmte ihr Alice zu. „So ist es. Es handelt sich um ein einfaches Holzschutzmittel, das seit vielen Jahren verbo­ten ist. Die Dämpfe sind giftig, und ihre Wirkung ist allgemein bekannt. Aber eines verstehe ich noch immer nicht: Warum waren die drei so wild auf das Haus?“

Auch dafür hatte Lieselotte die Erklärung: „Alice, dein Onkel war ein Gauner. Er wurde wegen Geldfälscherei gesucht. Angeb­lich hat er die besten Blüten der Welt hergestellt. Die Polizei hat es nie geschafft, ihm etwas nachzuweisen. Ich vermute, die drei Gauner waren hinter seiner Fälscherwerkstatt her. Sie vermuteten sie in oder unter dem Haus und wollten es deshalb nach seinem Tod unbedingt in die Hand bekommen.“

Alice nickte zuerst, schüttelte dann aber den Kopf. „Ihr kennt das Haus – da ist einfach nirgendwo eine Fälscherwerkstatt.“

Die Knickerbocker mußten der jungen Frau recht geben. „Der Punkt sind die Druckplatten, mit denen das Falschgeld hergestellt wird“, sagte Lieselotte. „Ich wette, dein Onkel Harry hat sie irgendwo im Haus versteckt. Er hat von der Geldfälscherei gelebt. Wie sonst hätte er sich dieses sorgenfreie Leben leisten können?

- 97 -

Page 99: Geheim Akte Y

Und warum glaubst du, hat er dir keinen Cent hinterlassen? Er hatte immer nur soviel Geld, wie er brauchte.“

Am Nachmittag begannen die Junior-Detektive und Alice, das Holzhaus gründlich auf den Kopf zu stellen. Im Schlafraum, wo der Horror begonnen hatte, trugen sie sicherheitshalber Gasmas­ken: Alle hatten von den schrecklichen Halluzinationen genug.

Doch auch nach fünf Stunden Suche hatten die sonst sehr erfolgreichen Knickerbocker nicht die geringste Spur entdeckt.

Hast du einen Verdacht, wo die Druckplatten versteckt sein könnten?

Die vier Knickerbocker waren erschöpft. Es war drückend heiß, und ihre T-Shirts klebten geradezu an ihnen.

„Ich gebe es auf!“ stöhnte Poppi und lief ins Badezimmer, um sich kaltes Wasser über die Pulsadern fließen zu lassen.

„Ich werde eine kleine Erfrischung für uns vorbereiten“, meinte Alice und verschwand.

„Wir werden jetzt auf keinen Fall schlappmachen!“ verkündete Lilo energisch, die gerade jeden Quadratzentimeter des Wohn­raums unter die Lupe nahm.

Axel und Dominik setzten sich auf den Boden. Sie wollten sich ein bißchen ausruhen.

„Kommt, das wird euch gut tun!“ rief ihre Gastgeberin aus der Küche. Dort stand ein Tablett mit einem großen Krug erfrischen-der Limonade und einer Schüssel mit tropischen Früchten.

„Das bringt unsere Grübelzellen sicher wieder auf Touren“, sag­te das Superhirn und leerte sein Glas in einem Zug.

- 98 -

Page 100: Geheim Akte Y

Nach dieser Pause kehrten die vier Freunde und Alice in das vermeintliche Geisterzimmer zurück: Hier hatte alles begonnen.

„Die da möchte ich mir zur Erinnerung mitnehmen!“ rief Axel schließlich und nahm eine der Voodoo-Priester-Statuen aus dem Bücherregal.

„Ihr könnt jeder eine haben!“ erwiderte Alice großzügig. Die Junior-Detektive griffen gerne zu. Als Lieselotte ihre Bronzefigur genauer betrachtete, fiel ihr auf,

daß an der Unterseite des Sockels ein Stück Filz angebracht war. Es sollte wahrscheinlich verhindern, daß das harte Metall das Holz der Regale zerkratzte. Der Filz am Sockel ihrer Statue hatte sich jedoch gelöst.

Lilo zog daran und stieß einen Freudenschrei aus. „Da... da... seht nur!“

Sie hatte eine der Druckplatten entdeckt. Die Sockel der Buch­stützen hatten ihr Geheimnis erst den Knickerbockern preisgege­ben.

Der Fall war damit gelöst. Alice ließ das Holzschutzmittel, das die Halluzinationen ausgelöst hatte, entfernen und konnte endlich das Häuschen beziehen, in dem sie die ersehnte Ruhe fand.

Aus dem Horrorland war für sie doch noch ein Paradies geworden.

„Ruhe, endlich Ruhe!“ seufzte sie glücklich. „Ruhe? Das ist für uns der totale Horror!“ lachte Axel.

- 99 -

Page 101: Geheim Akte Y

- 100 -

Page 102: Geheim Akte Y

Eine schreckliche Ankunft

Dominik war völlig überrascht, als er durch die große Glastür trat. In der Halle des Flughafens von Los Angeles warteten Hunderte Fotografen und Reporter.

Als der Junge mit seinen Knickerbocker-Freunden Axel, Lilo und Poppi auftauchte, zückten sie ihre Kameras, Notizblöcke und Mikrofone und stürmten auf ihn zu.

„Ich bin ein Star!“ dachte Dominik begeistert. „Ein echter Hollywood-Star! Dabei beginnen meine Dreharbeiten erst über­morgen. Ich glaube, ich muß jetzt eine kleine Rede halten.“ Der Junior-Detektiv stellte seinen Koffer ab und lächelte den Journa­listen entgegen. „Ich freue mich sehr...“, begann er.

Klatsch! Genau auf seinem Kopf war ein riesiger Tropfen einer rosafarbenen Masse gelandet.

„Igitt!“ rief Poppi. „Das ist ja Schleim! Pfui!“ Dominik fuhr sich mit der rechten Hand über die Haare. Als

seine Finger die Soße berührten, schrie er entsetzt auf: „Hilfeee! Was... was ist das?“

Lieselotte blickte zur hohen Decke der Flughafenhalle auf. „Seht nur! Das Zeug rinnt aus den Rohren der Klimaanlage“, rief sie.

Die Fotografen verbargen ihre Kameras unter den Hemden, um sie vor dem unappetitlichen Schleim zu schützen. Die Reporter verzogen angewidert die Gesichter und beschwerten sich lautstark.

Jetzt erst bemerkte Dominik, daß der Presserummel gar nicht ihm galt. Nur wenige Schritte hinter den Knickerbocker-Freunden war eine sehr elegante, schlanke Dame erschienen. Sie trug ein enganliegendes weißes Kleid und hatte lange, kupferrote Haare. Ihr Gesicht erinnerte ein wenig an die weltberühmte Filmschau­spielerin Marilyn Monroe.

Axel öffnete den Mund und japste: „Erkennt ihr sie nicht? Das ist Cindy Cooper. Sie spielt doch in demselben Film wie Domi­nik!“

- 101 -

Page 103: Geheim Akte Y

Schmollend schob Dominik die Unterlippe vor. Er war bitter enttäuscht.

In diesem Moment quietschte Cindy Cooper auf und hielt sich schützend ihre flache Handtasche über den Kopf. Zu spät! Auch sie war bereits mit dem rosafarbenen Schleim bekleckert.

Aus den Lautsprechern der Halle ertönte plötzlich eine tiefe Stimme. Sie klang schwach und müde. „Rache! Rache! Rache!“ verkündete sie. Dann folgte ein böses, drohendes Gelächter. „Ich schwöre Rache! Professor Koma kennt keine Gnade!“

- 102 -

Page 104: Geheim Akte Y

Ein seltsames Geschenk

Schreiend und kreischend flüchteten die Leute aus der Ankunfts­halle.

Cindy Cooper stampfte wie ein trotziges Kind auf und fluchte: „Verdammter Mist! Was soll denn das? Ich sehe ja schrecklich aus!“

Axel grinste. Die Filmschauspielerin erinnerte ihn an eine Puppe, die mit alten Kaugummis beklebt worden war.

Dominik wollte so schnell wie möglich fort. „Wo ist Mister Gray von der Filmfirma?“ fragte er ungeduldig. „Er sollte uns doch vom Flughafen abholen. Ich möchte sofort in unser Hotel!“ Da der Junge ihn nirgendwo entdecken konnte, nahm er sich ein Herz und trat zu Cindy Cooper. „Guten Tag! Ich heiße Dominik Kascha und bin Österreicher!“ stellte er sich höflich vor.

Die Frau starrte ihn als, als käme er vom Jupiter. „Aus Austra­lien? Aus Sidney?“ fragte sie.

Dominik schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, aus Österreich in Europa! Dort gibt es keine Känguruhs! Ich spiele in dem Film ,Das Horror-Hotel’ mit. Wir sind Kollegen!“

Das hörte einer der Fotografen. Sofort blitzte und klickte es, und mit einem Schlag war der Filmstar äußerst freundlich. Cindy küßte Dominik sogar auf die Wange, was dem Jungen äußerst unangenehm war.

„Partner! Was für eine gräßliche Ankunft!“ rief Cindy. »Wo sind eigentlich deine Eltern?“

Dominik verkündete stolz: „Es begleiten mich nur meine drei besten Freunde. Meine Eltern sind Schauspieler und drehen zur Zeit eine Fernsehserie. Sie hatten keine Zeit mitzukommen. Uns sollte ein gewisser Mister Gray von ‚Munster Productions’ abho­len. Aber in diesem Chaos haben wir ihn anscheinend verpaßt.“

„Dann nehme ich euch mit!“ beschloß Cindy. Also verstauten die Knickerbocker-Freunde ihre Koffer und Taschen im Koffer­raum des Taxis und kletterten auf die Rückbank. Cindy Cooper setzte sich neben den Fahrer.

- 103 -

Page 105: Geheim Akte Y

Sie wollte gerade die Tür zuschlagen, als sie von einer alten Dame mit Sonnenbrille aufgehalten wurde. „Bitte ein Auto­gramm“, flehte die Frau. Cindy kritzelte ihren Namen auf das Blatt Papier, das ihr hingestreckt wurde. Als Dankeschön bekam sie ein riesiges Ei überreicht. Cindy gab es Axel und erklärte hochnäsig: „Ich mag diese doofen Geschenke nicht!“

„Zum Beverly Hills Ocean Hotel“, sagte die Schauspielerin zum Chauffeur, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Axel betrachtete das gelbliche Ei von allen Seiten. „Es muß ein Straußenei sein“, meinte Poppi. Axel klopfte mit dem rechten Zeigefinger gegen die Schale. „Es

ist voll!“ stellte er fest. In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Von innen

wurde ebenfalls an die Schale geklopft. „Ich glaube, da schlüpft ein Vogel aus!“ keuchte Poppi.

Die Schale brach, und ein grünes Wesen mit einem langen Hals schoß hervor.

- 104 -

Page 106: Geheim Akte Y

Horror in Hollywood

Es war ein furchterregendes Tier. Seine Haut war naß und glit­schig. Es hatte zwei große, hervorquellende Augen und einen weißen, scharfen Schnabel. Das kleine Ungeheuer fauchte und spuckte.

Die Knickerbocker brüllten wie am Spieß. Erschrocken drehte sich Cindy Cooper um. Als sie die grauen­

hafte Kreatur erblickte, kreischte sie entsetzt auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Der Fahrer verriß den Wagen und krachte gegen ein parkendes Auto. Wildes Hupen war die Folge.

Dominik schaffte es, die Nerven zu bewahren. Er drückte auf einen schwarzen Knopf, und ein Fenster öffnete sich. „Axel, schnell! Wirf das Ei hinaus!“ schrie er.

Sein Freund ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit voller Wucht schleuderte er das Horror-Ei aus dem Fenster, das in tausend Stücke zersprang, als es auf dem Boden aufschlug.

„Um Himmels willen, was... was war denn das?“ stammelte Cindy Cooper. „Hilfe!“ Der Filmstar schrie schon wieder. Auf Cindys linkem Handrücken stand in wackeligen Buchstaben: „KOMA!“

Für einige Sekunden war nur die Musik aus dem Autoradio zu hören. Dann plapperte ein Moderator aufgeregt los. Der Taxilen­ker stutzte, drehte lauter und sagte: „Hört euch das an!“

„Horror in Hollywood!“ verkündete die Radiostimme und be­richtete von dem Zwischenfall am Flughafen. Dann wurde ein Brief verlesen, den der Sender erhalten hatte.

Er lautete: „Rache! Du hast mich vor sieben Jahren umgebracht. Nun räche ich mich für den Mord. Viele Grüße aus dem Jenseits! Professor Koma.“

Lilo knetete ihre Nasenspitze und fragte: „Mrs. Cooper, kennen Sie diesen Professor Koma?“

Der Filmstar schüttelte den Kopf. „Ich habe den Namen noch nie gehört.“

- 105 -

Page 107: Geheim Akte Y

„Aber warum will er sich dann an Ihnen rächen?“ ließ das Mäd­chen nicht locker. „Er hat Ihnen dieses Ei geschickt. Das war Absicht. Auch die Sache mit dem rosa Schleim war kein Zufall!“

Cindy begann zu schluchzen. „Ich... ich... habe keine Ahnung. Wie oft soll ich das noch sagen? Ich... ich...“ Die Frau brachte vor Weinen kein Wort mehr heraus.

Das Superhirn der Knickerbocker-Bande glaubte ihr nicht. Sie war sich sicher, daß Cindy Cooper etwas verheimlichte.

- 106 -

Page 108: Geheim Akte Y

Suppe mit Augen

Das Beverly Hills Ocean Hotel sah von außen wie ein riesiges Unterseeboot aus. Aber auch das Innere war einem U-Boot nach­empfunden. In den Wänden waren mehrere Bullaugen eingelas­sen, hinter denen Aquarien untergebracht waren. Bunte tropische Fische, außergewöhnliche Wasserpflanzen und prachtvolle Koral­len gab es hier zu bewundern.

Die Zimmer des Hotels waren wie Kabinen eines Schiffs einge­richtet. Wer wollte, konnte sogar in einer Hängematte schlafen. Breite Balkone verbanden die Zimmer miteinander.

Die vier Freunde waren sich sofort einig: Dieses Hotel verdiente die Höchstnote!

Am Abend fand im großen Ballsaal eine Party mit den Haupt­darstellern des Films „Das Horror-Hotel“ statt. Selbstverständlich waren auch der Regisseur und sein Team anwesend. Die Junior-Detektive hatten sich in feine Anzüge und elegante Kleider gequält, was ihnen gar nicht behagte. Jeans waren ihnen einfach lieber.

Mittlerweile war auch Mister Gray eingetrudelt, den die Knik­kerbocker am Flugplatz nicht gefunden hatten. Er war froh, die vier gesund anzutreffen. „Warum habt ihr mich nicht ausrufen lassen? Warum habt ihr nicht länger gewartet? Warum seid ihr mit Cindy Cooper mitgefahren?“ sprudelte es aus ihm heraus. „Ich bin doch für Dominik und euch verantwortlich. Ich habe jeden Schritt, den ihr tut, zu bewachen. Das habe ich euren Eltern versprochen. Jawohl! Das habe ich!“ verkündete Mister Gray mit strengem Blick.

„Aha! Sie sind also unser Wachhund und Babysitter!“ meinte Lieselotte spöttisch.

Der Mann lächelte säuerlich. Er war ziemlich steif und lang­weilig.

„Mister Gray“, begann Dominik, „können Sie mir bitte die Geschichte des Films erzählen, in dem ich mitspiele?“ Bisher

- 107 -

Page 109: Geheim Akte Y

wußte er nur, daß er ein schreckliches und grausames Kind aus Europa darstellen sollte.

„Selbstverständlich!“ antwortete Mister Gray. „Das Horror-Ho­tel ist ein Hotel, in dem immer wieder Gäste auf seltsame Weise verschwinden. Die Koffer werden auf einem Friedhof entdeckt. Von den Menschen fehlt freilich jede Spur. Ein junger Detektiv stellt Nachforschungen an, und dabei entdeckt er ein schauriges Geheimnis!“ Der Angestellte der Filmfirma machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. „Die Besitzer des Hotels scheinen Vampire oder Menschenfresser zu sein. Im Keller findet der Detektiv Särge, in denen die verschwundenen Gäste liegen. Aber sie sind nicht tot... Der Schlüssel zum Geheimnis bist übrigens du, Dominik! Allerdings tauchst du erst am Ende des Films auf. Mehr darf ich dir nicht verraten. Der Rest der Handlung wird noch streng geheimgehalten.“

„Ich habe Hunger!“ meldete Axel. „Ich auch!“ rief Poppi. „Gut, dann gehen wir zum Büffet!“ meinte Mister Gray. Doch dieses war noch nicht eröffnet. Auf einem langen Tisch

standen große Töpfe mit silbernen Deckeln. Die Band spielte einen Tusch und ein weißhaariger kleiner

Mann betrat die Bühne. Poppi erinnerte er an einen Pavian. Die Festgäste begannen zu applaudieren. „Das ist Ken Kong, der Regisseur und Drehbuchautor!“ erklärte

Mister Gray. Ken Kong nahm das Mikrofon und sagte: „Ich freue mich, euch

alle hier zu sehen, und verspreche, daß ,Das Horror-Hotel’ nicht nur mein dreizehnter, sondern auch mein bester Gruselfilm werden wird. Ihr alle werdet dafür sorgen. Das Publikum wird vor Angst zittern. Ich wünsche uns angenehme Drehtage! Und nun laßt euch die Köstlichkeiten gut schmecken!“

Mister Kong gab ein Zeichen, und die silbernen Deckel wurden entfernt.

In den Töpfen brodelte eine blutrote Suppe, in der riesige weiße Augäpfel schwammen. Das sah mehr als widerlich aus. Mehrere Gäste stürzten aus dem Raum, da ihnen übel geworden war.

- 108 -

Page 110: Geheim Akte Y

Die schicken Kellner lächelten aufmunternd. Doch als sie das Entsetzen der Leute bemerkten, sahen sie selbst in die Töpfe: Klirrend fielen ihnen die Deckel aus der Hand.

„Soll das ein Witz sein?“ brüllte ein Mann. „He, Kong, soll das ein Scherz sein?“

Der Regisseur war käseweiß im Gesicht. Mit zitternden Händen ergriff er das Mikrofon und sagte etwas. Aber seine Stimme war kaum zu hören.

Statt dessen meldete sich Professor Koma. Es war dieselbe Stimme, die auch am Flugplatz gesprochen hatte. „Rache! Du bist schuld an meinem Tod. Jetzt werde ich DICH zerstören! Grauenvolle Grüße von Professor Koma!“

In Panik flüchteten die Gäste aus dem Saal. Die Knickerbocker folgten ihnen.

Trotz der Strapazen der langen Reise waren die vier Junior-Detektive nun hellwach.

- 109 -

Page 111: Geheim Akte Y

Die Monsterspinne

Mister Gray brachte Axel, Lilo, Poppi und Dominik zu ihren Zim­mern. Die Mädchen bewohnten Suite Nummer 221, die Jungen Suite Nummer 223.

Mister Gray wünschte ihnen eine gute Nacht und sagte: „Ich wecke euch morgen um neun Uhr. Nach dem Frühstück fahren wir zum Studio. Dominiks Dreharbeiten beginnen erst übermor­gen. Für morgen habe ich nur Termine mit dem Maskenbildner und mit dem Kostümbildner vereinbart.“

Lilo schnalzte mit der Zunge: zuerst viermal und nach einer kur­zen Pause noch zweimal. In der Knickerbocker-Klopfsprache war das der Buchstabe T – für Treffen.

Lilo und Poppi verabschiedeten sich von Axel und Dominik und gingen in ihr Zimmer. Die Tür wurde von außen abgesperrt.

„He, was soll das?“ protestierte Lieselotte. „Sind wir Gefange­ne?“

Mister Gray antwortete kühl: „Nein, aber ich muß verhindern, daß ihr eure Zimmer während der Nacht verlaßt! Übrigens, Zim­mer 222 bewohne ich.“

Dann schloß Mister Gray die beiden Jungen ein und begab sich zu Bett.

„Die Sache stinkt! Die Sache stinkt hochgradig!“ fauchte Lilo wütend. „Hier ist etwas faul! Ich lasse mich nicht wie ein Affe im Zoo behandeln!“

Das Mädchen griff zum Telefon und rief ihre Knickerbocker-Freunde an. „Wir müssen uns sehen!“ flüsterte es in den Hörer.

„Wie denn?“ wollte Axel wissen. „Ich bin schließlich kein Geist, der durch Wände gehen kann.“

- 110 -

Page 112: Geheim Akte Y

Wie können Axel und Dominik zu den Mädchen gelangen ?

„Wartet, bis Mister Gray das Licht abgedreht hat. Dann kommt ihr über den Balkon zu uns“, erklärte Lieselotte.

Axel war damit einverstanden. Nun hieß es warten. Es dauerte fast eine Stunde, bis das Licht in Zimmer 222

erlosch. Axel und Dominik ließen noch zehn Minuten verstrei­chen, bevor sie aufbrachen.

Axel machte den Anfang. Dominik, der solche Abenteuer nicht ausstehen konnte, warf

zuerst einen Bück nach unten. Immerhin waren sie im dritten Stockwerk. Unter ihnen lag der beleuchtete Swimmingpool. Falls er abstürzte, fiel er zumindest ins Wasser, dachte der Junge.

Dominik stutzte. Da war doch jemand! Zwischen den Büschen bewegte sich etwas. Ein Liebespaar? Oder ein Tier? Der Junior-Detektiv zuckte zurück. Aus dem Gebüsch kam eine Spinne, die fast so groß wie ein Mensch war! Sie flitzte zur Außenmauer des Hotels und begann mühelos daran hochzulaufen.

Für den Bruchteil einer Sekunde fiel ein Lichtstrahl auf den Kopf der Spinne. Dominik begann vor Entsetzen zu zittern: Das Tier hatte einen menschlichen Totenschädel.

„Ax... Axel...“, keuchte der Junge. Er brachte vor Schreck fast keinen Ton heraus. Seine Freund drehte sich um, und Dominik deutete nach unten.

Doch die Spinne war schon verschwunden. War sie in ein Zimmer geklettert? „Was ist?“ flüsterte Axel, der bereits den Balkon der Mädchen

erreicht hatte.

- 111 -

Page 113: Geheim Akte Y

Da gellte ein schauriger Schrei durch die Nacht. Eine Frau kreischte wie von Sinnen. „Hilfeee! Hilfeee!“ kreischte sie.

Dominik erkannte die Stimme. – Es war Cindy Cooper! Lilo und Poppi rannten zu Axel auf den Balkon und starrten in

den beleuchteten Garten. Nun sahen auch sie die Spinne, die auf einem Balkon im ersten Stockwerk auftauchte und sich an einem Seil hinuntergleiten ließ. Blitzschnell verschwand das Riesentier zwischen den Palmen.

Lilo bemerkte etwas Seltsames: In Mister Grays Zimmer war es dunkel geblieben. Der Mann schien entweder sehr tief zu schla­fen, oder... er war gar nicht da.

- 112 -

Page 114: Geheim Akte Y

Todesangst

Die vier Knickerbocker plünderten den kleinen Eisschrank im Zimmer der Mädchen, tranken Cola, knabberten Erdnüsse und überlegten.

Plötzlich sprang Lieselotte auf und lief zum Telefon. Sie rief beim Empfang an und erkundigte sich, wer geschrien hatte. Der Portier bestätigte Dominiks Verdacht. Es war Cindy Cooper gewesen. Sie war aufgewacht, als sich die Monsterspinne auf sie stürzte.

„Wir haben das Tier auch gesehen“, berichtete Lilo. „Es ist durch den Garten geflüchtet.“

„Wir werden das sofort an die Polizei weitergeben“, versprach der Portier.

„Und wie geht es Mrs. Cooper?“ erkundigte sich Lieselotte. „Sie wird gerade in ein Krankenhaus gebracht“, erhielt sie als

Antwort. „Der Arzt hat einen schweren Schock festgestellt.“ Lilo verabschiedete sich und legte auf. „Ich bin gespannt, ob

Cindy Cooper morgen wieder fit ist“, meinte sie. „Sie spielt eine Hauptrolle. Was ist, wenn sie ausfällt?“

„Dann gibt es bei den Dreharbeiten ein Chaos, und das kostet Millionen!“ rief Dominik. „Es kann sogar passieren, daß die Filmfirma Pleite macht. Das ist schon vorgekommen.“

Poppi gähnte und steckte damit ihre Knickerbocker-Freunde an. Sie hätten zwar noch gerne über die geheimnisvolle Rache Profes­sor Komas diskutiert, doch sie wurden von Müdigkeit übermannt.

Die Jungen kletterten in ihr Zimmer zurück, und wenige Minu­ten später schliefen die Junior-Detektive.

Axel, Lilo, Poppi und Dominik plagten allerdings Alpträume mit blutigen Monstern, aus denen sie immer wieder hochfuhren. Sie waren froh, als der nächste Tag anbrach und sie endlich auf­stehen konnten.

Nach dem Frühstück schlenderten sie durch die Lobby zum Ausgang, wo Mister Gray im Wagen auf sie wartete.

