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Geometrie und ihre Anwendungenin Kunst, Natur und Technik

Georg Glaeser

Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik

3. Aufl age

Georg Glaeser Abteilung für GeometrieUniversität für Angewandte Kunst WienWien, Österreich

ISBN 978-3-642-41851-8 ISBN 978-3-642-41852-5 (eBook)DOI 10.1007/978-3-642-41852-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar.

Springer Spektrum© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005, 2007, 2014Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus-drücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Ein-speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be-rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en.

Planung und Lektorat: Dr. Andreas Rüdinger, Bianca Alton

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-spektrum.de

Einleitung

Ich unterrichte seit Jahren Angewandte Geometrie und Angewandte Mathe-matik an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Die Studierendensind zum größten Teil angehende Architekten und Industriedesigner. Dasvorliegende Buch deckt den Lehrstoff für die Geometrie ab, geht aber beimanchen Kapiteln deutlich darüber hinaus.

Eigenständige Geometrie?Die Geometrie wird i. Allg. als Teilgebiet der Mathematik angesehen. Tat-sächlich ist die gedankliche Vorgangsweise eng mit der mathematischen Logikverknüpft. Wegen ihrer enormen Bandbreite sehen viele die Geometrie auchals eigenständige Wissenschaft. In jedem Fall ergänzen einander Mathematikund Geometrie wunderbar. Trotzdem: Wenn Sie dieses Buch lesen, brauchenSie keine speziellen mathematischen Vorkenntnisse. Alles, was wir an mathe-matischem Rüstzeug brauchen, wird sich wie von selbst ergeben.Geometrie kann auf unterschiedliche Art betrieben werden. Jene Geometrie,die in diesem Buch vermittelt wird, wendet sich so oft wie möglich direkt andas räumliche Vorstellungsvermögen. Dieses ist bei den verschiedenen Men-schen mehr oder weniger stark ausgeprägt, aber Versuche haben gezeigt,dass unsere Raumvorstellung speziell durch die Beschäftigung mit Geometrieenorm gesteigert werden kann. Sie werden zwar immer wieder Bemerkungen(klein gedruckt) über die analytische Geometrie bzw. Infinitesimalrechnungfinden, dies aber hauptsächlich zur Untermauerung des mit der Raumvor-stellung erarbeiteten Gedankenguts.

Ein sechster SinnWeil nun die Geometrie diesen „sechsten Sinn“ der Raumvorstellung ausnüt-zen (und im Gegenzug sogar verbessern) kann, führt sie bei jungen Menschennicht selten schneller zu Fortschritten als die übrige Mathematik. Letztereverlangt nämlich sehr solide Grundlagen, denn sonst könnte in jeder Rechen-zeile ein Fehler stecken, der übersehen wird. Die Geometrie, von der hier dieRede ist, liefert hingegen ständig Ergebnisse, die wir mit unserer Vorstellungkontrollieren können. Die fast immer geometrisch geführten „synthetischen“Beweise sind allein schon deswegen meist den rein mathematischen „analy-tischen“ Beweisen vorzuziehen. Nicht selten steckt in den Beweisen so vielVerständnis für die Sache, dass sich zwanglos neue oder zusätzliche Ergeb-nisse und Ergänzungen einstellen.

Darstellende Geometrie und noch viel mehrMein vor Jahren erstelltes Konzept basierte auf den Ideen meines akademi-schen Lehrers Walter Wunderlich und meines Vorgängers Erich Frisch, diebeide in traditioneller Weise ein einfaches aber doch vollständiges Lehrge-bäude der „Darstellenden Geometrie“ zusammengestellt hatten. Nachdem die

vi Einleitung

Zeit nicht stillgestanden war und sich – gerade auf dem Gebiet der Geome-trie – durch den Siegeszug des Computers eine Revolution abgespielt hatte,musste das Konzept stark modifiziert bzw. erweitert werden. Vor allem wer-den immer wieder Bezüge zu den verwandten Gebieten Computergrafik bzw.Computergeometrie hergestellt, die ihre Wurzeln in der klassischen Geome-trie haben. Auch soll sich die Geometrie, die hier vermittelt wird, nicht nurauf das Darstellen beschränken, zumal sich gerade beim Erstellen von Bildernim Computerzeitalter viel geändert hat.

Wo Geometrie mitmischtNaturgemäß gibt es eine Vielzahl von Querverbindungen der Geometrie zutechnischen Wissensgebieten, etwa dem Maschinenbau, der Architektur unddem Bauingenieurwesen. Ein zweiter Anwendungsblock geht in die RichtungBildende Künste und Design. Aber auch die Physik, Astronomie, Geografie,Chemie, Biologie und Molekularbiologie bedienen sich der Geometrie, um Er-gebnisse zu veranschaulichen oder neue Erkenntnisse abzuleiten. Schlussend-lich kann man die harmonikalen Zusammenhänge in der Musik wunderbardurch die Geometrie verdeutlichen.

• Wann betrachtet man eine geometrische Fragestellung lieber eine Dimen-sion tiefer? Eine Drehung um eine Gerade können wir uns z.B. viel besservorstellen, wenn die Gerade als Punkt erscheint. Wenn man die Technikbeherrscht, wie man so etwas zu Wege bringt, kann man viele Problemevereinfachen.

• Wann hingegen betrachtet man das Problem lieber „von einer höherenWarte“? Die ebenen Kegelschnittslinien sind – räumlich betrachtet – garnicht so unterschiedlich. Höherdimensionale Wesen würden so manche un-serer Fallunterscheidungen als überflüssig betrachten.

Kegelschnitte Erstellen eines Scharrbilds

• Wie konnten die Ureinwohner Perus ihre gigantischen Scharrbilder in derWüste von Nazca erzeugen, ohne deshalb den Heißluftballon erfunden ha-ben zu müssen? Eine Kombination aus Zentralprojektion und zentrischerStreckung macht es möglich.

• Wie funktioniert unser Sehen wirklich, und wie bildet ein Fotoapparatab? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir eine Fotografie

Einleitung vii

als „natürlich“ und nicht extrem verzerrt oder zu sehr abgeflacht empfin-den? Solche Fragen stellten sich schon vor fünfhundert Jahren Leonardoda Vinci und Leone Battista Alberti , die mit exakten Projektionen desRaums auf eine Ebene arbeiteten.

Lichtbrechung am Auge Wie viele Bilder braucht man?

• Wann kann man eine Fotografie „entzerren“? Wie viele Fotos eines Objektsbraucht man, um daraus seine wahre Gestalt eindeutig feststellen zu kön-nen? Diese Frage beschäftigt nicht nur Architekten, sondern neuerdingsvor allem Konstrukteure von 3D-Scannern.

• Wie muss eine Landkarte aussehen, auf der die kürzesten Strecken zwi-schen zwei Punkten der Erdkugel sich gerade oder als Kreisbögen abbil-den? Aus welchen Karten lässt sich der Kurswinkel direkt ablesen? DasProblem entsteht aus dem Dilemma, dass man die Kugel nicht in dieEbene ausbreiten kann. Die gesamte Kartografie lebt von geometrischenErkenntnissen.

Landkarten und kürzeste Strecken Gute Triangulierung

• Die Architekten bauen heute gerne gekrümmt. Kann ihnen die Geometriehelfen, die dabei entstehenden horrenden Baukosten auf ein Minimum zureduzieren?

• Wie kann eine Drehung um eine Achse auf eine andere Achse übertragenwerden, und mit welchem Trick funktioniert das Ganze sogar gleichmäßig?Diese Frage ist für den Maschinenbau wichtig.

viii Einleitung

Gleichlaufgelenk Bewegung der Erde um die Sonne

• Wieso dauert es nicht immer gleich lang, bis die Sonne wieder ihren Kulmi-nationspunkt erreicht? In dieser astronomischen Frage steckt ein bisschenPhysik, aber noch viel mehr Geometrie.

• „Durch einen Punkt gibt es genau eine Parallele zu einer vorgegebenenGeraden.“ Was passiert, wenn man diesen nicht beweisbaren Eckpfeilerder Geometrie herauszieht? Es entsteht eine fremdartige „NichteuklidischeGeometrie“, deren Ergebnisse sogar in der modernen Physik Verwendungfinden!

Hyperbolische Geometrie Schnecken und Hörner

• Was kann man aus der Gestalt von Schneckengehäusen oder Tierhörnernüber deren Wachstum ableiten? Wie kommt man zur Gestalt der Doppel-helix? Schließlich ist diese Struktur der DNS zum Symbol der modernenBiotechnologie geworden.

Extreme Perspektiven Der Trick mit dem Shift-Objektiv

• Wie erzeugt man mit einfachen Tricks Bilder, die sonst nur teuren Shift-Objektiven vorbehalten sind? Warum ist die Wahl der Brennweite nichtnur eine Frage des „Überblicks“, sondern auch der weiteren Verwendungder Fotografie? Wann sind Ultra-Perspektiven nicht nur erlaubt, sondernsogar notwendig? Warum hängt die Schärfentiefe von der Blende ab?

Solche und viele andere Fragen wollen wir in diesem Buch anschneiden undauch beantworten.

Einleitung ix

Die heutigen Studierenden haben den Vorteil, dass sie mit Computerprogrammenarbeiten können, die Ihnen mühevolle und rein routinemäßige Zeichenarbeit abneh-men. Das Schwergewicht der Geometrie kann und muss sich daher immer mehr aufdas geometrische Verstehen und Analysieren von Vorgängen verlagern. Als Folge derLehrplan-Anpassung können endlich auch Probleme besprochen werden, die bisherkeinen Platz in einem solchen Rahmen fanden, die aber in der Berufspraxis derZielgruppen sehr wohl von Bedeutung sind.

SpitzfindigkeitenDabei erscheint mir wichtig, Sätze oder Regeln zunächst einmal so einfachwie möglich zu formulieren, und erst in weiterer Folge auf Spezialfälle undSpitzfindigkeiten einzugehen.So sagen wir z.B. zunächst (s.S. 52): „Sind zwei Geraden in zwei unterschiedlichenParallelprojektionen parallel zueinander, dann sind sie es i. Allg. auch im Raum.“Die Ausnahmen werden im Anschluss zumeist auch besprochen – in diesem wichti-gen Fall sogar genauer.Noch zwei Beispiele: Wenn eine Kurve „nicht gekrümmt“ ist oder „keine Krüm-mung hat“, soll das natürlich heißen, dass sie mathematisch gesehen die KrümmungNull hat. Oder: „Jeder ebene Schnitt einer Kugel ist ein Kreis.“ Natürlich: Wenndie Ebene die Kugel berührt, schrumpft dieser Kreis auf einen Punkt („Nullkreis“)zusammen. Und wenn die Ebene die Kugel nicht schneidet? Mathematiker könnenbeweisen, dass wir es dann mit einem imaginären Kreis zu tun haben. Also wie sollenwir den Satz jetzt formulieren, ohne ihn für den Laien zu schwer lesbar zu machen?Jeder Mensch wird den vereinfachten Satz richtig verstehen, und die fundamentaleAussage bleibt kurz und prägnant !

DanksagungenFür ihre Mithilfe beim Korrigieren, aber auch für interessante Diskussionen unddas Erstellen nicht weniger Bilder danke ich meinen (teilweise ehemaligen) Mit-arbeitern Franz Gruber, Thomas Backmeister, Christian Perrelli, Herbert Löffler,Boris Odehnal, Hans-Peter Schröcker und Gerhard Karlhuber. Weitere fachlicheUnterstützung kam von (teilweise ehemaligen) Kollegen an der Technischen Uni-versität Wien: Wilhelm Fuhs, Michael Schrott, Andreas Asperl, Fritz Manhart undWalter Hofmann. Illustrationen, die nicht von mir selber stammen, sind auf S. 499aufgelistet. Bei physikalischen Fragen bekam ich stets kompetente Auskunft vonGeorg Fuchs und meinem Bruder Othmar Glaeser.Andreas Rüdinger vom Verlag brachte immer wieder gute Ideen ein.Ich habe das Glück, an einer Kunstuniversität zu lehren und Künstler wie ZahaHadid, Hans Hollein, Bernhard Leitner, Greg Lynn, Paolo Piva, Wolf D. Prix, HaniRashid, Ruth Schnell und Boris Sipek zu meinen (teilweise ehemaligen) Kollegenzählen zu dürfen. Von ihnen sind Beispiele im Buch zu finden. Weitere freundlicheUnterstützung kam von den Kollegen Klaus Bollinger, Ernst Maczek-Mateovits,Roland Burgard und Marcus Bruckmann.Ich habe auch den Studierenden der Universität für angewandte Kunst Wien zudanken, die in einem Wechselspiel aus Geben und Nehmen ständig neue Ideen ein-gebracht und teilweise auch verwirklicht haben. Einige ihrer Arbeiten werden indiesem Buch vorgestellt.

x

Meine Tochter Sophie hat einige Zeichnungen angefertigt und einfache Modelle ge-bastelt. Bei ihr und meiner Frau Romana bedanke ich mich für die große Geduld,wenn es darum ging, jede Wanderung und jeden Urlaub bis zu einem gewissen Gradder „Fotografiererei“ unterzuordnen. Von beiden stammen zudem nicht wenige Ein-fälle für Fotos, die das Buch zu einer Art „Bilderbuch der Geometrie“ gemachthaben: Beim folgenden Bild sitzt z.B. eine Springspinne – fast im wörtlichen Sinnals „eye catcher“ – auf einem kugelförmigen metallenen Knauf. Für einen geome-trisch Interessierten stellt sich dabei fast zwangsläufig die Frage: Was ist der Umrissder Kugel (Anwendung S. 314)? Die „Spinne auf der Kugel“ wird uns im Übrigenin ganz anderem Zusammenhang unterkommen (Anwendung S. 312).

Gute Fotos entstehen nur selten „von selbst“ oder ausschließlich mit teuren Foto-apparaten. Es braucht Geduld, ein gutes Auge und – wie ich im Anhang zu zeigenversuche – auch geometrisches Verständnis.

Begleitende Literatur und eine zugehörige WebseiteDas entsprechende Buch zu meiner Mathematikvorlesung ist „Der mathematischeWerkzeugkasten“, der fast gleichzeitig in vierter Auflage bei Springer Spektrum er-scheinen wird. Zwischenzeitlich sind zwei neue geometrisch-mathematische Bücherim gleichen Verlag erschienenen: „Bilder der Mathematik“ (zusammen mit KonradPolthier, 2. Auflage 2009) bzw. „Wie aus der Zahl ein Zebra wird“ (2010), auf demdie stark erweiterte englische Version „Nature and Numbers“ (Ambra Verlag, 2013)basiert. Die zweite Auflage von „Geometrie und ihre Anwendungen“ wurde mitt-lerweile – ebenfalls stark erweitert – ins Englische übersetzt („Geometry and itsApplications in Arts, Nature and Technology“, Springer Wien New York 2012).So wie zu den eben angeführten Büchern gibt es zum Buch begleitend eine Homepa-ge (www.uni-ak.ac.at/geometrie). Dort finden Sie Aktualisierungen, weitere Bei-spiele bzw. Illustrationen, Internet-Adressen zu den verschiedenen Spezialthemenund nicht zuletzt Dutzende von lauffähigen Demo-Programmen bzw. geometrischeVideos, mit denen Sie interaktiv arbeiten können. Insbesondere lassen sich zahlrei-che komplizierte Bewegungsabläufe oder physikalische Simulationen nachvollziehen.