- 113 -

Page 115: Geheim Akte Y

„Seht mal! Da ist ja Mister Kong!“ sagte Poppi und deutete zur Hotelbar. Tatsächlich stand dort der Regisseur. Er war von zahl­reichen Leuten umringt.

„Wieso ist er nicht im Studio? Heute beginnen doch die Drehar­beiten!“ murmelte Dominik verwirrt.

Neugierig liefen die Knickerbocker zur Bar und versuchten einige Worte aufzuschnappen.

Der Regisseur teilte eben der Presse mit, daß sich Cindy Cooper weigerte, zu den Dreharbeiten zu erscheinen. Nach dem Schock mit der Monsterspinne fürchtete sie um ihr Leben.

„Mister Kong“, rief ein Reporter. „Mister Kong, dieser Horror hat doch eindeutig mit Ihren Filmen zu tun. Der Schleim, das Grusel-Ei, die Blutsuppe und die Monsterspinne – das ist ja schon alles einmal in Ihren Werken vorgekommen. Haben Sie eine Erklärung für die gestrigen Vorfälle?“

Der Regisseur schüttelte stumm den Kopf. Plötzlich aber schien ihm etwas eingefallen zu sein. Er war mit einem Schlag sehr aufgeregt und wischte sich nervös über seine lange Nase und den schrägen Mund, der ihm Ähnlichkeit mit einem Pinguin verlieh.

„Meine Herren... es... ist... mir...“, stotterte Kong, „etwas Entsetzliches... eingefallen. Ich... ich...!“

Die Journalisten und die Knickerbocker starrten ihn gespannt an.

- 114 -

Page 116: Geheim Akte Y

Keine Dreharbeiten?

„Was ist los? Was haben Sie?“ wollte einer der Reporter wissen. Mister Kong schwitzte und war knallrot im Gesicht. „Sie haben

mir gerade etwas Schreckliches vor Augen geführt. Der rosafarbe-ne Schleim ist in meinem ersten Film vorgekommen. Das Ei mit dem Monstervogel stammt aus meinem zweiten Film, die Blut­suppe aus dem dritten und die Spinne aus meinem vierten Film. Da läßt anscheinend ein Wahnsinniger meine Horrorfilme Punkt für Punkt Wirklichkeit werden!“

„Und was geschah alles in ihrem fünften Film?“ fragte jemand. Kong überlegte kurz und antwortete: „Der Film hieß ,Das Meer

des Todes’. Berühmt wurde eine Szene, in der ein Schwarm Piranhas einen Menschen zerreißt.“

Die Journalisten wandten sich, wie auf einen Befehl hin, dem Bullauge hinter Mister Kong zu.

„Dort drinnen... in diesem Aquarium... da sind doch Piranhas“, stotterte eine Redakteurin.

„Vielleicht springt die Glasscheibe, und die Piranhas schwim­men in die Halle!“ flüsterte Axel.

„Die armen Tiere“, meinte Poppi. „Dann landen sie nämlich auf dem Trockenen und sterben.“

Das Superhirn der Bande grinste. Mister Kong verabschiedete sich von den Reportern und versi­

cherte ihnen: „Ich werde sofort dafür sorgen, daß die Piranhas aus dem Hotel entfernt werden. Es muß jede Gefahr ausgeschaltet werden!“

Schlecht gelaunt und grau im Gesicht betrat Mister Gray die Hotelhalle.

„Wir kommen schon!“ rief Dominik. „Entschuldigen Sie bitte die Verspätung!“

Aber der Mann schien sich nicht über die Knickerbocker, son­dern über etwas anderes zu ärgern. „Mein Wagen streikt! Dabei war er gerade in der Reparatur!“ schrie er. „Das lasse ich mir nicht bieten!“

- 115 -

Page 117: Geheim Akte Y

„Nehmen Sie ruhig meinen!“ rief Kong. „Er parkt vor der Tür. Ich habe hier noch länger zu tun. Ich sage den Film vorläufig ab! Die Dreharbeiten werden erst fortgesetzt, wenn der Wahnsinnige gefunden worden ist, der uns terrorisiert. Alles andere hat keinen Sinn!“

„Gray, kümmern Sie sich jetzt endlich um die Kinder und gehen Sie!“ sagte der Regisseur ungeduldig. „Die Kinder müssen weg. Ich... ich habe Angst um jeden, der mit diesem Unglücksfilm zu tun hat. Bringen Sie die vier zum Flughafen. Sie sollen mit der nächsten Maschine zurück nach Europa fliegen. Das ist alles eine Katastrophe! Und die Polizei... die... die schläft anscheinend!“

Mister Gray war nicht nur ein langweiliger, sondern auch ein besonders folgsamer Mann. Er begab sich sofort zum Telefon. „Die nächste Maschine nach Österreich startet morgen in der Früh“, verkündete er, als er zurückkam, und zuckte mit den Schultern.

Die Knickerbocker-Freunde grinsten zufrieden. Nun konnten sie noch einen Tag bleiben.

Lilo blickte ihren Bewacher lange an. Irgendwie gefiel ihr dieser Typ nicht. Mit dem stimmte etwas nicht!

„Wir nutzen am besten den Tag, indem ich euch Los Angeles zeige“, sagte Mister Gray.

„Ich will aber eigentlich Hollywood sehen“, meinte Axel und zog sich seine Kappe in die Stirn.

„Hollywood ist ja ein Teil von Los Angeles“, erklärte Dominik seinem Kumpel. „Mich persönlich würde besonders das berühmte Chinesische Theater interessieren. Auf dem Gehsteig davor gibt es viele Hand- und Fußabdrücke von Filmstars zu bewundern.“

Dominik träumte davon, sich mit seinen Hand- und Fußab­drücken eines Tages dort verewigen zu dürfen.

Die Knickerbocker trauten ihren Augen nicht, als sie den Wagen von Mister Kong erblickten.

Es handelte sich um einen goldfarbenen Rolls-Royce. Sie bestiegen das edle Gefährt und ließen sich in die weichen Sitze sinken.

- 116 -

Page 118: Geheim Akte Y

Mister Gray startete den Motor, und die Fahrt begann. Ihr „Wachhund“ glitt mit ihnen durch das noble Beverly Hills und zeigte ihnen die prachtvollen Villen der Reichen und der Stars.

Nachdem sie ungefähr eine Stunde unterwegs gewesen waren und gerade an der schier endlosen Hecke eines wunderbaren Anwesens auf einem Hügel vorbeirollten, läutete das Autotelefon.

Die Junior-Detektive sahen einander an. Mister Gray hob ab und sagte: „Hallo?“ Andächtig lauschte er

dann der Stimme des Anrufers. Grays Gesichtsausdruck ließ nicht den geringsten Zweifel. Er

mußte soeben eine schreckliche Nachricht erhalten haben...

- 117 -

Page 119: Geheim Akte Y

Wie von Geisterhand gelenkt

Mister Gray legte schließlich auf und fuhr an den Straßenrand. „Was ist geschehen?“ wollten die Knickerbocker erfahren. Langsam und stockend erzählte ihnen der Mann, was er soeben

erfahren hatte. „Mister Kong... Mister Kong hat... er hat... das Aquarium mit den Piranhas überprüft. Dabei ist er ausgeglitten und hineingefallen.“

Poppi wurde bleich und ergriff Lilos Hand. „Das Wasser soll sich augenblicklich rot gefärbt haben. Es muß grauenhaft gewesen sein. Noch dazu hat sich der Abfluß des Beckens geöffnet, und das Wasser ist mit den Fischen und den Resten Mister Kongs abgeflossen.“

Die Junior-Detektive waren starr vor Schreck. „Hat sich Profes­sor Koma wieder gemeldet?“ fragte Lieselotte.

„Keine Ahnung“, antwortete Mister Gray. „Aber bestimmt steckt er dahinter...“

Axel schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Mister Kong hatte einen Unfall.“

Lilo war anderer Meinung und sagte: „Vielleicht wurde er in das Piranha-Becken gestoßen!“

Mit einem leichten Ruck setzte sich der Rolls-Royce wieder in Gang und rollte einen Hügel hinunter.

Axel bemerkte, daß etwas nicht stimmte. Mister Gray raufte sich die Haare und starrte mit offenem Mund auf das Lenkrad, das sich ganz von allein bewegte! „Ich kann auch nicht bremsen... die Pedale funktionieren nicht!“ schrie der Mann in Panik. „Es gibt jemand Gas – ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann!“

Der Wagen näherte sich einer Kurve. Mister Gray packte das Steuer und versuchte, den Wagen unter Kontrolle zu bringen. Vergeblich! Der Rolls ließ sich nicht mehr lenken. Er fuhr geradeaus, und die Junior-Detektive kreischten erschrocken auf.

Erst in allerletzter Sekunde schüttelte das Auto wie von Geister­hand gelenkt in die Kurve.

- 118 -

Page 120: Geheim Akte Y

„Wo ist er?“ fragte auf einmal eine tiefe, müde Stimme. „Sag mir, wo er ist, sonst verläßt du dieses Auto nicht lebendig!“

„Das ist Professor Koma!“ rief Axel. „Er... er spricht eindeutig zu Ihnen! Mister Gray tun Sie, was er von Ihnen verlangt!“

„Aber ich weiß nicht, was er meint!“ jammerte der Mann verzweifelt.

„Sag mir, wo er sich befindet! Ich will es wissen“, verlangte die Stimme erneut. „Ich werde dich in Ruhe lassen, wenn du mir endlich sagst, wo du ihn versteckst!“

Der Wagen raste dahin. Und Professor Koma ließ sich bei der nächsten Kurve sehr lange Zeit, bis er die Räder in die richtige Stellung brachte. Die Reifen quietschten, und der Rolls krachte gegen einen Felshang. „Zum letzten Mal, sag mir, wo er ist! Du kannst mit mir sprechen, wenn du auf den Lautstärkeregler des Autoradios drückst.“

Mister Gray betätigte den Knopf und brüllte: „Wir... wir wissen nicht, wovon Sie reden! Hier ist Gray... Was... tun Sie? Ich habe Kinder im Wagen. Aufhören!“

Wieder quietschten die Reifen. Axel, Lilo, Poppi und Dominik wurden nach vorne geschleudert und rutschten von der Sitzbank. Plötzlich hatten die Bremsen wieder funktioniert und blockiert, und der Wagen hatte angehalten.

Die vier Freunde rissen die Türen auf, taumelten ins Freie und ließen sich gleich am Straßenrand niedersinken. Ihre Beine zitter­ten dermaßen, daß sie nicht einmal stehen konnten.

Mister Gray setzte sich neben sie und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Was... was soll das alles?“ stammelte er fassungslos.

Lieselotte umklammerte ihre Knie und versuchte, sich zu beruhigen. Sie hatte jetzt eine Spur zu Professor Koma...

- 119 -

Page 121: Geheim Akte Y

Das ist Professor Koma!

Die Junior-Detektive hatten sich in die Suite der Jungen zurück­gezogen, um eine Besprechung abzuhalten.

Nachdem sie sich gestärkt hatten, meine Lieselotte etwas ratlos: „Schauen wir einmal, ob die Fernsehnachrichten schon etwas über den grauenhaften Tod Ken Kongs bringen!“ Und tatsächlich flim­merte bereits auf dem dritten Sender, den Lilo probierte, nicht nur ein Bericht über das Unglück des Regisseurs, sondern auch über das Abenteuer Mister Grays und der vier Freunde in seinem Wagen über den Bildschirm.

Die Polizei hatte in dem Rolls-Royce ein Gerät entdeckt, das über eine Fernsteuerung das Gaspedal, die Bremse und die Len­kung außer Betrieb gesetzt hatte.

Und in das Radio hatte jemand auf sehr professionelle Weise ein Funksprechgerät eingebaut.

Lilo runzelte die Stirn und griff sich an die Nase.

An den Vorfällen stimmt etwas nicht. Es ist etwas sehr unlogisch. Weißt du, was ?

„Fällt euch etwas auf?“ sagte Lieselotte zu ihren Kumpeln. „Nicht uns, sondern Mister Kong sollte Angst eingejagt werden! Aber der Regisseur war zu diesem Zeitpunkt bereits tot! Das ist unlo­gisch!“

„Na ja, vielleicht sollte doch Mister Gray zum Reden gebracht werden. Womöglich ist sein Auto nicht angesprungen, weil

- 120 -

Page 122: Geheim Akte Y

jemand an der Zündung herumgebastelt hat“, meinte Axel. „Oder Mister Kong hat ihm absichtlich sein Auto geborgt, um ihn dann erpressen zu können.“

Lilo überlegte fieberhaft. Ihr Freund konnte recht haben. Aber das würde bedeuten, daß Mister Kong etwas mit Professor Koma zu tun hatte und mit ihm gemeinsame Sache machte.

Nein, das paßte nicht zusammen! „Warum aber wurde der Wagen in dem Moment abgebremst, als

Mister Gray seinen Namen nannte?“ fragte die Anführerin der Bande. „Dominik, gibt es ein Buch über Ken Kong und seine Gruselfilme?“

Der Junge nickte und holte es aus seinem Koffer. „Natürlich, und ich habe es bereits gelesen. Was willst du wissen? Alles Wichtige habe ich mir gemerkt!“

Lieselotte hatte allerdings keine bestimmte Frage, sondern wollte nur so viel wie möglich über den Regisseur erfahren.

Sie legte sich mit dem Band an den Swimmingpool des Hotels und begann darin zu schmökern.

Drei Stunden später hatte sie es durchgearbeitet und sich einige Notizen gemacht.

„Und? Was erfahren?“ erkundigte sich Axel. Lieselotte grinste und antwortete zufrieden: „Ja, sehr viel

sogar!“ „Mach es nicht so spannend!“ rief Dominik. „Ich weiß jetzt, wer Professor Koma ist“, verkündete das Super­

hirn nach einer weiteren Pause. „Wie bitte???“ Diese Meldung schlug wie eine Bombe ein. „Also, wer ist es?“ fragte Poppi neugierig. „Er war Drehbuchautor und hat das Script für Mister Kongs

erste große Erfolge geschrieben. Abgesehen davon, war er ein begnadeter Experte für Horroreffekte und Filmtricks. Er hieß Konstantin Markoni!“

„Und was hat er mit Professor Koma zu tun?“ wollte Poppi wissen.

„Der Name KOMA ist aus den Anfangsbuchstaben von Konstantin Markoni zusammengesetzt“, erklärte das Superhirn.

- 121 -

Page 123: Geheim Akte Y

Axel bewunderte seine Freundin. „Wie bist du denn darauf gekommen, Lieselotte?“

„Durch Zufall!“ lautete Lilos ehrliche Antwort. „Professor Koma hat doch einmal gesagt, er sei vor sieben Jahren umge­bracht worden. Konstantin Markoni ist vor genau sieben Jahren gestorben. Er ist mit seinem Mercedes tödlich verunglückt. Die Umstände waren äußerst mysteriös. Markoni soll in der Nacht mit seinem Auto von einer Klippe ins Meer gestürzt sein. Der Wagen wurde gefunden, Markoni nicht. Auf jeden Fall gilt er seit damals als tot.“

Poppi blickte Lilo fragend an. „Glaubst du denn... er... er lebt?“ Lieselotte zuckte mit den Schultern. „Das glaube ich nicht. Aber

es ist seltsam, daß die Leiche von Markoni nie entdeckt worden ist. Eigentlich hätte sie irgendwo an den Strand gespült werden müssen.“

Dominik fiel plötzlich etwas ein. „Hört zu, mir ist gerade etwas äußerst Merkwürdiges durch den Kopf gegangen! Mister Kong hat eindeutig gelogen! Er hat behauptet, die Sache mit den Piran­has kommt in seinem Film ,Das Meer des Todes’ vor. Aber das stimmt nicht. Ich kenne den Film. Er ist übrigens grauenhaft. Ich habe mich entsetzlich gefürchtet“, erzählte der Junge. „Jedenfalls gibt es in diesem Streifen eine Szene, wie wir sie heute erlebt haben! Ein Auto läßt sich nicht mehr steuern und wird wie von Geisterhand gelenkt.“

„Und die Piranhas?“ fragte Axel. „Ich glaube, die stammen aus dem Film ‚Ungeheuer aus der

Tiefe’!“ sagte Dominik. Das Superhirn war nun sehr aufgeregt und flüsterte: „Ich habe

einen Plan. Seid ihr dabei?“ „Zuerst möchte ich wissen, was du vorhast!“ meinte Axel

vorsichtig. „Okay! Wir müssen das Haus von Ken Kong unter die Lupe

nehmen. Er wohnt hier in Beverly Hills. Kommt ihr mit?“ Lilo schien zu allem entschlossen. Poppi, Axel und Dominik zögerten einen Moment.

- 122 -

Page 124: Geheim Akte Y

Schließlich aber rangen sie sich dazu durch, Lieselotte zu be­gleiten. Es gab keinen anderen Weg, sich Klarheit zu verschaffen und in dem Fall weiterzukommen. Gemeinsam waren sie stark – das hatten sie schon mehr als einmal unter Beweis gestellt.

Wie gefährlich war ihr Gegner? Hatten sie es mit jemandem zu tun, der aus dem Jenseits Rache nehmen wollte?

- 123 -

Page 125: Geheim Akte Y

Das Horrorhaus

Glücklicherweise hatte Mister Gray die Knickerbocker-Bande an diesem Nachmittag allein gelassen. Der tragische Unfall von Ken Kong hatte zahlreiche Probleme für die Filmfirma aufgeworfen, für die ihr „Babysitter“ arbeitete.

Lilo erkundigte sich beim Portier nach der Adresse von Mister Kongs Villa. Dieser wußte sie sogar auswendig. „Ken Kong war mein Chef, erklärte er. „Das Beverly Hills Ocean Hotel gehört ihm... oder besser gesagt... hat ihm gehört!“

Lilo staunte. Sie notierte die Adresse und bat den Portier, ein Taxi zu rufen.

Dreißig Minuten später standen die vier Freunde vor einem hohen Holztor. Dahinter lag Ken Kongs Anwesen.

Neben dem Tor entdeckten die Junior-Detektive einen schwar­zen Knopf mit einem kleinen Totenschädel.

„Und jetzt? Was machen wir jetzt?“ fragte Axel. „Warum kommen Jungs bloß nie auf die einfachsten Dinge der

Welt?“ meinte Lilo kopfschüttelnd. „Jetzt läuten wir einmal und warten ab, ob uns wer öffnet.“

Poppi drückte drauf. Nichts rührte sich. „Wir versuchen, über die Mauer zu klettern“, entschied Liese­

lotte. „Ich glaube, es ist niemand im Haus.“ Das Mädchen half ihren Freunden auf die Mauer und ließ sich

dann von Axel und Dominik hochziehen. Die Knickerbocker sprangen hinunter und gingen hinter einem

Busch in Deckung. Vorsichtig lugten sie durch die Äste und blickten über das

Grundstück. Vor ihnen erstreckte sich eine riesige Grünfläche, an deren Ende sich eine weiße Villa erhob. Rechts davon lag ein kleiner Hügel mit einem seltsamen Haus. Irgendwie kam es den Junior-Detektiven bekannt vor.

„In diesem Haus hat Alfred Hitchcock seinen berühmten Thril­ler ,Psycho’ gedreht“, flüsterte Dominik. „Ich bin sicher, daß es leer ist.“

- 124 -

Page 126: Geheim Akte Y

Mittlerweile war es Abend geworden, und die Dämmerung brach herein. Geduckt schlichen die Junior-Detektive an der Gartenmauer entlang auf die Villa zu. Sie hatten das Gebäude fast erreicht, als plötzlich ein leises Klicken ertönte und die Erde zu vibrieren begann.

Erschrocken blieben sie stehen. War das eine Falle? In der nächsten Sekunde standen die vier im Regen. Aus dem

Boden schossen hohe Wasserfontänen. „Keine Panik, das ist nur die Bewässerungsanlage! Sie hat sich automatisch eingeschaltet!“ beruhigte Axel seine Kumpel.

Die Knickerbocker-Freunde waren jetzt noch ungefähr zwanzig Schritte von der Villa entfernt.

Langsam näherten sie sich dem Haus und übersahen dabei eine steinerne Kröte am Rand des Weges, aus deren Maul ein dünner Lichtstrahl drang. Als die Lichtschranke durchbrochen wurde, geschah etwas Unfaßbares.

In dem Hitchcock-Haus auf dem Hügel ging das Licht an, und hinter einem Fenster tauchten die Schatten von zwei Menschen auf.

„Seht nur, die haben Messer in den Händen! Die gehen aufein­ander los!“ rief Axel entsetzt.

Verzweifelte Schreie gellten durch den Garten. Einer der Kämp­fenden stach wild auf den anderen ein. Schwer verwundet, oder vielleicht sogar tot, sank das Opfer zu Boden. Der Überlebende drehte sich zum Fenster. Die Vorhänge wurden zur Seite gescho­ben. Eine dunkle Gestalt starrte in den Garten, machte dann kehrt und knipste das Licht aus.

Die Knickerbocker packten einander an den Händen und blieben wie angewurzelt stehen. Der Mörder hatte sie gesehen!

- 125 -

Page 127: Geheim Akte Y

Die Falle

„Schnell! Wir müssen weg! Wir sind Augenzeugen. Wir haben einen Mord beobachtet. Bestimmt will uns der Typ jetzt auch erledigen!“ keuchte Axel.

„Bleib da!“ beruhigte ihn Dominik. „Das Haus ist nur eine Filmkulisse. Dort wohnt niemand. Was wir gesehen haben, war bestimmt ein Trick.“

Poppi war da nicht so sicher. „Und wozu soll die Show gut sein?“

„Entweder um Leute zu überraschen oder um ungebetene Gäste abzuschrecken. Auf jeden Fall ist die Sache harmlos“, beruhigte sie Dominik.

Lilo blickte ihre Freunde fragend an. „Und... Was tun wir jetzt? Sollen wir uns trauen und zu dem Haus auf dem Hügel gehen?“

Da entdeckte Dominik die Lichtschranke im Krötenmaul. Er machte seine Freunde darauf aufmerksam, und die Bande konnte erleichtert aufatmen. Seine Vermutung war also richtig gewesen.

Die Junior-Detektive beschlossen, das unheimliche Horrorhaus unter die Lupe zu nehmen. Schweigsam stapften sie den Hügel hinauf.

Die Eingangstür war nicht abgeschlossen. Lilo öffnete sie. Vor ihnen lag ein leerer, düsterer Raum.

Axel und Poppi hatten ihre Taschenlampen eingesteckt und knipsten sie an.

„Was ich gesagt habe: eine Filmkulisse“, flüsterte Dominik. „Es kann auch gar nicht bewohnt sein, denn dieses Zimmer ist so groß wie das ganze Haus und Treppe gibt es auch keine!“

Langsam gingen die Knickerbocker in das seltsame Gebäude und blickten sich suchend um.

Dann ging alles blitzschnell. Im Boden öffnete sich eine Falltür, und Axel, Lilo, Poppi und Dominik stürzten in die Tiefe. Über ihren Köpfen schloß sich die Klappe wieder.

„Wo... wo... wo sind wir?“ piepste Poppi. „Im Keller, wo sonst?“ knurrte Lilo.

- 126 -

Page 128: Geheim Akte Y

Axel hob seine Taschenlampe auf, die er beim Absturz verloren hatte, und leuchtete den Raum ab. Es handelte sich um eine kleine, enge Kammer, deren Boden mit Matratzen ausgelegt war. In einer Ecke lagen ein Stuhl und ein Hocker.

„Eine Tür!“ sagte Dominik leise und deutete auf eine Wand. „Sie ist ziemlich demoliert. Ich glaube, sie wurde aufgebrochen.“

Lieselotte rappelte sich auf, nahm Poppis Taschenlampe und ließ das Licht durch das Nebenzimmer streifen. „Eine Werkstatt“, meldete Lilo. „Das ist eine Art Atelier. Kommt!“

Poppi, Axel und Dominik blieben dicht hinter ihrer Freundin und betrachteten staunend die Zeichnungen und Bilder an den Wänden. Auf allen waren Monster, Ungeheuer und Drachen zu sehen. Auf einem Tisch stand ein Computer mit einem Drucker; daneben lagen mehrere Stapel Papier.

Ein Stück weiter entdeckten die Knickerbocker ein Zimmer mit einem ungemachten Bett, einer kleinen Kochnische und einem winzigen Bad und WC. Außerdem erkannte die Bande eine dicke Stahltür.

„Das kommt mir vor wie ein Gefängnis“, meinte Lilo. „Es sieht aus, als wäre hier jemand gefangengehalten worden.“

„Apropos gefangen!“ brummte Axel. „Wie sollen wir hier wieder rauskommen?“

Poppi begann zu schluchzen. Dominik kämpfte mit den Tränen. Selbst Axel spürte ein Kratzen im Hals. Nur Lieselotte hatte sich im Griff.

„Keine Sorge! Es wird uns bestimmt jemand retten“, sagte sie. „Quatsch!“ rief Axel. „Wer denn? Es weiß doch niemand, daß

wir hier sind. Wir werden hier verhungern.“ „He, noch ist es nicht soweit. Bleibt ruhig! Wir müssen

nachdenken. Bleibt ruhig!“ wiederholte Lilo eindringlich.