Wien, im Dezember 2013

Inhaltsverzeichnis

Einleitung v

1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen 11.1 Punkte, Geraden und Kreise in der Zeichenebene . . . . . . . . . . . . . 21.2 Besondere Punkte im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.3 Elementarbausteine im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191.4 Der euklidische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.5 Polarität, Dualität und Inversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271.6 Projektive und Nichteuklidische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension 432.1 Das Prinzip der Zentralprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion . . . 482.3 Zugeordnete Normalrisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel . . . . . . . . . . . . . 632.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig 753.1 Kongruenztransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763.2 Konvexe Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793.3 Die Platonischen Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883.4 Weitere bemerkenswerte Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943.5 Ebene Schnitte von Prismen und Pyramiden . . . . . . . . . . . . . . . . 100

4 Gekrümmt und doch einfach 1054.1 Ebene Kurven und Raumkurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1064.2 Die Kugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1224.3 Zylinderflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1314.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen 1435.1 Kegelflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1445.2 Kegelschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1515.3 Torsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1645.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 1725.5 Die „physikalische“ Spiegelung an Kreis, Kugel und Drehzylinder . . . . 180

6 Prototypen 1876.1 Flächen zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1886.2 Drei Typen von Flächenpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2056.3 Drehflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2136.4 Der Torus als Prototyp für alle anderen Drehflächen . . . . . . . . . . . 2216.5 Rohr- und Kanalflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen 2357.1 Regelflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2367.2 Schraubflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2427.3 Verschiedene Typen von Spiralflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2537.4 Schiebflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2597.5 Minimalflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen 2698.1 Mathematische Flächen und Freiformflächen . . . . . . . . . . . . . . . . 270

xii

8.2 Interpolierende Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2758.3 Bézier- und B-Splinekurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2768.4 Bézier- und B-Splineflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2798.5 Flächendesign einmal anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung 2879.1 Das menschliche Auge und die Lochkamera . . . . . . . . . . . . . . . . 2889.2 Verschiedene Techniken der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2909.3 Andere Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3049.4 Geometrie an der Wasseroberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

10 Alles bewegt sich: Kinematik 33510.1 Der Pol, um den sich alles dreht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33610.2 Verschiedene Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34210.3 Ellipsenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35510.4 Trochoidenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

11 Bewegung im Raum 36711.1 Bewegung auf der Kugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36811.2 Allgemeine Raumbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37311.3 Wo steht die Sonne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37611.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für die mittlere Zeit . . . . . . . . . 392

12 Die Vielfalt der Füllmuster 40112.1 Periodische Parkettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40212.2 Nicht-periodische Parkettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40812.3 Nichteuklidische Parkettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur 41513.1 Die geometrischen Grundformen in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . 41613.2 Evolution und Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42213.3 Planetenbahnen und Fischschwärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42913.4 Skalenverhalten in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43413.5 Musikalische Harmonie mit den Augen der Geometrie . . . . . . . . . . 438

A Ein Kurs im Freihandzeichnen 441A.1 Normalriss versus Schrägriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442A.2 Keine Scheu vor gekrümmten Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448A.3 Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454A.4 Perspektivisches Skizzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

B Ein geometrischer Fotografiekurs 469B.1 Brennweiten und Sehwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470B.2 3D-Bilder in der Fotografie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden? . . . . . . . . . . . . . . 478B.4 Primäre und sekundäre Projektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486B.5 Von unten oder von oben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

Ergänzende Literatur 499

Index 500

1 Eine idealisierte Weltaus einfachen Bausteinen

In diesem Kapitel lernen wir diewichtigsten Bausteine der geo-metrischen Welt kennen: Punkte,Geraden, Kreise in der Zeichen-ebene bzw. Punkte, Geraden,Ebenen, Kugeln, Drehzylinderund Drehkegel im Raum.Punkte sind in der Geometrie„unendlich klein“, haben also kei-nerlei Ausdehnung. Dementspre-chend sind auch Geraden immer„unendlich dünn“ – und gleichzei-tig „unendlich lang“.

Analoges gilt für Ebenen, Zylinder usw. Diese Idealisierung vereinfacht vieleÜberlegungen.In der Geometrie hat man keine Scheu, das Wort unendlich auszusprechen.Auch mit dem Wort Dimension ist man rasch bei der Hand: Die Menge derEbenen des Raums bildet z.B. einen dreidimensionalen Ebenenraum. Denzugehörigen theoretischen Unterbau liefert die Projektive Geometrie, überdie wir im letzten Absatz sprechen wollen.Zunächst werden Begriffe in der Zeichenebene geklärt und anhand von bemer-kenswerten Beispielen aus der Dreiecksgeometrie vertieft. Der Übergang zurRaumgeometrie erfolgt fließend. Viele Erkenntnisse lassen sich dabei durcheinfache Verallgemeinerungen aus der Geometrie der Zeichenebene gewinnen.

Überblick1.1 Punkte, Geraden und Kreise in der Zeichenebene . . . . . . . . . . . . . 2

1.2 Besondere Punkte im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1.3 Elementarbausteine im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.4 Der euklidische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1.5 Polarität, Dualität und Inversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

1.6 Projektive und Nichteuklidische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

2 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

1.1 Punkte, Geraden und Kreise in derZeichenebene

Dimensionslose KügelchenPunkte sind in der Geometrie (und der gesamten Mathematik) „unendlichklein“, haben also keinerlei Ausdehnung (nulldimensional). Wir halten uns andie europäische Konvention und bezeichnen Punkte durch lateinische Groß-buchstaben A, B, P , Q usw.

Strahlen ohne Anfang und EndeUnendlich viele Punkte ergeben – geradlinig aneinander gereiht – eine un-endlich dünne und gleichzeitig unendlich lange eindimensionale Gerade. Mankann auch sagen: Eine Gerade wird durch Verschiebung (Translation) einesPunkts „erzeugt“. Geraden werden in Europa üblicherweise mit kleinen latei-nischen Buchstaben a, b, g, h usw. bezeichnet.Geraden sind keine begrenzten Strecken: Jede Strecke PQ liegt auf einerunendlich langen Trägergeraden g = PQ.Zur Gewöhnung an die geometrische Sprechweise wiederholen wir Begriffe,die jedem von uns schon einmal untergekommen sind.

KreiseKreise sind einfache Beispiele für Abstandslinien. Alle Kreispunkte habenvom Mittelpunkt M einen konstanten Abstand (den Radius r). Kreise werdenhier meist mit dem Buchstaben k bezeichnet. Hat man es mit mehrerenKreisen zu tun, spricht man von k1, k2, . . . oder von kA, kB, kM , . . . (wennA, B oder M ihre Mittelpunkte sind). Wie alle Kurven sind Kreise unendlichedünne (gleichmäßig gekrümmte) Linien.

Die natürlichste Kurve

Abb. 1.1 Wasserwellen

Kreise sind beliebte Konstruktionselemente, weil sich mit ihnen meist sehrgenau arbeiten lässt. In der Natur findet man schwerlich exakt geradlinigeKanten an Objekten. Schon viel öfter sehen wir Kreise der Ebene bzw. dieKugeln im Raum: Wir brauchen nur ein Steinchen in einen Teich zu werfen,

1.1 Punkte, Geraden und Kreise in der Zeichenebene 3

um die konzentrischen Ringe der entstehenden Wellenberge zu bewundern.Jede Art von Welle, wie Licht oder Schall, breitet sich in der Ebene kreisför-mig (im Raum kugelförmig) aus.Auf einer einsamen Insel können wir sicher keine langen Strecken in den Sandzeichnen, wohl aber Kreise (mithilfe jeder besseren Astgabel). Wer kenntnicht den angeblich letzten Ausspruch des Archimedes (um 287−212 v. Chr.):„Stör mir meine Kreise nicht!“ (Gemeint waren seine Konstruktionen im Sand,und gerichtet waren die Worte an einen römischen Soldaten, der ihn bei derEroberung von Syrakus trotz gegenteiligen Befehls niederstach.)

DreieckeUnter einem Dreieck verstehen wir eine Zusammenfassung von drei PunktenA, B, C. Man kann ein Dreieck durch die drei von den Punkten festgelegtenStrecken AB = c, BC = a und CA = b festlegen. Dann lassen sich alle anderenBestimmungsstücke, z.B. die Winkel α = ∠BAC, β = ∠ABC und γ = ∠ACB

berechnen [16] oder konstruieren. In diesem Buch wird immer die Konstruk-tion vorgezogen. Das hat den Vorteil, dass sich meistens als „Abfallprodukt“ein für weitere Überlegungen brauchbarer Sachverhalt ergibt.

Kongruente und ähnliche Dreiecke

Abb. 1.2 Kongruente Lösungen Abb. 1.3 Ähnliche Dreiecke, Strahlensatz

Konstruieren wir also ein Dreieck ABC mit gegebenen Seitenlängen: Wirwählen die Lage der Seite AB beliebig (etwa horizontal) und schneiden dieAbstandskreise kA und kB mit den Radien AC und BC. Dies liefert bei einerzulässigen Angabe (AC und BC müssen in Summe größer als AB sein, ihreDifferenz muss dem Betrag nach kleiner als AB sein) zwei Lösungen für dendritten Eckpunkt (C1 und C2, Abb. 1.2). Die Lösungen unterscheiden sichnicht in der Größe (man nennt sie daher kongruent), wohl aber im „Umlauf-sinn“: Sie sind „gegensinnig kongruent“. Aus der Figur erkennt man übrigensdurch Einzeichnen einer Parallele zu AB durch C:

Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180○.

Abb. 1.4 zeigt die Vorder- bzw. eine Rückansicht einer Pfauenfeder (vgl. auchAbb. 6.49). Die Muster, welche keine Farben sind, sondern durch „Verkanten“ derHaare entstehen, entsprechen einander nur teilweise, wohl aber die Umrisse. Im Bild

4 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

sind die Figuren gegensinnig kongruent. Im Raum handelt es sich natürlich um ein-und dasselbe Objekt, das trivialerweise gleichsinnig kongruent ist.

Abb. 1.4 Pfauenfeder (Vorder- und Rückseite) – gegensinnig kongruent?

Etwas allgemeiner als die strenge Forderung der Kongruenz ist der Begriffder Ähnlichkeit. Zwei Dreiecke heißen ähnlich, wenn ihre Winkel überein-stimmen. Die Seitenlängen stimmen dann i. Allg. nicht überein, aber mankann mithilfe des Ähnlichkeitsfaktors sofort Beziehungen zwischen den Sei-tenlängen herstellen. Es gelten die Strahlensätze. Dabei handelt es sich umeinfache Aussagen, die aber gar nicht so einfach zu beweisen sind. Beim Be-weisen muss man sogenannte Axiome verwenden, also Aussagen, die mannicht mehr beweisen kann, die aber jedem richtig erscheinen.Wir betrachten ein Dreieck ABC, dessen Seitenlängen a, b, c mit einemkonstanten Faktor k (dem Ähnlichkeitsfaktor) multipliziert werden, so dassein dazu ähnliches Dreieck A1B1C1 entsteht (Abb. 1.3): a1 = k a, b1 = k b, c1 =k c. Dreiecke mit konstantem Seitenverhältnis sind ähnlich.Weiter gilt:

AB ∶ A1B1 = AC ∶ A1C1 = BC ∶ B1C1

Verschieben wir die Dreiecke so ineinander, dass die Schenkel eines Dreiecks-winkels mit den Schenkeln des entsprechenden Winkels des anderen Dreieckszur Deckung kommen, dann sind die beiden restlichen Seiten zueinander par-allel, und wir haben die

Strahlensätze: Schneidet man einen Winkel mit zwei parallelen Geraden, so ver-halten sich die Abschnitte AB und AB1 auf dem ersten Winkelschenkel so wiedie zugehörigen Abschnitte AC und AC1 auf dem zweiten Winkelschenkel undauch so wie die entsprechenden Parallelenabschnitte BC und B1C1.

Einer der ältesten Sätze der GeometrieDie heutige Geometrie mit ihren strengen Beweisen geht auf die alten Grie-chen zurück, die den südlichen Mittelmeerraum (von Sizilien über Kleinasienbis Nordägypten) wissenschaftlich dominierten. Ihre Wissenschaftsmetropo-

1.1 Punkte, Geraden und Kreise in der Zeichenebene 5

le war Alexandria im Nildelta. Noch bevor Alexandria griechisch wurde, warThales von Milet (625−585 v.Chr., Kleinasien) in Ägypten gewesen und hat-te von dort viel geometrisches Wissen mitgenommen. Erst die Forderung, fürjeden geometrischen Satz einen streng logischen Beweis zu verlangen, brach-te den wahren Durchbruch in Geometrie und Mathematik. Unter anderembewies Thales den berühmten nach ihm benannten (aber schon viel früherohne Beweis bekannten) Satz:

Satz von Thales: Jeder Winkel im Halbkreis ist ein rechter Winkel. Oder an-ders ausgedrückt: Man sieht einen Kreisdurchmesser aus jedem Kreispunkt unterrechtem Winkel.

Beweis:Wir betrachten wie in Abb. 1.5 ein beliebiges Rechteck ABCD, das per definitio-nem lauter rechte Winkel besitzt (AB ⊥ BC). Die Diagonale AC habe die Länge d.Nun ist klar, dass dieses Rechteck einen „Umkreis“ mit Radius d/2 besitzt, dessenMittelpunkt im Schnitt der Diagonalen liegt. Man sieht somit AC aus B (und na-türlich auch aus D) unter einem rechten Winkel. Betrachten wir nun alle Rechteckemit gleich langer Diagonale d. Immer haben wir dasselbe Ergebnis. Wir können jeeine Diagonale aller Rechtecke und damit auch den stets gleich großen Umkreis zurDeckung bringen. B und D durchlaufen dann den Umkreis. ◾

Dieser Satz ist Grundlage vieler anderer Beweise.

Abb. 1.5 Satz von Thales Abb. 1.6 Peripheriewinkelsatz

Der Satz von Thales ist nur ein Spezialfall des folgenden Sachverhalts:

Peripheriewinkelsatz: Man sieht eine Kreissehne aus jedem Kreispunkt unter glei-chem Winkel bzw. dessen Supplementärwinkel.

Beweis:Betrachten wir ein beliebiges gleichschenkliges Dreieck ABM mit ∠AMB = ϕ.Dann gilt ∠BAM = ∠ABM = ψ = 1/2(180○ − ϕ). Nun zeichnen wir den Kreis um

6 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

M durch A und B und wählen darauf einen beliebigen Punkt C. Dadurch erhaltenwir zwei weitere gleichschenklige Dreiecke AMC und BMC. Bezeichnen δ und ε

die gleichen Winkel dieser Dreiecke, dann haben wir γ = ∠ACB = ε− δ. Die Summealler Winkel im Dreieck ABC ergibt [ψ − δ] + [ε +ψ] + [ε − δ] = 180○. Damit habenwir 2(ε−δ) = ϕ oder γ = ϕ/2 (=konstant). Befindet sich C auf der anderen Seite vonAB, dann gilt für die Winkelsumme im Dreieck ABC [δ−ψ]+[δ+ε]+[ε−ψ] = 180○

und damit γ = δ + ε = 180○ −ϕ/2. ◾

Als Nebenprodukt des Beweises ergibt sich eine oft nützliche

Abwandlung des Peripheriewinkelsatzes: Aus dem Umkreismittelpunkt eines Drei-ecks sieht man jede Dreiecksseite unter doppelt so großem Winkel wie aus demgegenüberliegenden Eckpunkt.

Wir hätten eigentlich den Satz von Thales gar nicht extra beweisen müssen: Er istnur ein Spezialfall des Peripheriewinkelsatzes. Andererseits: Es ist immer ein Vorteil,verschiedene Beweistechniken zu üben. Im mathematischen Werkzeugkasten findenSie einen Beweis des Peripheriewinkelsatzes, der – wie hier der Beweis des Satzes vonThales – eher „kinematisch“ ist: Wenn ein Parameter geändert wird, durchläuft einPunkt eine Kurve, in diesem Fall einen Kreis. Im Kapitel über Kinematik kommenuns solche Überlegungen dann besonders zugute.

Der Kreis tanzt aus der ReiheKreise spielen in der klassischen Geometrie des Euklid eine fundamentaleRolle. Sie haben mit einer Geraden maximal zwei Schnittpunkte gemeinsam(im Fall einer Berührung spricht man von zusammengerückten Punkten).Ebenso haben zwei Kreise nie mehr als zwei Punkte gemeinsam. Dies istfür uns selbstverständlich, und dennoch ist es ganz außergewöhnlich und wirwollen – viel später – auch erklären, warum das so ist. Jedenfalls: Die meistenklassischen Konstruktionen kann man so weit in Teilkonstruktionen zerlegen,dass man immer wieder nur Geraden und Kreise mit anderen Geraden undKreisen schneiden muss. Solche Aufgaben sind dann entweder zur Gänzelinear (wenn keine Kreise vorkommen) oder quadratisch. Die Konstruktioneines Dreiecks, dessen Seitenlängen gegeben sind, ist quadratisch und liefertdementsprechend zwei (gegensinnig kongruente) Lösungen.

Gleichsinnig kongruente Figuren ineinander verdrehtWir brauchen später folgenden wichtigen elementaren Satz:

Zwei beliebige gleichsinnig kongruente Figuren der Ebene können stets durcheine eindeutig definierte Drehung oder eine Translation ineinander übergeführtwerden.

Beweis:Wir wählen auf den Figuren zwei entsprechende kongruente Dreiecke ABC undA∗B∗C∗ (Abb. 1.7 links) und versuchen, diese mittels einer Drehung zur Deckungzu bringen. Um das Drehzentrum zu bestimmen, brauchen wir den Begriff der Mit-

1.2 Besondere Punkte im Dreieck 7

Abb. 1.7 Gleichsinnig kongruente Figuren. Rechts: Bei der zweiteiligen und zweifarbigen Kerzesieht man nicht sofort, dass beide Teile mit derselben Form gegossen wurden.

telsenkrechten (auch Streckensymmetrale genannt). Es ist dies jene Gerade, die imMittelpunkt der Strecke PQ normal zu PQ steht. Sie ist der Ort jener Punkte,die von P und Q gleichen Abstand haben. Sind nämlich ABC und A∗B∗C∗ zweikongruente Dreiecke, dann muss das Drehzentrum gleich weit von A und A∗ ent-fernt sein, also auf der Mittelsenkrechten von AA∗ liegen. Analoges gilt für diePunktepaare B und B∗ bzw. C und C∗.Die Frage ist, ob alle drei Mittelsenkrechten tatsächlich durch einen Punkt Z (dasDrehzentrum) laufen. Sei Z zunächst der Schnittpunkt der ersten beiden Symme-tralen. Dann können wir uns Z mit der Geraden AB fix verbunden vorstellen. DasHilfsdreieck ABZ wird bei der Drehung um den Eckpunkt Z in das Dreieck A∗B∗Z

übergeführt. Nun ist aber auch C mit AB fest verbunden, das heißt, der AbstandCZ ändert sich bei der Drehung nicht. Daher muss Z auch auf der Mittelsenkrechtenvon C und C∗ liegen. Das gilt für alle entsprechenden Punktepaare der kongruentenFiguren. ◾

Abb. 1.8 Spiegelung an einem Punkt bzw. an einer Geraden, Drehung um 180°

Dreht man eine Figur f um das Zentrum Z um 180○, erhält man natürlichauch eine gleichsinnig kongruente Figur f∗, die sich auch als Spiegelbild vonf deuten lässt. Die Punktspiegelungen der Ebene sind also gleichsinnig. ImGegensatz dazu sind die Geradenspiegelungen ungleichsinnig (Abb. 1.8).

8 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

1.2 Besondere Punkte im Dreieck

Jedes „echte“ Dreieck (A, B und C liegen nicht auf einer Geraden) besitzteinen Höhenschnittpunkt, einen Schwerpunkt und einen Umkreismittelpunkt.Dies ist zwar jedem bekannt, der Beweis ist aber gar nicht so einfach zuführen. Am leichtesten sieht man den Umkreismittelpunkt U ein.

Ein Kreis durch drei Punkte

Durch drei Punkte lässt sich ein Kreis festlegen. Anders ausgedrückt: Jedes Drei-eck besitzt einen Umkreis.

Beweis:Wir konstruieren den Mittelpunkt des Umkreises zunächst als Schnittpunkt von zweiMittelsenkrechten: Der Ort jener Punkte, die von A und B gleichen Abstand haben,ist jene Gerade, die im Mittelpunkt MAB der Strecke AB normal zu AB steht.Weiters ist der Ort jener Punkte, die von B und C gleichen Abstand haben, jeneGerade, die im Mittelpunkt MBC der Strecke BC normal zu BC steht. Die beidenMittelsenkrechten haben einen Schnittpunkt U gemeinsam. Nach Konstruktion giltsowohl UA = UB, als auch UB = UC, woraus UA = UC folgt. Das heißt, auch diedritte Mittelsenkrechte muss durch U gehen. ◾

Der Schwerpunkt: Ein physikalisch bedeutsamer PunktSchwerpunkte spielen in der Physik eine besondere Rolle und vereinfachendort viele Überlegungen. Die Existenz eines eindeutig bestimmten Schwer-punkts S im Dreieck ist nicht trivial. Ein vektorieller Beweis für seine Exis-tenz ist in [16] zu finden. Seine Konstruktion hingegen ist überaus einfach:Man braucht nur die Eckpunkte des Dreiecks mit den Mitten der gegenüber-liegenden Seiten zu verbinden und diese Schwerlinien zum Schnitt bringen.Die Bezeichnung Schwerpunkt kommt aus der Physik. Dort unterscheidet man zwi-schen Eckenschwerpunkten, Kantenschwerpunkten und Volumenschwerpunkten. Beiallgemeinen Körpern bzw. Polygonen sind diese Schwerpunkte nicht identisch [16].Beim Dreieck fallen Eckenschwerpunkt und Volumenschwerpunkt zusammen (beiPolygonen mit zentrischer Symmetrie sogar alle Schwerpunkte). Deshalb rechnetman in technischen Anwendungen so gern mit Dreiecken. Im Raum übernehmendiese ausgezeichnete Eigenschaft die Tetraeder bzw. Polyeder mit zentrischer Sym-metrie.

Der Höhenschnittpunkt: Ein geometrisch wichtiger PunktUnter einer Höhe im Dreieck verstehen wir eine Gerade rechtwinklig zu einerDreiecksseite durch den gegenüberliegenden Eckpunkt. Folgende Tatsacheist für viele spätere Überlegungen von Wichtigkeit und – wieder einmal –keineswegs trivial:

Alle drei Höhen eines Dreiecks laufen durch einen Punkt, den Höhenschnittpunkt.

1.2 Besondere Punkte im Dreieck 9

Abb. 1.9 Umkreismittelpunkt, Schwerpunkt, Höhenschnittpunkt, Eulersche Gerade

Beweis:Betrachten wir Abb. 1.9: Die Halbierungspunkte der Dreiecksseiten bilden ein zumgegebenen Dreieck ähnliches Dreieck, weil alle Seiten parallel zu den gegebenenDreiecksseiten sind. Die Mittelsenkrechten des Ausgangsdreiecks schneiden einan-der, wie wir schon bewiesen haben, in einem Punkt. Sie können aber auch als Höhendes soeben definierten kleineren Dreiecks interpretiert werden, weil sie (und das istdie Definition einer „Höhe“) im rechten Winkel auf eine Dreiecksseite stehen unddurch den gegenüberliegenden Eckpunkt gehen. ◾

Dieser Beweis ist elegant, und er hat einen weiteren Vorteil. Aus ihm folgtfast unmittelbar die Existenz der Eulergeraden. (Das ist es, was ich meine,wenn ich sage, dass synthetische Beweise oft den rein analytischen Beweisenvorzuziehen sind.)

Und alle drei Punkte liegen garantiert auf einer Geraden. . .

Abb. 1.9 rechts zeigt, dass sich die Seitenlängen des ursprünglichen DreiecksABC und des rosa eingezeichneten „Mittendreiecks“ MABMBCMCA wie 2 ∶ 1verhalten. Noch mehr: Weil entsprechende Eckpunkte auf Strahlen durch einfestes Zentrum – den Schwerpunkt S – liegen, können sie durch eine zentri-sche Ähnlichkeit ineinander übergeführt werden. Dem Höhenschnittpunkt Hdes großen Dreiecks entspricht bei dieser zentrischen Ähnlichkeit der Höhen-schnittpunkt des kleinen Dreiecks, der wiederum gleichzeitig der Umkreis-mittelpunkt U des Ausgangsdreiecks ist. Die Gerade durch das Zentrum S,die H und U verbindet, ist die Eulersche Gerade. Weiter gilt: HS ∶ SU = 2 ∶ 1.

Der Inkreismittelpunkt – oder: Ein Kreis für drei Tangenten

Die Frage nach einem Kreis, der alle Dreiecksseiten berührt, führt zum In-kreismittelpunkt. Er ergibt sich im Schnitt von mindestens zwei Winkelhal-bierenden (Winkelsymmetralen). Denn jeder Kreis, der zwei Geraden be-rührt, muss seine Mitte auf einer solchen Symmetralen haben. Wenn wir z.B.die Winkelhalbierenden durch A und B geschnitten haben, haben wir einenKreis gefunden, der einerseits AC und AB berührt, andererseits BC undBA, und somit alle drei Seiten. Dann muss sein Mittelpunkt aber auch der

10 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.10 Inkreismittelpunkt, drei Ankreismittelpunkte

dritten Winkelhalbierenden angehören, das heißt, alle Symmetralen laufendurch einen Punkt.Drei Geraden (Tangenten) legen also sicher einen Kreis fest, sofern sie nichtdurch einen gemeinsamen Punkt gehen. Allerdings nicht eindeutig: Wir ha-ben außer Acht gelassen, dass es stets ein Winkelhalbierendenpaar gibt, daseinen rechten Winkel bildet. Wie oft schneiden einander nun diese drei Paare?Wieder genügt es, zwei Paare zur Konstruktion zu verwenden (das dritte Paarliefert keine neuen Lösungen). Das ergibt insgesamt vier Lösungen, nämlichden Inkreis und drei Ankreise. Die Aufgabe, einen Kreis durch drei Tangentenfestzulegen, ist somit nicht eindeutig. Immerhin, es gibt Lösungen, und zwar„endlich viele“. I. Allg. liegen übrigens weder der Inkreismittelpunkt noch dieAnkreismittelpunkte auf der Eulergeraden.

Fehlen noch zwei Angabevarianten für einen Kreis. . .

Abb. 1.11 Sekante und Tangente eines Kreises. . .

Für einige Kreiskonstruktionen ist folgender Satz nützlich:

Für alle Sekanten eines Kreises durch einen festen Punkt ist das Produkt der Ab-stände des Punkts zu den Schnittpunkten konstant. Man spricht von der Potenz

des Punkts bezüglich des Kreises.

1.2 Besondere Punkte im Dreieck 11

Abb. 1.12 Zur Potenz eines Punkts

Beweis:Mit den Bezeichnungen von Abb. 1.12 gilt nachPythagoras m2 + (r2 − x2) = d2, also m2 − x2 =d2 − r2 = konstant. Nun ist aber m2 − x2 =(m+x) ⋅ (m−x) genau das Produkt der Abstän-de zu den Schnittpunkten (die Potenz). Liegt P

außerhalb des Kreises, gibt es berührende Sekan-ten, bei denen die beiden Schnittpunkte zusam-menrücken. Dann wird aus dem Produkt der Ab-stände das Quadrat der Tangentenstrecke. ◾

● Zwei nichttriviale KreiskonstruktionenMan konstruiere einen Kreis k, der durch zwei Punkte P1 und P2 geht undeine gegebene Gerade t berührt bzw. durch einen Punkt P geht und zweigegebene Geraden t1 und t2 berührt.

Lösung :Beginnen wir mit der ersten Angabe (Abb. 1.13): Wir schneiden die Ver-bindungsgerade P1P2 der Angabepunkte mit der gegebenen Tangente t undtragen vom Schnittpunkt Z die Tangentenstrecke (die Potenz von Z bezüg-

lich k)√ZP1 ⋅ZP2 auf, die mithilfe des Kathetensatzes leicht konstruiert

werden kann. Nun haben wir den Berührpunkt T der Tangente t gefunden.Der gesuchte Kreismittelpunkt liegt auf der Berührnormalen und der Mittel-senkrechten von P1 und P2. Wir dürfen die zweite Lösung nicht übersehen:Wir können die Tangentenstrecke nach beiden Seiten auftragen.

Abb. 1.13 2 Punkte + 1 Tangente Abb. 1.14 1 Punkt + 2 Tangenten

Nun zur zweiten Angabe (Abb. 1.14): Der Ort der Mittelpunkte aller Kreise,welche die beiden Tangenten t1 und t2 berühren, ist das Winkelhalbierenden-paar (Abb. 1.14). Die Lösungskreise müssen im selben von t1 und t2 gebil-deten Sektor wie P liegen. Bleibt also eine „Halbgerade“ übrig, auf welcherdie Mittelpunkte der Lösungskreise liegen. Wir zeichnen einen beliebigen Be-rührkreis k von t1 und t2 mit dem Mittelpunkt M auf dieser Halbgeraden. Erist bezüglich Z zu den gesuchten Berührkreisen ähnlich. Dem Punkt P ent-

12 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

sprechen bei der Ähnlichkeit zwei mögliche Punkte P1 oder P2 im Schnitt vonk mit dem Strahl ZP . Die Radialstrahlen MP1 und MP2 gehen in paralleleStrahlen M2P und M1P über. M1 und M2 sind die gesuchten Mittelpunkteder beiden Lösungen k1 und k2. ◾

Wenn Sie jetzt Lust auf mehr Besonderheiten im Zusammenhang mit Drei-ecken und Kreisen haben, sind Sie herzlich eingeladen, sich wenigstens dreivon ihnen zu Gemüte zu führen, nämlich drei interessante Sätze von Feuer-bach, Kiepert und Morley . Sie können an dieser Stelle aber auch zum nächs-ten Abschnitt springen, in dem wir die Zeichenebene kurzfristig verlassen,um entsprechende Begriffe auch im Raum zu erklären.

Ein Kreis durch neun(!) Punkte im DreieckBetrachten wir das Dreieck ABC. Der Schwerpunkt S teilt die Schwerlinienim Verhältnis 2 ∶ 1. Nach dem Satz von Euler gilt für Höhenschnittpunkt H,Schwerpunkt S und Umkreismittelpunkt U eines Dreiecks ABC die Propor-tion SU ∶ SH = 1 ∶ 2. Wenn wir das Dreieck an S spiegeln und im Verhältnis1 ∶ 2 verkleinern, erhalten wir ein gleichsinnig kongruentes Dreieck A2B2C2,dessen Eckpunkte die Halbierungspunkte der Dreiecksseiten sind (Abb. 1.15).Transformiert man auch den Umkreis mit, wird daraus ein Kreis k durch dieseHalbierungspunkte. Dem Umkreismittelpunkt U entspricht der MittelpunktU2 = F des kleineren Kreises. Sei FS = s, dann ist SU = 2s, FU = 3s

und HU = 6s. Es ist damit F der Halbierungspunkt der Strecke HU . Nunkommt die geniale Idee von Feuerbach: Wenn man den Umkreis aus demHöhenschnittpunkt H im Verhältnis 1 ∶ 2 verkleinert (und nicht spiegelt),erhält man denselben Kreis k, weil U nach F kommt.Dem Ausgangsdreieck ABC entspricht bei dieser Verkleinerung ein halb sogroßes Dreieck A3B3C3. k enthält auch diese Punkte. Die Dreiecke A3B3C3

und A2B2C2 sind wegen des gleichen Verkleinerungsfaktors kongruent undbesitzen zueinander parallele Seiten.Die sechs Eckpunkte sind folglich nicht irgendwie am Kreis verteilt, sondernentsprechende Punkte liegen einander gegenüber. Nun wollen wir noch zei-gen, dass auch die Höhenfußpunkte A1, B1 und C1 des Dreiecks ABC aufk liegen: Es gilt nach Definition AA1 ⊥ BC und damit A1A3 ⊥ A1A2, wasbedeutet, dass k Thaleskreis über A3A2 ist und folglich A1 ebenfalls auf kliegt. Analoges gilt für B1 und C1. Damit haben wir sage und schreibe neunPunkte auf dem Kreis gefunden. Nur zur Illustration: Aus der Kombinato-rik wissen wir, dass, wenn man 9 Punkte beliebig wählt, je drei Punkte auf(9 ⋅8 ⋅7)/(3 ⋅2 ⋅1) = 84 Arten zu einem Kreis zusammengefasst werden können.

Die BierdeckelmethodeAus dem obigen Beweis lässt sich ein bemerkenswerter Zusatz ableiten (so-zusagen eine „Draufgabe“): Vergrößern wir den Feuerbach-Kreis k aus demEckpunkt C mit dem Faktor 2, dann gehen die Halbierungspunkte A2 und

1.2 Besondere Punkte im Dreieck 13

Abb. 1.15 Feuerbachkreis durch die Höhenfußpunkte, die Seitenmittelpunkte und die Eckpunktedes aus dem Höhenschnittpunkt um die Hälfte verkleinerten Dreiecks.

B2 in die Eckpunkte A und B über, und C3 in H. Es gibt also einen zumUmkreis kongruenten Kreis, der zwei Dreieckspunkte und den Höhenschnitt-punkt enthält. Das gilt für alle Dreieckspunkte. Wenn Sie also im Gasthaussitzen und wenigstens drei kongruente Bierdeckel vor sich liegen haben, mar-kieren Sie, während Sie auf das Essen warten, drei Punkte ABC am Randeines Deckels (der ist dann der Umkreis) und legen die restlichen beiden Bier-deckel so hin, dass sie durch je zwei Punkte gehen. Der Restschnittpunkt derbeiden Bierdeckel ist der Höhenschnittpunkt.

Ein gravierender Punkt

Denken wir uns wie in Abb. 1.16 drei kleine Löcher in eine Scheibe gebohrt,durch die wir drei am Ende G zusammengebundene gleich lange Fäden zie-hen. (Das von den Löchern gebildete Dreieck darf keinen Winkel haben, dergrößer als 120○ ist.) An die anderen Enden der Fäden hängen wir drei gleichschwere Gewichte. Die Gewichte werden die Fäden sofort so spannen, dassdiese jeweils 120° miteinander bilden: Drei gleich große Kräfte befinden sichdann im Gleichgewicht.Das System versucht dabei, die drei Gewichte in Summe möglichst tief hängenzu lassen. Diese hängen – bei einer Fadenlänge d und den Abständen x, yund z des Punkts G von den Dreieckspunkten A, B und C – in den Tiefend − x, d − y und d − z. Die Summe der Tiefen beträgt somit 3d − (x + y + z).Wenn die Gewichte möglichst tief hängen sollen, muss der Ausdruck x+y+zein Minimum sein. Man könnte G also auch als jenen Punkt definieren, fürden die Summe der Abstände zu den Dreieckspunkten minimal ist.

14 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.16 Der Fermatsche Punkt

Der Punkt G wird sowohl Fermat als auch Steiner zugeschrieben. Man erhältihn konstruktiv entweder im Schnitt von mindestens zwei Peripheriekreisenoder aber ganz einfach, indem man jede Dreiecksseite nach außen zu einemgleichseitigen Dreieck ergänzt und die neuen Punkte X, Y und Z mit dengegenüberliegenden Dreieckspunkten A, B und C verbindet: Der Umkreis desDreiecks ABZ ist nämlich jener Peripheriekreis der Strecke AB, aus dessenPunkten man die Strecke auf der Seite von Z unter 60°, auf der Seite von G

unter dem Supplementärwinkel 180○ − 60○ = 120○ sieht.Dass sich die drei Linien wirklich in einem Punkt schneiden, ist in diesemSpezialfall klar: Wenn ein Punkt G im Schnitt zweier Linien gefunden wur-de, dann sieht man aus ihm zwei Dreiecksseiten unter 120° und damit diedritte automatisch ebenso. Die Summe dieser drei Winkel muss nämlich 360°ergeben.Wir wollen nun eine Verallgemeinerung dieser Methode besprechen.