- 127 -

Page 129: Geheim Akte Y

Überraschung!

Über vier Stunden hockten die Knickerbocker-Freunde stumm auf dem Boden. Die Taschenlampen hatten sie abgedreht, um die Batterien zu schonen. Sie glotzten in die Dunkelheit und waren nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Schließlich überkam sie die Müdigkeit, und sie schliefen für ein paar Stunden ein.

Lilo war die erste, die wieder munter wurde. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar war, wo sie sich befand. In Lieselottes Kopf hämmerte der Ratschlag ihres Vaters: „Denk klar! Bleib cool!“

Plötzlich kam dem Mädchen eine Idee. Es tastete nach der Taschenlampe, knipste sie an und torkelte zur Tür, die in den Raum unter der Falltür führte. Lilo leuchtete den Türrahmen ab und überlegte: „Diese Tür ist eindeutig aufgebrochen worden. Und zwar von hier aus. Das bedeutet vielleicht, daß der Gefan­gene durch die Falltür flüchten konnte. Auf jeden Fall ist er nicht mehr hier!“

Das Superhirn weckte seine Kumpel und sagte: „Wir machen jetzt eine Pyramide. Axel setzt sich auf meine Schultern, und Do­minik versucht dann, auf Axels Schultern zu klettern. Dann müßte er es schaffen und die Falltür vielleicht aufdrücken können.“

Gesagt, getan! Dominik stemmte seine Hände gegen die Falltür, aber diese

bewegte sich keinen Millimeter. Immer wieder versuchte er sie zu heben, aber der Schließmechanismus war eingerastet.

Entmutigt ließen sich die Jungen auf die Matten fallen. „Und jetzt?“ fragte Axel.

- 128 -

Page 130: Geheim Akte Y

Was würdest du in dieser Situation tun ?

Poppis Großmutter hatte ihrer Enkelin immer erklärt: „Oft laufen Menschen jahrelang gegen verschlossene Türen, obwohl irgend-wo eine sperrangelweit offensteht.“ Das fiel dem Mädchen nun ein.

Poppi riß Lieselotte die Taschenlampe aus der Hand und lief durch das Atelier in den verwüsteten Wohnraum. Sie packte den Griff der Stahltür und zog an.

Die Tür schwenkte auf. „Poppi, super!“ jubelte Lieselotte überglücklich und umarmte

ihre Freundin. Poppi strahlte über das ganze Gesicht. Aber wohin führte der Gang, der hinter der Stahltür begann? Axel leuchtete ihn mit seiner Taschenlampe aus. Die Wände

und der Boden waren unappetitlich braun gestrichen. Und überall hingen große Spinnweben.

„Hoffentlich gibt es hier keine Ratten!“ murmelte Dominik und richtete seine Brille, die ihm in der Aufregung verrutscht war.

„Uns bleibt keine Wahl!“ meinte das Superhirn. „Denkt an unser Motto! Wir Knickerbocker lassen niemals locker!“

Poppi nickte tapfer. Auch wenn der Gang noch so unheimlich wirkte, mußten sie es wagen. Vielleicht fanden sie einen Ausgang ins Freie.

„Ich gehe vor!“ flüsterte Lilo und zückte die Taschenlampe. Die drei Junior-Detektive folgten im Gänsemarsch.

Die Knickerbocker-Freunde zitterten vor Aufregung, als sie schon nach wenigen Schritten eine Treppe erreichten, die steil

- 129 -

Page 131: Geheim Akte Y

nach oben führte. Die vier tappten hinauf und gelangten zu einer Tür, die ebenfalls nicht abgesperrt war.

Sie standen nun in einem stockfinsteren Zimmer. „Wir befinden uns jetzt im Haus von Ken Kong!“ sagte Domi­

nik leise. Vorsichtig durchquerten die Junior-Detektive den Raum, der

eine Art Abstellkammer war, und erreichten die nächste Tür, die sie in die Vorhalle der Villa führte.

Die Wand zum Haus hin war mit Fotografien übersät, die alle den Regisseur mit berühmten Schauspielern und Filmleuten zeig­ten.

„Die Villa ist bestimmt abgesperrt. Wie kommen wir hier raus?“ flüsterte Axel.

„Gar nicht!“ verkündete eine Stimme hinter der Bande. Die Knickerbocker-Detektive drehten sich um und blickten in

den Lauf einer Pistole.

Wer steht vor ihnen ?

- 130 -

Page 132: Geheim Akte Y

Ausweglos?

„Mis... Mister Kong!“ japste Axel. „Aber Sie... Sie... sind doch tot!“

Der Regisseur lachte. „Wie du siehst, bin ich das nicht. Aber das weiß bis auf euch keiner. Und ihr werdet keine Gelegenheit haben, es weiterzuerzählen. Los, marsch zurück in den Keller!“

Lilo blieb stehen. „Nein!“ rief sie stur. „Ich will da nicht mehr hinunter. Wir gehen nicht!“

Die Pistole klickte. „Seid nicht dumm!“ sagte Ken Kong mit ruhiger Stimme.

„Sonst muß ich abdrücken. Keiner wird meinen Erfolg zerstören. Ihr schon gar nicht!“

Im Zeitlupentempo gingen die Knickerbocker in die Abstell­kammer zurück. Jetzt war wirklich alles aus! Mister Kong würde sie im Keller verhungern lassen.

Lieselotte nahm all ihren Mut zusammen und fragte den Mann, warum er seinen Tod vorgetäuscht und wie er das angestellt hatte.

Ken Kong lachte. „Es war ein Filmtrick, sonst nichts! Die Piranhas habe ich aus dem Becken gefischt und dann habe ich mich ins Becken fallen lassen. Gleichzeitig hat sich unter meinem Hemd ein Beutel mit roter Farbe geöffnet. Das Aquarium hat einen riesigen Abfluß, durch den ich in der roten Suppe ver­schwunden bin. In meinem Hotel kenne ich nämlich die Installa­tionen genau. Unverletzt bin ich herausgekrochen und – natürlich verkleidet – in mein Haus zurückgekehrt. Mein Tod hat Schlag­zeilen gemacht, und meine Filme werden noch gefragter sein, als sie es jetzt schon sind. Ich selbst ziehe mich auf die Insel St. Louis in der Karibik zurück. Dort werde ich unter einem falschen Namen und mit einem neuen Gesicht leben, das ich mir verpassen lasse.“

Plötzlich stolperte Dominik und stürzte. Mister Kong fuhr den Jungen an: „Steh auf! Geh weiter!

Tempo!“

- 131 -

Page 133: Geheim Akte Y

Umständlich erhob sich der Knickerbocker und hielt sein rechtes Bein. „Mein Knie... mein Knie... ich habe mich verletzt. Ich... ich kann nicht mehr auftreten!“ jammerte der Junge.

Ken Kong wurde nervös. „Weiter! Mach schon!“ befahl er schnaubend.

„Ich kann nicht!“ stöhnte der Junge und setzte sich wieder auf den Boden.

Der Regisseur drängte sich an Poppi vorbei und beugte sich zu Dominik.

In der nächsten Sekunde sauste ein Baseballschläger durch die Luft und traf den Mann mit einem dumpfen Knall am Kopf.

Der Regisseur sank bewußtlos nieder. Dominiks Sturz war nur vorgetäuscht gewesen. Zuvor hatte er

im Halbdunkel den Baseballschläger entdeckt, diesen unbemerkt aufgehoben und ihn an Axel weitergegeben. Dieser hatte sofort verstanden, was sein Kumpel vorhatte.

,Jetzt schnell weg von hier!“ rief Poppi und rannte an Ken Kong vorbei zur Eingangstür, die sich glücklicherweise öffnen ließ.

Lauwarme Abendluft schlug ihnen entgegen. Die Junior-Detek­tive atmeten erleichtert auf. Doch da versperrte ihnen eine dunkle Gestalt den Weg!

- 132 -

Page 134: Geheim Akte Y

Die Lösung

„Halt! Wer seid ihr?“ rief der Schatten vor ihnen. „Wer... wer sind Sie?“ stieß Lilo hervor. Die Person kam näher, und zu ihrem Entsetzen blickten die

Knickerbocker abermals in den Lauf einer Schußwaffe. Diese war wesentlich größer als die Pistole Ken Kongs. „Was habt ihr hier gemacht?“ fragte die Gestalt.

Axel zuckte zusammen. Diese tiefe, müde, fast kraftlose Stim­me! Das war Professor Koma!

„Wir... wir haben gerade Ken Kong ausgeschaltet!“ sagte Axel. „Er liegt im Haus. Er wollte uns nämlich beseitigen.“

Lilo richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf das Gesicht von Professor Koma. Vor den Junior-Detektiven stand ein älterer Mann. Sein verzweifeltes Gesicht war sehr blaß und von Falten zerfurcht.

„Dieses Schwein! Dieses miese Schwein! Er muß endlich reden! Wo ist er?“ keuchte der Mann.

„Sind Sie Konstantin Markoni?“ fragte Axel leise. Der Mann nickte unmerklich, taumelte an den Knickerbockern

vorbei und betrat die Villa. Er entdeckte den bewußtlosen Regis­seur, stürzte sich auf ihn und ohrfeigte ihn. Währenddessen schrie er wie von Sinnen: „Wo ist er? Sag endlich, wo er ist!“

„Aufhören! Er kann jetzt nichts sagen... er ist ohnmächtig!“ rief Lieselotte.

Konstantin Markoni ließ von Mister Kong ab und begann zu weinen.

Hilflos standen die Junior-Detektive daneben. Schließlich erhob sich der Mann und ging in die Halle, um zu telefonieren. Nach­dem er aufgelegt hatte, flüsterte er: „Die Polizei ist gleich hier. Sie muß ihn unbedingt zum Sprechen bringen.“

Drei Tage später waren die Knickerbocker nicht mehr in Holly­wood, sondern auf der Karibikinsel St. Louis. Sie wohnten in einem kleinen, gemütlichen Strandhotel – gemeinsam mit Mister Markoni und... seinem Sohn!

- 133 -

Page 135: Geheim Akte Y

Er hieß Andrew und war zehn Jahre alt. Sieben Jahre lang war er auf St. Louis im Haus Ken Kongs gefangengehalten worden.

Konstantin Markoni erzählte nun den Junior-Detektiven die ganze unglaubliche Geschichte:

„Vor sieben Jahren habe ich das erste Drehbuch für Ken Kong geschrieben. Ich habe auch die speziellen Horroreffekte ent­wickelt und Kong zu seinem großen Erfolg verholfen. Aber er hat meine Arbeit verschwiegen und nur sich in den Vordergrund gestellt. Deshalb wollte ich nicht mehr für ihn arbeiten. Außerdem war kurz zuvor meine Frau verstorben, und ich mußte mich um Andrew kümmern. Eines Tages wurde mein Sohn entführt. Eine Woche lang hat die Polizei nach ihm gesucht. Erfolglos. Und dann bin ich eines Nachts überfallen, betäubt und verschleppt worden. Zu mir gekommen bin ich in dem Keller, den ihr ja kennt. Ken hat mir mitgeteilt, daß er meinen Sohn in seiner Gewalt hat. Er wollte ihn umbringen, wenn ich nicht wieder für ihn arbeite. Was blieb mir also anderes übrig, als mich der gemeinen Erpressung zu fügen? Es war eine Qual! Ich durfte nur nachts kurz aus dem Verlies. Eine Flucht war unmöglich.“

„Aber wie sind Sie dann doch entkommen?“ fragte Axel. „Es war die Verzweiflung, die mir geholfen hat. Eines Tages

habe ich völlig die Nerven verloren und bin mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Hinter der Tapete war eine Tür. Ich habe einen Monat gebraucht, um sie zu öffnen. Die Tür führte in den Raum mit der Falltür. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich hatte nämlich die Falltür selbst erfunden – allerdings für einen Film. Ich habe einen Hocker auf einen Stuhl gestellt und mit einer Gabel den Mechanismus gelöst. So konnte ich fliehen.“

„Aber wozu dann das ganze Horrortheater?“ wunderte sich Poppi.

Lilo meinte: „Mister Markoni wollte Ken Kong damit Angst einjagen. Es ging um das Versteck seines Sohnes!“

Der Drehbuchautor nickte. „Ich wußte, daß Ken nur an zwei Sachen interessiert war: an Erfolg und an Geld. Er sollte von mir aus beides haben, aber wissen, daß ich ihn fertigmachen kann. Er sollte um sein Leben zittern. Ich ging davon aus, daß er Andrew

- 134 -

Page 136: Geheim Akte Y

nichts antun würde. Schließlich hätte ich dann alles auffliegen lassen können. Ich konnte mich Ken aber nicht nähern. Er schreckte vor nichts zurück. Deshalb habe ich einige Horror­effekte Wirklichkeit werden lassen. Ich wollte ihn zermürben, aber ich hatte nicht sehr viel Glück. Meinen Andrew habe ich nur aus einem Grund zurückbekommen: Weil ihr es geschafft habt, dieses Scheusal zu überwältigen. Und dafür danke ich euch! Ich bewundere euren Mut!“

Die Knickerbocker lächelten stolz. Zärtlich drückte Mister Markoni seinen Sohn an sich. Andrew

war noch ganz verstört. Er konnte sich kaum an seinen Vater erinnern. Die beiden würden einige Zeit brauchen, um sich aneinander zu gewöhnen.

Den Junior-Detektiven war nun auch klar, wozu Kong das Spek­takel mit den Piranhas inszeniert hatte. Markoni sollte denken, er sei tot. Aber darauf war der Mann nicht hereingefallen.

„Übrigens... die Dreharbeiten zu ,Das Horror-Hotel’ beginnen nächste Woche, natürlich mit einem anderen Regisseur“, erzählte Mister Markoni. „Und diesmal werden alle erfahren, daß ich der Drehbuchautor bin!“

Dominik machte einen Vorschlag: „Wenn Sie sich wieder erholt haben, müssen Sie über Ihre und unsere Erlebnisse in Hollywood auch einen Film drehen.“

Seine Knickerbocker-Freunde waren über den Einfall begeistert. Schließlich würden sie dann alle vier eine Hauptrolle spielen.

- 135 -

Page 137: Geheim Akte Y

- 136 -

Page 138: Geheim Akte Y

Der Giftpfeil

„Er... er hat sich bewegt!“ flüsterte Poppi Ihrer Knickerbocker-Freundin Lieselotte zu.

„Nonsens!“ brummte Lilo. „Du stehst vor einer Puppe aus Wachs. Die kann sich nicht bewegen!“

„Ich habe es aber genau gesehen!“ wisperte Poppi. „Robin Hood hat gezwinkert. Ich habe mich nicht getäuscht, Lilo!“

Die Knickerbocker-Bande befand sich in einem engen, niederen Zimmer des Londoner Wachsfiguren-Kabinetts „Wonderland“. Die Attraktion war erst vor wenigen Wochen eröffnet worden und zeigte über 300 Wachsfiguren berühmter Persönlichkeiten aus Politik, Showbusineß und Geschichte.

Die lebensgroßen Puppen waren in verschiedenen Räumen auf­gestellt und in schummriges Licht getaucht. Sie wirkten lebendig und echt.

„Los, wir gehen jetzt in die Folterkammer!“ rief Axel seinen Knickerbocker-Kumpeln zu. „Mir ist nach etwas Gruseligem. Ich habe Lust auf Gänsehaut!“

„Die kannst du gerne haben!“ donnerte eine tiefe Stimme. Sie kam von oben und ließ die vier Knickerbocker erschrocken in die Höhe blicken.

„Er lebt... er lebt tatsächlich!“ schrie Poppi entsetzt. Das Mädchen hatte sich nicht getäuscht. Die Wachsfigur von Robin Hood bewegte sich. Sie war zum

Leben erwacht. Die berühmte englische Sagengestalt spannte den Bogen und richtete den schwarzen Pfeil auf die Besucher, die sich in dem engen Raum drängten.

Surrend schlossen sich die beiden Türen, durch die man in den Raum gelangen konnte.

Zwei Männer warfen sich dagegen, doch die Türen gaben nicht nach.

Axel, Lilo, Poppi, Dominik und die etwa zehn anderen Besucher gerieten in Panik. Sie begannen zu kreischen und blindlings loszu­

- 137 -

Page 139: Geheim Akte Y

rennen. Köpfe stießen aneinander, und einer versperrte dem anderen den Weg.

„Es gibt kein Entkommen!“ drohte die zum Leben erwachte Wachsfigur. „Ich bin Robin Horror! Ich nehme Schönheit und bringe Häßlichkeit.“

Dominik runzelte die Stirn: Der echte Robin Hood hatte doch den Reichen Geld weggenommen und den Armen gegeben. Was sollte das bedeuten?

,,Die Spitzen meiner Pfeile sind vergiftet und verwandeln alles Schöne in sein Gegenteil!“ drohte Robin Horror.

Ein Mann hob die Faust und rief: „Wenn das ein Scherz sein soll, finde ich ihn nicht im geringsten lustig. Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen.“

„Vielleicht gehört das zum Rundgang durch das Kabinett!“ fiel Lilo plötzlich ein.

Robin Horror wurde wütend. Er verzog das Gesicht und blickte böse in die Menge. „Genug!“ keuchte er heiser, spannte den Bo­gen und senkte langsam den Pfeil.

Verzweifelt versuchten die Besucher, in Deckung zu gehen. Doch im Zimmer befanden sich nur zwei kleine Bühnen. Auf einer stand die Puppe von Sherlock Holmes, auf der anderen Robin Hood. Es gab nichts, wo sie sich hätten verstecken können. Alle drängten zur Hinterwand des Raumes.

Auf wen würde der Wahnsinnige schießen? „Mein Opfer bist du!“ rief Robin Horror. „Nein!“ schrie Lilo auf, denn die Pfeilspitze wies genau auf sie. Ein leises Zischen ertönte, als der Pfeil durch die Luft sauste. In

der gleichen Sekunde erlosch das Licht. Eine Frau, die neben den Knickerbockern stand, stöhnte auf. Jemand drängte sich an Axel vorbei, und dem Jungen stieg ein

sonderbarer Geruch in die Nase. „Was... was ist? Hilfe!“ riefen die Gefangenen durcheinander. Mit einem leisen Klicken öffneten sich die Türen wieder, und

Licht fiel herein. Poppi sah sich hastig um. Wo war Lilo? War ihr etwas zugesto­

ßen? Ihre Freundin war verschwunden.

- 138 -

Page 140: Geheim Akte Y

Die Verwandlung

„Lilo, wo bist du?“ rief Poppi verzweifelt. „Hier... hier unten!“ kam Lieselottes Stimme leise vom Boden. Ächzend richtete sich das Mädchen auf. Es hatte sich, als Robin

Horror auf sie gezielt hatte, auf den Teppich geworfen. „Seht nur!“ Axel zeigte auf die kleine Bühne, deren Hintergrund

ein Stück des Sherwood-Waldes darstellte, in dem Robin Hood angeblich gelebt hatte. Dort stand – steif und starr – die Wachs­figur im grünen Rock.

Dominik schluckte, als er entdeckte, was zu ihren Füßen lag. Schreiend rannten die Knickerbocker mit den übrigen Besu­

chern aus dem Raum. Die vier Freunde stürzten in die Arme von Poppis Onkel Albert, der im Nebensaal auf sie gewartet hatte.

„Eine Frau! Robin Horror hat einer Frau einen... Pfeil durch den Arm geschossen!“ schluchzte Poppi.

Onkel Albert streichelte ihr über den Kopf und murmelte: „Ich habe Schreie gehört... Aber die Schreie haben doch zur Show gehört, oder?“

Auch Lilo hatte Tränen in den Augen. „Nein, das glaube ich nicht!“ stammelte sie. „Die Frau ist neben mir gestanden. Ich erinnere mich genau an ihre langen blonden Haare und den roten Mantel. Die Figur von Robin Hood ist lebendig geworden und hat auf sie geschossen. Und dann lag sie plötzlich auf der Bühne zu seinen Füßen.“

Ein Mann in einem verknitterten Trenchcoat zwängte sich zwi­schen den schaulustigen Menschen durch, die vor dem Eingang standen und einen Blick auf die verletzte Frau werfen wollten.

„Bitte machen Sie Platz, ich bin Arzt!“ knurrte der Mann ungeduldig.

Nachdem er im Zimmer verschwunden war, hielten die Besu­cher gespannt die Luft an.

„Doktor... was ist mit der Dame?“ rief jemand.

- 139 -

Page 141: Geheim Akte Y

„Sie lebt“, antwortete der Arzt. Seine Stimme zitterte. „Aber... sie ist... völlig verunstaltet. Auf ihren Armen... Haare, überall Haare! Und das Gesicht ist völlig verschwollen!“

Einige besonders Neugierige wagten sich nun wieder in den Raum. „Die Frau sieht wie ein Monster aus. Die Nase hat die Form einer Kartoffel. Die Augen quellen aus dem Kopf, und sie ist auf einmal überall dicht behaart!“ berichteten sie den anderen.

Poppi war am Ende. Der Tag hatte so lustig begonnen, und nun waren sie Zeugen eines so schrecklichen Vorfalls geworden.

Der Arzt schob die schaulustigen Besucher aus dem Raum und schloß energisch die Türen. „Rufen Sie sofort die Rettung!“ ver­langte er. „Die Frau schwebt in Lebensgefahr!“

„Kommt Kinder, schnell!“ meinte Onkel Albert. „Der Direktor des Wachsfiguren-Kabinetts ist ein alter Bekannter von mir. Ich möchte sofort zu ihm.“

Suchend hasteten die Knickerbocker und Onkel Albert durch das Gebäude.

Wieso hielten sich die vier Freunde eigentlich in London auf? Die Antwort war einfach: Poppis Onkel Albert hatte die Bande für eine Woche zu sich eingeladen. Und die Junior-Detektive hatten freudig zugesagt und sich für die zweite Februarwoche ange­kündigt.

Onkel Albert war bis vor einem halben Jahr Kriminalinspektor bei Scotland Yard gewesen. Seit er in Pension war, langweilte er sich entsetzlich. Der Besuch der Knickerbocker-Bande war für ihn eine willkommene Abwechslung.

Am ersten Abend waren die vier mit ihm vor dem Kamin in seiner gemütlichen Wohnung gesessen, und Onkel Albert hatte von Kriminalfällen erzählt, die er gelöst hatte.

Am zweiten Tag hatte er die Knickerbocker-Bande in das neue Wachsfiguren-Kabinett begleitet, in dem sie noch zahlreiche Überraschungen erleben sollten.

- 140 -

Page 142: Geheim Akte Y

Robin Horror kehrt zurück

Bald lief den Knickerbockern und Albert Harwood ein hagerer Mann mit hochrotem Gesicht über den Weg. Er schwitzte, als würde er gerade aus einer Sauna kommen.

„Albert!“ rief er überrascht, als er Poppis Onkel erblickte. „Jemand muß sich einen bösen Scherz erlaubt haben! In dem Raum mit den Figuren von Sherlock Hohnes und Robin Hood ist eine Frau mit einem Pfeil angeschossen worden!“

Albert Harwood stellte den schwitzenden Mann seinen Gästen als Boris McCarty vor. Er war der Besitzer des Wachsfiguren-Kabinetts, und der Vorfall schien ihn völlig aus der Fassung gebracht zu haben.

Zwei Männer in weißen Anzügen stürzten mit einer Bahre auf Mister McCarty zu. „Wo ist die Verletzte?“ wollten sie wissen.

„Endlich... die Rettung ist da!“ keuchte der Direktor. „Hier entlang, meine Herren! Folgen Sie mir. Sie werden dringend gebraucht!“

„Macht es euch etwas aus, wenn wir noch ein wenig hierblei­ben?“ erkundigte sich Onkel Albert bei den Knickerbocker-Freunden. „Ich würde gerne ein paar Worte mit Boris reden. Vielleicht kann ich ihm helfen.“

„Machen Sie die Tür auf, Doktor! Schnell!“ hörten die Junior-Detektive den Besitzer des Wachsfiguren-Kabinetts rufen. „Was soll das? Machen Sie auf!“

Onkel Albert zog die Augenbrauen hoch. „Da stimmt etwas nicht! Wartet hier, ich komme gleich wieder!“ Mit großen Schrit­ten eilte er davon.

Die Knickerbocker warteten natürlich nicht, sondern folgten ihm.

Boris McCarty trommelte mit den Fäusten gegen die verschlos­sene Tür des Robin-Hood-Zimmers. Als der Arzt noch immer nicht aufschloß, warf sich der kleine, dickliche Mann dagegen. „Aua!“ stöhnte er und rieb sich die schmerzende Schulter.

- 141 -

Page 143: Geheim Akte Y

Mit zitternden Fingern wühlte er in den Taschen seines schwar­zen Anzugs und holte einen mächtigen Schlüsselbund hervor. Er probierte mehrere Schlüssel aus, bis er endlich den richtigen gefunden hatte.

Die Tür sprang auf, und die Sanitäter hasteten mit der Bahre in den Raum.

„Doktor? Doktor, was ist?“ hörten die Knickerbocker Mister McCarty rufen. Sie reckten die Köpfe und erkannten den Arzt.

Er lag auf dem Boden und schien ohnmächtig zu sein. Dominik entdeckte als erster dann aber etwas noch viel Erstaun­

licheres. „Die Frau... die verletzte Frau ist fort!“ flüsterte er seinen Freunden zu.

Er hatte recht. Die Dame schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Und auch der Schütze im grünen Wams hatte sich aus dem

Staub gemacht. Von der Wachsfigur Robin Hoods abgesehen, war die Bühne leer.

Die Sanitäter wandten sich dem Bewußtlosen zu und leisteten erste Hilfe.

Stöhnend erhob sich der Arzt nach einer Weile und rieb sich den Hinterkopf. „Die Wachsfigur hat sich auf einmal bewegt und mich niedergeschlagen“, berichtete er.

„Und die Frau? Was ist mit der Frau?“ schrie ihn der Museums­direktor an. „Sie kann doch nicht aus einem verschlossenen Raum verschwinden!“

Der Arzt war ratlos.

Weißt Du, wie Robin Horror den Raum mit der Frau verlassen haben könnte?

- 142 -

Page 144: Geheim Akte Y

Jimmy

Das Wachsfiguren-Kabinett wurde für diesen Tag geschlossen, und nachdem die Polizei den Vorfall aufgenommen hatte, bat Mister McCarty Onkel Albert und die Knickerbocker-Freunde in sein Büro.

Mittlerweile war er völlig außer sich und schweißüberströmt. Er stützte den Kopf in die Hände und seufzte: „Das könnte

bereits das Ende meines Unternehmens sein. Dabei habe ich mein gesamtes Vermögen hineingesteckt. Wenn ich Pleite mache, ist alles aus.“

Albert Harwood fühlte sich wie in alten Zeiten. Er ging im Zimmer auf und ab und zupfte an seinem Bart. Das hatte er immer getan, wenn er überlegte.

„Gibt es einen dritten Ausgang aus dem Robin-Hood-Raum?“ fragte er seinen Freund Boris und sah dabei grübelnd aus dem Fenster.

Der Direktor schüttelte den Kopf. Die Tür ging auf, und ein junger Bursche mit langen braunen

Haaren erschien. Er trug abgewetzte Jeans und einen mitgenommenen Wollpullo­

ver. An seinen Händen klebte eine weiße Masse, die wie Gips aussah.

„Entschuldigung, Boss! Der neue Michael Jackson wird heute ohnehin nicht mehr trocken!“ sagte er zu Mister McCarty. „Kann ich gehen?“

Lilo traute ihren Ohren nicht. „Wie bitte? Was heißt das?“ woll­te sie wissen.

„Jimmy ist der Künstler, der die wunderbaren Wachsfiguren herstellt“, erklärte Mister McCarty. „Im Augenblick hat er Micha­el Jackson in Arbeit.“

Dann wandte er sich an Jimmy und sagte: „Natürlich kannst du für heute Schluß machen.“

„Bitte, können wir vorher noch die Werkstatt besichtigen?“ fragte Lilo.

- 143 -

Page 145: Geheim Akte Y

Mister McCarty warf Albert Harwood einen fragenden Blick zu, nickte dann und gab Jimmy ein Zeichen, die Knickerbocker-Freunde hinzuführen.

„Ich habe da so ein Gefühl: Vielleicht wird aus dieser Geschich­te ein neuer Fall für uns!“ meinte Lilo zu ihren Freunden, als die vier durch die etwas verwinkelten Gänge Jimmy zur Werkstatt folgten.

„Fall?“ Jimmy sah das Mädchen erstaunt an. „Seid ihr Detek­tive?“

Die Knickerbocker-Freunde nickten und berichteten Jimmy von den zahlreichen Abenteuern, die sie bereits bestanden hatten.

Poppi erzählte von ihren Erlebnissen in Indien und kam bei der Schilderung des Falls „Kennwort Giftkralle“ so sehr in Fahrt, daß Lilo sie bremste.

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Er schien ihnen nicht zu glauben.

Auf einmal blieb Jimmy stehen und sagte: „Wartet einen Augenblick! Ich ziehe mich nur schnell um.“

Er öffnete eine Tür, und Lieselotte konnte einen Blick in einen winzigen Raum werfen, in dem ziemliches Chaos herrschte. Das Mädchen, das oft als Superhirn der Bande bezeichnet wurde, erstarrte.

Axel, der neben ihr stand, sah sofort, warum.

- 144 -

Page 146: Geheim Akte Y

Jede Menge Rätsel

Am Boden des Zimmers lag ein grünes Kostüm. Es war das Kos­tüm, das Robin Horror getragen hatte. Daneben konnte Axel den Bogen und die schwarzen Pfeile ausnehmen.

Es gab keinen Zweifel! „Sie sind Robin Horror!“ schrie Axel auf. „In Ihrem Zimmer

liegt die Verkleidung.“ „So ein Unsinn! Ich habe die Sachen nie zuvor gesehen. Nein...

ich... ich habe nichts damit zu tun. Ich habe... ich... nein!“ stammelte Jimmy.

„Onkel Albert!“ brüllte Poppi aus Leibeskräften. „Onkel Albert, hier ist Robin Horror!“

Eine Tür wurde aufgerissen, und schnelle Schritte kamen näher. Jimmy stieß die Knickerbocker-Freunde zur Seite und ergriff

die Flucht. Er stürmte in die Werkstatt und versperrte die Tür. Als Mister McCarty eintraf und die Tür aufschloß, war Jimmy

längst über alle Berge. Er mußte durch das offene Fenster geklet­tert und an der Regenrinne nach unten gerutscht sein.

Wieso hatte sich der junge Mann verkleidet? Warum hatte er die Besucher des Wachsfiguren-Kabinetts bedroht? Was hatte er mit der blonden Frau angestellt? Eines stand jedenfalls fest: Durch seine Flucht hatte der Bursche zugegeben, daß er mit der Sache etwas zu tun hatte.

Wem nützt der Vorfall mit Robin Horror auf den ersten Blick am meisten?

- 145 -

Page 147: Geheim Akte Y

Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll mit Berichten über den Vorfall in Mister McCartys Wachsfiguren-Kabinett. Die blon­de Frau blieb weiterhin verschwunden.

Bei der Dame handelte es sich um eine Schauspielerin namens Linda Brightman, die vor vielen Jahren sehr erfolgreich und bekannt gewesen war. Nach einigen enttäuschenden Darbietungen war sie dann allerdings in Vergessenheit geraten.

„Hört mal!“ sagte Dominik zu seinen Knickerbocker-Freunden. Die vier saßen vor dem Kamin in Onkel Alberts Wohnung in

Kensington und tranken das Lieblingsgetränk aller Engländer: Tee.

Der Junior-Detektiv hatte eine große englische Tageszeitung vor sich auf dem Boden ausgebreitet. Seine Englischkenntnisse waren zwar nicht sehr gut, doch zum Glück hatte er einen kleinen Computer mitgebracht, der ihm bei der Übersetzung des Artikels über Robin Horror hervorragende Dienste leistete.

Nachdem er den Artikel entziffert hatte, berichtete er also: „Der Arzt, der die Frau im Wachsfiguren-Kabinett behandelt hat, glaubt das Gift zu kennen, in das die Pfeilspitze getaucht war. Er behauptet, das Gift käme aus Südamerika. Es löst starken Haar­wuchs und gefährliche Schwellungen aus. Das Gegengift sei kaum zu bekommen.“

Lieselotte begann sich ihrer Nasenspitze zu widmen. Sie glaubte fest daran, daß das ihre Grübelzellen anregte. „Ein mögliches Motiv für das Auftauchen von Robin Horror kennen wir jetzt“, sagte sie. „Das Wachsfiguren-Kabinett war bisher eher schlecht besucht. Nun ist in allen Zeitungen davon die Rede. Bestimmt werden viele Menschen die Wachsfigur sehen wollen, die zum Leben erwacht ist.“

Axel nickte. „Schon möglich. Aber an der ganzen Sache stört mich etwas. Ich komme nur nicht drauf, was es ist.“

„He, es ist schon elf Uhr! Wir müssen uns beeilen!“ rief Poppi. Die Knickerbocker-Bande war nämlich mit Onkel Albert in

Scotland Yard verabredet. Normalerweise hatten Unbefugte kei­

- 146 -

Page 148: Geheim Akte Y

nen Zutritt in die weltbekannte Zentrale der Londoner Kriminal­polizei. Da Onkel Albert aber früher dort gearbeitet hatte, wollte man eine Ausnahme machen.

Es war ein kalter, regnerischer Tag. Die vier Freunde fröstelten, als sie auf die Straße traten. Sie wollten zur nächsten U-Bahn-Station laufen.

- 147 -

Page 149: Geheim Akte Y

Helft mir!

Die Knickerbocker hatten noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als sie von jemandem gerufen wurden. Sie blickten sich um, konnten aber niemanden sehen.

„He, ihr da! Pssst!“ ertönte die Stimme abermals. Poppi war es, die den Rufer entdeckte. Er stand auf der Treppe, die nach unten zum Kellergeschoß des Hauses führte.

„Jimmy!“ rief Poppi entsetzt. Die Knickerbocker-Freunde drehten sich um und wollten die

Flucht ergreifen, stand der Bursche doch unter Verdacht, Robin Horror zu sein.

„Lauft nicht weg! Bitte!“ flehte Jimmy. „Helft mir! Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Aber die Polizei wird mir das nie glau­ben. Es will mich jemand hereinlegen. Ich bin nicht Robin Hor­ror!“

Zögernd kamen die Junior-Detektive ein paar Schritte näher. Sie hielten aber zur Sicherheit Abstand zu dem jungen Mann, der jetzt einen unauffälligen braunen Anzug und eine dunkle Sonnenbrille trug.

Poppi verzog das Gesicht. Sie glaubte Jimmy nicht. Axel und Dominik hingegen waren auf seiner Seite. Wieso soll­

te sich Jimmy ausgerechnet an sie wenden, wenn er Dreck am Stecken hatte? Jemand mußte das Kostüm, sowie Pfeil und Bogen in sein Zimmer gelegt haben, um den Verdacht auf ihn zu lenken.

„Zum Glück hat mir Mister McCarty bereits einige Male von eurem Onkel Albert erzählt. Ich habe die Adresse aus dem Tele­fonbuch“, berichtete Jimmy. „Ihr müßt mir einen Gefallen tun! Bitte!“ Flehend blickte er die Knickerbocker-Freunde an.

Lilo nickte. Poppi warf ihrer Freundin einen bösen Blick zu. Warum wurde

Lilo immer weich, wenn sie ein flotter Typ um etwas bat? „Ich habe einen Verdacht“, teilte Jimmy den Junior-Detektiven

flüsternd mit. Hastig schilderte er ihnen seine Gedanken und drückte dem Superhirn einen Zettel mit dem Plan des Wachsfi­

- 148 -

Page 150: Geheim Akte Y

guren-Kabinetts in die Hand. Außerdem überreichte er Lilo seinen Schlüssel zum Hintereingang.

„Aber vielleicht lösen wir beim Betreten die Alarmanlage aus!“ fiel Dominik ein.

Jimmy schüttelte den Kopf. „Die funktioniert nicht. Keine Sorge!“ Hastig verabschiedete er sich von den vier Freunden. Er sprang auf ein Fahrrad und trat in die Pedale.

Axel warf einen Blick auf die Uhr. „Tempo, Leute!“ rief er. „Sonst kommen wir noch zu spät, und Onkel Albert fragt uns, wo wir so lange geblieben sind. Ich glaube, wir sollten es ihm nicht sagen. Er wäre mit unserem Plan bestimmt nicht einverstanden.“

Die U-Bahn brachte die Knickerbocker-Bande schnell ans Ziel. Am Eingang in das riesige Bürogebäude von Scotland Yard

wurden sie bereits von Poppis Onkel erwartet. Die Führung durch das Haus verlief dann aber eher enttäu­

schend. Die Junior-Detektive hatten sich Scotland Yard viel aufregender vorgestellt.

Spezialabteilungen, in denen Kameras in Streichholzschachteln eingebaut wurden, sahen sie keine. Die gab es nur in James-Bond-Filmen. Scotland Yard bestand hauptsächlich aus Hunderten Büros, wie sie in jedem anderen Betrieb auch zu finden waren.

Onkel Albert führte die Freunde schließlich in einen Raum und sagte: „Hier seht ihr eines der wichtigsten Geräte für heutige Verbrecher-Fahndungen.“

Axel verstand nicht, was er meinte. „Das ist doch nur ein ganz gewöhnlicher Computer“, antwortete er und schüttelte den Kopf.

Onkel Albert schmunzelte. „Ja, aber in diesem Ding sind die Fingerabdrücke, Daten und Fotos Tausender Ganoven gespei­chert.“

Lilo warf Dominik einen vielsagenden Blick zu.

- 149 -

Page 151: Geheim Akte Y

Welchen Namen möchte Lilo in den Computer eingeben lassen? Über wen will

sie sofort mehr erfahren?

Lilo knetete ihre Nasenspitze und fragte dann: „Darf ich dich et­was bitten, Onkel Albert? Könntest du einen Namen eingeben und uns mitteilen, ob der Computer mehr über diese Person weiß?“

Der ehemalige Kriminalinspektor zögerte und meinte schließ­lich: „Eigentlich darf ich das nicht. Aber ich will eine Ausnahme machen. Welchen Namen möchtest du denn ausprobieren?“

Lieselottes Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Jim­my Slogan“, sagte sie.

Onkel Albert stutzte. „Ist das nicht der Bursche, der gestern aus dem Wachsfiguren-Kabinett geflüchtet ist?“

Die Knickerbocker nickten. Onkel Albert setzte sich vor den Bildschirm und begann den

Namen einzutippen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis die Daten erschienen.

„Jimmy Slogan ist vor einigen Jahren in Zusammenhang mit einem Gemäldediebstahl in Edinburgh festgenommen worden“, teilte der ehemalige Kriminalist den Junior-Detektiven mit. „Allerdings wurde er nach wenigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt, da es keinen stichhaltigen Beweis für seine Täterschaft gab.“

Lilo bedankte sich für die Auskunft und überlegte fieberhaft, was das zu bedeuten hatte.

- 150 -

Page 152: Geheim Akte Y

Onkel Albert drängte nun langsam zum Aufbruch. Er hatte für die Nachmittagsvorstellung des Hit-Musicals „Starlight Express“ Karten bestellt.

Als die Knickerbocker und er auf den Gang hinaustraten, kamen ihnen zwei aufgebrachte Männer entgegen. Es handelte sich um alte Bekannte Onkel Alberts, die aufgebracht und wild gestikulie­rend auf ihn einsprachen. Poppis Onkel schüttelte fassungslos den Kopf.

- 151 -

Page 153: Geheim Akte Y

Im Nebel

Nachdem seine ehemaligen Kollegen weitergehastet waren, berichtete Onkel Albert: „Es ist soeben eine Meldung durchge­kommen: Emma Fletcher, die Primaballerina der Londoner Oper, ist entführt worden.“

Onkel Albert zupfte nervös an seinem Bart. „Emma Fletcher war früher einmal mit dem Kaufhauskönig Marc Fletcher verhei­ratet. Ihr Mann kam vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben und hat ihr ein großes Vermögen hinterlassen. Es ist jedoch bis jetzt keine Lösegeldforderung eingegangen.“

Die Knickerbocker-Freunde dachten nicht weiter über die Ent­führung nach. Sie hatten nur noch das Vorhaben im Kopf, das sie in der Nacht ausführen wollten.

Als die Zeiger des Big Ben auf elf Uhr sprangen, wußten die vier Junior-Detektive nicht, was ihnen bevorstand. In weniger als dreißig Minuten sollten sie in eine Falle tappen.

Glücklicherweise war Onkel Albert an diesem Abend bei einem Freund eingeladen. So war es für die Knickerbocker keine Schwierigkeit gewesen, unbemerkt aus dem Haus zu gelangen. Mit der U-Bahn waren sie zur Baker Street gefahren, in deren Nähe sich das „Wonderland“-Wachsfiguren-Kabinett befand.

Unterwegs hatte Dominik überlegt, woher er den Namen Baker Street kannte. Schließlich war es ihm eingefallen: Der weltbe­kannte Romandetektiv Sherlock Holmes hatte angeblich in dieser Straße auf Nummer 221 gewohnt!

Als die vier Freunde aus der U-Bahn-Station traten, starrten sie in eine undurchdringliche weiße Mauer. Innerhalb von Minuten war dicker Nebel aufgezogen.

- 152 -

Page 154: Geheim Akte Y

Wie kommt man im Nebel voran, ohne die Orientierung zu verlieren?

Um trotzdem weitergehen zu können, wandten die Junior-Detek­tive einen alten Trick an, von dem Dominik in einem englischen Krimi gelesen hatte. Sie legten die Hände an die Hausmauer und tasteten sich daran entlang.

Poppi zitterte am ganzen Körper. Die Dunkelheit und der Nebel ängstigten sie fürchterlich. Das Mädchen fühlte sich schauderhaft und flüsterte seinen Freunden zu: „Ich will nach Hause! Ich habe Angst.“

„Keine Sorge, solange wir zusammen sind, kann nichts gesche­hen“, antwortete Lilo. Natürlich war auch ihr nicht wohl bei der Sache.

„Wir sind fast am Ziel!“ wisperte Axel schlotternd. Besorgt hatte er festgestellt, daß der Nebel immer dichter wurde. Die Straßenlampen waren nur noch als schwache Lichtpunkte in der weißen Suppe zu erkennen.

Dominik schluckte. „Ich finde... wir sollten es nicht tun. Wir können nicht einbrechen. Das ist verboten!“ meinte der Junge unsicher.

Lieselotte war anderer Meinung. „Wir haben einen Schlüssel, und deshalb ist es kein Einbruch. Wenn es stimmt, was Jimmy vermutet, wäre das die absolute Sensation. Außerdem könnten wir dann eindeutig beweisen, daß er unschuldig ist.“

„Und wenn nicht?“ wollte Dominik wissen. Darauf hatte Lilo keine Antwort.

- 153 -

Page 155: Geheim Akte Y

„Wir sind da!“ verkündete das Superhirn. Lieselotte richtete ihre starke Taschenlampe auf eine dunkelgrüne Metalltür.

„Das ist der Hintereingang, den Jimmy beschrieben hat“, trium­phierte sie.

„Pssst!“ zischte Axel. „Sei still!“ Die vier Junior-Detektive blieben regungslos stehen und

lauschten in den Nebel. „Was ist los? Was hast du?“ hauchte Poppi und warf Axel einen

fragenden Blick zu. „Da kommt jemand!“ wisperte der Junge. „Ich habe ein Klopfen

gehört. Es klingt, als würde jemand mit einem Stock auf den Gehsteig schlagen.“

Die Herzen von Lilo, Poppi und Dominik begannen zu rasen. Das Pochen dröhnte wie donnernde Paukenschläge in ihren Ohren.

Tatsächlich! Axel hatte sich nicht getäuscht. Es kam jemand! Schleifende Schritte näherten sich.

Wer kommt? Ist Dir aufgrund des Pochens ein bestimmter Verdacht

gekommen?

Eine gebückte Gestalt tauchte aus dem Nebel auf. Sie ging auf einen Stock gestützt.

Poppi schrie leise auf. Aber das hätte sie nicht tun sollen. Der Fremde war nun auf sie aufmerksam geworden. Er kam auf sie zu!

- 154 -

Page 156: Geheim Akte Y

„Fort! Auseinander! Nach allen Seiten!“ zischte Lilo. Die Junior-Detektive schafften es trotz panischer Angst, einen

halbwegs klaren Kopf zu bewahren: Stumm zählten sie nun bis vier und rasten dann los – jeder in eine andere Richtung.

„Stopp!“ keuchte eine heisere Stimme. Zwei kräftige Arme packten die flüchtende Poppi. Sie wurde

gegen eine kratzenden Wollmantel gedrückt und meinte zu ersticken.

„Hilfe!“ wollte Poppi brüllen, brachte jedoch nur ein Stöhnen hervor. Ihr wurde schwarz vor den Augen. Ihre Knie gaben nach, und sie sank zu Boden.

- 155 -

Page 157: Geheim Akte Y

Nächtliche Nachforschungen

Poppi schlug langsam die Augen auf. Wo war sie? Plötzlich fiel ihr der rauhe Mantel ein. Ein Mörder! Vielleicht der gefürchtete Jack the Ripper, der so

viele Frauen auf dem Gewissen hatte! Poppi war ihm in die Arme gelaufen.

Nun konnte sie wieder schreien, und sie brüllte aus Leibes­kräften.

Eine Hand legte sich auf ihren Mund. „Pssst! Poppi, ich bin es!“ murmelte eine bekannte Stimme. Poppi erkannte, wo sie sich befand. Sie lag auf dem Gehsteig,

mit dem Kopf in Lieselottes Schoß. „Lilo... du? Was... was ist geschehen?“

Aus dem Nebel tauchten nun auch die Gesichter von Axel und Dominik auf.

Aber noch zwei Köpfe erschienen. Sie gehörten alten Männern mit dicken Sonnenbrillen. Die beiden steckten in altmodischen grauen Wollmänteln und hatten weiße Stöcke in den Händen. Jetzt erst entdeckte das Mädchen die gelbe Binde an ihren Armen – eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten. Die Männer waren blind. Aber was taten sie mitten in der Nacht auf der Straße?

„Diese Männer wollten uns nur helfen!“ erklärte das Superhirn. „Sie sind immer unterwegs, wenn London in dichtem Nebel liegt. Die beiden finden sich zurecht wie sonst niemand. Immer wieder verirren sich Menschen im Nebel, und ihnen zeigen Jack und George dann den Weg.“

„Aha!“ Mehr brachte Poppi nicht heraus. „Ich bin Jack, und das ist George“, stellte der eine Blinde sich

und seinen Kollegen vor. „Wir... wir sind okay!“ meinte Axel. „Wir haben nur unseren

Hund ausgeführt. Er hat Bauchweh. Aber allein wollte keiner hinaus, und deshalb sind wir alle vier hier!“ schwindelte er.

- 156 -

Page 158: Geheim Akte Y

Jack und George verabschiedeten sich und verschwanden in der Dunkelheit.

Die Knickerbocker-Freunde atmeten auf. Zum Glück hatten die beiden Männer nicht nach dem Hund gefragt und daher den Schwindel nicht durchschaut.

Kaum waren die Schritte der beiden Nebelführer verklungen, tasteten sich die Junior-Detektive auch schon zu der Metalltür.

Lilo zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloß. Sie drehte ihn um und drückte die Klinke nieder. Die Tür sprang auf.

Jimmy hatte den Knickerbocker-Kumpeln den Weg genau beschrieben.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, durchquer­ten sie einen dunklen Gang und traten in einen hohen, langge­streckten Raum.

Dominik erschauerte. Selbst Lieselotte hätte nun am liebsten kehrtgemacht.

Überall lagen Augen, Haarbüschel, Hände, Nasen, Ohren und kahle Köpfe. „Wie in einem Ersatzteillager sieht es hier aus!“ meinte Axel mit zitternder Stimme.

Langsam ließen die Knickerbocker die Lichtkegel ihrer Taschenlampen über die Wände streifen. Sie standen vor schier endlosen Regalen, in denen ein Kopf neben dem anderen ruhte.

Als die Junior-Detektive dann Arbeitstische und Werkbänke vor sich entdeckten, beruhigten sie sich ein wenig. Sie mußten sich in der Werkstatt befinden, in der Jimmy und die anderen Wachs­künstler arbeiteten.

Endlich waren sie bei der nächsten Tür angelangt. Lilo öffnete sie und leuchtete in das Nebenzimmer: Eigentlich war es kein Zimmer, sondern eine Halle. Im Licht der Taschenlampen erkannten die Junior-Detektive die Wachsfiguren verschiedener Popstars. Still und stumm standen sie da und glotzten vor sich hin.

Poppi, Dominik und Axel blieben dicht hinter Lieselotte. Nachdem sie die Halle durchquert hatten, erreichten sie schließ­

lich den Raum, in dem Robin Hood und Sherlock Holmes

- 157 -

Page 159: Geheim Akte Y

ausgestellt waren. Beide Puppen wirkten im Licht der Taschen­lampen kalt und tot.

„An die Arbeit!“ kommandierte Lieselotte. „Ihr leuchtet mir, und ich sehe mir die Bühne einmal genauer an.“ Das Mädchen sprang auf das Podest, das ungefähr einen Meter hoch war. Es drehte eine Runde um die Wachspuppe Robin Hoods und kniete anschließend nieder. Prüfend betrachtete Lilo die Wand, die den Sherwood-Wald darstellte.

Ihre drei Freunde verfolgten jede ihrer Bewegungen. Deshalb bemerkten sie auch nicht, was sich hinter ihrem Rücken tat.

Die Wachsfigur von Sherlock Holmes hatte sich zu bewegen begonnen. Der Detektiv wandte sich fast unmerklich den Kindern zu, und Millimeter für Millimeter schob sich aus seinem Mund ein dünnes Rohr hervor – es war ein Blasrohr!