Wie macht man aus einem allgemeinen Dreieck ein gleichseitiges?

Zwei Dreiecke ABC und XY Z heißen zueinander perspektiv, wenn die Ver-bindungsgeraden AX, BY und CZ durch einen Punkt gehen. Ein auf Kiepertzurückgehender Satz besagt nun (Abb. 1.17 links, ohne Beweis):

Abb. 1.17 Kiepert-Dreieck und Escher -Eidechse

1.2 Besondere Punkte im Dreieck 15

Errichtet man über den Seiten eines beliebigen Dreiecks ABC nach außen(oder innen) gleichschenklige Dreiecke mit demselben Basiswinkel ϕ, so bildendie neuen Eckpunkte XY Z ein Dreieck, das zum Ausgangsdreieck perspektivist. Für ϕ = 30○ ist XY Z gleichseitig.

● Eine originelle Pflasterung

Abb. 1.18 Parkettierung mit einer Escher -Eidechse

Mit gleichseitigen Dreiecken kann man die Ebene „pflastern“. Wenn man –wie M. C. Escher – die Figur Abb. 1.17 geschickt ausfüllt, erhält man eineFigur (Abb. 1.18), die zu einer verblüffenden nichttrivialen Parkettierungführt. Mehr über Parkettierungen ist im Anhang 12 zu finden.

Wie macht man aus einem allgemeinen Dreieck auf eine andereArt ein gleichseitiges?Die Dreiecksgeometrie ist schon ziemlich „ausgereift“. Hier noch eine Sensa-tion zu landen, dürfte nicht einfach sein. Im Jahre 1904 hat der amerikani-sche Mathematiker Frank Morley einen Satz gefunden, der in seiner Ästhe-tik den Elementen Euklids in nichts nachsteht, obwohl er nicht elementar-geometrisch ist, wie wir im Anschluss sehen werden.

Satz von Morley : Wenn man in einem beliebigen Dreieck die Innenwinkel in denEcken drittelt, bilden die Schnittpunkte der jeweils seitenanliegenden Dreitei-lungsgeraden ein gleichseitiges Dreieck.

Beweis:Der folgende Beweis stammt im Wesentlichen von D.J. Newman (1996). Wir zäumendas Pferd von hinten auf, und beginnen mit dem Ergebnis – einem gleichseitigenDreieck XY Z mit Seitenlänge 1. Dann tragen wir, wie in der unteren Figur vonAbb. 1.19, die Winkel u, v und w je zweimal auf. Dabei verlangen wir u+v+w = 4π

3.

Die sich ergebenden Hilfsdreiecke sollten sich nicht überlappen. Sobald wir zeigenkönnen, dass s = s∗ und t = t∗ ist, sind wir praktisch fertig, denn durch Umbenennenlässt sich dann zeigen, dass auch die anderen Winkel gleich sind.Zunächst zeigen wir, dass s + t = s∗ + t∗ gilt:

Dies ergibt sich aus s = π − u −w, t = π − u − v ⇒ s + t = 2π

3− u

16 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.19 Der Satz von Morley. Rechts: Figur zum Beweis.

und s∗ + t∗ = π − (2π − π

3− (v +w)) = 2π

3− u.

Darüber hinaus ergibt sich durch Anwendung des Sinussatzes in den Dreiecken XZB

und XY C1

sin s= d

sinu,

1

sin t= e

sinu⇒ sin s

sin t= e

d

und durch Anwendung des Sinussatzes in BCX

d

sin t∗= e

sin s∗⇒ sin s∗

sin t∗= e

d.

Weil die Sinus-Funktion monoton ist, folgt daraus

s + t = s∗ + t∗ ∧ sin s∗

sin t∗= sin s

sin t⇒ s = s∗ ∧ t = t∗.

Das Dilemma mit der WinkeldreiteilungDer Satz von Morley ist nicht elementar-geometrisch – das haben wir vorhinangedeutet. Das bedeutet, man kann ihn allein mit Zirkel und Lineal nichtüberprüfen oder „nachkonstruieren“. Woran scheitert es?Es geht darum, einen allgemeinen Winkel in drei gleiche Teile zu teilen. DieseAufgabe erfordert mathematisch gesehen die Lösung einer Gleichung drittenGrades. Wir können uns auf den Kopf stellen: Es geht einfach nicht nur mitZirkel und Lineal.Dabei scheint das Problem so einfach! Wie würden Sie einen Winkel kon-struktiv dritteln? Mit dem Geodreieck und einer kurzen Kopfrechnung? Ar-chimedes gab eine Lösung an, mit der man mit ein bisschen Geschick schnelleine grafisch korrekte Lösung findet:Sei ein Winkel α gegeben (Abb. 1.20), etwa durch ein gleichschenkliges Drei-eck AMB. Wir zeichnen um M einen Hilfskreis k (Radius r = AM). Nunmarkiert man sich auf einem Lineal zwei Punkte P und Q im Abstand r undverschiebt das Lineal so, dass P am verlängerten Schenkel AM und Q am

1.2 Besondere Punkte im Dreieck 17

Abb. 1.20 Dreiteilung nach Archimedes

Kreis k wandert. Wenn PQ in der Verlängerung durch B läuft, schließt dieStrecke MQ mit dem Schenkel AM den Winkel ϕ = α/3 ein.

Beweis:Archimedes’ Beweis ist so genial wie einfach: Man erkennt zwei gleichschenkligeDreiecke MBQ und PQM (die gleich langen Schenkel haben dabei die Länge r).Mit ϕ = ∠PMQ ist somit ∠MPQ = ϕ. Der Winkel ∠MQB ist doppelt so groß(2ϕ), weil der dritte Winkel im Dreieck PMQ den Wert 180○ −ϕ−ϕ hat. Damit istaber auch ∠MBQ = 2ϕ und weiter ∠PMB = 180○−ϕ−2ϕ. Der Supplementärwinkelα ist folglich 3ϕ. ◾

Also doch eine Lösung mit Zirkel und Lineal? Nun, ganz sauber ist die Sachenicht: Das Einpassen des Lineals ist keine exakte Konstruktion, sondern eher„Herumprobiererei“. Gehen wir es exakter an: Zeichnen wir alle Lagen desLineals ein, die durch B laufen. Sie erfüllen ein Strahlbüschel. Jeder Strahlhat einen Restschnitt Q mit dem Kreis k. Von dort können wir den Radiusr auftragen und erhalten einen Punkt P . Wenn P auf der Verlängerungvon AM liegt, passt alles. Was ist also der Ort aller Punkte P? Wäre dieOrtslinie ein Kreis oder ein allgemeiner Kegelschnitt, so wäre alles einfach –der Schnitt eines Kegelschnitts mit einer Geraden ist elementar-geometrischzu bestimmen. Leider: Die Kurve ist von höherer Ordnung. Es handelt sichum eine Pascalschnecke (Abb. 1.21 links).

Abb. 1.21 Pascal-Schnecke und Astroide

18 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Ein zweiter Versuch: Wir wählen P am verlängerten Schenkel AM . Dannschlagen wir r von P aus auf dem Kreis k ab (zwei symmetrische Lösungen)und erhalten Q. Die Verlängerung PQ trifft k i. Allg. nicht in B. Wir könnendas mehrfach versuchen. Dabei hüllt PQ eine Kurve ein. Die richtige Lösungist die Tangente aus B an diese Hüllkurve. Vielleicht ist diese Kurve „einfach“?Wieder Pech gehabt! Diesmal liegt eine sogenannte Astroide vor (Abb. 1.21rechts), die ebenfalls von höherer Ordnung ist.An der Winkeldreiteilung haben sich schon viele „die Zähne ausgebissen“.Dabei ist seit Langem bewiesen, dass es keine elementare Lösung geben kann.

FernpunktePunkte können durchaus unendlich weit entfernt sein. In diesem Fall sprichtman von Fernpunkten. (Wenn Sie am Anfang eine nicht unberechtigte Scheuvor diesem Begriff haben, denken Sie sich statt unendlich so etwas wie: einLichtjahr entfernt). Fernpunkte werden oft mit einem u im Index gekenn-zeichnet: Pu ist also, wenn nichts Anderes dazu gesagt wird, ein Fernpunkt.Das klingt jetzt einfacher, als es ist. Welche gedanklichen Schwierigkeiten,aber auch welche Vorteile das bringt, werden wir gleich sehen.Jede Gerade hat einen Fernpunkt. Wieso eigentlich nur einen und nicht zwei?Sie geht doch in beide Richtungen ins Unendliche. Sind das etwa dieselbenPunkte? Ist ein Punkt, der auf einer Geraden ein Lichtjahr in einer Rich-tung entfernt ist, identisch mit jenem Punkt, der in der entgegengesetztenRichtung ein Lichtjahr entfernt ist?Nehmen wir uns ein bisschen Zeit: Denken wir an folgenden einfachen Satz:

• Zwei verschiedene Geraden der Ebene haben immer einen Schnittpunktgemeinsam.

Abb. 1.22 Parallele Geraden schneiden sich „erst im Unendlichen“ – und zwar einmal.

Wenn wir keine Fernpunkte zulassen, müssen wir sofort eine Ausnahme ma-chen: Zwei verschiedene Geraden in der Ebene haben immer einen Schnitt-punkt gemeinsam, vorausgesetzt, sie sind nicht parallel. Seien wir nun prag-matisch und lassen Fernpunkte zu. Dann sagen wir: Zwei parallele Geradenhaben einen Fernpunkt gemeinsam (und nicht zwei, denn sonst hätten wirwieder eine Ausnahme). Wir werden bald sehen, dass es eine sehr einleuch-tende Erklärung gibt, wenn wir das Ganze „von einer höheren Warte“ ausbetrachten. Vorerst merken wir uns:

• Ein Fernpunkt wird durch die Richtung einer Geraden bestimmt. ParalleleGeraden legen denselben Fernpunkt fest.

1.3 Elementarbausteine im Raum 19

Von einer „höheren Warte“ aus betrachtet ist die Sache noch klarer. Dazubrauchen wir aber den Begriff der Ebene, der im nächsten Abschnitt erklärtwird.

1.3 Elementarbausteine im Raum

Wir wollen jetzt den Sprung aus der Zeichenebene in den dreidimensionalenRaum wagen. Das ist kein gefährlicher Schritt, denn wir leben in einem sol-chen Raum, und unser Raumvorstellungsvermögen wird es uns gestatten, dienotwendigen Gedankengänge nachzuvollziehen.Wieder sollen Punkte „unendlich klein“ sein, also keinerlei Ausdehnung ha-ben. Das ist eine philosophische Fragestellung. Die Sterne des Alls habennatürlich eine Ausdehnung. Auf einem Foto aus großer Distanz erscheinensie jedoch punktförmig. Im Übrigen sind die Sterne in Abb. 1.23 Reste vonFeuerwerkskörpern am Silvesterhimmel. . .

Abb. 1.23 „Punkte“ und „Geraden“ im Raum

Punkte können durchaus wieder unendlich weit entfernt sein. Fernpunktewerden mit einem u im Index gekennzeichnet. Die unter Umständen auftre-tenden gedanklichen Schwierigkeiten, aber auch die Vorteile dieser Vereinba-rung werden wir bald erläutern.Unendlich viele Punkte ergeben – in der Zeichenebene geradlinig aneinandergereiht – eine unendlich dünne und gleichzeitig unendlich lange eindimensio-nale Gerade. Man kann auch sagen: Eine Gerade wird durch Verschiebung(Translation) eines Punkts „erzeugt“. Geraden sind unbegrenzt zu denken:Jede Strecke PQ hat eine unendlich lange Trägergerade g = PQ.Im Raum haben wir noch ein drittes Grundelement dazu zu nehmen:

Flächen ohne jede KrümmungIm Umgangssprachlichen bezeichnet eine „Ebene“ etwas Horizontales: DieHochebene von Tibet, die pannonische Tiefebene, usw. Schräge nicht ge-krümmte Flächen werden als „schräge Hanglagen“ oder Ähnliches bezeichnet.Nicht so in der Geometrie: Dort entsteht eine Ebene, wenn wir unendlich vieleparallele Geraden geradlinig aneinander reihen. Man kann auch sagen: Eine

20 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.24 Eine „Ebene“ . . .

Ebene wird durch Verschiebung (Translation) einer Geraden „erzeugt“. Dieerzeugende Gerade und die Richtungsgerade der Translation „spannen dieEbene auf“.

Abb. 1.25 . . . und eine „schiefe Ebene“ im umgangssprachlichen Sinn

Ebenen werden in Europa mit kleinen griechischen Buchstaben α, β, ε, ϕusw. bezeichnet. Das führt manchmal zu einem kleinen Problem mit denBezeichnungen für Winkel, die auch meist mit griechischen Kleinbuchstabenbezeichnet werden: So werden Projektionsebenen gerne mit π bezeichnet, wo-bei das nichts mit der Kreiszahl π = 3,14159 . . . zu tun hat. Trotzdem sollteman bei der Konvention bleiben, denn jede Alternative ist höchstens ver-wirrend (viele griechische Großbuchstaben z.B. sind mit den entsprechendenlateinischen Großbuchstaben identisch, so dass man Ebenen mit Punktenverwechseln könnte).Sei also a die erzeugende Gerade und b eine Richtungsgerade der Translation.a und b haben einen Schnittpunkt S = a ∩ b gemeinsam. Die aufgespannteEbene soll ε = ab heißen. Jede Gerade g, die a und b schneidet, liegt ganz inε, weil sie jede Parallele von a in ε schneidet. Man schreibt g ⊂ ε.In einer Ebene liegen somit unendlich viele Geraden. Jede dieser Geraden legteinen Fernpunkt fest. Was ist nun der Ort aller Fernpunkte? Schneiden wiralle Geraden der Ebene mit einer „fast unendlich weit entfernten Geraden“ u

in derselben Ebene, so liegen die fast unendlich weit entfernten Schnittpunkteauf einer Geraden. Es macht also Sinn, zu definieren:

• Alle Fernpunkte einer Ebene liegen auf einer Geraden, der Ferngeradender Ebene.

1.4 Der euklidische Raum 21

Mit dieser Konvention haben wir nun ohne Ausnahme den Satz:

• Zwei verschiedene Ebenen haben immer eine Schnittgerade gemeinsam.

Jede Ebenenstellung legt eine Ferngerade fest. Im Raum gibt es natürlichunendlich viele solche Stellungen, und es stellt sich die Frage, was die Mengealler dieser Ferngeraden ist. Jetzt wissen wir schon, wie wir vorgehen wer-den: Wir schneiden alle Ebenen des Raums mit einer „fast unendlich weitentfernten Ebene“ ω und erhalten unendlich viele fast unendlich weit ent-fernte Geraden, die nach Definition in ω liegen. Diese Ebene ω wird dann imGrenzfall als Fernebene bezeichnet.Mystisch? Keineswegs! Im nächsten Kapitel über Projektionen werden wir dieFernelemente von einer höheren Warte aus neu überdenken. Dann werden sieuns plötzlich ganz normal erscheinen.Immerhin sind die folgenden Sätze für uns nun schon problemlos verständlich:

• Eine Gerade g hat mit einer Ebene ε immer einen Schnittpunkt S gemein-sam. (Wenn sie ganz in der Ebene liegt, ist natürlich jeder Geradenpunkt„Schnittpunkt“.)

• Drei verschiedene Ebenen ε, ϕ, ψ schneiden einander immer in einemPunkt S = ε ∩ ϕ ∩ ψ. (Wenn der Punkt ein Fernpunkt ist, dann sind dieSchnittgeraden von je zwei Ebenen zueinander parallel.)

• Werden zwei parallele Ebenen ε ∥ ϕ von einer dritten allgemeinen Ebene ψgeschnitten, sind die Schnittgeraden („Spuren“) von ψ zueinander parallel.

Als „Beweis“ könnte man natürlich sagen: „Wie man leicht sieht. . . “

Die schlüssige Beweiskette lautet: Die drei Ebenen ε, ϕ, ψ haben einenFernpunkt gemeinsam, alle Schnittgeraden von je zwei Ebenen müssendurch diesen gehen und daher parallel sein. Die nicht sofort ersichtlicheSchnittgerade ε ∩ϕ ist übrigens die gemeinsame Ferngerade der Ebenen.

1.4 Der euklidische Raum

Wir leben in einem dreidimensionalen Raum und sind i. Allg. auch in der La-ge, recht gut dreidimensional zu denken. Diesen Raum nennen wir „Anschau-ungsraum“. Für uns sind Entfernungen und Winkel von großer Bedeutung.Das Zeichenblatt kann als zweidimensionaler Unterraum des Anschauungs-raums angesehen werden. Im Zweidimensionalen sind wir besonders sattelfest– dort ist alles im wahrsten Sinne des Wortes leicht „zu überblicken“. Wenndas Zeichenblatt astronomische Ausdehnung annimmt, wird es schon kom-plizierter, denn wir befinden uns auf der Erdkugel, und auf deren Oberflächegibt es keine Geraden.