- 158 -

Page 160: Geheim Akte Y

Das Geheimnis von „Wonderland“

Lilo krabbelte auf allen vieren über den Boden und leuchtete ihn Stück um Stück ab.

„Ich glaube, ich habe es gefunden!“ meldete sie plötzlich aufge­regt. Axel, Poppi und Dominik kamen neugierig näher. Das Superhirn zeigte auf einen dunklen Fleck. „Ich könnte mir vorstellen, daß das der Schalter ist, von dem Jimmy gesprochen hat!“ murmelte Lilo.

Poppi sah sie fragend an. „Willst du es ausprobieren?“ Ihre Knickerbocker-Freundin nickte. Sie legte ihren Finger auf die dunkle Stelle und drückte fest darauf. Ein sehr leises Knirschen ertönte, und der Boden unter Lilos Füßen begann sich zu drehen. Eine Sekunde später war das Mädchen verschwunden.

Axel blieb vor Staunen der Mund offen. „Eine Drehbühne, wie im Theater!“ rief Dominik. „Seht nur,

jetzt sind die Puppen verschwunden!“ „Die Rückwand ist mit demselben Wald bemalt, wie die Vor­

derwand. Deshalb ist kein Unterschied zu bemerken“, erkannte Axel.

Ein dumpfes Klopfen erinnerte die drei Junior-Detektive daran, daß auch ihre Freundin sich nun in einem anderen Raum befand.

„Wahnsinn! Das darf doch nicht wahr sein!“ hörten sie das Superhirn rufen.

„Lilo, was ist los?“ wollte Axel wissen. Wieder war das leise Summen zu hören, und die Drehbühne

setzte sich abermals in Bewegung. Lieselotte tauchte auf und deutete auf eine Gestalt zu ihren Füßen.

Poppi schrie auf. Da war die blonde Frau. Sie war tot. Der Pfeil steckte noch in

ihrem Arm. Auf ihren Handrücken kräuselten sich struppige Haa­re, und ihr Gesicht war entsetzlich entstellt.

„Keine Panik, Poppi!“ beruhigte Lilo ihre Freundin. „Das ist bloß eine Puppe – eine sehr gut gearbeitete Wachsfigur. Hinter

- 159 -

Page 161: Geheim Akte Y

dieser Wand liegt ein winziges Zimmer, in dem ich sie entdeckt habe. Und jetzt ist mir einiges klar.“

Dominik nickte. Auch er hatte sich bereits zusammengereimt, was gestern vormittag geschehen war. „In einem unbeobachteten Augenblick hat jemand die Drehbühne in Bewegung gesetzt: Robin Horror ist in den Besucherraum gefahren, während die Robin-Hood-Wachspuppe nach hinten verschwunden ist“, sagte er zu seinen Freunden.

Lilo nickte. „So muß es gewesen sein, Dominik. Und als das Licht ausging, hat der Kerl sich die Frau geschnappt. Die Bühne hat sich abermals gedreht, und auf einmal stand wieder die Wachsfigur auf der Bühne. Zu ihren Füßen lag dann bereits die Puppe mit dem Pfeil im Arm. Sie sah der Frau täuschend ähnlich.“

Poppi schnappte nach Luft., Aber dann hat der Arzt gelogen. Ihm muß doch sofort aufgefallen sein, daß die Frau nicht echt war. Er hat aber getan, als würde sie leben.“

Lieselotte fummelte an ihrer Nasenspitze herum. „Wißt ihr, was ich glaube: Diese Geschichte mit Robin Horror ist nichts anderes als ein Reklametrick des Wachsfiguren-Kabinetts. Und außerdem ist die verschwundene Schauspielerin Linda Brightman durch den Vorfall in die Schlagzeilen gekommen. Unrecht ist ihr das bestimmt nicht!“

Zu spät erkannte Lieselotte, woher das leise Klicken kam, das sie hörte. Der Kopf von Sherlock Hohnes bewegte sich: Schnell hintereinander schossen vier winzige Pfeile aus dem Blasrohr in seinem Mund. Keiner war größer als der Dorn einer Rose. Doch alle vier trafen genau. Sie blieben in den Nacken der Knicker­bocker-Freunde stecken.

Die Junior-Detektive griffen sich sofort an den Hals, als sie den Stich spürten.

Doch es war bereits zu spät.

- 160 -

Page 162: Geheim Akte Y

Gefangen!

Das Gift der winzigen Geschosse tat seine Wirkung. Axel, Liese­lotte, Poppi und Dominik sanken in sich zusammen, als hätte ihnen jemand die Luft ausgelassen.

Regungslos blieben sie liegen. Eine Minute verging. Dann setzte sich die Drehbühne in Bewe­

gung, und eine dunkle Gestalt tauchte auf. Sie warf einen grinsen­den Blick auf die vier zusammengekrümmten Gestalten und murmelte: „Warum mußtet ihr auch eure Nasen in etwas hinein­stecken, das euch absolut nichts angeht?“

Dominik wurde als erster wieder wach. Er war benommen und konnte die Augen nur mit Mühe öffnen. Wo war er?

Eisige Kälte umgab ihn. Von der Decke des Raumes, in dem er sich befand, tropfte Wasser. Gespenstische Schatten tanzten über ihm.

Würdest Du Dich aufrichten oder schlafend stellen und abwarten?

Der Junge beschloß, so zu tun, als ob er schlief. Er hielt das im Augenblick für besser. Langsam drehte er sich zur Seite und röchelte leise. Er lag auf einem harten, kalten Steinboden. Mit halb geschlossenen Augen versuchte er, etwas zu erkennen.

- 161 -

Page 163: Geheim Akte Y

Nicht einmal zwei Schritte von ihm entfernt stand eine Kerze, die den Raum spärlich erhellte und durch ihr Flackern den Schat­tentanz erzeugte.

Dominik erschrak. Mit langsamen Schritten kam jemand auf ihn zu. Neben seinem Kopf erschienen die langen Beine einer Frau. Sie beugte sich zu ihm nieder, und Dominik schloß blitzartig die Augen. Eine kühle Hand strich über sein Gesicht. Der Knicker­bocker spürte, daß die Frau es gut mit ihm meinte. Deshalb hielt er es für an der Zeit, sich aufzurichten und zu zeigen, daß er wohlauf war.

Langsam erhob er sich. „Hallo!“ stieß er hervor. „Dem Himmel sei Dank“, rief die Frau, die ihn gestreichelt

hatte.“ Ich war schon in großer Sorge, daß er euch vergiftet hat.“ Nach und nach kamen nun auch die anderen Junior-Detektive zu

sich. Sie stöhnten und rieben sich die schmerzenden Arme und Beine. Sie waren ganz dumpf im Kopf.

„Wo... wo sind wir?“ brummte Lieselotte. „In den Klippen von Dover“, sagte die Frau. „Und wer sind Sie?“ wollte Poppi wissen. „Ich heiße Emma Fletcher“, stellte sich die Dame vor. „Sie sind die Primaballerina, die entführt wurde!“ rief Dominik

aufgeregt. Mrs. Fletcher nickte. Ihr langes rotbraunes Haar war zerzaust,

ihr elegantes blaues Kleid zerrissen. Dennoch sah man sofort, daß sie wunderschön war, auch wenn Angst und Aufregung deutliche Spuren hinterlassen hatten.

Dominik wiederholte langsam, was er gehört hatte: „Wir sind in den Klippen von Dover?“ Er konnte das nicht glauben.

„Ja, so ist es“, bestätigte ihm Mrs. Fletcher.“ Ich vermute, daß es sich hier um die Reste der nun schon 100 Jahre alten Baustelle des Tunnels handelt, der England und Frankreich miteinander verbinden sollte. Wie ihr vielleicht wißt, mußte man nach nur wenigen Metern aufgeben. Damals war so ein Unterfangen noch undurchführbar. Die alte Baustelle sollte eigentlich zugeschüttet werden. Aber wie man sieht, ist das nicht geschehen!“

- 162 -

Page 164: Geheim Akte Y

Die Knickerbocker-Freunde stellten sich nun vor, damit Mrs. Fletcher wußte, mit wem sie es zu tun hatte. Danach wurde kurze Zeit nichts gesprochen.

Den Knickerbockern war kalt – eiskalt. „Seid ihr auch von ihm entführt worden?“ fragte Mrs. Fletcher

schließlich die Junior-Detektive. „Von wem?“ wollte Lilo wissen. „Von diesem Wahnsinnigen, der sich Robin Horror nennt!“

antwortete die Tänzerin. Die vier Freunde wußten nicht, was sie sagen sollten. Sie hatten

keine Ahnung, wer sie hergebracht hatte. „Ich bin ein Opfer von Robin Horror!“ berichtete Mrs. Fletcher.

„Er hat mich entführt. In meinem eigenen Wagen!“ „Wie war das möglich?“ erkundigte sich Axel. „Ich bin von der Probe aus der Oper gekommen und in mein

Auto gestiegen. Als ich losfahren wollte, ist hinter mir jemand aufgetaucht: Er muß sich auf der Rückbank versteckt haben. Dann habe ich schon einen Stich im Genick gespürt und bin erst hier wieder aufgewacht.“

„Genau wie bei uns!“ seufzte Lilo. „Aber was will Robin Horror von Ihnen?“

Die Tänzerin atmete tief durch und fuhr sich durch das Haar. Trotz der Kälte schien sie zu schwitzen. Sie setzte immer wieder an, etwas zu sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen.

„Mrs. Fletcher, bitte, Sie müssen uns einweihen“, sagte Lilo.

- 163 -

Page 165: Geheim Akte Y

Ein teuflischer Plan

Die Frau nickte. „Wir... wir sitzen ja sozusagen in der gleichen Falle – sollten wir jemals dieses Gefängnis verlassen, dürft ihr das Geheimnis niemandem preisgeben! Das müßt ihr mir verspre­chen!“

Die Knickerbocker-Freunde nickten und sahen die Tänzerin gespannt an. „Mein verstorbener Mann hat mir ein Bild von unglaublichem Wert hinterlassen. Es handelt sich um ein Gemäl­de von van Gogh. Das Bild ist sicher mehrere Millionen Pfund wert, aber das ist nicht wichtig. Mein Mann hat mir aufgetragen, das Werk drei Jahre nach seinem Tod einem Museum zur Verfü­gung zu stellen, damit es möglichst viele Menschen bewundern können. Genau das will Robin Horror verhindern. Wenn ich ihm das Bild nicht aushändige...“ Mrs. Fletcher konnte nicht weiter­sprechen. Sie kämpfte mit den Tränen. „...will er mir das Monstergift verabreichen“, flüsterte sie. „Dieses Gift wird aus dem Saft einer tropischen Pflanze gewonnen und wirkt bei Tieren und Menschen. Es läßt Haut und Knochen wuchern und führt zu gräßlichen Verunstaltungen.“

„Wo ist das Gemälde?“ fragte Lilo vorsichtig. Mrs. Fletcher schüttelte den Kopf. „Das sage ich euch nicht.

Wenn ich euch einweihe, seid ihr auch in Gefahr. Ich habe es auch Robin Horror bisher nicht verraten.“

Nun wurde Lilo klar, wie teuflisch der Plan des Unbekannten war. Für Mrs. Fletcher war nichts so kostbar, wie ihr Aussehen. Sollte sie als Monster tanzen? Mit dem Tod konnte ihr Robin Horror nicht drohen. Schließlich wollte er von ihr das Versteck des Bildes erfahren.

Lieselotte hatte von ihrem Vater, der Bergsteiger war, gelernt, auch in den schwierigsten Situationen einen klaren Kopf zu bewahren. Deshalb versuchte sie nun, die bohrende Angst zur Seite zu schieben und sich nach einem Fluchtweg aus der Höhle umzusehen.

- 164 -

Page 166: Geheim Akte Y

Nachdem sie sich einmal im Kreis gedreht hatte, gab sie die Hoffnung auf: Sie befanden sich in einer Felsenhöhle, und der einzige Ausgang war durch ein schweres Eisengitter mit finger­dicken Stangen versperrt; dahinter begann ein langer dunkler Gang.

Während Lilo nachdenklich in die Finsternis starrte, tauchte am Ende des Tunnels ein Lichtschein auf.

„Robin Horror!“ keuchte Mrs. Fletcher. Die Knickerbocker-Freunde und die Tänzerin wichen zurück

und drängten sich an die Höhlenwand, die vom Eingang am weitesten entfernt lag. Ein Klirren ertönte, als Robin Horror einen Schlüsselbund hervorzog und das Tor öffnete.

Die Junior-Detektive hielten die Luft an. Die gruselige Gestalt trug diesmal eine schwarze Maske. Mit

einer schnellen Handbewegung zückte sie ein Blasrohr und füllte es mit einem winzigen Pfeil.

Er war nicht größer als eine Nadel und hatte Federn am stumpfen Ende.

Axel fiel wieder der eigentümliche Geruch auf, der ihm auch im Wachsfiguren-Kabinett in die Nase gestiegen war. Noch einmal hatte an jenem Tag etwas so gerochen: Im Augenblick konnte er sich aber nicht erinnern, was das gewesen war.

„Mrs. Fletcher, ich frage Sie zum letzten Mal: Wo ist das Bild von van Gogh versteckt?“ stieß Robin Horror hervor.

Wer auch immer hier als Robin Horror auftrat, verstellte seine Stimme. Das stand für Lieselotte sofort fest.

Die Tänzerin ballte die Hände zu Fäusten und preßte die Lippen aufeinander.

Schritt für Schritt kam Robin Horror näher. „Ich warte auf eine Antwort, allerdings nicht mehr lange!“ sagte er und drohte mit dem Blasrohr.

Mrs. Fletcher schüttelte zitternd den Kopf. „Ich sage kein Wort. Was wollen Sie damit? Ein so wertvolles Bild können Sie nicht verkaufen.“

Robin Horror lachte hämisch. „Ein Sammler in den USA wartet nur darauf, es in seinen Tresorraum zu hängen.“ Langsam hob er

- 165 -

Page 167: Geheim Akte Y

das Blasrohr und zeigte auf den Schaft. „Muß ich Ihnen das Monstergift ins Blut jagen, damit Sie endlich auspacken?“

Plötzlich fiel Lieselotte etwas ein. Das Schlafmittel, das man ihnen verabreicht hatte, mußte ihr Denkvermögen beeinträchtigt haben. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Das Mädchen nahm allen Mut zusammen und rief laut: „Mrs. Fletcher, sagen Sie kein Wort: Es gibt gar kein Gift! Die Schauspielerin hat sich doch nie in ein Monster verwandelt: Es war bloß eine Wachs­puppe!“

Mit einem gurgelnden Aufschrei stürzte sich Robin Horror auf das Mädchen. Lilo wich geschickt aus, und der Mann mit dem Blasrohr donnerte gegen den Fels.

„Fort! Raus da!“ brüllte das Superhirn und rannte los. Bevor Robin Horror sich noch aufrappeln konnte, waren die Knicker­bocker-Freunde und die Tänzerin aus der Höhle geflüchtet.

Tobend folgte ihnen der Entführer. Lilo zerrte ihre Taschen­lampe aus der Hosentasche und knipste sie an. Der Gang machte eine scharfe Biegung und teilte sich nach wenigen Metern.

Vor den Knickerbocker-Freunden lagen die Zugänge zu drei Stollen. Welchen sollten sie betreten?

Für welchen Gang würdest Du Dich entscheiden – für den linken, den

mittleren oder den rechten?

- 166 -

Page 168: Geheim Akte Y

Der falsche Weg

Zum Überlegen blieb keine Zeit. Das Gebrüll Robin Horrors hinter ihnen wurde immer lauter. Der Verbrecher kam näher, ihr Vorsprung verringerte sich.

„Hier hinein, und die Taschenlampen nach zwanzig Schritten aus!“ kommandierte Lieselotte. Sie gab den anderen ein Zeichen, ihr in den rechten Tunnel zu folgen.

Als sie ein kleines Stück in den Schacht gelaufen waren, knips­ten sie die Lampen aus und blieben stehen.

„Pssst!“ zischte Lilo. „Vielleicht nimmt Robin Horror einen anderen Gang!“

Der Verbrecher hatte die Gabelung erreicht und hielt ein. Er überlegte, wohin die Knickerbocker und die Tänzerin geflüchtet sein könnten.

Schließlich setzte er die Verfolgung fort. Die Schritte wurden leiser und leiser. Er hatte einen anderen Stollen gewählt.

Vor Freude hätten die Knickerbocker-Freunde am liebsten zu jubeln begonnen. Doch sie ließen es bleiben und schlichen weiter.

„Eine Tür! Der Tunnel endet bei einer Tür!“ flüsterte Lilo. Es handelte sich um eine massive Holztür, die durch einen dicken Balken verriegelt war. Lieselotte gab Axel ein Zeichen, ihr zu hel­fen. Gemeinsam schoben sie den Riegel in die Höhe. Sie stellten ihn zur Seite und zogen die Tür langsam auf.

Der Raum dahinter war von einer Kerze schwach beleuchtet. Befand sich jemand in dieser Höhle?

Da keiner weiterzugehen wagte, nahm Axel allen Mut zusam­men und machte einen großen Schritt nach vorn. Plötzlich wurde er von starken Händen gepackt, die ihn zu Boden rissen und niederdrückten. Ein Mann sprang auf seine Brust und drückte ihm die Kehle zu.

„Nicht! Lassen Sie mich! Sie erwürgen mich!“ keuchte der Junior-Detektiv.

„Ein Kind... das ist ein Junge!“ sagte eine Frauenstimme.

- 167 -

Page 169: Geheim Akte Y

Die anderen Knickerbocker eilten Axel zu Hilfe und versuchten, den Mann dazu zu bringen, daß er von ihrem Kumpel abließ.

Dominik erkannte als erster, mit wem sie es zu tun hatten. „Das ist der Arzt! Und Linda Brightman!“ rief er. „Werden Sie auch gefangengehalten?“

Der Arzt stand auf und half Axel auf die Beine. „Entschuldige, wir dachten, der Wahnsinnige kommt zurück!“ murmelte er.

„Er hat uns hier eingesperrt“, schluchzte die Schauspielerin. „Er hat uns seit gestern weder zu essen noch zu trinken gebracht. Wir wollten ihn überwältigen! – Wie kommt ihr denn hierher?“

„Raus hier!“ antwortete Lilo. „Wir müssen versuchen, aus die­sem Irrgarten von Höhlengängen zu entkommen, bevor uns Robin Horror erwischt!“

„Das wird euch nicht gelingen!“ brüllte da eine Stimme von draußen. Donnernd krachte die schwere Tür ins Schloß. Entsetzt hörten die Knickerbocker-Freunde, wie jemand den Riegel vorschob.

„Wenn euch euer Leben lieb ist, dann überredet das Püppchen, mir das Versteck des Bildes zu verraten!“ schrie Robin Horror.

Im nächsten Augenblick plätscherte Wasser aus einem Loch in der Höhlendecke. Bald stürzten eiskalte Fluten auf die Bande, Mrs. Fletcher, Linda Brightman und den Arzt nieder. Kreischend versuchten sie, sich vor den Salzwassermassen in Sicherheit zu bringen, doch es gab kein Entkommen.

Innerhalb weniger Sekunden stand die Höhle bereits gut einen viertel Meter unter Wasser.

„Er will uns ertränken!“ keuchte die Schauspielerin verzweifelt. „Ich sage es Ihnen!“ brüllte Emma Fletcher. „Das Bild liegt in

keinem Safe, sondern ist an der Rückseite des Spiegels befestigt, der in meinem Schlafzimmer hängt. Wenn Sie ihn abnehmen, lösen Sie die Alarmanlage aus.“

„Wie kann ich das verhindern?“ fragte Robin Horror. „Sie müssen den Parfümzerstäuber aus Porzellan, der auf dem

Tisch steht, zur Seite schieben!“ prustete die Primaballerina. „Danke sehr! Danke sehr!“ brüllte Robin Horror triumphierend.

- 168 -

Page 170: Geheim Akte Y

Das waren die letzten Worte, die seine Gefangenen von ihm hörten.

„Nicht weglaufen! Drehen Sie das Wasser ab!“ schrie der Arzt und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. „Sie können uns doch nicht ertrinken lassen.“

Mittlerweile stand auch den Erwachsenen das Wasser bereits bis zu den Knien. In zwanzig, höchstens dreißig Minuten würde es über ihren Köpfen zusammenschlagen.

„Hilfe! Hilfeeee!“ schrien die Opfer Robin Horrors, so laut sie nur konnten. Doch wer sollte sie hören?

- 169 -

Page 171: Geheim Akte Y

Das ist Robin Horror!

Das Wasser kroch erbarmungslos höher. „Ihr klettert dann auf meinen Rücken“, bot sich der Arzt den

Knickerbocker-Detektiven an. „Auf diese Art könnt ihr länger atmen!“

Poppi begann zu schreien und um sich zu schlagen. Die Lage war aussichtslos!

Bis über den Bauchnabel war der Wasserspiegel schon gestie­gen. Die Kälte lähmte die Junior-Detektive. Sie wurden schwä­cher und schwächer.

Mit aller Kraft versuchte der Arzt, die Tür einzutreten. Dann schob er die anderen beiseite und nahm Anlauf. Er watete durch das Wasser und warf sich nun mit voller Wucht gegen die Bohlen. Da ertönte von draußen ein Schrei.

Die Tür flog auf, und die Wassermassen ergossen sich in den Gang.

Im ersten Augenblick konnten die Gefangenen das Wunder nicht fassen. Doch dann rannten sie jubelnd nach draußen.

Kaum hatten sie einen Schritt in den Tunnel gemacht, als sie auch schon über eine zusammengekrümmte Gestalt stolperten, die nach Luft rang.

„Onkel Albert!“ schrie Poppi. „Kinder, bin ich froh, daß euch nichts zugestoßen ist!“ Über­

glücklich drückte Onkel Albert die Knickerbocker an sich. „Ich habe geglaubt, ich komme um vor Angst und Sorge. Wie konntet ihr euch nur auf so einen Wahnsinn einlassen?“

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages hatte sich die Knik­kerbocker-Bande vor dem gemütlichen offenen Kamin in Onkel Alberts Wohnung versammelt.

„Mir wird heute noch eiskalt, wenn ich an die vergangene Nacht denke“, sagte Poppi und erschauderte.

„Aber wir haben es überstanden!“ meinte Lieselotte und warf ihrer Freundin einen aufmunternden Blick zu.

- 170 -

Page 172: Geheim Akte Y

„Und wie bist du dahintergekommen, wo Robin Horror uns hingebracht hat?“ wollte Axel von Mister Harwood wissen.

Wie könnte Albert Harwood in Erfahrung gebracht haben, wohin Robin Horror

seine Nichte und deren Freunde verschleppt hat?

Onkel Albert stopfte sich eine Pfeife und erzählte: „Als ich nach Hause gekommen bin und euch nicht angetroffen habe, wußte ich sofort, daß ihr eure Nasen wieder einmal in etwas hineingesteckt habt, das euch gefährlich werden kann. Es war mir auch klar, daß ihr mit großer Wahrscheinlichkeit zum Wachsfiguren-Kabinett aufgebrochen seid. Ich habe euch im stillen verflucht. Dann bin ich in meinen Wagen gestiegen und zum ‚Wonderland’ gefahren. Dort wurde ich bereits erwartet – von Jack und George, den beiden Blinden. Sie hatten euch durchschaut und deshalb das Wachsfiguren-Kabinett im Auge behalten. Doch ihr seid nicht zurückgekommen. Statt dessen ist ein Mann aufgetaucht. An seinem Schritt erkannten Jack und George, daß er etwas Schweres schleppt. Er hat die Last in ein Auto geworfen und noch etwas aus dem Haus geholt. Die Blinden haben euch stöhnen gehört. Zum Glück konnten sie sich die Wagennummer merken.“

Dominik schüttelte den Kopf. Das glaubte er nicht. Blinde konnten doch keine Nummerntafeln lesen.