22 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Perfekte Geraden gibt es denn auch nicht in der Natur. Selbst das Lichtbewegt sich, wie wir aus dem Physikunterricht wissen, nicht immer geradlinigfort: Es wird von den Massen der Sterne und Sternsystemen, an denen esvorbei muss, abgelenkt. Man spricht von Gravitationslinsen.Doch bleiben wir „am Boden“, auf dem auch einer der größten Denker allerZeiten, Euklid , gestanden ist. Dieser betrieb vor über 2300 Jahren in Alex-andria eine Schule für Mathematik und fasste im seinem „Elemente“ in 13Kapiteln, die man als „Bücher“ bezeichnet, das mathematisch-geometrischeWissen der damaligen Zeit zusammen. Die Elemente überlebten die Wir-ren der Zeit (unter anderem zwei Brände der Bibliothek von Alexandria)und erschienen – aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt – erstmalsin Druckform in Europa, wo sie fortan bis ins 19. Jahrhundert die Basis dereuropäischen Geometrie darstellten.

Grundbegriffe und AxiomeEuklid definierte zunächst zwei Grundbegriffe, nämlich „Punkte“ und „Ge-raden“, die man durch Wörter wie „liegen“, „zwischen“, „kongruent“, usw.,in Beziehung setzen kann. Dann stellte er sogenannte Axiome der Geometrieauf, also sinnvolle, unmittelbar einsichtige und einander nicht widersprechen-de Regeln, die man definiert und nicht mehr beweisen kann, z.B.: „Zu zweiPunkten gibt es genau eine Gerade, auf der sie liegen“, oder „Von drei Punkteneiner Geraden liegt immer ein einziger zwischen den beiden anderen“.Nun definiert er neue Gebilde (z.B. Kreise), über die man Aussagen tref-fen kann, die ausschließlich mithilfe dieser wenigen Axiome durch logischeSchlüsse bewiesen werden. So wird nach und nach ein Stein auf den anderengesetzt. Dabei ist entscheidend, dass sich auch in der Folge alle Definitionenund Beweise ausschließlich auf bereits gesicherte Erkenntnisse stützen, alsoletzten Endes auf die Grundbegriffe und Axiome zurückführen lassen.Diese für die damalige Zeit bahnbrechende Vorgangsweise war wunderbargeeignet, die damals schon existierenden empirischen Verfahrensregeln derÄgypter und Babylonier zu überprüfen. Dabei ließ sich manche Regel be-weisen (und wurde zum „Satz“), andere stellten sich als mehr oder wenigerbrauchbare Näherung heraus.

Ein Standbein, das doch keines ist

Eines der Axiome von Euklid sagt aus, dass durch einen Punkt außerhalb einergegebenen Geraden nur eine Parallele zu ihr gezogen werden kann. Viele Jahrhun-derte lang versuchten Mathematiker vergeblich, dieses Axiom durch die anderen zubeweisen, es also zum „Satz“ zu machen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde danngezeigt, dass Geometrie auch ohne dieses Axiom möglich ist, wobei einige uns wohlvertraute Sätze aber nicht mehr gelten.Im letzten Abschnitt werden wir mehr über diese Nichteuklidischen Geometrienerfahren. Jedenfalls trifft dieses Axiom unter anderem das Problem mit der Anzahlder Fernpunkte einer Geraden: Wenn wir nicht akzeptieren wollen, dass es nureinen Fernpunkt zu jeder Geradenrichtung gibt, dann bricht die Geometrie desAnschauungsraums bis zu einem gewissen Grad zusammen.

1.4 Der euklidische Raum 23

Die Summe der AbständeWenn wir jene Punkte P der Ebene suchen, die von zwei festen Punkten F1

und F2 vorgegebene Abstände d1 und d2 haben, müssen wir die beiden Kreisek1(F1;d1) und k2(F2;d2) miteinander schneiden. Das ergibt, wie wir wissen,i. Allg. zwei Lösungen oder keine (reelle) Lösung. Wenn einander die beidenKreise berühren, spricht man von einer Doppellösung.Damit können wir auch schon eine Ellipse konstruieren, die als Ort jenerPunkte P aufgefasst werden kann, deren Summe der Abstände von zwei festenPunkten F1 und F2 konstant (= 2a) ist.

Abb. 1.26 Abstandskreis Abb. 1.27 Gärtnerkonstruktion einer Ellipse

Die Hauptscheitel A und B der Kurven entstehen, wenn sich die Abstands-kreise berühren, die Nebenscheitel C und D ergeben sich für gleich großeRadien a. F1 und F2 heißen Brennpunkte der Ellipse. Für die Hyperbel istdie Differenz der Abstände von zwei festen Punkten konstant. Mehr überKegelschnitte erfahren wir in Kapitel 5.

Die Kreise des ApolloniusDie Frage nach jenen Punkten P der Ebene, deren Abstände von zwei festenPunkten F1 und F2 ein festes Verhältnis bilden, führt auf die ApollonischenKreise. Ist das Verhältnis 1 ∶ 1, „entartet“ der Kreis zur Mittelsenkrechten.Eine Gerade kann also als Kreis mit „unendlich weit entferntem Mittelpunkt“interpretiert werden.

Abb. 1.28 Apollonische Kreise Abb. 1.29 Winkelhalbierendenpaar

Die Mittelsenkrechte ist die Menge der Punkte, die von zwei Punkten gleichweit entfernt sind. Dies ist jedem klar, während die Behauptung des Apol-lonius natürlich eines Beweises bedarf. Ein „Vollblutmathematiker“ zeichnet

24 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

sofort ein Koordinatensystem ein, das durch die festen Punkte festgelegt ist:F1(0/0) sei z.B. der Ursprung und F2(d/0) liege auf der Abszisse. Die Be-dingung für einen Punkt P (x/y) der Ebene lautet dann:

PF1 ∶ PF2 =√x2 + y2 ∶ √(x − d)2 + y2 = c = konstant

Quadriert man die Gleichung und formt sie ein bisschen um, hat man dieGleichung eines Kreises mit Mittelpunkt auf der x-Achse vor sich. Elegant,keine Frage. Aber Apollonius von Perge (Kleinasien) kannte im dritten vor-christlichen Jahrhundert solche Rechnungen nicht. Und Apollonius bewiesnicht nur diesen Satz, sondern schrieb in insgesamt acht Bänden grundle-gende Arbeiten über die „Geometrie der Positionen“, insbesondere über dieKegelschnitte (Conica).Zunächst zog er folgenden Satz zu Hilfe:

Die Winkelhalbierenden eines Dreiecks teilen die gegenüberliegende Seite im Ver-hältnis der anliegenden Seiten.

Der Satz ist mit einer entsprechenden Skizze sofort einzusehen (Abb. 1.29). Zunächsterkennt man, dass die beiden Winkelhalbierenden in C einen rechten Winkel bilden,denn sie teilen den Winkel γ und den Supplementärwinkel 180○ − γ und daher istγ/2+(180○−γ)/2 = 90○. Nun zeichnen wir durch einen Dreieckspunkt B die Parallelep zur inneren Symmetrale, die gleichzeitig rechtwinklig zur äußeren Symmetralesteht. p schneidet die Verlängerung von AC in einem Punkt B∗, und das DreieckBCB∗ ist gleichschenklig. Auf der Seite AC ist somit CA = b und CB∗ = a. Durchdie innere Winkelsymmetrale und p wird dieses Teilverhältnis gemäß Strahlensatzauf AB übertragen: AT1 ∶ T1B = b ∶ a. Der Punkt B∗ gelangt dabei nach B, derPunkt C in den Teilungspunkt T1 auf der inneren Winkelhalbierenden, A bleibtfest. Nach dem Strahlensatz ist tatsächlich AT1 ∶ T1B = b ∶ a.Harmonische PunkteDie äußere Winkelhalbierende teilt die Strecke nach analogen Überlegungengenauso, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen:

AT2 ∶ BT2 = b ∶ a bzw. AT2 ∶ T2B = b ∶ (−a)Man sagt, das Punktepaar (A,B) liegt harmonisch zum Punktepaar (T1, T2).Harmonische Punktepaare spielen in der projektiven Geometrie, die wir spä-ter besprechen wollen, eine fundamentale Rolle.Doch wieder zurück zu Apollonius. Den Satz mit den Winkelhalbierendenhätte er vielleicht auch mit dem Sinussatz beweisen können [16], den erwahrscheinlich schon gekannt hat – aber es war nicht notwendig und ging„elementargeometrisch“ vor, was ihm einfach lieber war.Nun verändern wir das Dreieck so, dass a ∶ b konstant bleibt. Dann ändernsich T1 und T2 nicht, und der Thaleskreis bleibt fest. C wandert auf diesemThaleskreis, den wir nun Apollonischen Kreis nennen.

1.4 Der euklidische Raum 25

Abb. 1.30 Beweis des Apollonius

Jetzt ist der Schritt zum ApollonischenKreis nur mehr klein (Abb. 1.30): Wirhaben das Dreieck ABC und die beidenWinkelhalbierenden, die aus AB die Tei-lungspunkte T1 und T2 ausschneiden, undderen Lage ausschließlich vom Verhältnisa ∶ b abhängt. Der rechte Winkel, den diebeiden Winkelhalbierenden bilden, „schreit“nach dem Satz von Thales : C liegt auf demThaleskreis über T1T2.

Bleibt nur noch das ProduktApollonius konnte damit neben der Ellipse (Summe der Abstände von zweifesten Punkten konstant) und der Hyperbel (Absolutbetrag der Differenz derAbstände konstant) auch die Kreise in dieses Schema einordnen (Quotientkonstant). Sicher hat er auch versucht, mit dem Produkt der Abstände zubrauchbaren Ergebnissen zu kommen, doch hier kommt kein so „schönes“Ergebnis heraus (es handelt sich um Kurven vierter Ordnung, die den al-ten Griechen verständlicherweise nicht sehr recht waren: Schließlich gab esdamals keine Computer).

Abb. 1.31 Cassinische Kurven, definiert als Ortaller Punkte mit konstantem Produkt der Ab-stände von zwei festen Punkten. . .

Abb. 1.32 . . . und eine verblüffende Ähnlichkeitbeim Querschnitt eines Kiefernstamms. Man be-trachte auch Abb. 1.7 rechts.

Soll also für die Punkte P das Produkt der Abstände von zwei festen PunktenF1 und F2 konstant sein, haben wir es mit den sogenannten CassinischenKurven zu tun (Abb. 6.62), die wir bei den Torusschnitten wieder antreffenwerden.

Von der Ebene in den RaumAlle bisherigen Abstandsüberlegungen lassen sich in den Raum übertragen,indem wir die Ortskurven um die Achse F1F2 rotieren lassen. Aus Kreisen,deren Mittelpunkte auf der Achse liegen, werden Kugeln. Aus ihren Grenz-fällen (unendlich großer Radius) werden durch Rotation Ebenen rechtwinkligzur Achse.

26 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Schnittpunkte von zwei solchen Kreisen bewegen sich bei der Rotation aufKreisen in Ebenen normal zur Achse. Ellipsen überstreichen Ellipsoide, all-gemeine Kurven allgemeine Drehflächen. Über all diese Flächen werden wirnoch ausführlich sprechen.

Analogien auf der KugelInteressant sind auch die entsprechenden Lösungen auf der Kugel. Fragen wirz.B. nach jenen Punkten auf der Erdoberfläche, die von zwei festen Ortengleichen Abstand haben, müssen wir zwei Kreise auf der Kugel schneiden.Eine analoge Ellipsenkonstruktion führt zu einem sphärischen Kegelschnitt .Für alle Punkte P auf einer solchen Kurve ist die Summe der kürzestenWegstrecken von F1 über P nach F2 gleich lang.

Andere Abstandslinien und AbstandsflächenEs gibt außer den Kreisen bzw. Kugeln noch andere wichtige Abstandskurvenbzw. Abstandsflächen.Bei der Frage, auf welcher Kurve die Punkte P der Ebene liegen müssen,wenn sie von einer gegebenen Geraden f in dieser Ebene festen Normalab-stand d haben, gelangen wir zu einem Parallelenpaar. Durch Rotation derSituation um die Achse f stellt sich ein Drehzylinder um f mit Radius d

ein. Durch Schiebung der ebenen Situation in vertikaler Richtung erhält manAbstandsebenen zur vorgegebenen Ebene ϕ durch f .

Abb. 1.33 Parallelenpaar Abb. 1.34 Winkelhalbierende

Hat man zwei feste nicht parallele Geraden f1 und f2 der Ebene gegebenund sucht nach jenen Punkten P , die von beiden den gleichen Normalab-stand haben, kommt man zum Winkelhalbierendenpaar. Die beiden Winkel-halbierenden w1 und w2 bilden stets einen rechten Winkel: Sei α = ∠f1f2 derWinkel der beiden gegebenen Geraden. Nachdem diese nicht orientiert sind,hätte man genauso β = 180○ − α (den Supplementärwinkel) messen können.Für den Winkel ω = ∠w1w2 gilt nun: ω = α/2+β/2 = α/2+(180○−α)/2 = 90○.Diesmal bringt eine Rotation um eine Achse keinen analogen Satz der Raum-geometrie hervor. Immerhin: wenn wir um eine der Symmetralen, etwa w1

rotieren lassen, liegen die Geraden f1 und f2 auf ein- und demselben Dreh-kegel. Jener Kreis um P , der die beiden Geraden berührt, wird zu einer demKegel berührend eingeschriebenen Kugel, und die beiden Berührnormalenliegen auf einem weiteren Drehkegel, der den ersten längs eines Kreises unterrechtem Winkel durchsetzt.

1.5 Polarität, Dualität und Inversion 27

Interessanter ist die Verschiebung der ebenen Situation längs der Vertikalenzur Trägerebene. Es gibt ihr zufolge ein Paar von Winkelsymmetrieebenen,auf der alle Punkte liegen, die von zwei gegebenen Ebenen gleichen Abstandhaben.Wir sehen schon: Man kann oft aus einem zweidimensionalen Sachverhalt aufAnalogien im Raum schließen.

1.5 Polarität, Dualität und Inversion

Unendlich kann viel bedeutenWir haben schon mehrmals das Wort Dimension angesprochen. Ein Punktist nulldimensional – er hat keinerlei Ausdehnung. Eine Gerade ist eindimen-sional – Ausdehnung ist nur in einer Richtung vorhanden. Eine Ebene istzweidimensional. Man kann sie sich als eine Ansammlung von Punkten undauch als eine Ansammlung von Geraden vorstellen. Versuchen wir einmaleinen Vergleich: Gibt es mehr Punkte oder mehr Geraden in der Ebene?Die Frage scheint zunächst ein bisschen verrückt. Erstens: Warum wollen wirdas wissen, und zweitens: Es ist doch klar, dass es in der Ebene unendlichviele Punkte und auch unendlich viele Geraden gibt. Was wollen wir beimWort unendlich überhaupt noch unterscheiden?Die Beantwortung der Frage führt auf ungeahnte Zusammenhänge. Es lohntsich sehr wohl, über solche vermeintlichen Absurditäten nachzudenken.

Eine enge VerwandtschaftWir definieren folgende geometrische Operation in der Ebene, die wir Pola-rität am Kreis nennen wollen:Wir wählen einen beliebigen, aber festen Kreis k (Abb. 1.35) mit MittelpunktM . Liegt ein Punkt P außerhalb des Kreises, dann gibt es zwei Tangentenan k, die k in zwei Punkten Q und R berühren. Die Verbindungsgeradep = QR ordnen wir dem Punkt P zu: P → p. Sie bildet mit der Verbin-dungsgerade MP einen rechten Winkel: p ⊥ MP . Auch die Umkehrung isteindeutig: Schneidet eine beliebige Gerade p den Kreis in den Punkten Q undR, dann lassen sich in diesen Punkten Tangenten einzeichnen, welche einan-der in einem eindeutig bestimmten Punkt P schneiden: p → P . Wieder giltMP ⊥ p. Die Zuordnung p↔ P ist also umkehrbar eindeutig, und wir spre-chen von Pol und Polare. Sogar Fernpunkte werden erfasst: Sie entsprechenden Durchmessern von k.Auch der Grenzfall, dass P auf dem Kreis k liegt, bereitet keine Schwierigkeit.Dann ist p die Tangente von k in P .Wenn P innerhalb von k liegt, definieren wir die Zuordnung sinnvoll wiefolgt: Wir zeichnen durch P eine Hilfsgerade p∗ ⊥ MP , deren Pol P ∗ istNormalenfußpunkt der gesuchten Gerade p aus M . Geht umgekehrt eine

28 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.35 Polarität in der Ebene

Gerade p an k vorbei, bestimmen wir den Normalenfußpunkt P ∗ von M aufp, dessen Polare p∗ aus MP ∗ den Pol P ausschneidet. Damit lässt sich sogardie Ferngerade der Ebene erfassen. Sie entspricht dem Kreismittelpunkt M .Die Polarität am Kreis garantiert somit lückenlos den eindeutigen Zusam-menhang zwischen Punkten und Geraden der Ebene, und es gibt in der Ebeneexakt gleich viele Punkte wie Geraden.Man spricht daher zu Recht bei einer Ebene sowohl von einem zweidimensio-nalen Punktraum als auch von einem zweidimensionalen Geradenraum. Diebeiden zweidimensionalen Räume nennt man zueinander duale Räume.Man kann den Sachverhalt auch mathematisch beleuchten: Zur Charakterisierungeines Punkts in der Ebene benötigt man zwei Zahlenangaben (z.B. die x-Koordinateund die y-Koordinate), für die Charakterisierung einer Geraden ebenfalls (z.B. denAchsenabschnitt und die Steigung).