- 171 -

Page 173: Geheim Akte Y

„Aber ertasten!“ erklärte Onkel Albert. „Ich bin kurz nach der Abfahrt des Wagens eingetroffen und habe natürlich sofort meine Kollegen von der Kriminalpolizei alarmiert, die eine Großfahn­dung nach dem Auto eingeleitet haben. Aber erst am Vormittag des nächsten Tages hat ein Streifenwagen in Dover das Fahrzeug entdeckt. Ich habe mich auf den Weg gemacht und gemeinsam mit der örtlichen Polizei einen Zugang zu den Höhlen und Gängen gefunden, die Robin Horror als Versteck gedient haben.“

Poppi beschäftigte eine Frage: „Und waren die Schauspielerin und der Arzt mit Robin Horror im Bunde?“

Der ehemalige Kriminalinspektor schüttelte den Kopf. „Nein, beide sind hereingelegt worden. Die Schauspielerin hatte eine Einladung in das Wachsmuseum erhalten. Darin war sie aufge­fordert worden, das Kleid, das man ihr zugesandt hatte, zu tragen: Angeblich sollten Fotoaufnahmen gemacht werden. Als sie dann das Robin-Hood-Zimmer betrat, wurde sie durch die ferngesteuer­te Sherlock-Holmes-Puppe und einen kleinen Pfeil ins Land der Träume befördert. Genau wie ihr!“

„Und der Arzt?“ fragte Axel. Onkel Albert blies einige besonders gelungene Rauchringe in

die Luft. „Er wurde ins Museum bestellt, um an einem kleinen Scherz teilzunehmen“, berichtete er. „Deshalb hat er auch behaup­tet, die Puppe sei lebendig!“

Lilo nickte. „Mir ist damals etwas seltsam vorgekommen, und jetzt weiß ich auch, was es war: Nur zwei Minuten nach dem Erscheinen Robin Horrors war bereits ein Arzt zur Stelle. Er mußte also bereits vorher gerufen worden sein.“

Wer war nun Robin Horror? - 172 -

Page 174: Geheim Akte Y

Poppi rief: „Dann war es also doch Jimmy!“ Nun kam Axels große Stunde. „Nein“, antwortete er. „Es war

ein Mensch, der reichlich schwitzt und ziemlich stinkt – und das vor allem, wenn er aufgeregt ist. Aus diesem Grund hat er sich am fraglichen Tag auch mit einer Zusatzportion Parfüm besprüht – und dieser Geruch hat ihn auch verraten.“

Onkel Albert machte ein bewunderndes Gesicht. „Alle Achtung, Junge!“ meinte er. „Was für eine Nase!“

„Robin Horror war niemand anderer als Mister Boris McCarty!“ fuhr Axel fort. „Er hat das Wachsfiguren-Kabinett nur aus einem Grund gebaut. Er wollte an das Gemälde herankommen – um jeden Preis.“

„Und war Jimmy sein Komplize oder nicht? Wer hat das Blasrohr und die elektronische Zielsteuerung in die Sherlock-Holmes-Figur eingebaut? Wer hat die Puppe der Schauspielerin angefertigt?“ drängte Poppi.

„Jimmy ist völlig unschuldig. Boris hat diese Arbeiten von einem kleinen Ganoven verrichten lassen. Die Wachspuppe der Schauspielerin hat er zwar von Jimmy formen lassen, die grauenhaften Veränderungen aber hat er selbst vorgenommen. Jimmy wußte nicht, wozu die Figur gut sein sollte. Auf jeden Fall wollte Boris den Verdacht auf Jimmy lenken, doch das ist ihm nicht gelungen“, sagte Onkel Albert.

Er war enttäuscht. Ein Mensch, den er gut zu kennen glaubte, hatte ihn hinters Licht geführt.

Das Büro Mister McCartys lag genau hinter dem Geheimraum, in den sich die Bühne drehte. Der Verbrecher war noch in Dover festgenommen worden und saß hinter Gittern.

„Kinder, ich muß euch ein Kompliment machen“, sagte Onkel Albert zu den Knickerbocker-Freunden, als er aus seiner Nach­denklichkeit erwachte. „Ihr habt ganze Arbeit geleistet. Großarti­ge Arbeit! Eines Tages...“

- 173 -

Page 175: Geheim Akte Y

„Eines Tages wird es auch von uns Wachsfiguren geben“, setzte Lilo den Satz fort. „Aber nicht im ,Wonderland’, sondern im weltberühmten Wachsfiguren-Kabinett von Madame Tussaud!“

- 174 -

Page 176: Geheim Akte Y

- 175 -

Page 177: Geheim Akte Y

Axel, der Geisterjäger

Die Luft knisterte vor Spannung. Die vier Mitglieder der Knickerbocker-Bande hatten sich in dem

winzigen Hotelzimmer geschickt verteilt. Lilo und Poppi lagen in dem altmodischen Himmelbett und taten so, als würden sie schlafen. Die beiden Jungen standen links und rechts von der Tür.

Axel hatte einen Eimer mit eiskaltem Wasser in der Hand, und Dominik hielt einen Fotoapparat. Die Herzen der vier klopften laut. Die Junior-Detektive spürten, wie die Aufregung durch ihre Arme und Beine kribbelte.

In der Halle des Hotels begann die uralte Standuhr zu schlagen. Es war Mitternacht. Bestimmt würde das erste Gespenst nicht lange auf sich warten

lassen. Das Horrorhotel war für den schaurigen Spuk berühmt. Die vier

Freunde waren allerdings ziemlich sicher, daß es sich nicht um echte Geistererscheinungen handelte. Mit Hilfe des kalten Was­sers wollten sie das herausfinden. Sollten sie es freilich gegen alle Erwartungen doch mit einem Wesen aus dem Jenseits zu tun bekommen, wollte Dominik es fotografieren.

Mit großen Augen starrten die Knickerbocker zur Tür. Waren schon Schritte auf dem Gang zu hören? Bewegte sich der Tür­knauf?

Irgendwo im Hotel kreischte jemand. War die Schwarze Frau aufgetaucht?

Ketten rasselten, ein klagendes Heulen erhob sich, und das Klopfen eines Holzstockes kam näher.

Bisher waren alle vier Junior-Detektive sehr cool geblieben. Damit war es jetzt aber vorbei. Poppi zog sich die Bettdecke bis zum Kinn und versuchte sich zu beruhigen: „Es ist alles nicht echt! Es ist alles Theater!“

Lilo, Axel und Dominik spürten, wie sich die Muskeln ihrer Körper anspannten. Ihre Aufregung wuchs von Sekunde zu

- 176 -

Page 178: Geheim Akte Y

Sekunde. Ihre Sicherheit über die Unechtheit des Spuks war abgebröckelt.

Plötzlich polterte es im einzigen Schrank, der im Zimmer stand. Die Schranktür flog auf, und ein Mann in einer grauen, zer­schlissenen Seefahreruniform torkelte heraus. Er hatte ein Holz­bein und eine Hakenhand und fuchtelte mit einem Degen durch die Luft.

„Wie... wie ist der in den Schrank gekommen?“ stotterte Lieselotte, die sonst nichts so leicht aus der Ruhe brachte.

Auch Axel und Dominik waren wie gelähmt vor Entsetzen. Der Geist des Seeräuberkapitäns versetzte Axels Eimer einen

heftigen Tritt, so daß sich das Wasser über den Jungen ergoß. Dann spuckte er auf die Linse von Dominiks Kamera, damit der Junge kein scharfes Foto mehr knipsen konnte, und verschwand mit einem wilden Schrei wieder im Schrank. Die Bretter ächzten, als er die Schranktür hinter sich zuknallte.

Axel war der erste, der einen klaren Gedanken fassen konnte. Vielleicht hatte er das der unfreiwilligen Dusche zu verdanken, die er soeben bekommen hatte. „Dich kriege ich! Egal, ob du echt bist oder nicht!“ schnaubte er wütend und riß die Schranktür auf.

„Das habe ich mir gedacht!“ rief der Junge triumphierend, als er sah, daß die Hinterwand des Kastens beweglich war. Es schien sich um eine Schiebetür zu handeln, die gerade geschlossen wurde.

Der Spalt war nur noch wenige Zentimeter groß. Axel bewies seine Geistesgegenwart, schnappte einen Sport­

schuh, der im Schrank stand und verkeilte ihn zwischen der Schiebetür und dem Rahmen des Möbels. Die Geheimtür war blockiert und konnte nicht mehr geschlossen werden.

An dem Rütteln und Fluchen auf der anderen Seite der Wand konnte der Junge erkennen, daß der Pirat tobte. Er gab allerdings schnell auf, und sein wütendes Schnauben verklang in der Ferne.

„Jetzt oder nie!“ jubelte der Knickerbocker und zog die Geheimtür auf.

- 177 -

Page 179: Geheim Akte Y

Dahinter befand sich ein Schacht, der senkrecht nach unten führte. In den Stein waren Eisen eingelassen, auf denen man in die Tiefe klettern konnte.

„Taschenlampe!“ kommandierte Axel. Lieselotte hatte eine unter der Decke und warf sie ihm zu.

„Willst du... willst du... den Geist verfolgen?“ fragte Dominik. Ihm war diese Idee gar nicht geheuer.

„Nein, ich will ihn zum Spielen einladen!“ spottete Axel. „Ich bin gleich zurück – macht euch bis dahin nicht ins Hemd!“

Der Junge schwang sich in den Schacht und kletterte in die Tiefe. Die Taschenlampe hielt er zwischen den Zähnen. Nein, Axel Klingmeier ließ sich nicht an der Nase herumführen!

- 178 -

Page 180: Geheim Akte Y

Die geheime Kammer

Die Knickerbocker-Bande hatte es wieder einmal nach England verschlagen. Axel stand eine Nachprüfung in Englisch bevor, und deshalb sollte er seine Kenntnisse an einer Sommerschule aufmöbeln. Seine Freunde hatten ihn begleitet und drückten wie er, trotz der Ferien, jeden Tag drei Stunden die Schulbank.

Das Institut lag an der Ostküste von England, in Broadstairs. Das verschlafene Städtchen war nur wenige Kilometer von der Hafenstadt Dover entfernt und hatte seit einigen Monaten seine Sensation: das Horrorhotel.

Es handelte sich um ein winziges Hotel, das hoch oben auf den Klippen lag und bald nach seiner Eröffnung für Schlagzeilen gesorgt hatte.

Bereits die ersten Gäste hatten von rätselhaften Geräuschen, durchscheinenden Frauengestalten und wilden Piraten erzählt, die in den Zimmern aufgetaucht waren. Die zahlreichen Zeitungs­berichte über den Spuk hatten einen regelrechten Ansturm auf das Haus ausgelöst. Die Zimmer waren nun für Monate ausgebucht, und die Hotelleitung hatte die Preise inzwischen verdoppelt.

Bei einem Kostüm-Wettbewerb der Sommerschule hatten die vier Knickerbocker als 1. Preis eine Nacht im Horrorhotel gewonnen.

Die vier Junior-Detektive hatten gestrahlt, als ihnen der Direktor der Schule den glitzernden Gutschein übergeben hatte. Ungelöste Rätsel und geheimnisvolle Vorfälle zogen die Abenteurerfreunde magisch an.

Vor allem Axel war fest davon überzeugt, daß es sich um einen schlauen Einfall des Hotelbesitzers handelte, und wollte das auch beweisen.

Der Junge war durch den Schacht in die Tiefe geklettert und erreichte einen niederen, sehr kalten und feuchten Gang, der direkt unter dem Hotel in den Stein gehauen war. An der Decke war notdürftig ein Kabel befestigt worden, an dem alle paar Meter eine Glühbirne hing, die den Tunnel schwach erhellte. Axel

- 179 -

Page 181: Geheim Akte Y

konnte erkennen, daß es mehrere Röhren gab, die von oben aus dem Haus in diesen Gang mündeten.

,,Durch diese Zugänge gelangen die Leute, die die Geister darstellen, in die Zimmer. Völlig klar!“ kombinierte der Junior-Detektiv.

Rechts von sich sah der Junge eine offene Tür, die in ein beleuchtetes Zimmer führte. Ein Schatten, der auf den Gang fiel, verriet Axel, daß sich jemand darin aufhielt. Es schien der Pirat zu sein.

Vom linken Teil des Ganges drangen Stimmen an Axels Ohr. Er schwang sich in den Schacht und kletterte ein Stück nach oben.

Unter sich sah er eine Frau mit einem dunklen wallenden Gewand und einen Mann in einem schwarzen Skelett-Trikot vorbeigehen. Sie plauderten miteinander, als wären sie gerade zum Bus unterwegs. Gruselig erschienen sie in diesem Augen­blick kein bißchen. Es handelte sich also tatsächlich bloß um ein Theater.

Axel ließ einige Sekunden verstreichen, ehe er sich wieder nach unten wagte. Auf der letzten Sprosse hielt er ein und lugte in den Gang.

Die beiden Männer und die Frau hatten sich umgezogen und kamen in normaler Straßenkleidung aus dem Zimmer. Das Licht war zu schwach und Axels Blickwinkel zu schlecht, um sie wirklich gut erkennen zu können. Die Tür wurde zugeschlagen und die angeblichen Gespenster verließen ihren Arbeitsplatz.

Im Gang erlosch die Beleuchtung. Axel machte sich auf den Rückweg ins Zimmer, als er unter sich

das Quietschen einer Tür und das Rauschen des Meeres hörte. Schritte kamen näher. Der Junge konnte den Lichtkegel einer Taschenlampe ausneh­

men. Wer ging jetzt noch durch den Gang? Der Verdacht lag nahe, daß es sich nicht um eines der Berufsgespenster handelte. Die drei waren in der anderen Richtung verschwunden und schienen Feierabend gemacht zu haben.

Der Junior-Detektiv tastete sich möglichst lautlos nach unten. Diesmal wagte er sich etwas weiter aus dem Schacht hinaus, da

- 180 -

Page 182: Geheim Akte Y

ihm die Dunkelheit des Tunnels Schutz bot. Jemand stand unge­fähr zehn Meter vor der Tür der Kleiderkammer an der Felswand und werkte heftig an Ketten und Schlössern.

Unter lautem Knarren und Quietschen schwenkte eine Holztür auf. Der Unbekannte betrat einen Raum und machte sich lautstark darin zu schaffen. Dabei pfiff er vergnügt das Lied von den drei blinden Mäusen.

Axels Neugier wuchs. Was trieb der Kerl? Langsam, Schritt für Schritt, tastete er sich an die geheime Kammer heran. Er hatte sie schon fast erreicht, als er über sich die Stimmen seiner Knicker­bocker-Freunde hörte.

„Axel, wo steckst du?“ rief Dominik in den Schacht, und die Stimme hallte schaurig durch das unterirdische Labyrinth.

Der Junge erstarrte. Die Geräusche in dem Zimmer verstumm­ten. „Verdammt, warum können die Doofköpfe nicht die Klappe halten? Jetzt haben sie mich verraten!“ dachte Axel entsetzt.

Zu seiner großen Erleichterung setzte der Unbekannte in dem Zimmer seine Arbeit bald wieder fort.

Axel kämpfte mit sich. Sollte er nach oben klettern, oder sollte er doch einen Blick in

den Raum werfen? Er entschied sich für letzteres, obwohl ihm dabei sehr unbehag­

lich zumute war. Axel ließ sich aus dem Schacht gleiten, huschte auf Zehenspitzen zu der offenen Tür und spähte in den Raum.

Das einzige, was er erkennen konnte, war ein alter Koffer, der über und über mit bunten Aufklebern versehen war. Er lag offen auf einem Tisch. Eine Gestalt in dunklen Hosen und einer schwar­zen Windjacke stand darübergebeugt und schien sehr beschäftigt.

„He, Axel, was ist denn los?“ schrie Dominik in diesem Augen­blick.

Der Unbekannte schoß in die Höhe und drehte sich blitzschnell um.

Für Axel war es zu spät, sich aus dem Staub zu machen.

- 181 -

Page 183: Geheim Akte Y

Verschwindet!

Nun ging alles blitzschnell. Der Unbekannte stürzte sich wie ein Panther auf den Jungen. Er packte Axel an der Kehle und würgte ihn.

Der Knickerbocker spürte, wie der Druck in seinem Kopf stieg. „Nicht... nicht!“ keuchte er und versuchte, den Angreifer abzuschütteln.

Aber dieser war ihm einfach zu überlegen. Axel rang nach Luft und hatte das Gefühl, daß alle Kraft aus seinen Armen und Beinen gewichen war. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten, und vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte.

Mit einem gurgelnden Schrei schleuderte der Unbekannte den Jungen gegen die Felswand des unterirdischen Tunnels. Axels Kopf schlug hart auf, und aus den tanzenden Punkten wurde ein schwarzes Meer.

Der Knickerbocker blieb bewußtlos liegen. „He, was ist denn? Warum antwortest du nicht?“ kam nun

Lieselottes besorgte Stimme von oben. Die schwarze Gestalt schnappte den Koffer und sperrte die

Kammer ab. Sie stieg über den Jungen hinweg und hastete in Richtung der Gespenstergarderobe davon.

Eine halbe Minute später kletterten Lieselotte und Dominik aus dem Schacht in den Gang und leuchteten ihn mit ihren Taschen­lampen ab.

„Da... da... liegt Axel!“ japste Dominik und rannte zu seinem Kumpel. „Er atmet... aber da ist Blut... an seinem Hinterkopf!“

„Er muß gestürzt sein!“ vermutete Lieselotte. „Aber wie bringen wir ihn jetzt raus? Durch den Schacht bestimmt nicht!“

Das Mädchen lief in die Richtung, in die der Unbekannte verschwunden war und erreichte am Ende des Ganges eine Tür.

Sie war abgeschlossen. Lieselotte trommelte mit beiden Fäusten dagegen. „Hilfe...

aufmachen! Hilfe!“ schrie sie. Doch niemand kam.

- 182 -

Page 184: Geheim Akte Y

Lilo hatte bereits kehrtgemacht, als die Tür geöffnet wurde. Licht fiel in den Tunnel.

Das Mädchen drehte sich um und erkannte einen älteren Herrn mit schneeweißem Haar und einem Stoppelbart. Sie war ihm bereits bei der Ankunft begegnet.

Es war Archibald Dyer, der Besitzer des Hotels. Er musterte das Superhirn argwöhnisch mit seinen kleinen stechenden Augen.

„Bitte schnell... unser Freund ist bewußtlos!“ rief Lilo. Mister Dyer fragte nicht lange und folgte ihr. Eine halbe Stunde später lag Axel in seinem Bett. Er hatte einen

Eisbeutel auf dem Kopf und stöhnte leise vor sich hin. Zweimal hatte er bereits die Augen aufgeschlagen, war aber nicht richtig zu sich gekommen. Gegen halb zwei war er dann endlich ansprech­bar und erzählte seinen besorgten Kumpeln, was er erlebt hatte.

„Und? Was war in dem Raum? Was sollen die vielen Schlös­ser?“ wollte Dominik erfahren.

Axel verzog den Mund. „Weiß ich nicht... ich... ich habe... nur einen Koffer gesehen. Mit vielen Aufklebern!“

Mister Dyer trat ein. Er wurde von einem Arzt begleitet, der bei Axel eine leichte Gehirnerschütterung feststellte. Er verordnete dem Jungen Bettruhe.

Nachdem der Arzt gegangen war, entlud sich der Zorn des Hotelbesitzers. „Ihr widerlichen kleinen Kröten!“ schimpfte er. „Wieso mußtet ihr so neugierig sein? Falls ihr jemandem vom Geheimnis des Horrorhotels erzählt, könnt ihr was erleben! Endlich läuft der verdammte Schuppen jetzt, und ich werde mir von euch nicht das Geschäft ruinieren lassen!“

Lieselotte ließ sich durch den Tobsuchtsanfall nicht aus der Ruhe bringen. „Früher sind Diebe durch die Geheimgänge in die Zimmer der Gäste eingestiegen, stimmt’s?“ bohrte sie.

Mister Dyer nickte kurz. „Ich wußte selbst nichts von den Schächten. Ich habe sie erst vor einem Jahr entdeckt, und da ist mir die Idee gekommen, aus der müden Absteige ein Horrorhotel zu machen. Und die Rechnung ist aufgegangen: der Laden hat noch nie soviel Kohle abgeworfen. Aber euch kann ich hier nicht

- 183 -

Page 185: Geheim Akte Y

brauchen. Ihr müßt in die Sommerschule zurück. Aus! Ich dulde keine Widerrede.“

Mister Dyer ging und knallte die Tür hinter sich zu. Axel richtete sich stöhnend auf und keuchte: „In dieser Kam­

mer... dort unten... da stimmt etwas nicht! Es sind einfach zu viele Schlösser für... einen so schäbigen Koffer!“

Lieselotte nickte. Dieser Gedanke war ihr auch schon gekom­men, und sie beschloß, noch in derselben Nacht in den Tunnel zu klettern und der Sache nachzugehen.

- 184 -

Page 186: Geheim Akte Y

Unerwünschte Gäste

Dominik blieb bei Axel, während Poppi ihre Freundin in den Tunnel begleitete. Sicher war sicher!

Das Ziel der beiden Mädchen war die verschlossene Tür zu dem geheimen Raum. Lieselotte zählte vier Vorhängeschlösser und drei gesicherte Riegel. Selbst mit schweren Brecheisen war es kaum möglich, diese Tür zu knacken.

Was befand sich wohl dahinter, das so sehr geschützt werden mußte?

„Axel hat doch etwas vom Meer gesagt... auf der anderen Seite des Ganges...“, hauchte Poppi.

Lilo erinnerte sich jetzt. Warum konnte man hier oben, mindestens zwanzig Meter über

dem Meeresspiegel, das Rauschen der Wellen so laut hören? Wo endete der Gang überhaupt?

Die beiden Junior-Detektive schlichen gebückt durch den Tun­nel und entfernten sich immer weiter von dem rätselhaften Raum. Nach ungefähr 30 Metern war der Gang durch eine schwere Eisentür verschlossen. Sie schien sehr alt zu sein und war völlig verrostet. Lieselotte rüttelte an der Klinke, aber auch diese Tür war abgesperrt.

„Mist!“ schimpfte sie leise vor sich hin und versetzte der Tür einen heftigen Fußtritt. Dabei verklemmte sich ihr Sportschuh. Lieselotte erschrak und versuchte, ihren Fuß zu befreien. Das Metall war an dieser Stelle völlig durchgerostet. Nun tat sich an der Unterseite der Tür ein etwa handballgroßes Loch auf. Poppi bückte sich. „Pssst... hör nur, wie das Meer rauscht!“

Lilo legte sich auf den Boden und leuchtete mit der Taschen­lampe durch das Loch. Dahinter schien eine Art Treppe nach unten in die Klippen zu führen.

Die Knickerbocker konnten also mit einem kleinen Boot zu den Klippen fahren, auf denen das Horrorhotel stand, und nach dem versteckten Zugang suchen. Lieselotte wollte das auch unbedingt tun.

- 185 -

Page 187: Geheim Akte Y

Am nächsten Vormittag ging es Axel ein wenig besser. Sein Kopf schmerzte noch immer, aber er stand dennoch auf.

Um 10 Uhr wurden die Knickerbocker durch heftiges Klopfen von Mister Dyer daran erinnert, daß sie abzureisen hatten. Sie packten ihre Rucksäcke und begaben sich in die kleine Empfangs­halle.

An der Rezeption stand ein elegantes junges Paar und beschwer­te sich erbost.

„In unserem Zimmer ist kein Spuk aufgetaucht!“ jammerte der Mann.

„Außerdem hatten wir in der Früh kein Wasser im Bad!“ be­klagte sich die Dame.

Die Frau am Empfang zwang sich ein Lächeln ab. „Tut mir leid!“ sagte sie spitz.

„Da wäre noch etwas! Durch unser Fenster strahlt ein Schein­werfer ins Zimmer, der das Hotel beleuchten soll. Und weil es keine Vorhänge gibt, haben wir kaum schlafen können!“ teilte der Gast mit.

„Da kann man nichts machen!“ lautete die Antwort der Rezep­tionistin.

Das junge Paar verdrehte die Augen. „Was ist das für eine unfreundliche Absteige? Ihnen ist wohl der Erfolg zu Kopf gestie­gen!“ begann der Mann zu toben.

„Unsere Gäste sind sehr zufrieden, und für Nörgler haben wir nichts übrig!“ erwiderte die Frau.

Den Gästen klappte die Kinnlade hinunter. „Wir reisen ab!“ riefen sie.

„Gerne, ich bereite Ihre Rechnung vor!“ Die Frau an der Rezep­tion schien über die Abreise nicht im geringsten bestürzt zu sein. „He, Dad, die Rechnung für Zimmer 113, Mr. und Mrs. Clintsto­ne aus Liverpool.“

Über Lilos Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln. Sie wandte sich an das Paar und sagte mit verschwörerischer Stimme: „Entschuldigen Sie! Unser Freund hatte gestern einen Unfall in Ihrem unterirdischen Gang.“

- 186 -

Page 188: Geheim Akte Y

Die Frau an der Rezeption zog die Augenbrauen hoch. „Dad, kommst du bitte!“ rief sie über ihre Schulter in den Raum dahin­ter.

Mister Dyer trat heraus und funkelte Lieselotte wütend an. „Axel muß im Bett bleiben! Der Arzt übernimmt sonst keine

Verantwortung!“ meinte Lilo ernst. „Sie sagten, Sie hätten kein Zimmer frei. Nun ist doch eines frei geworden. Mein Freund sollte besser noch ein oder zwei Tage hierbleiben und sich nicht bewegen. In der Sommerschule würden uns alle fragen, wo er sich verletzt hat, und dann müßten wir die Wahrheit sagen und von dem Geheimgang erzählen. Wir lügen nämlich nie!“

Der Hotelbesitzer verstand die Erpressung und kochte innerlich. „Julie, sag du etwas!“ stieß er hervor.

„Woher seid ihr?“ erkundigte sich die Tochter Mister Dyers. „Aus Österreich“, erwiderte Dominik. „Schönes Land!“ meinte Julie. „Bleibt ihr noch lange in

Broadstairs?“ Poppi schüttelte den Kopf. „Nur noch drei Tage, leider. Dann

geht’s zurück. Aber ich freue mich schon auf meine Tiere zu Hause!“

Julie überlegte kurz und sagte dann: „Ihr könnt bleiben, aber ihr wißt: Kein Wort über das Geheimnis des Hotels!“

Die vier Knickerbocker nickten. Axel tat es nur sehr langsam, weil sein Kopf bei jeder Bewegung höllisch schmerzte.