Wieder wollen wir Analoges im Raum nachvollziehen (Abb. 1.36). Lassenwir unsere Ebene um die Achse MP rotieren, dann wird aus dem Kreis k

eine Kugel κ, aus den Tangenten an den Kreis entsteht ein Drehkegel, denBerührpunkten Q und R entspricht der Berührkreis des Kegels mit κ, unddessen Trägerebene ist die Polarebene π des Punkts P . Auch die Zuordnungπ → P funktioniert auf diese Weise. Die Polarität an der Kugel κ garantiertwieder die lückenlose Zuordnung zwischen den Punkten und den Ebenen desRaums (selbst die Fernebene wird erfasst: sie entspricht dem Mittelpunkt derKugel). Es gibt somit im Raum gleich viele Punkte wie Ebenen.

Abb. 1.36 Polarität im Raum

Man kann somit den euklidischen Raum sowohl als dreidimensionalen Punkt-raum als auch als dreidimensionalen Ebenenraum auffassen und sagen: Diebeiden Räume sind zueinander dual.

1.5 Polarität, Dualität und Inversion 29

Mathematisch gesehen ist ein Raumpunkt durch drei Zahlenangaben (z.B. seinekartesischen Koordinaten) bestimmt, eine Ebene ebenfalls (z.B. durch die Neigungzur xy-Ebene, die Neigung zur xz-Ebene und den Normalabstand vom Ursprung).Bezeichnet r den Kreisradius, dann gilt rechnerisch nach dem Kathetensatzfür Pol P und seine Polare p ∋ P ∗ gemäß Abb. 1.35 die einfache Beziehung

MP ⋅Mp = r2

Damit lässt sich folgender Satz zeigen:

Wandert ein Punkt A der Ebene auf einer Geraden b, dann durchläuft seinePolare a ein Geradenbüschel durch den Pol B von b. Die Zuordnung Pol↔Polareist somit nicht nur umkehrbar eindeutig, sie ist sogar linear (lineare Scharenentsprechen linearen Scharen).

Abb. 1.37 Zum Beweis Abb. 1.38 Konstruktion des anti-inversen Punkts

Beweis:Sei B ein Pol und b ∋ B∗ seine Polare (Abb. 1.37). Dann gilt MB = r2/Mb. Weiterssei A ein Punkt auf b. Für seine Polare a ∋ A∗ gilt MA = r2/Ma. a schneide denRadialstrahl MB im Abstand x. Die Dreiecke MBA∗ und MAB∗ sind ähnlich; esgilt also

MA ∶MB∗ = x ∶Ma⇒ x = r2/MB∗ =MB

Die Konstruktion der Polaren eines Punkts bezüglich eines Kreises basiert dar-auf, dass wir mit Tangenten an den Kreis arbeiten. Wir mussten unterscheidenzwischen Punkten innerhalb und außerhalb des Kreises. Es gibt eine sehr einfa-che Ersatzkonstruktion, die immer funktioniert: Man konstruiert wie in Abb. 1.38einen Rechtwinkelhaken, der einen zum Punkt P „anti-inversen“ Punkt Pa liefert.Nach dem Höhensatz gilt MP ⋅MPa = r2. Der Punkt braucht also nur noch amKreismittelpunkt gespiegelt zu werden und liegt dann auf der Polaren.

Irgendwie sind uns beim Übergang in den Raum die Geraden verloren gegan-gen. Das wollen wir nachholen. Eine Gerade g im Raum kann als Verbindungzweier Punkte A und B verstanden werden (Abb. 1.36 rechts). Diesen Punk-ten entsprechen die Polarebenen α und β. Betrachten wir nun die Schnitt-gerade g∗ = α ∩ β. Wenn sich die Vermutung bestätigen lässt, dass jedem

30 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

beliebigen Zwischenpunkt C auf g eine Polarebene γ ⊃ g∗ entspricht, machtes Sinn, g und g∗ als polare Gegenstücke zu definieren. Dann entsprechenin der Polarität an der Kugel den Geraden also ebenfalls Geraden, und derGeradenraum ist zu sich selbst dual!Beweis:Wir interpretieren die ebene Situation räumlich. Dann lässt sich der Kreis als Kuge-lumriss deuten. g = AB liegt in der Bildebene, die zugehörigen Polarebenen α undβ sind dann „projizierend“, das heißt, sie erscheinen als Geraden. Ihre Schnittgeradeg∗ steht zur Bildebene rechtwinklig und erscheint als Punkt im Abstand r2/Mg.Dieser Abstand ist für alle Punkte von g gleich. Die Linearität der ebenen Polaritätüberträgt sich somit in den dreidimensionalen Raum! ◾

Das DualitätsprinzipNun erkennen wir folgenden Sachverhalt: Durch Polarisierung an einem Kreisin der Ebene vertauschen sich die Begriffe Punkt und Gerade sowie die Ope-rationen verbinden und schneiden. Enthält ein Satz der ebenen Geometriedaher nur solche Begriffe bzw. Operationen, lässt er sich ohne weiteren Beweisin einen richtigen dualen Satz umwandeln.Ein einfaches Beispiel dazu ist:

• Die Verbindung zweier Punkte ist eine Gerade ↔ Der Schnitt zweier Ge-raden ist ein Punkt.

Analog gilt im Raum: Durch Polarisierung an einer Kugel im Raum wer-den die Begriffe Punkt und Ebene sowie die Operationen verbinden undschneiden vertauscht. Der Begriff Gerade bleibt erhalten. Enthält ein Satzder Raumgeometrie daher nur solche Begriffe bzw. Operationen, lässt er sichohne weiteren Beweis in einen richtigen dualen Satz umwandeln.Sehr einfache Beispiele dazu sind:

• Die Verbindung zweier Punkte ist eine Gerade ↔ Der Schnitt zweier Ebe-nen ist eine Gerade.

• Drei Ebenen schneiden einander in einem Punkt ↔ Drei Punkte „verbun-den“ bilden eine Ebene.

• Liegen zwei Geraden in einer Ebene, dann schneiden sie einander in einemPunkt ↔ Schneiden einander zwei Geraden in einem Punkt, dann liegensie in einer Ebene.

Keineswegs mehr selbstverständlich ist der Satz:

• Raumkurven können durch Bewegung eines Punkts, aber auch durch Be-wegung einer Ebene erzeugt werden.

Wir werden ihn noch des Öfteren brauchen: Er liefert den Schlüssel für diesogenannten abwickelbaren Flächen, die eine immer bedeutendere Rolle inder modernen Architektur spielen.

1.5 Polarität, Dualität und Inversion 31

Unendlich viel und unendlich viel mehr

Mit der Polarität haben wir gezeigt: Es gibt im Raum gleich viele Ebenenwie Punkte. Aus der Mathematik wissen wir, dass in einem rechtwinkligenKoordinatensystem jeder Punkt durch drei Koordinaten beschrieben werdenkann. Deswegen spricht man auch vom dreidimensionalen Raum (jetzt sollteman genauer vom Punktraum sprechen). Daher gibt es dual einen dreidimen-sionalen Ebenenraum. Ist der Geradenraum auch dreidimensional?Betrachten wir einmal jene Geraden, die man aus einem beliebigen Punkt Pdurch die Punkte einer horizontalen Ebene β (P /∈ β) legen kann (Abb. 1.39).Es sind genauso viele Verbindungsgeraden wie es Punkte in dieser Ebene gibt.Zum Vergleich: In Abb. 1.40 gibt es offensichtlich auch genau eine Geradedurch je einen Punkt der Ebene.Lassen wir jetzt das Bündelzentrum P auf einer beliebigen Geraden g ∥ β

wandern, so erhalten wir für jede der unendlich vielen Positionen von P diegleiche Anzahl von Verbindungsgeraden. Alleine diese Anzahl von Geraden– nämlich genau jene Geraden, die g treffen – ist schon gleich groß wie dieAnzahl der Punkte des Raums! Offensichtlich gibt es viel mehr Geraden imRaum als Punkte.

Abb. 1.39 Variation des Bündelzentrums.Durch jeden Punkt P gibt es so viele Geradenwie Punkte in der Ebene.

Abb. 1.40 Eine kleine Auswahl aller Geraden– im konkreten Fall spricht man von einer Gera-den-Kongruenz.

Nun soll das Bündelzentrum P in der ganzen Ebene γ ∥ β variieren können.Dort soll dieser Punkt die zweidimensionalen Koordinaten (u/v) haben. DiePunkte in der Basisebene β ihrerseits haben zweidimensionale Koordinaten(x/y). Für jede Wahl der vier Parameter (u/v/x/y) erhält man eine neueGerade, die mit keiner anderen so definierten Geraden identisch ist. DieseParameter könnte man als Koordinaten in einem vierdimensionalen Koordi-natensystem interpretieren (wie auch immer das aussehen mag: wir könnenes uns nicht vorstellen). Deshalb sagt man: Der Geradenraum ist vierdimen-sional.Das sagt sich leicht, aber man muss es erst einmal verkraften. Es gibt in unseremAnschauungsraum viel mehr Geraden als Punkte und Ebenen! So etwas hat natür-lich Konsequenzen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn manche Dinge, die mitGeraden zu tun haben, in der Geometrie ein bisschen mehr Aufwand erfordern.

32 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

So werden wir z.B. sehen, dass es gar nicht leicht ist, eine allgemein liegende Ge-rade so zu betrachten, dass sie als Punkt erscheint („projizierend“ ist). Auch umsich Drehungen um allgemeine Geraden vorstellen zu können, muss man schon gut„geometrisch trainiert“ sein. Wie leicht hingegen können wir uns die Drehung umeine lotrechte Achse vorstellen!Umso wichtiger ist die Aufgabe der Darstellenden Geometrie, die Dinge durch spe-zielle Ansichten durchschaubarer zu machen. Das ist es, was ich „Reduktion derDimension“ nenne, und die Schulung dieser Fähigkeit ist eines der höchsten Zieleder Raumgeometrie.In der Algebraischen Geometrie zählt man Dimensionen durch „Freiheitsgrade“: DreiPunkte bestimmen im Raum eine Ebene. Jeder Punkt hat auf einer gegebenenEbene zwei Freiheitsgrade. Damit ergibt sich für den Ebenenraum die Dimension3 ⋅ 3 − 3 ⋅ 2 = 3. Analog bestimmen zwei Raumpunkte eine Gerade, wobei jederPunkt auf einer Geraden den Freiheitsgrad 1 besitzt. Damit ist die Dimension desGeradenraums 2 ⋅ 3 − 2 ⋅ 1 = 4.

Inversion – nicht jede Abbildung ist linear

Die Polarität an einem Kreis (M ; r) der Ebene definiert eine lineare Ver-wandtschaft zwischen den Punkten der Ebene und den Geraden der Ebene.Dem Pol P entspricht die Polare p ∋ P ∗, wobei MP ⋅MP ∗ = r2 gilt. Wirkönnen dem Punkt P auch den Punkt P ∗ zuordnen; diese Beziehung nenntman Inversion oder auch Spiegelung am Kreis. Die Zuordnung ist natürlichauch umkehrbar, aber sie ist interessanterweise nicht mehr linear: Wenn P

auf einer Geraden läuft, wandert P ∗ auf einem Kreis.Der Beweis ist mathematisch leicht zu führen und ist im mathematischenWerkzeugkasten angegeben. Ohne jetzt näher darauf einzugehen (wir kom-men später noch darauf zu sprechen): Einer algebraischen Kurve n-ter Ord-nung entspricht bei der Inversion i. Allg. eine Kurve der Ordnung 2n. DieGerade ist von erster Ordnung, Kreise von zweiter Ordnung. Einem Kegel-schnitt entspricht in der Regel eine Kurve vierter Ordnung usw. Deswegennennt man diese Abbildung eine quadratische Abbildung.

Ein unerklärlicher „Ausreißer“Bei der Inversion ist eine Ausnahme bemerkenswert: Einem Kreis entsprichtnicht, wie zu erwarten wäre, eine Kurve vierter Ordnung, sondern wieder einKreis; wenn der Kreis den Kreismittelpunkt M enthält, sogar eine Gerade(der Beweis dafür wird S. 180 nachgeliefert)! So etwas irritiert zunächst: Alsodoch keine quadratische Abbildung?Zur Erklärung dieser Ausnahme müssten wir einen abenteuerlichen „Ausritt“in eine nicht-reelle Welt machen, der aber den Rahmen dieses Buchs sprengt.Jedenfalls ist nach dem „Ausritt“ der vermeintliche Ausreißer wieder unterKontrolle.

1.5 Polarität, Dualität und Inversion 33

Ein Mechanismus zur Realisierung

Die keineswegs selbstverständliche „Kreistreue“ (Kreise entsprechen wieder Kreisen)kann man verwenden, um einen Mechanismus zu basteln, welcher die Inversionautomatisch durchführt (Abb. 1.41).

Abb. 1.41 Inversion am Kreis, Inversor von Peaucellier

Nun kann man sich natürlich auf den Standpunkt „wozu brauche ich das?“ stellen.Also gut: Mithilfe der Inversion kann man z.B. einen Mechanismus bauen, der einereine Drehung in eine exakte Geradführung umwandelt. Dieses Problem ist in derMechanik nicht zu unterschätzen: Eine Rotationsbewegung ist etwas sehr Angeneh-mes: Jeder Motor lässt irgendwie eine Antriebswelle rotieren. Damit soll nun einPunkt geradlinig bewegt werden, ohne dass er längs der Geraden geführt wird. Eingewisser E. Hart löste das Problem mittels Inversion. . .

KugelspiegelungAuch die Inversion lässt sich in den Raum übertragen. Dem Inversionskreisentspricht dann eine Inversionskugel (M ; r). Die Punkte P und P ∗ sind wie-der durch die Beziehung MP ⋅MP ∗ = r2 gekoppelt. P ∗ liegt in der Polarebenevon P . Die Abbildung P → P ∗ ist quadratisch: Ebenen entsprechen also Ku-geln. Der Beweis erfolgt, indem man die ebene Situation Gerade → Kreis umdie Normale auf die Gerade durch den Punkt M rotieren lässt.Flächen n-ter Ordnung (s.S. 138) werden zu Flächen der Ordnung 2n, Kugelnund Ebenen gehen allerdings in Kugeln über, die unter Umständen unendlichgroß sein können („Kugeltreue“; siehe dazu Abb. 6.85).Analog zum Wort Kreisspiegelung könnte man jetzt von einer Kugelspiegelungsprechen, allerdings ist dieses Wort schon „vergeben“.Die physikalische Spiegelung an einem kugelförmigen Spiegel ist übrigens vomWesen her sehr unterschiedlich zur Inversion: Sie bildet den Raum auf dieOberfläche der Kugel ab.

34 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.42 Spiegelung. . . Abb. 1.43 . . . in einer Kugel

Das heißt, es muss der dreidimensionale Raum auf eine zweidimensionaleFläche abgebildet werden, und dieser Dimensionsverlust bedeutet gleichzeitigeinen Informationsverlust: Vom Bild auf der Kugel kann man nicht mehreindeutig auf die Situation im Raum schließen. Die Inversion an der Kugelist hingegen eine umkehrbar eindeutige Punktverwandtschaft im Raum, beider keine Information verloren geht (Abb. 1.44).

PurismusDie alten Griechen betrachteten ein Problem als „exakt lösbar“, wenn man esmit Zirkel und Lineal konstruieren konnte. Das ist eine berechtigte Forderungfür jemanden, der ohne Computer arbeitet. Seit einigen Jahrhunderten kannman nicht nur quadratische Aufgaben, sondern auch Aufgaben dritter undvierter Ordnung exakt über den Umweg ins Komplexe lösen. Alles anderesind Näherungslösungen, die uns der Computer bietet (meinetwegen auf 15Kommastellen genau).Man kann aber noch strenger sein. Welche Aufgaben sind nur mit dem Zirkelallein lösbar? Es lässt sich zeigen, dass jede mit Zirkel und Lineal lösbareAufgabe auch nur mit dem Zirkel allein lösbar ist. Dabei werden die einzelnenSchritte unter Umständen natürlich aufwändiger. Hier sei nur ein Beispielgenannt, das angeblich auf Anregung von Napoleon gelöst und deswegen auchberühmt wurde.Die vermeintlich einfache Aufgabe lautet: Wie kann man von einer vorgege-benen Kreislinie k den Mittelpunkt K bestimmen, wenn man kein Lineal zurHand hat?Mit Zirkel und Lineal dauert die Sache wenige Sekunden: Man wählt zweibeliebige Punkte A und B am Kreis k und schlägt um diese zwei gleich großeKreise a und b. Die Verbindungsgerade der Schnittpunkte von a und b mussdurch den Mittelpunkt gehen. Wiederholt man die Konstruktion, indem man

1.5 Polarität, Dualität und Inversion 35

Abb. 1.44 Inversion einer Drehfläche an einer Kugel

Abb. 1.45 Die Aufgabe von Napoleon samt Anleitung

statt B einen dritten Punkt C wählt, hat man den Mittelpunkt gefunden. Erist natürlich der Umkreismittelpunkt des Dreiecks ABC.Ohne Lineal ist es interessanterweise auch nicht viel schwerer. Man brauchtsechs Kreise, um zum Mittelpunkt zu kommen. Das ist nach einem genauenRezept leicht durchzuführen (Abb. 1.45). Der Beweis dafür ist aber rechtaufwändig: Man braucht dazu viele Eigenschaften, die wir von der Inversionkennen.

● Ein Beweis, der keiner ist oder: die Anschauung kann trügen. . .

Wir haben in diesem Kapitel einige Sätze elementar-geometrisch bewiesen und unsgelegentlich auf die Vorstellungskraft bzw. den Hausverstand berufen. Sehen Siesich folgenden „Beweis“ dafür an, dass „ jeder Winkel ein rechter Winkel ist“. Selbstfür Geübte ist es nicht leicht, den Fehler im Beweis zu finden.

Behauptung : Jeder Winkel der Ebene ist ein rechter Winkel

36 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Beweis:Wir betrachten ein Viereck ABCD mit folgenden Eigenschaften (Abb. 1.46):(1) ∠ABC = 90○, (2) ∠BCD = α /= 90○, (3) AB = CD.

Abb. 1.46 Unser Viereck Abb. 1.47 Der Punkt M

Die Mittelsenkrechten (Streckensymmetralen) m1 und m2 auf BC und AD sindwegen (2) und (3) nicht parallel, schneiden sich daher in einem Punkt M (Abb. 1.47).Wir vergleichen nun die beiden Dreiecke ABM und DMC (Abb. 1.48). Es ist nachVoraussetzung (3) AB = CD und weiter BM = CM (M liegt auf m1) bzw. DM =AM (M liegt auf m2). Die beiden Dreiecke sind somit kongruent und haben gleicheWinkel: α1 = ∠MCD = ∠ABM = α′

1. Weil MBC gleichschenklig ist, gilt weiter

α2 = α′2

und somit α1 + α2 = α = α′1+ α′

2= 90○.

Abb. 1.48 Kongruente Dreiecke Abb. 1.49 M außerhalb

Damit ist der Satz bewiesen, wenn M innerhalb des Vierecks ABCD liegt. DerPunkt kann natürlich auch außerhalb des Vierecks liegen (Abb. 1.49). In diesemFall haben wir wie vorher kongruente Dreiecke ABM und DCM und damit glei-che Winkel ∠DCM = ∠ABM sowie ∠BCM = ∠CBM (das Dreieck MBC istgleichschenklig). Diesmal müssen wir die Differenz der Winkel bilden und erhaltenebenfalls ∠BCD = α = ∠ABC = 90○. ◾

Wie wir sehen: Die Anschauung kann trügen – sogar im Zweidimensionalen!Sie wollen doch sicher den Fehler im Beweis wissen? Sie finden ihn auf der Webseitezum Buch. ◾

1.6 Projektive und Nichteuklidische Geometrie

In diesem Abschnitt sollen die geometrischen Sachverhalte aus einem anderenBlickwinkel betrachtet werden. Dadurch wird z.B. die Projektive Geometriedie Basis für viele neue Erkenntnisse – und für die Erklärung von sonst schwerverständlichen Eigenheiten in der Geometrie.Warum ist z.B. ein Kreis durch drei Punkte festgelegt, eine Parabel durchvier, Ellipse und Hyperbel aber erst durch fünf? Warum haben zwei Krei-se maximal zwei Schnittpunkte, allgemeine Kegelschnitte aber bis zu vierSchnittpunkte gemeinsam?Die Lösung liegt in zweierlei Vereinbarungen begründet: Erstens betrachtetman die Ferngerade der Ebene als keineswegs unerreichbar, und zweitens

1.6 Projektive und Nichteuklidische Geometrie 37

akzeptiert man auch nicht-reelle Elemente der Zeichenebene, insbesonderekonjugiert-komplexe Punkte und Geraden. Das Arbeiten mit Fernelementenkann durch einen „Dimensionssprung“ von der Zeichenebene in den Raumohne Weiteres plausibel gemacht werden. Die „komplexe Erweiterung“ derEbene erfordert aber den Sprung in einen vierdimensionalen Raum, und denkann sich niemand vorstellen.Interessanterweise gibt es aber tatsächlich Geometrien, die sich sehr wohl mithöherdimensionalen Räumen beschäftigen und durchaus wichtige Ergebnissefür die „gewöhnliche“ Geometrie liefern.

Wir verzichten auf Längen und Winkel

Ein sehr wichtiges Teilgebiet der Geometrie ist die sogenannte ProjektiveGeometrie, die insofern unsere gewohnte Geometrie einschränkt, als sie unteranderem auf alle Kongruenzbeziehungen verzichtet. Begriffe wie Länge einerStrecke oder Größe eines Winkels fallen dadurch weg. Deshalb gibt es in derprojektiven Geometrie auch keine Parallelität und keine Sätze wie den pytha-goräischen Lehrsatz oder den Satz vom rechten Winkel aus der DarstellendenGeometrie.Umso wichtiger sind daher die Lagebeziehungen: Liegen drei Punkte auf ei-ner Geraden? Schneiden einander drei Ebenen längs einer Geraden? EtwaigeErgebnisse kann man dann direkt in die Euklidische Geometrie übernehmen,wenn man dort Fernpunkte zulässt, die bekanntlich als Schnittpunkte paral-leler Geraden definiert wurden.In der projektiven Geometrie kommen also nur Begriffe wie Punkt, Gerade,Ebene usw. vor, und ihre Lagebeziehungen wie „liegt auf“ oder „schneidet“.Das erinnert uns sofort an das Dualitätsprinzip, das wir vorher schon bespro-chen haben.

In der projektiven Geometrie gilt zu jedem Satz automatisch (und ohne nötigenBeweis) der duale Satz.

Den Beweis kann man sich deswegen ersparen, weil man nur den Beweis desOriginalsatzes Satz für Satz dualisieren muss.

Der Dimensionssprung

Betrachten wir die euklidische Ebene πe, diesmal „eingebettet“ in den Raum:Sie könnte z.B. der Ort aller Punkte mit Höhe Null sein. Nun projizieren wiralle Elemente dieser Ebene aus einem Zentrum Z, das nicht in der Ebeneliegt, etwa einen Punkt auf der z-Achse, der nicht der Ursprung ist.Aus Punkten werden durch die Projektion Projektionsstrahlen durch Z, ausGeraden Projektionsebenen. Die neuen Elemente gehören einem Bündel mitBündelscheitel Z an. Aus der ebenen Geometrie wird somit eine Bündelgeo-metrie im Raum.

38 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.50 Wir weichen in den Raum aus

Um die Sache wieder planimetrisch zu erfassen, schneiden wir das Bündel miteiner beliebigen Ebene π, die nicht gerade durch Z geht. Jetzt entsprechenPunkten in πe wieder Punkten in π und Geraden in πe wieder Geraden in π.

Punktreihen und GeradenbüschelLäuft ein Punkt Pe in πe auf einer Geraden ge, dann läuft der zugehörigeBündelstrahl in einer Projektionsebene γ und damit in π der entsprechendePunkt P auf einer Geraden g = π ∩ γ. Das Ganze funktioniert eindeutig inbeide Richtungen. Analog (dual) entsprechen einander Geradenbüschel in πeund π.Die beiden „Felder“ πe und π sind somit vermöge Z perspektiv kollinear auf-einander bezogen. Die Abbildung πe ↦ π heißt perspektive Kollineation, dasZentrum Z Kollineationszentrum und die Schnittgerade a = πe ∩ π Kollinea-tionsachse.

Projektivität = wechselweise LinearitätIn einem letzten Schritt lösen wir uns wieder von der Vorstellung, dass wirin den Raum ausgewichen sind. Wir „vereinigen“ die beiden Ebenen wieder,indem wir sie irgendwie nebeneinander positionieren. Die wechselweise lineareBeziehung (Kollineation) zwischen den beiden Feldern bleibt dabei erhalten,nur haben wir i. Allg. kein Kollineationszentrum und keine Kollineationsachsemehr. Wenn wir in der euklidischen Ebene arbeiten, betreiben wir EuklidischeGeometrie, und wenn wir in der projektiven Ebene Überlegungen anstellen,betreiben wir Projektive Geometrie.

Kegelschnitt bleibt KegelschnittEinem Kreis ke in der euklidischen Ebene πe entspricht im Bündel durch Z

ein i. Allg. schiefer Kreiskegel, also ein quadratischer Kegel. Gefühlsmäßigwürde man sagen, der Kegel ist elliptisch. Wenn die kollineare Schnittebeneπ aber „steil genug“ ist, kann durchaus eine Schnitthyperbel bzw. im Grenz-fall eine Schnittparabel entstehen. Dann würden wir womöglich von einemhyperbolischen bzw. parabolischen Kegel sprechen – obwohl es immer der-selbe Kegel ist. Also sagen wir einfach, der Kegel ist quadratisch, was mit

1.6 Projektive und Nichteuklidische Geometrie 39

Abb. 1.51 Schnitte eines Drehkegels

seiner algebraischen Eigenschaft zu tun hat, immer zwei Schnittpunkte miteiner beliebigen Testgeraden zu haben (wenn man auch nicht-reelle Lösungenzulässt und Berührungen doppelt zählt).

Abb. 1.52 Allgemeine quadratische Kegel

Es gibt auch im Euklidischen keine elliptischen, hyperbolischen oder parabolischenKegel, sondern nur quadratische Kegel. In der projektiven Geometrie brauchtman daher erst recht keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten vonKegelschnitten zu machen.

Die Ferngerade wird jetzt „ganz normal“Gibt es wirklich keine Möglichkeit, die einzelnen Arten von Kegelschnittenauseinander zu halten? Was ist planimetrisch gesehen der Unterschied zwi-schen Ellipse, Hyperbel und Parabel? Es geht offensichtlich um die Anzahlder Fernpunkte: Eine Hyperbel hat genau zwei, eine Parabel genau einen undeine Ellipse keinen reellen Fernpunkt.Die euklidische Ebene hat unendlich viele „unendlich ferne Punkte“ – zujeder beliebigen Geradenrichtung gibt es einen Fernpunkt. Wir haben imersten Kapitel gesagt, dass wir uns darauf einigen, dass jede Gerade nureinen Fernpunkt hat, obwohl es genau so gut zwei sein könnten. Das wirdsich jetzt gleich als sehr vernünftig erweisen.Wenn wir alle diese Geradenrichtungen nun durch Z parallel verschieben, bil-den sie eine zu πe parallele Ebene. Diese schneidet π in einer „ganz normalen“Geraden u (wenn π nicht parallel zu πe ist), dem Bild der Ferngeraden vonπe. Die Richtung zu einem beliebigen Fernpunkt Ue der euklidischen Ebene

40 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

Abb. 1.53 Die drei Arten von Kegelschnitten Abb. 1.54 So kommt man zur Ferngeraden

ist nach Konstruktion parallel zum Bündelstrahl ZUe, und dieser schneidetdie projektive Ebene π in einem Punkt U auf dem Bild der Ferngeraden u

(Abb. 1.54).Abb. 1.53 zeigt nun symbolisch, wie wir die drei Arten von Kegelschnittenauseinander halten können: Durch ihre Lage zu einer gewöhnlichen Gera-den u. . .

Nichteuklidische Geometrie

Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten über die Geometrie Euklidsgesprochen, die im Wesentlichen noch immer „unsere“ gewohnte Geometrieist. Sie gründet sich auf ein Axiomensystem, also eine Anzahl von nahe lie-genden Annahmen, die nicht weiter begründet werden.Theoretisch kann man nun versuchen, neue Geometrien zu erschaffen, diesich auf andere Axiome gründen. Allerdings hat man die enorme Einschrän-kung, dass das Axiomensystem widerspruchsfrei sein muss. Es darf also nichtmöglich sein, aus dem System einen Satz und gleichzeitig sein Gegenteil zubeweisen.Tatsächlich hat man schon eine Reihe solcher Axiomensysteme gefunden. Diezugehörigen Geometrien sind – wie die Euklidische – ein Spiel mit den Grund-begriffen und den Axiomen als Spielregeln. So faszinierend dieses Spiel seinmag: Wenn die in Frage stehende Geometrie in krassem Gegensatz zu unse-ren gewohnten Vorstellungen steht, und wenn daraus keine erwähnenswertenErgebnisse abgeleitet werden können, wird sie unbedeutend bleiben.Das Axiomensystem Euklids hatte einen „Stein des Anstoßes“, nämlich dasschon erwähnte

Parallelen-Postulat: In der Ebene gibt es durch jeden Punkt genau eine Gerade,die zu einer vorgegebenen (den Punkt nicht enthaltenden) Geraden „parallel“ ist.

Viele Jahrhunderte zweifelte niemand an dieser für unsere Anschauung voll-kommen verständlichen Aussage. Andererseits gelang es einfach nicht, dieAussage mittels der anderen Axiome zu beweisen, so dass man das Postulatals Axiom belassen musste.

1.6 Projektive und Nichteuklidische Geometrie 41

Schließlich erkannten Gauß , Lobatschewskij und Bolyai fast zeitgleich, dassman es durch gegenteilige Axiome ersetzen konnte, ohne dass das Axio-mensystem widersprüchlich wurde. Die so entstehenden Geometrien wurdenNichteuklidische Geometrien genannt.Im Wesentlichen unterscheidet man zwei Arten von Nichteuklidischen Geo-metrien: Die hyperbolische Geometrie, bei der es zu jedem Punkt unendlichviele Parallelen gibt, und die von Riemann etwas später entdeckte elliptischeGeometrie, bei der es überhaupt keine Parallelen gibt.

Was soll daran so faszinierend sein?Das Faszinierende an diesen Geometrien ist, dass sie mit dem Parallelenbegriff spie-len – und damit mit dem Begriff des Unendlichen. „Lokal gesehen“ unterscheidetsich „unsere“ Euklidische Geometrie nämlich kaum von den Nichteuklidischen Geo-metrien. Ein Wesen, das in seiner Welt lebt und sich nicht um Dinge kümmert, dieweit weg von ihm passieren, ist sich also der Problematik nicht bewusst. Deswegenist es nicht verwunderlich, dass die moderne Physik, die „wilde Theorien“ über Ent-stehung und Ausdehnung des Universums entwickelt, sich sehr für diese Geometrieninteressiert.Außerdem werden wir gleich sehen, dass beim Blick „von einer höheren Warte“ dieDinge wieder „ganz normal“ werden: Projiziert man etwa die Elemente der ellipti-schen Ebene aus einem Punkt außerhalb dieser Ebene, erhält man die euklidischeBündelgeometrie, die uns völlig geläufig ist. Schneidet man die Bündelstrahlen miteiner Kugel um das Projektionszentrum, dann hat man es mit euklidischer Kugel-geometrie zu tun (Abb. 1.55).Projiziert man die Elemente der hyperbolischen Ebene auf eine über sie gestülpteKugel, kann man dort wieder viel gewohnter, nämlich euklidisch, denken. Der Kugel-rand ist eine nicht überschreitbare Grenze für hyperbolische Wesen. Einer Geradender hyperbolischen Ebene entspricht ein projizierender Kreis auf der Kugel. Er hatzwei Schnittpunkte mit dem Weltenrand, also zwei „Fernpunkte“. Durch einen be-liebigen Punkt der Kugel gibt es nun zwei verschiedene projizierende Kreise durchdiese Fernpunkte. Aber auch jeder Punkt der Geraden außerhalb der Kugel ist un-erreichbar, also Fernpunkt. Damit sind alle Geraden, die in einem ganzen Sektorliegen, im hyperbolischen Sinn parallel zueinander.Wenn wir jetzt einen Dimensionssprung machen und die Verhältnisse im dreidimen-sionalen Nichteuklidischen Raum betrachten, sind wir fast bei Ideen eines StevenHawking gelandet, der von für uns unvorstellbaren Dingen im Weltraum redet, dieaus einer höheren Dimension betrachtet nichts Ungewöhnliches wären.

Geometrie auf der KugelBetreiben wir Nichteuklidische Geometrie auf der Oberfläche einer Kugel.Wir definieren „Geradenstücke“ als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punk-ten (also Großkreise als geodätische Linien). Der Äquator und alle Längen-kreise sind damit „Geraden“, allgemeine Breitenkreise aber nicht. Mithilfesolcher Geraden lassen sich nun beispielsweise Dreiecke definieren. Auf dieseWeise kann man auf einer Kugeloberfläche genauso Geometrie betreiben wiein einer Ebene. So ein Kugeldreieck hat allerdings immer eine Winkelsum-me, die größer als 180° ist. Es gelten nämlich alle euklidischen Axiome bisauf das Parallelenaxiom: Auf einer Kugeloberfläche haben zwei verschiedene

42 1 Eine idealisierte Welt aus einfachen Bausteinen

beliebige Geraden (Großkreise) immer zwei gemeinsame Punkte, können alsonie „parallel“ sein.