Die Bande mußte in der kleinen Halle warten, bis das Ehepaar aus Liverpool das Zimmer geräumt hatte.

Die Junior-Detektive beobachteten einen älteren Herrn und seine Frau, die ebenfalls abreisten.

Julie war wie ausgewechselt. Sie überschlug sich vor Freund­lichkeit und Herzlichkeit.

Lilo fing einige Wortfetzen auf und kombinierte, daß es sich um Gäste aus Spanien handelte. Axel hatte die Augen die meiste Zeit geschlossen, weil ihm das Licht weh tat. Als er sie einmal kurz öffnete, entdeckte er etwas, das bei ihm alle Alarmglocken schrillen ließ.

- 187 -

Page 189: Geheim Akte Y

Der Hafen in den Klippen

Neben dem Spanier stand ein alter Lederkoffer, der mit zahlrei­chen Aufklebern versehen war.

In Axels Kopf tauchten trotz der Schmerzen die Bilder der vergangenen Nacht auf. Da war die schwarze Gestalt, die über den Koffer gebückt stand. Sollte das der Mann gewesen sein? Wie war der Hotelgast nach unten in den Gang gekommen? Oder hatte jemand seinen Koffer präpariert? Aber warum war er dann den beiden nicht abgegangen?

Der Junge wandte sich zu Lilo um und informierte sie mit wenigen Worten.

Das Superhirn zwinkerte Dominik zu. Dieser bewies wieder einmal, daß er ein großartiger Schauspie­

ler war. Er tat so, als müsse er dringend auf die Toilette, und stolperte dabei über den verdächtigen Koffer. Dabei löste er den Verschluß: Der Koffer sprang auf, und schmutzige Wäsche quoll heraus. „Es tut mir so leid!“ schwindelte Dominik und rang verle­gen die Hände.

Die Gäste bückten sich, um die Sachen in den Koffer zu stop­fen. Dominik gab vor, ihnen dabei zu helfen. In Wirklichkeit nahm er geschickt das Innere des Koffers unter die Lupe.

„Und? Was ist?“ wollte Lieselotte wissen, als er zurückkehrte. Der Junior-Detektiv zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.

Ich habe nichts wirklich Verdächtiges gespürt“, lautete sein Bericht.

Lilo wurde immer klarer, daß sie mehr über den geheimen Abgang zum Meer und die sonderbare Kammer herausfinden mußten.

Kurze Zeit später konnten die Knickerbocker das Zimmer des Paars aus Liverpool beziehen. Es war, wie alle Zimmer des Hotels, sehr eng. Axel legte sich ins Bett und wollte von den Ermittlungen seiner Kumpel nichts mehr wissen. Poppi blieb bei ihm.

- 188 -

Page 190: Geheim Akte Y

Lieselotte und Dominik untersuchten die Wände und den Schrank des Raumes, konnten aber keinen Hinweis auf eine Geheimtür entdecken.

Gemeinsam mit Dominik lief Lilo zum Hafen und mietete dort ein Ruderboot.

Die See war an diesem Tag ruhig und glatt wie Seide. Die beiden Knickerbocker ruderten die Küste entlang, vorbei

am Leuchtturm von Broadstairs und an den beiden Stränden des Dorfs, bis sie eine hohe Felsnase erreichten, die fast senkrecht ins Meer abfiel.

Auf ihrer Spitze ragte das Horrorhotel dunkel und düster in den Himmel.

Das Mädchen untersuchte durch ihr Fernglas jeden Meter der Küste.

Ziemlich enttäuscht setzte Lieselotte den Gucker wieder ab. „Nichts... da ist kein Eingang zu einer Höhle“, sagte sie ent­täuscht. „Aber die Treppe führt zum Meer. Ich verstehe das nicht!“

Wo könnte sich der Zugang zur Höhle befinden? Hast Du einen Verdacht?

Auf dem Rückweg vom Hafen kamen die beiden Knickerbocker an dem kleinen Leuchtturm vorbei, der an die 500 Meter vom Horrorhotel entfernt lag.

Lieselotte kam eine Idee. Sie steuerte auf das Häuschen rechts neben dem Leuchtturm zu. Sie klopfte, und ein kleiner, ziemlich

- 189 -

Page 191: Geheim Akte Y

fetter Mann öffnete ihr. Er war unrasiert und ziemlich rot im Gesicht, und in seinem Mundwinkel hing eine Zigarette.

„Was wollt ihr beiden Rangen hier?“ fuhr er die beiden Junior-Detektive an.

Dominik wäre am liebsten sofort umgekehrt, so unwirsch und bissig war der Mann.

„Wir müssen eine Arbeit für die Sommerschule schreiben!“ log das Superhirn der Bande. „Über den Leuchtturm von Broadstairs und diese Küste. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Der Mann zog lautstark durch die Nase auf und musterte Lilo kritisch. „Was willst du wissen?“

Lilo erkundigte sich zuerst über den Leuchtturm und kam dann zum Wichtigsten. „In den Klippen gibt es doch eine Höhle, die einen Zugang zum Hotel hat!“ sagte sie.

Der Leuchtturmwächter kniff die Augen zusammen. „Wer sagt das?“ knurrte er.

„Äh... das hat mir jemand aus dem Dorf erzählt!“ stammelte Lilo.

Der Mann schien zu überlegen, ob er die Frage beantworten sollte. „Ich sage es euch nur, wenn ihr versprecht, die Höhle unter keinen Umständen zu besuchen!“ brummte er schließlich.

Die Knickerbocker versprachen es, kreuzten dabei aber die Finger, damit sie das Versprechen notfalls auch brechen durften.

„Ja, es gibt eine Höhle – aber sie taucht nur bei Ebbe aus dem Wasser auf. Sonst ist sie überflutet“, erzählte der Mann. „Früher sind dort Schmuggler vor Anker gegangen. Sie haben mit Blink­zeichen ihr Kommen angezeigt, sind in die Höhle gefahren, haben ihre Ware abgeladen und meist auch gleich verkauft. Das Hotel war nämlich ein Banditennest. Und mein Vorgänger hier war auch nicht besser. Er hat mit den Schmugglern gemeinsame Sache gemacht!“

Gespannt lauschten die Knickerbocker und warfen einander vielsagende Blicke zu.

„Aber jetzt Schluß! Stehlt mir nicht die Zeit!“ tobte der Mann nach diesem kurzem Anflug von Freundlichkeit los und knallte den zwei Junior-Detektiven vor der Nase die Tür zu.

- 190 -

Page 192: Geheim Akte Y

„George Higgins“, las Dominik auf dem Schild. „Ein Name, den wir uns merken müssen!“ meinte Lieselotte.

- 191 -

Page 193: Geheim Akte Y

Ebbe!

Zum Abendessen wurden die vier Freunde von Julie Dyer in das private Wohnzimmer des Hotelbesitzers und seiner Tochter einge­laden. Es gab Fish and Chips.

„Ich muß mich für die Art meines Vaters entschuldigen“, meinte die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar. „Er hat Angst, daß ihr euch an einen Reporter wendet und die Wahrheit über unser Hotel erzählt. Das wäre bestimmt nicht gut für uns. Viele Gäste glauben nämlich tatsächlich, daß sie es mit einem Spuk zu tun haben!“

Die Knickerbocker versicherten ihr, nichts verraten zu wollen. „Als wir gestern im Tunnel waren, haben wir etwas gesehen...“

begann Lieselotte vorsichtig. „Es gibt da einen Raum... der ist abgesperrt, sehr gut abgesperrt... und jemand war drinnen... und hat Axel dann außer Gefecht gesetzt. Also muß... etwas in dem Raum sein, das keiner entdecken soll!“

Julie horchte auf. Sie schien sehr überrascht zu sein. „Ehrlich gesagt... also... ich habe keine Ahnung. Ich war kaum da unten. Dad betreut die drei Leute, die für uns die Geister spielen. Ich wüßte nicht, wer sonst noch Zutritt zu dem Tunnel hat.“

Dominik wollte es genauer wissen: „Wer besitzt einen Schlüssel zu der Tür, die zum Schmugglerhafen in den Klippen führt?“

Julie zog die Augenbrauen hoch. „Ihr seid aber genau infor­miert“, stellte sie erstaunt fest.

„Wir sind Detektive!“ meinte Poppi stolz. „Und wir haben schon zahlreiche Fälle gelöst. Sogar das Geheimnis der Maske mit glühenden Augen haben wir gelüftet!“

Die junge Frau war beeindruckt. „Also der Abgang zur Höhle ist immer verschlossen. Es gibt nur einen Schlüssel, und den bewahrt... Dad auf!“

Julie wurde klar, was sie gerade gesagt hatte. Sie fuhr fort: „Aber er würde niemals jemandem etwas antun. Nein, bestimmt nicht!“

- 192 -

Page 194: Geheim Akte Y

Die junge Frau wurde unruhig. „Hört zu... ich glaube, ich könnte eure Hilfe gebrauchen“, sagte sie. „Wäre es nicht möglich, daß ihr bis zu eurer Abreise hier im Hotel bleibt? Ich kenne den Direktor der Sommerschule recht gut und kann ohne weiteres mit ihm reden.“

Die vier Knickerbocker-Freunde hatten nichts dagegen einzu­wenden.

„Abgemacht! Und dürfen wir uns überall umsehen?“ fragte Lieselotte.

„Bitte fragt mich aber vorher immer!“ ersuchte Julie. „Dieses Haus ist alt und voller Gefahren. Ich werde euch jedoch überall­hin Zutritt verschaffen. Ich möchte selbst erfahren, was hier eigentlich gespielt wird. Ich finde diese Ungewißheit unerträg­lich!“

Axel brannte noch eine Frage auf der Zunge: „Julie, wissen Sie, was sich in dem abgesperrten Zimmer befindet? Kann es mit dem Gepäck der Gäste zu tun haben? Ich habe dort den Koffer des Spaniers gesehen, der heute abgereist ist.“

Die junge Frau fuhr sich durch das seidige Haar und überlegte. „Manche Gäste geben uns ihre Koffer zur Aufbewahrung, weil die Zimmer so eng sind“, sagte sie. „Der Gepäckraum befindet sich neben der Empfangshalle. Ich werde mit Dad darüber spre­chen. Wahrscheinlich gibt es eine einfache Erklärung für alles.“ Julie lächelte hoffnungsvoll und verabschiedete sich dann. „Ich muß mich um die Gäste kümmern“, meinte sie.

Axels Kopfschmerzen waren noch immer nicht wirklich besser geworden. Deshalb zog er sich in das Zimmer zurück.

Die anderen drei Mitglieder der Bande schlenderten in den kleinen Garten hinter dem Horrorhotel.

Er erstreckte sich direkt bis zum Rand der Klippen. Von dort ging es mindestens 30 Meter senkrecht nach unten zum Meer, wo die Wellen an diesem Abend sanft murmelnd gegen die Felsen rollten.

Lilo beugte sich weit über das Geländer und starrte in die Tiefe. Das Dämmerlicht reichte aus, um zu erkennen, daß sich etwas geändert hatte.

- 193 -

Page 195: Geheim Akte Y

„Es ist Ebbe!“ stellte das Superhirn zufrieden fest. „Wir holen uns ein Boot und rudern zur Höhle. Der Eingang müßte frei sein!“

Die drei Junior-Detektive kehrten zum Hotel zurück, um Axel von ihrem Plan zu informieren.

Das leise Rascheln in der Hecke entging ihnen. Jemand war den Knickerbockern ins Freie gefolgt und hatte ihr Gespräch be­lauscht.

Nachdem die drei Freunde das Horrorhotel betreten hatten, kam die Gestalt hinter den Fliederbüschen hervor und strich sich nachdenklich über die Stirn. Dann verschwand sie im Zwielicht.

- 194 -

Page 196: Geheim Akte Y

Ein gemeiner Anschlag

„Das ist nicht ungefährlich“, warnte Axel seine Kumpel. „Ihr könnt auf eine Sandbank auflaufen... oder... gegen die Klippen getrieben werden und kentern. Dann findet ihr in der Dunkelheit nicht zur Küste und ertrinkt!“

Lieselotte verzog den Mund. „Schwarzseher!“ brummte sie. Das Mädchen warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach neun.

Die drei Knickerbocker schnappten ihre Taschenlampen und nahmen zur Sicherheit eine Taucherbrille und Flossen mit. „Bis später!“ sagten sie zu Axel und wollten das Zimmer verlassen.

Doch die Tür war abgeschlossen. Lilo und Poppi rüttelten daran, doch sie ging nicht auf.

Dominik eilte zum Zimmertelefon und wollte die Nummer der Rezeption wählen.

Die Leitung war tot. Im Badezimmer ertönte ein scharfes Zischen, und gleich darauf

quoll unter der Türritze weißer Rauch hervor. „Es brennt!“ schrie Poppi entsetzt. Lieselotte riß die Tür auf und

sah, wie der Rauch aus dem Abfluß des Waschbeckens quoll. Er roch süßlich und nach Mandeln. Aus diesem Grund hielt das Mädchen auch nicht die Luft an und atmete den Qualm ein. Augenblicklich wurden ihre Bewegungen langsamer, und sie schaffte es kaum noch, die paar Schritte zurück ins Zimmer zu machen. Ihre Umgebung verschwamm, und dann schob sich ein undurchdringlicher dunkler Vorhang über ihre Augen.

Als Lilo wieder erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und strahlte durch das Fenster ins Zimmer.

Dem Mädchen war übel – kotzübel. Jede Bewegung tat ihm weh. „Dominik... Poppi... Axel!“ keuchte Lilo. Ihr Mund war staubtrocken, und die Zunge klebte am Gaumen. „Hallo, was... was ist mit euch?“

Das Superhirn hatte den Kopf gehoben und seine Kumpel ent­deckt. Sie lagen wie tot auf den beiden Betten. Ihre Arme und

- 195 -

Page 197: Geheim Akte Y

Beine hingen schlaff herab. Alle drei waren – genau wie Lilo – angezogen.

Eine frische Brise wehte durch das offene Fenster. Lilo versuch­te, sich an etwas zu erinnern, aber in ihrem Kopf herrschte absolute Leere. Sie wußte noch, daß sie zum Hafen wollten, um mit einem Boot zur Höhle zu fahren. Aber dann riß der Film.

Das Mädchen, das nur mit dem Oberkörper auf dem Bett lag, erhob sich aus der unbequemen Position und stöhnte. Es taumelte ins Badezimmer und drehte den Hahn auf. Hell und klar plät­scherte das Wasser in das Becken. Lilo wollte sich das Gesicht kalt abwaschen.

Aber noch immer gehorchten ihre Gliedmaßen nicht ganz. Die Arme des Mädchens schlenkerten ziellos durch die Luft und streiften die Zahnbürsten, die in einem Becher auf einem Sims über dem Waschbecken standen. Sie fielen ins Wasser, und ein leises Zischen war zu vernehmen.

Lilo traute ihren Augen nicht: Die Zahnbürsten lösten sich auf, als wären sie aus Zucker. Das Mädchen wich zurück und ließ sich auf den Badewannenrand sinken. „Hilfe! Poppi... Dominik... Axel!“ stieß Lieselotte hervor.

Aus dem Zimmer kam ein verwirrtes Ächzen. Poppi war die erste, die auftauchte. „Durst!“ krächzte sie und

stürzte zum Becken, um zu trinken. „Nicht!“ warnte Lieselotte. „Um Himmels willen – das ist

Säure!“

- 196 -

Page 198: Geheim Akte Y

Das rote Licht

„Kinder... hallo, Kinder! Was ist mit euch? Macht auf!“ Von draußen wurde heftig gegen die Zimmertür geklopft.

Die Knickerbocker erkannten sofort Julies Stimme. „Ist etwas passiert?“ fragte sie besorgt.

Axels Kopf schmerzte schlimmer denn je. Trotzdem erhob er sich aus dem Bett und taumelte zur Tür. Er drückte die Klinke nieder und öffnete sie. „War doch gar nicht abgesperrt!“ schnaub­te er ärgerlich und warf sich wieder aufs Bett.

„Doch! Die Tür ist nicht aufgegangen!“ meinte Julie. „Wie seht ihr denn aus?“

Die Junior-Detektive waren leichenblaß im Gesicht und hatten fast weiße Lippen. Poppi konnte sich kaum auf den Beinen halten.

„Was... was ist los?“ fragte Julie immer wieder. Lilo deutete stumm auf das Badezimmer. Julie ging hinein und rief: „Ich kann nichts entdecken.“ „Es ist Säure im Becken!“ krächzte Lieselotte. Es plätscherte und rauschte, und Julie trat aus dem Bad. „Wollt

ihr mich an der Nase herumführen? Aus dem Hahn kommt Wasser, was sonst!“

Lilo, Poppi und Dominik hasteten ins Badezimmer und starrten in das Waschbecken. Die Säure mit den halb zersetzten Zahn­bürsten war verschwunden, und aus dem Hahn sprudelte frisches Wasser.

„Aus dem Abfluß ist ein Gas ins Zimmer geströmt, das uns betäubt hat!“ hauchte Dominik.

Julie Dyer blickte die vier ungläubig an. „Das... das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn das wahr ist, hat es jemand auf euch abgesehen und ist zu allem entschlossen.“ Sie überlegte kurz und meinte dann: „Ihr bekommt ein anderes Zimmer und rührt euch nicht mehr hervor. Ich werde die Polizei verständigen.“

Eine halbe Stunde später konnte die Bande bereits übersiedeln und wurde mit einem typisch englischen Frühstück verwöhnt: Spiegeleier mit Speck, Cornflakes, Toast und Marmelade.

- 197 -

Page 199: Geheim Akte Y

Doch die Freunde hatten keinen Hunger. Sie schlürften nur Tee und starrten vor sich hin.

Langsam begannen Lilos graue Zellen wieder zu arbeiten. „Jemand wollte uns davon abhalten, zu dem unterirdischen Hafen zu fahren!“

Poppi verstand das nicht. „Aber wir haben doch niemandem davon erzählt“, sagte sie.

Lilo zuckte mit den Schultern. Auch sie war in diesem Punkt ratlos.

„Wenn es in den Zimmern dieses Hotels Geheimtüren gibt, kann man vielleicht auch die Wasserzuleitungen anzapfen und Gase und Säuren einleiten!“ murmelte sie grübelnd. „Eines steht fest: Mit dem Horrorhotel stimmt etwas nicht. Mister Dyer führt etwas im Schilde, und wir müssen herausfinden, was!“

Ihre Kumpel stimmten ihr zu. Allerdings war ihnen klar, daß sie frühestens am Abend wieder halbwegs fit sein würden. Bis dahin war Ruhe und Schlafen angesagt. Das Betäubungsgas hatte ganze Arbeit geleistet.

Gegen sechs Uhr kamen die Knickerbocker allmählich wieder zu Kräften.

Auch Axel war auf dem Weg der Besserung, und sein Kopf tat ihm schon deutlich weniger weh.

Lieselotte befürchtete, belauscht zu werden, und schrieb deshalb ihren Plan auf. „Es ist wieder Ebbe! Wir sollten endlich den Schmugglerhafen untersuchen. Wer kommt mit?“

Axel hob die Hand. „Wir fahren mit dem Boot hin, sobald es etwas dunkler ist. Und

Dominik und Poppi kümmern sich darum, daß unser Verschwin­den niemandem auffällt!“ kritzelte das Superhirn.

Alle waren einverstanden und wußten, was sie zu tun hatten. Beim Abendessen taten sie so, als seien sie besonders müde,

und erzählten mehrere Male, daß sie so schnell wie möglich wieder ins Bett wollten. Sie gähnten und gaben vor, kaum noch aus den Augen zu sehen.

Bald zogen sie sich zurück.

- 198 -

Page 200: Geheim Akte Y

Axel und Lieselotte kletterten aus einem Fenster im Erdgeschoß und liefen an der Uferpromenade entlang zum Hafen von Broad­stairs. Zum Glück gab es hier einen Bootsverleih für Verliebte, die im silbrigen Mondlicht rudern und für sich sein wollten.

Sie mieteten ein Boot und fuhren los. Die Wellen waren an diesem Tag etwas stärker, und es kostete

die beiden Knickerbocker einige Kraft, den Hafen zu verlassen. Sie ruderten die Küste entlang am Leuchtturm vorbei zu der

Klippe, auf der sich das Horrorhotel erhob. „Da... schau nur!“ Axel zeigte entgeistert nach oben: Aus der

Kabine des Leuchtturms drang ein Lichtzeichen – zweimal lang, zweimal kurz, zweimal lang.

Mehr als seltsam erschien den Knickerbocker-Freunden, daß jemand einen roten Streifen vor die Lampe gespannt hatte.

Lilo war sprachlos. Was hatte das zu bedeuten?

Kannst Du Dir vielleicht erklären, was der rote Streifen vor der Lampe des Leuchtturms zu bedeuten hat?

„Das kann nur ein vereinbartes Geheimzeichen sein und hat mit einem normalen Warnsignal nichts zu tun“, vermutete Lieselotte. „He! Schau mal, dort... beim Hotel!“

Axel wußte sofort, was Lilo meinte. Von einem der Zimmer im letzten Stock aus gab jemand schnelle Blinkzeichen.

- 199 -

Page 201: Geheim Akte Y

„Das sind wahrscheinlich Morsezeichen!“ vermutete der Knik­kerbocker. Doch wem galten sie?

Die beiden Junior-Detektive drehten sich um und blickten auf die See hinaus. Die Lichtzeichen wurden erwidert! Ein rotes, sehr grelles Licht, das auf- und niederschaukelte, blitzte ungefähr einen Kilometer vor der Küste auf. Es konnte sich nur um ein Boot handeln.

Das Licht im Hotelfenster erlosch, und das rote Licht auf dem Meer begann sich in Bewegung zu setzen. „Das Boot... steuert auf die Höhle zu!“ flüsterte Lieselotte.

Jetzt erst hatten die beiden Knickerbocker Gelegenheit, die Felswand der Küste nach dem Höhleneingang abzusuchen. Der Mond war hell genug, um ihnen die Öffnung zu zeigen. Sie war höchstens zwei Meter hoch und vier Meter breit.

„Ich schwimme in die Schmugglerhöhle und sehe mich um“, sagte Axel.

Lilo wollte ihn zurückhalten. „Nein, wir rudern hinein!“ Damit war der Junge nicht einverstanden. „Ich allein kann mich

notfalls unter Wasser verstecken. Mit dem Boot werden wir sofort entdeckt. Ich muß unbedingt herausfinden, was das Boot mit dem roten Licht bringt. Die Ladung hat sicher etwas mit dem ver­schlossenen Zimmer und dem Koffer zu tun. Rudere ganz nahe an den Felsen, bleib aber vom Höhleneingang weg! Ich schwimme hinein, und falls ich in einer halben Stunde nicht aufgetaucht bin, kannst du zum Hafen zurückrudern.“

Das Superhirn runzelte die Stirn. „Möglicherweise kann ich durch den Geheimgang in das Hotel

gelangen“, erklärte Axel. Lieselotte hatte kein gutes Gefühl. Axel ließ ihr aber keine Zeit,

ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er schlüpfte aus seinen Jeans, unter denen er Schwimmshorts trug, und Lilo ruderte ihn an den Höhleneingang heran.

Der Junge ließ sich ins Wasser gleiten und verabschiedete sich mit einem siegessicheren Winken.

- 200 -

Page 202: Geheim Akte Y

Das Geheimnis des Zimmers

Die Kühle des Meeres schien seinem Kopf gutzutun. Die Schmer­zen waren fast verschwunden, und Axel fühlte sich wieder einigermaßen in Ordnung.

Mit kräftigen Stößen schwamm er durch die Öffnung in den Klippen.

In der Höhle hallte es geheimnisvoll. Es mußte sich um ein ziemlich großes Gewölbe handeln. Axel zückte seine Taschen­lampe, die in einem wasserdichten Plastikbeutel steckte, und knipste sie an.

Er leuchtete den Raum ab und erkannte uralte Landungsstege aus Holz und einen breiten Gang, der in die Höhlenwände geschlagen war. Auf einer Seite führte eine Treppe nach oben.

Es mußte sich um den Zugang handeln, von dem Lilo erzählt hatte.

Axel schwamm zu den Landungsstegen und wollte sich aus dem Wasser ziehen. Da aber ertönte hinter ihm das Tuckern eines Motorbootes, und der Junge konnte sich im letzten Augenblick hinter einem Pfahl verstecken.

Ein Scheinwerfer beleuchtete die Wände der Höhle, und der schwankende Lichtschein huschte über den grünlichen, rauhen Stein. Das Boot legte glücklicherweise bei einem anderen Steg an. Das Licht wurde schwächer, doch sonst geschah nichts.

Ungefähr zehn Minuten verstrichen, bis plötzlich ein metalli­sches Quietschen ertönte. Ein Lichtschein tanzte die Treppe herunter.

Axel konnte von seinem Versteck aus kaum ausnehmen, was sich nun zutrug. An den Geräuschen und Schatten erkannte er allerdings, daß der Lenker des Bootes an Land kletterte und dem Unbekannten im Stiegenhaus etwas überreichte.

Es schien sich um eine Kiste zu handeln. Dafür erhielt er einige Bündel Banknoten. Gesprochen wurde

während der ganzen Aktion kein Wort.

- 201 -

Page 203: Geheim Akte Y

Der nächtliche Besucher kletterte auf sein Boot zurück und ließ den Motor an.

Gemütlich tuckerte das Fahrzeug aus dem unterirdischen Hafen aufs Meer hinaus.

Die Gestalt, die die Lieferung entgegengenommen hatte, stapfte langsam die Treppe nach oben.

Axel lauschte angespannt. Ihm war, als ob jemand den Inhalt der Kiste sichtete. So leise wie möglich glitt der Junge aus dem Wasser und eilte auf Zehenspitzen zu dem Aufgang ins Hotel.

Mittlerweile war der Unbekannte oben angekommen. Wieder quietschte die Tür.

Axel wartete auf das Klicken des Schlüssels, aber es blieb aus. Der Junior-Detektiv tastete sich Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Sein Herz begann zu rasen, als er entdeckte, daß die Tür offenstand und im Gang dahinter Licht brannte. Und auch die so gut gesicherte Tür war jetzt nicht verschlossen!

Aus der geheimnisvollen Kammer drang ein Klappern und Werken.

Axel spürte das Blut in seinen Ohren pochen. Sollte er es wagen und sich bis zu dem Zimmer heranschleichen? Es war die Gelegenheit herauszufinden, was in dem Raum vorging!

Der Junge ballte die Hände zu Fäusten und richtete sich auf. Er atmete einige Male tief durch, bevor er auf nackten Sohlen loshuschte. Noch zehn Meter... noch sieben Meter... noch fünf Meter...

Völlig unerwartet flog ein grauer Koffer in einem hohen Bogen auf den Gang.

Erschrocken schmiegte sich der Junge gegen die kalte Felswand und schluckte.

„Jetzt oder nie!“ dachte Axel. „Wenn ich jetzt kneife, vergebe ich vielleicht die einzige Chance, hinter das Geheimnis zu kommen.“

- 202 -

Page 204: Geheim Akte Y

Würdest Du wie Axel handeln oder Dich zurückziehen?

Noch drei Meter... Noch zwei Meter... Noch einen Meter... Es war so weit! Der Junge mußte sich nur vorbeugen und

konnte über den Türstock hinweg in das Innere des rätselhaften Raumes spähen.

Der Knickerbocker schob seinen Kopf vor und hielt die Luft an. Da war der Tisch, den er schon einmal gesehen hatte. Wieder

lag ein Koffer darauf. Und daneben lag noch etwas. Der Junior-Detektiv wußte, daß er sich unter keinen Umständen

unbemerkt an diesem Zimmer vorbeischleichen konnte. Was tun? Er mußte zurück in den Schmugglerhafen! Aber wie sollte er von dort wegkommen? Lilo würde bestimmt

nicht mehr auf ihn warten. Er konnte den weiten Weg nicht schwimmen, und in der Höhle würde er ertrinken, wenn die Flut kam.

Axel lehnte an der Felswand neben der Tür mit den vielen Schlössern und dachte fieberhaft nach. Er starrte zur Decke des Tunnels und bemerkte deshalb nicht, wie der Schatten des Unbe­kannten, der aus dem Zimmer auf den Boden fiel, immer größer und größer wurde.

Schon schoß die dunkle Gestalt auf den Gang und packte den Jungen an den Schultern.

Eine Hand legte sich auf seinen Mund und verhinderte, daß er schreien konnte.

- 203 -

Page 205: Geheim Akte Y

„Du hättest mich nicht bespitzeln dürfen. Jetzt kennst du mein Geheimnis, und das ist gar nicht gut!“ zischte ihm eine Stimme ins Ohr.

Axel wußte, daß jeder Widerstand zwecklos war und ergab sich in sein Schicksal.

- 204 -

Page 206: Geheim Akte Y

Suche nach Axel

„Ist Axel schon da?“ Mit dieser Frage auf den Lippen stürmte Lieselotte in das Zimmer zu Poppi und Dominik.

Die beiden blickten sie völlig überrascht an. „Ist er nicht bei dir?“ fragte Poppi verblüfft. Lieselotte traf die Antwort ihrer Freundin wie ein Keulenschlag.

„Nein! Er ist nicht aus der Höhle zurückgekommen und wollte durch den Geheimgang ins Hotel gelangen!“

Dominik bekam weiche Knie. „Aber er... ist nicht da!“ hauchte er.

Lilo wußte, was das zu bedeuten hatte. „Ihm muß etwas zugestoßen sein. Entweder in der Höhle... oder... im Gang. Wir müssen sofort nachsehen!“

Aber wie sollten sie in den Tunnel gelangen? Der Eingang befand sich im Raum hinter der Rezeption, und dort saß Mister Dyer.

Es klopfte. Die drei Junior-Detektive starrten unschlüssig zur Tür. Es war

kurz vor elf. , Ja... hallo?“ Lilos Stimme versagte fast. „Ich bin es, Mister Dyer!“ rief der Hotelbesitzer von draußen. Den dreien stockte das Blut in den Adern. „Was wollen Sie?“

fragte Lieselotte. „Wir... wir sind schon im Bett!“ „Es geht um euren Freund, bitte macht auf!“ erwiderte Julies

Vater. Dominik und Poppi sahen das Superhirn an. War das ein Trick? „Was... was ist mit Axel?“ fragte Lilo. „Macht doch die Tür auf – ich will hier nicht auf dem Gang

herumschreien!“ zischte der Mann, der langsam ungeduldig wurde.

Langsam bewegte sich das Mädchen zur Tür und drehte den Schlüssel.

- 205 -

Page 207: Geheim Akte Y

Der Hotelbesitzer stürzte herein und sah sich um. „Er... ist also wirklich nicht da! Dann hat der Anrufer die Wahrheit gesagt!“ keuchte er.

Lilo, Poppi und Dominik drängten sich zu Mister Dyer und wollten jetzt natürlich alles erfahren. „Da kam ein anonymer Anruf... vor ein paar Minuten. Die Stimme war irgendwie merkwürdig... Jemand hat mir mitgeteilt, daß euer Freund noch heute nacht ertränkt werden soll, weil er zu neugierig war. Der Anrufer sprach davon, daß der Junge festsitzt und das Wasser bald über seinem Kopf zusammenschlagen wird.“

Poppi war verzweifelt. „Was... was bedeutet das?“ wimmerte sie.

Mister Dyer hatte keine Ahnung. Lieselotte wußte jedoch sofort, worum es ging: „Der Schmugg­

lerhafen unter dem Hotel! Bei Flut füllt sich die Höhle – und wenn Axel nicht entkommen kann, ertrinkt er. Ich wette, er ist in der Höhle.“

Julies Vater wirkte ratlos. „Und wie sollen wir dorthin gelan­gen?“ fragte er.

„Sie haben doch den Schlüssel zum Abgang!“ meinte Lieselotte. Mister Dyer schien zwar nichts von einem Schlüssel zu wissen,

meinte aber: „Aber das macht nichts, die Tür bekommen wir irgendwie auf!“

Die drei Knickerbocker und der Mann stürmten in die Hotel­halle und stiegen von dort in das unterirdische Labyrinth hinab. Sie liefen durch den Gang und kamen dabei auch an der Tür mit den vielen Schlössern vorbei. Sie war abgesperrt.

Endlich hatten sie das Ende des Ganges erreicht. Die Tür zum Hafenabgang war nur angelehnt. Aufgeregt rasten

die vier über die rutschigen Steinstufen nach unten und stolperten in die dunkle Höhle. Mister Dyer zündete sein Feuerzeug an und schwenkte es durch die Gegend.

„Nichts...!“ keuchte Poppi. „Axel! Axel, bist du da wo?“ schrie Lieselotte. Poppi schluchzte: „Bestimmt nicht, sonst wäre doch die Tür

versperrt gewesen!“

- 206 -

Page 208: Geheim Akte Y

Lieselotte gab ihrer Freundin recht, fügte dann aber hinzu: „Er könnte doch auch gefesselt und geknebelt worden sein!“

Abermals riefen sie nach dem Jungen, aber es war kein einziges ungewöhnliches Geräusch zu hören. Enttäuscht und verzweifelt stiegen sie wieder nach oben.

„Was wollte der Anrufer eigentlich bewirken?“ fragte sich Lieselotte, als sie in der Halle standen.

„Ich brauche frische Luft!“ knurrte Mister Dyer und trat ins Freie hinaus. Ein ziemlich scharfer, kühler Wind fegte über die Küste.

,,Heute nacht soll noch ein Sturm aufziehen“, sagte er besorgt. Der Mond am Himmel war bereits nicht mehr zu sehen.

Schwere Wolken hatten sich vor ihn geschoben. Die drei Knickerbocker und der Hotelbesitzer schlenderten zum

Rand der Klippen und blickten auf das schwarze Meer hinaus.

- 207 -

Page 209: Geheim Akte Y

Hast Du eine Idee, wo Axel gefangengehalten werden könnte? Der

Knickerbocker sitzt fest, und das Wasser wird bald über seinem Kopf

zusammenschlagen. Was hat der Anrufer damit gemeint?

„Dort draußen! Ein Licht!“ rief Dominik. „Die Goodwin Sands!“ stöhnte Mister Dyer. „Das ist es!“ Lieselotte verstand nicht, was der Hotelbesitzer meinte. „Die Goodwin Sands sind mehrere Sandbänke, die ungefähr

drei Kilometer von hier entfernt sind. Bei Ebbe kann man dort Golf spielen, wenn man Lust dazu hat. Bei Flut verschwinden sie im Meer. Falls ihn jemand auf die Goodwin Sands hinausgebracht hat, wird er bald ertrinken. Das Meer steigt nämlich bereits.“

Der Mann stürzte zur Rezeption und wählte die Nummer der Küstenwache.

Aber das Telefon war tot. „Ich nehme unser Boot und fahre hinaus“, rief Mister Dyer. „Wir kommen mit!“ entschied Lieselotte. Julies Vater protestierte nicht einmal. Er ahnte, daß jeder Wider­

spruch zwecklos war. In diesem Augenblick begann irgendwo jemand das Kinderlied

von den drei blinden Mäusen zu pfeifen...

- 208 -

Page 210: Geheim Akte Y

Überraschung auf der Sandbank

Das Boot der Dyers lag wenige hundert Meter vom Hotel entfernt in einer kleinen Bucht vor Anker. Es war ein alter, klappriger Fischerkahn, der wie eine Nußschale auf den Wellen schaukelte.

Julies Vater hatte größte Mühe, das Boot zu manövrieren. Mehrmals entgingen sie nur knapp einer Katastrophe.

Lilo und Poppi hielten je einen kleinen Handscheinwerfer auf das Wasser vor dem Bug gerichtet.

„Hier gibt es viele Felsen im Meer“, schrie der Mann durch den Sturm. „Wenn wir gegen einen krachen, sinken wir innerhalb von Minuten!“

Dominik stand am Heck und klammerte sich an einer Winde fest, mit der früher einmal die Netze eingeholt worden waren. Er hielt Ausschau nach dem Licht und brüllte Mister Dyer immer wieder den Kurs zu.

Der Sturm wurde von Minute zu Minute stärker. Die Wellen klatschten auf das Deck und machten es rutschig und gefährlich. Bald waren alle vier durch und durch naß.

„Mit ist schon ganz schlecht!“ jammerte Poppi. Bei jeder Welle hob es ihr fast den Magen aus. „Ich glaube, ich muß mich übergeben!“ dachte das Mädchen verzweifelt, und im nächsten Moment mußte es sich schon über die Reling beugen.

Lilo kam ihrer Freundin zu Hilfe und hielt sie gut fest. Sie hatte Angst, daß Poppi über Bord gespült werden könnte.

Dominik war ebenfalls totenübel. Und ständig mußte er darauf achten, daß ihm die Wassermengen nicht die Brille vom Kopf rissen. „Hoffentlich sind wir bald da!“ flehte er in Gedanken. „Und hoffentlich finden wir Axel!“

Mister Dyer warf einen kurzen besorgten Bück auf die Junior-Detektive und seufzte: In welche Lage hatte er die drei nur gebracht! Was würde man mit ihm anstellen, wenn ihnen ein Unglück zustieß?

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich an die Sandbank herangekämpft hatten.

- 209 -

Page 211: Geheim Akte Y

Das Licht wurde nach und nach größer, und Lilo hatte den Eindruck, daß es sich um eine Art Fackel handelte, die an einem Pfahl befestigt war.

Nach einer weiteren halben Stunde gelang es ihnen endlich, auf den Goodwin Sands an Land zu gehen.

Im Licht der Handscheinwerfer erkannten die Knickerbocker, wie schnell das Meer anschwoll und die Sandbank überspülte.

Sie sahen auch den Pfahl, der in den Sand getrieben war und der Fackel als Stütze diente. Die Flammen flackerten heftig, trotzten dem Sturm aber. Axel war an den Pfahl gefesselt. Seine Augen leuchteten hilfesuchend auf, als er seine Kumpel erblickte.

Poppi beugte sich zu ihm und machte sich sofort daran, ihn zu befreien.

„Wie... wie... habt ihr mich gefunden?“ stammelte der Junge überglücklich.

„Jetzt ist keine Zeit für Fragen!“ schrie Lieselotte. „Los, wir müssen zurück. Der Seegang wird immer lebensgefährlicher!“

Mister Dyer und die Knickerbocker stürzten Richtung Ufer und erschraken.

Das Boot war fort! Lilo leuchtete den Sand ab und entdeckte die Abdrücke von

riesigen Schuhen. Wahrscheinlich handelte es sich um Gummi­stiefel. Aber keiner von ihnen trug welche.

Der Hotelbesitzer raufte sich die Haare. „Er hat das Boot ins Wasser geschoben, und die Flut hat es weggetragen!“

Aus der Dunkelheit drang das laute Aufheulen eines starken Außenbordmotors.

„Das ist das Boot, mit dem ich hergebracht wurde!“ schrie Axel und rannte drauflos. Seine Freunde und Mister Dyer folgten ihm.

Doch schon hörten sie, wie das Boot durch die Nacht davon­brauste.

Bald wurde es still. „Dominik, gib mir sofort deine Jacke!“ befahl Lieselotte.

- 210 -

Page 212: Geheim Akte Y

Hast Du eine Idee, was Lieselotte jetzt vorhat?

Der Junge zog seine Jacke aus, und Lilo griff danach. Sie lief zur Sturmfackel zurück und hielt die Jacke davor. Sie wartete und zog sie dann wieder weg – dreimal lang, dreimal kurz, dreimal lang: SOS.

Lilo rief um Hilfe. Hoffentlich fielen die Blinkzeichen jeman­dem auf!

„Was machen wir jetzt?“ schrie Dominik, als auch nach dem siebenten Signal niemand geantwortet hatte.

Lilo drückte ihm die Jacke in die Hand und sagte: „Los, mach weiter!“ Dann ließ sie sich neben Axel nieder, der zitternd im nassen Sand hockte.

„Ich kann nicht mehr!“ stammelte der Junge erschöpft. „Wir werden alle sterben... vorhin, als ich gefesselt war... es war so schrecklich! Und wenn uns jetzt niemand entdeckt, sind wir verloren...“, begann er zu schluchzen.

Auch Lieselotte hätte am liebsten losgeheult, doch sie mußte jetzt die Nerven bewahren. Sie tröstete ihren Freund, so gut es ging, und nach ein paar Minuten hatte er sich wieder einigerma­ßen beruhigt.

Das Wasser rückte immer näher heran. Die Sandbank war höchstens noch halb so groß wie bei ihrer Ankunft.

Poppi war ganz grün im Gesicht. Mister Dyer hatte seinen rechten Arm um die Schultern des Mädchens gelegt – so fühlte es sich sicherer. „Glauben Sie, daß jemand unsere SOS-Zeichen sieht?“ schrie Poppi.

- 211 -

Page 213: Geheim Akte Y

Doch die Frage ging im Geheule des Sturmes, der mit ungebro­chener Kraft tobte, unter.

„Was hast du eigentlich herausgefunden, Axel?“ wollte das Superhirn wissen.

„Es geht um Rauschgift! Ich habe kleine weiße Säckchen sehen können – das ist doch bestimmt Rauschgift!“ antwortete der Junge.

Lilo stimmte ihm zu. „Jemand versteckt sie in den Koffern der Gäste...!“

Lieselotte dämmerte nun, wie alles zusammenhing. „Die ahnungslosen Gäste schmuggeln das Zeug in ihre Heimat, wo es ihnen jemand heimlich wieder abnimmt. Das Horrorhotel ist nichts anderes als ein Rauschgiftumschlagplatz. Das Gift wird in die Höhle und von dort in das abgesicherte Zimmer im Geheim­gang gebracht. Dort präpariert man die Koffer. Axel, du hast den Kerl doch gesehen?“

Der Junior-Detektiv schüttelte den Kopf. „Nein, die Gestalt war schwarz gekleidet und hatte einen Strumpf über dem Kopf!“

Wer zieht die Fäden? Auf wen tippst Du? Laß Dir noch einmal alle Ereignisse durch

den Kopf gehen!

Lieselotte kam ein Verdacht: „Mister Higgins vom Leuchtturm! Ich wette, es gibt von dort einen Zugang zur Schmugglerhöhle. Der Mistkerl war es! Und wir sollen jetzt hier zugrunde gehen, damit wir nichts ausplaudern können!“

- 212 -

Page 214: Geheim Akte Y

Poppi drehte durch. „Lilo... ich... ich will nicht ertrinken! Das Wasser kommt immer näher... und wir sind so weit von der Küste weg... wir... wir kommen nie lebend an Land! Schwimmen ist unmöglich!“

Die tödliche Falle war perfekt geplant.

- 213 -

Page 215: Geheim Akte Y

Drei blinde Mäuse

Die Wellen rollten den vier Knickerbocker-Freunden bereits über die Schuhe, als die Fackel erlosch. Das letzte Licht, das ihnen blieb, waren die beiden Handscheinwerfer.

„Wer hat uns hier herausgelockt?“ tobte Mister Dyer. „Es kann nur Higgins gewesen sein!“ antwortete Lilo trocken.,

Aber das ist jetzt egal. Wir müssen zur Küste zurückschwim­men!“

Der Hotelbesitzer protestierte: „Das ist bei diesem Wetter unmöglich!“

Lilo stellte sich vor ihn hin, verschränkte die Arme und schrie: „Und was schlagen Sie vor?“

Der Mann schwieg. Plötzlich sprang Axel in die Höhe, als hätte man ihn mit einer

spitzen Nadel gestochen. „Seht doch... dort... ein Licht... es kommt auf uns zu!“

Die Junior-Detektive schnappten die Handscheinwerfer, richte­ten sie auf den hellen Punkt, der auf- und niederhüpfte, und gaben wieder das SOS-Zeichen.

Ein Boot kämpfte sich durch das tosende Meer und näherte sich der Sandbank. Es war die Küstenwache. Sie nahm die Knicker­bocker-Bande und Julies Vater an Bord.

„Was machen Sie hier? Sind Sie lebensmüde, Dyer?“ schrie einer der Männer.

Der Hotelbesitzer erzählte mit wenigen Worten, was geschehen war.

„Mister Higgins ist ein Rauschgifthändler – Sie müssen ihn festnehmen“, rief Lilo aufgeregt.

Der Mann von der Küstenwache staunte. „Dann hat ihn das schlechte Gewissen gepackt! Er war es nämlich, der uns alarmiert hat“, sagte er.

Diese Mitteilung überraschte die Bande sehr. Es war halb zwei Uhr in der Früh, als sie im Horrorhotel

eintrafen. Sie waren naß und durchgefroren.

- 214 -

Page 216: Geheim Akte Y

Julie kam aus dem Zimmer hinter der Rezeption gestürzt und starrte die vier Junior-Detektive und ihren Vater fassungslos an.

„Was... was ist mit euch los?“ stammelte sie. „Das erkläre ich dir später. Mach uns jetzt Tee!“ schnauzte

Mister Dyer sie an. Nachdem die Mitglieder der Knickerbocker-Bande heiß ge­

duscht und sich etwas erholt hatten, schlüpften sie in ihre Jogginganzüge und gingen noch einmal in die Wohnung der Dyers hinunter.

„Setzt euch! Eine Tasse Tee ist jetzt genau das richtige“, brummte der Hotelbesitzer. „Außerdem will ich endlich erfahren, was da in meinem Hotel gespielt wird!“

Langsam begannen Axel und Lilo zu erzählen. Julie und ihr Vater hörten angespannt zu. Der Teekessel meldete mit lautem Pfeifen, daß das Wasser kochte, und die junge Frau sprang auf.

„Aber... aber... also... Ich habe mir nie den Kopf darüber zerbro­chen, warum der Raum abgesperrt ist. Und zu dem Gepäck hat doch kaum jemand Zugang“, stammelte Mister Dyer.

Seine Tochter kehrte mit einem großen Tablett zurück, und weil gerade Stille eingekehrt war, spitzte sie die Lippen und begann zu pfeifen.

Three blind mice, see how they run! They all ran after the farmer’s wife, Who cut off their tails with a carving knife, Did you ever see such a thing in your life, As three blind mice?

Als Julie von neuem ansetzte, sang Poppi leise mit. Sie hatte in der Sommerschule gerade das Lied von den drei blinden Mäusen gelernt, die der Frau des Bauern nachliefen und durch ein Flei­schermesser ihren Schwanz verloren.

Axel schoß in die Höhe. „Julie... du... du bist es! Du bist die Rauschgiftschmugglerin! Du hast mich zweimal fertiggemacht! Ich erkenne die Melodie!“

Die junge Frau starrte ihn erschrocken an. Blitzschnell holte sie eine Pistole aus der Jacke und richtete sie auf die Knickerbocker und ihren Vater.

„Julie!“ tobte Mister Dyer.

- 215 -

Page 217: Geheim Akte Y

„Es ist aus mit der lieben, netten Julie“, zischte die Frau. „Setz dich, Vater! Jetzt rede nur noch ich. Mein ganzes Leben habe ich in dieser miesen Bude verbracht. Jetzt habe ich endlich Geld, und du wirst es mir nicht wegnehmen. Die Idee mit dem Schmuggel war einfach genial! Die ahnungslosen Idioten!“

Julies Stimme überschlug sich. „Engländer wurden natürlich abgewiesen oder rausgeekelt!“

fuhr die Tochter des Hotelbesitzers fort. „Ich setze mich ab. Nach Brasilien! Und vorher werde ich euch alle für immer zum Schwei­gen bringen!“

Mister Dyer sprang auf. „Ich bin dein Vater!“ schrie er wie von Sinnen.

„Das ist mir jetzt egal!“ antwortete Julie eiskalt. Sie hob die Pistole und legte den Zeigefinger an den Abzug.

Ein lautes metallisches Dröhnen ertönte, und gleich darauf sank die junge Frau zu Boden.

Hinter ihr stand Mister Higgins mit einer Bratpfanne in der Hand. Er mußte durch den Lieferanteneingang in der Küche gekommen sein.

„Ich wollte Sie eigentlich bloß wegen der blöden Verdächtigun­gen zur Rede stellen, Dyer!“ sagte er leise. „Aber die traurige Erklärung für das, was vorgefallen ist, habe ich ja gerade selbst mit angehört.“

Julie Dyer wurde verhaftet. Der Mann, der ihr das Rauschgift in die Schmugglerhöhle geliefert hatte, konnte ebenfalls gefaßt werden, als er wenige Tage später abermals in dem verborgenen Hafen anlegte.

Mister Dyer konnte kaum sprechen, als sich die Bande von ihm verabschiedete. Er war fürchterlich geschockt. „Bleibt so, wie ihr seid!“ sagte er mit zittriger Stimme, und zwei dicke Tränen kullerten ihm über die Wangen.

Die Junior-Detektive suchten Mister Higgins auf, um sich bei ihm zu entschuldigen. Schließlich hatten sie ihn zu unrecht verdächtigt. Der Mann hatte ihnen längst verziehen und teilte ihnen mit, daß er sich um seinen Nachbarn kümmern werde.

- 216 -

Page 218: Geheim Akte Y

„Aber warum haben Sie das merkwürdige rote Zeichen gegeben?“ wollte Axel wissen.

Mister Higgins grinste. „Ihr seid mir ja schöne Landratten! Das ist eine Warnung vor Sandbänken! Der Leuchtturm hat noch nie ein anderes Signal gegeben!“

Die Junior-Detektive lachten über die einfache Erklärung und kehrten in die Sommerschule zurück. Der Direktor erwartete sie schon beim Eingang.

„Julie Dyer wollte auch euch als Schmuggler benutzen“, meinte er. „Und ich dachte mir nichts, als sie mich angerufen hat, um mir zu sagen, daß ihr noch im Hotel bleibt. Auf jeden Fall weiß ich eines: Im Aufklären von Kriminalfällen bekommt jeder von euch die Höchstnote.“

- 217 -