S1P + ⌢S2P = konstant

α

α

Abb. 1.55 Links: Kugelmodell der elliptischen Ebene (Winkelmessung). Rechts: Auf der Kugelkann man genauso konstruieren wie in der Ebene. Dabei betreibt man nicht-euklidische Geometrie.Speziell wird hier die „Gärtnerkonstruktion“ (Abb. 1.26) nachvollzogen und es ergibt sich einsphärischer Kegelschnitt. Es lässt sich zeigen, dass die Tangenten der Kurve wie in der Ebene denWinkel der Leitstrahlen halbieren. Die Punkte S1 und S2 können daher ebenfalls als Brennpunktebezeichnet werden: das Strahlenbüschel durch den einen Punkt wird in ein Strahlenbüschel durchden anderen Punkt reflektiert.

Die Krümmung des RaumsEine Dimension höher sind wir in unserem Weltall gelandet. So wie ein „Ku-gelbewohner“ nicht unmittelbar feststellen kann, dass „seine“ Geraden eigent-lich gekrümmt sind (siehe dazu Anwendung S. 209), wissen wir nicht, wasunsere Geraden (=Lichtstrahlen) à la longue machen! Aus der modernen Phy-sik wissen wir, dass Licht von großen Massen abgelenkt wird (insbesonderevon schwarzen Löchern sogar „verschluckt“ wird). In der Nähe von großenMassen ist unser Raum also auf jeden Fall gekrümmt – und damit Nichteu-klidisch. Seit Einstein und seiner allgemeinen Relativitätstheorie müssen wirdie Dinge also anders betrachten.Die Frage, ob das Weltall als Ganzes Nichteuklidisch ist, ist noch nicht endgültigbeantwortet. Sobald die Astrophysiker diese Frage geklärt haben werden, ergibtsich automatisch eine Antwort auf ein scheinbar davon unabhängiges Problem: Wirdunser Universum, das mit dem Urknall (Big Bang) entstanden ist, in ferner Zukunftwieder in sich zusammenstürzen (Big Crunch)?Interessanterweise scheint die Beantwortung dieser Fragen auf die Ermittlung derMasse der sogenannten Neutrinos hinauszulaufen. Neutrinos sind unvorstellbar klei-ne Teilchen, die fast mit Lichtgeschwindigkeit durch das All kreuzen und dabei mü-helos Massen durchdringen können. Es scheint also die Frage nach dem Größtendirekt mit der Frage nach dem Kleinsten in Verbindung zu stehen. . .

2 Projektionen und Schatten:Die Reduktion der Dimension

In diesem Kapitel geht es umdie Projektion des Raums in eineEbene.Eine solche Projektion liegtder Perspektive, die in der Re-naissance erforscht wurde, zuGrunde. Mit dieser Abbildungs-methode werden die Dinge wohlrecht anschaulich, aber keines-wegs einfacher. Die klassischeDarstellende Geometrie hingegen,Ende des 18. Jahrhunderts be-gründet, verwendet ganz spezielleProjektionen.

Es sind dies insbesondere Normalprojektionen in den „Hauptrichtungen“. Die-ser gezielte Dimensionssprung kann oft helfen, Probleme wesentlich einfacherzu lösen.Schatten machen Darstellungen nicht nur interessanter, sie stellen auch ei-ne Zusatzinformation dar: Während man das Abbild einer Raumsituationim Regelfall nicht eindeutig rekonstruieren kann, ist dies bei Kenntnis vonSchatten viel eher möglich.Eines der Ziele der Darstellenden Geometrie ist es, räumliche Objekte durchi. Allg. zwei „zugeordnete“ Normalprojektionen abzubilden, dort nach wohlerprobten Regeln zu manipulieren (z.B. zu drehen) oder einfach besser zuerfassen (z.B. Winkel- oder Streckenmessungen durchzuführen), und – wennnötig – die Objekte wieder im Raum zu rekonstruieren.

Überblick2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion . . . 48

2.3 Zugeordnete Normalrisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel . . . . . . . . . . . . . 63

2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

44 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion

Die Punkte des Raums werden in eine Ebene gedrängtDenken wir uns im Raum eine beliebige, aber feste Ebene π, die eine Pro-jektionsebene oder Bildebene sein soll, und einen nicht in π gelegenen PunktZ /∈ π, der das Projektionszentrum darstellt. Die Gerade p = ZP durch einenbeliebigen Raumpunkt P nennen wir Projektionsstrahl. Klarerweise darf Pnicht mit dem Zentrum zusammenfallen (P /= Z). Im Schnitt von p mit derBildebene ergibt sich die Projektion P c (der Bildpunkt oder Riss) von P .Für diese Vorschrift spielt es keine Rolle, ob der Punkt vor oder hinter derBildebene, ob er vor oder gar hinter dem Projektionszentrum liegt. Es habenohnehin alle Punkte auf ein- und demselben Projektionsstrahl dasselbe Bild!Wie sonst könnte man den gesamten Raum in eine Ebene zwängen?

Abb. 2.1 Zentralprojektion von Punkten mit Sehkegel bzw. Sehpyramide

Die Fotografie ist im Wesentlichen eine Zentralprojektion. Bei ihr liegt dasAuge (das optische Zentrum der Linse) zwischen Objekt und Bildebene (derlichtempfindlichen Schicht).Bedingt durch den beschränkten Öffnungswinkel des Objektivs werden nurPunkte innerhalb eines vor dem Objektiv befindlichen „Sehkegels“ abgebildet.Bedingt durch die Rechtecksform des Negativs (bzw. des lichtempfindlichenChips) reduziert sich der Kegel sogar auf einen Pyramidenstumpf („Sehpyra-mide“).

Abb. 2.2 Fernpunkte werden bei der Zentralprojektion zu gewöhnlichen Punkten (links). Ausnah-me: Die Fernpunkte der Bildebene sind mit ihren Projektionen identisch, bleiben also fix (rechts).

2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion 45

Unendlich ferne Punkte sind ganz normalWenn wir nicht gerade Pech haben, schneidet der Projektionsstrahl p dieBildebene in einem „ganz gewöhnlichen Punkt“ P c = p∩π. Diese Abbildungs-vorschrift funktioniert auch für Fernpunkte. Fernpunkte Pu werden durcheine Geradenrichtung vorgegeben: Der Projektionsstrahl p ist dann einfachparallel zu dieser Richtung und wird die Bildebene in einem Punkt P c

u schnei-den, der nicht mehr im Unendlichen liegt (Abb. 2.2 links). Eine Ausnahmebilden die Fernpunkte der Bildebene, die, weil sie in π liegen, nicht mehr pro-jiziert werden müssen und deren Bilder daher auch Fernpunkte sind (Abb. 2.2rechts).

Punkte können „verschwinden“Wenn wir Pech haben, liegt der Projektionsstrahl p zufällig parallel zur Bild-ebene. Dann landet das Bild des Punkts im Unendlichen, obwohl der Punktselbst keineswegs ein Fernpunkt sein muss: Er braucht nur in jener Ebene πvliegen, die das Zentrum Z enthält und parallel zu π liegt (πv ∥ π, πv ∋ Z). Einsolcher Punkt heißt Verschwindungspunkt, die Ebene πv Verschwindungsebe-ne (Abb. 2.2 rechts).Wir sehen also: Alle Raumpunkte (auch Fernpunkte), die nicht in der Ver-schwindungsebene liegen, haben Bilder, die keine Fernpunkte sind.

Was passiert mit Geraden?Bilden wir als nächstes eine Gerade des Raums ab. Das geht natürlich so,dass wir alle ihre Punkte abbilden. Nun werden Sie mit Recht vermuten, dasses genügt, zwei Punkte A und B einer Geraden g abzubilden, um dann dieVerbindungsgerade der projizierten Punkte als Bild der ganzen Geraden zuerhalten: gc = AcBc. Das lässt sich auch leicht beweisen: Die Projektions-strahlen durch alle Punkte von g bilden die Verbindungsebene Zg, welchedie Bildebene π tatsächlich längs einer Geraden schneidet: gc = (Zg) ∩ π.

Eine lineare AbbildungDie Zentralprojektion ist demnach „geradentreu“. Das verwundert uns nicht,denn von der Fotografie wissen wir: Auf Fotos erscheinen gerade Häuserkan-ten und Fußbodenleisten geradlinig, und da wir täglich hunderte Fotografienin Büchern und Zeitschriften sehen, erscheint uns das „natürlich“. Was daranwirklich „natürlich“ ist, werden wir in einem eigenen Kapitel über Perspektivenoch genau zu besprechen haben.Jedenfalls ist die Zentralprojektion „einfach“, weil sie linear ist, also geraden-treu. Wir hatten schon einmal eine lineare Abbildung, nämlich die Polaritätam Kreis bzw. der Kugel. Während dort aber Punkte in Geraden bzw. Ebe-nen transformiert werden, entsprechen bei der Zentralprojektion Punkte undGeraden des Raums wieder Punkte und Geraden der Bildebene.

Die Abbildung funktioniert nur in eine RichtungEs gibt noch einen großen Unterschied zur Polarität: Letztere funktioniertanstandslos in beide Richtungen. Die Zentralprojektion ist jedoch nicht rück-

46 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

gängig zu machen. Mit anderen Worten: Aus einem Foto lässt sich ein Raum-objekt nicht „rekonstruieren“ (Abb. 2.3 links). Da muss man zusätzliche Da-ten haben, also z.B. wissen, dass das Objekt im Raum ein Quader ist; dannist das Objekt bis auf einen Größenmaßstab bestimmt (Abb. 2.3 rechts).

Abb. 2.3 Zweimal zwei Objekte mit identischer Projektion

Tatsächlich ist gerade in neuester Zeit das Problem des „3D-Scannens“ hochaktuell (und noch nicht restlos zufrieden stellend gelöst). Oft wird dabei einObjekt mittels Laserstrahlen erfasst, wodurch neben der gewöhnlichen geo-metrischen Projektion die Abstände vom Projektionszentrum automatischermittelt werden. Bei riesigen Objekten (wie sie bei Flugaufnahmen vorkom-men) oder mikroskopisch kleinen Objekten ist diese Methode problematisch,und man muss mehrere qualitativ hochwertige fotografische Aufnahmen zurVerfügung haben, um mit ausreichender Sicherheit und Genauigkeit kompli-zierte Gebilde rekonstruieren zu können.

Aus meiner Perspektive. . .Die Zentralprojektion wird uns noch viel mehr in Kapitel 9 (mit der gängigenBezeichnung Perspektive) beschäftigen. Sie ist in der Malerei und Architekturvon größter Bedeutung. Die meisten Menschen fühlen sich von interessantenperspektivischen Bildern angesprochen. Das hängt wohl damit zusammen,dass die Perspektive einen sehr subjektiven und damit persönlichen Eindruckvermittelt. Schließlich sagt man auch: „Aus meiner Perspektive sehe ich dasso und so.“

Fernelemente näher betrachtetDie Zentralprojektion vermittelt auch den Zusammenhang zwischen der eu-klidischen und der Projektiven Geometrie, in der man ganz andere Regelnaufstellen muss.Allein schon die Tatsache, dass man mithilfe der Zentralprojektion Fernpunk-te und Ferngeraden in die Zeichenebene „hereinholen“ kann, ist faszinierend.Nun wird erneut klar, wie sinnvoll es ist, einer Geraden nur einen Fernpunktzuzusprechen (in der Zentralprojektion wird das ein gewöhnlicher Punkt aufder Geraden). Auch der Begriff der Ferngerade einer Ebene wird nun leichtverständlich: Projiziert man alle unendlich fernen Punkte einer nicht zur Bil-debene parallelen Ebene ε, dann liegen die Projektionsstrahlen alle in einerzu ε parallelen Ebene ε durch das Zentrum Z. Sie schneidet die Bildebene ineiner gewöhnlichen („endlichen“) Geraden.

2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion 47

Ebenen zentral projiziertDen Begriff Fernebene können wir mit der Zentralprojektion nicht so leichtplausibel machen. Das hängt damit zusammen, dass man eine Ebene zwarPunkt für Punkt problemlos abbilden kann, dass aber die Bildpunkte i. Allg.die gesamte Bildebene füllen. Ausnahmen bilden nur jene Ebenen, die dasZentrum Z beinhalten: Sie enthalten unendlich viele Projektionsstrahlen, dieihrerseits einen einzigen Bildpunkt haben („projizierend erscheinen“).

Abb. 2.4 Parallelbeleuchtung (Untersicht auf ein Zeltdach)

Zentral beleuchtet

Stillschweigend haben wir uns statt des Projektionszentrums immer einen „Aug-punkt“ bzw. ein Sehzentrum gedacht. Zentralprojektionen treten aber auch häufigbei Schatten auf. Die Lichtquelle darf nicht unendlich weit entfernt sein (Sonneund Mond scheiden dadurch aus). Außerdem sind viele „endliche“ Lichtquellen nurgroßzügig betrachtet als punktförmig zu bezeichnen.

Abb. 2.5 Zweischaliges Drehhyperboloid in Theorie und Praxis

Nicht einmal ein kegelförmiger Lichtspot liefert ausschließlich Lichtstrahlen, die voneinem punktförmigen Zentrum ausgehen. Dazu braucht man schon ein sogenanntes

48 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

zweischaliges Drehhyperboloid (Abb. 2.5), das wir später noch besprechen werden.Immerhin gilt: Jede endliche punktförmige Lichtquelle vermittelt auf einer Schir-mebene (=schattenempfangende Ebene) eine Zentralprojektion des Raums.

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektionbzw. Normalprojektion

Die Zentralprojektion ist im Wesentlichen eine Fotografie des Raums. Jeweiter das Linsenzentrum (geometrisch gesehen das Projektionszentrum, derAugpunkt oder die Lichtquelle) entfernt ist, desto eher sind die Sehstrahlen(Projektionsstrahlen, Lichtstrahlen) parallel. Abb. 2.8 zeigt eine Flugaufnah-me, bei der die Distanz naturgemäß schon recht groß ist.

Abb. 2.6 Schiefe Parallelprojektionen. . . Abb. 2.7 . . . bzw. Normalprojektionen

Wenn das Projektionszentrum (Augpunkt oder Lichtquelle) ein Fernpunktist, gelten natürlich noch immer alle Regeln der Zentralprojektion. Die Seh-strahlen bzw. Lichtstrahlen sind dann allerdings parallel, und daraus resul-tiert eine wichtige Eigenschaft:

Die Parallelprojektion ist parallelentreu, das heißt, wenn zwei Geraden im Raumparallel sind, dann sind auch ihre Projektionen parallel (sofern sie nicht projizie-rend sind).

Beweis:Seien a ∥ b zwei parallele Geraden im Raum. Alle Projektionsstrahlen durch diePunkte von a bzw. b bilden zwei parallele Ebenen α und β. Diese beiden Ebenensind mit der Projektionsebene π zu schneiden. Die drei Ebenen α, β und π habeneinen Fernpunkt U gemeinsam, und der bleibt bei der Projektion fest, weil er schonin π liegt. Die Bildgeraden ap = α ∩ π und bp = β ∩ π gehen durch U , sind alsoparallel. ◾

Die Umkehrung des Satzes gilt natürlich nicht :Sind zwei Geraden im Bild parallel, heißt das noch lange nicht, dass die Ge-raden im Raum parallel sind.

Aus der Parallelentreue folgt die Teilverhältnistreue der Parallelprojektion:

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion 49

Die Parallelprojektion ist teilverhältnistreu, das heißt, das Verhältnis von Stre-ckenlängen auf ein- und derselben Geraden bzw. parallelen Geraden bleibt beider Projektion erhalten.

Beweis:Sei g eine Gerade, auf der sich drei Punkte P , Q und R befinden. Der SpurpunktG = g∩π der Geraden bleibt bei der Projektion fest (⇒ gp ∋ G). Die beiden Schenkelg und gp liegen in einer Ebene und werden nun von Parallelen (Projektionsstrahlen)durch P , Q und R geschnitten. Dann gilt nach dem Strahlensatz: PQ ∶ QR = P pQp ∶QpRp ◾

Parallelentreue und Teilverhältnistreue haben unschätzbare Vorteile, wenn esdarum geht, die räumliche Situation aus einem „Schrägriss“ zu rekonstruie-ren. Wir denken uns mit einem Objekt (z.B. einem Quader) ein kartesischesKoordinatensystem (Ursprung U) verknüpft. Alle drei Koordinatenachsen x,y und z stehen im Raum paarweise aufeinander rechtwinklig. Auf den Achsentragen wir die sogenannten Einheitspunkte auf.

● Einfache Darstellung mittels MilitärrissIn der Praxis hat sich ein Parallelriss besonders durchgesetzt: Der Militärriss.Bei ihm wählt man das Bild der x-Achse beliebig (etwa unter einem Winkelα ≠ 0○ zur Horizontalen, Abb. 2.9). Das Bild der y-Achse wählt man dazurechtwinklig. Die z-Achse „blickt nach oben“. Die x- und y-Werte bleibenunverkürzt, die z-Werte kann man beliebig verkürzen, wobei es auch erlaubtist, sie ebenfalls unverkürzt zu belassen.

Abb. 2.8 Normalprojektion. . . Abb. 2.9 . . . und Militärriss

Abb. 2.9 zeigt, wie man schon mit wenigen Linien einigermaßen anschaulicheBilder „hervor zaubern“ kann. Das Verfahren ist besonders gut für Objektegeeignet, die einen komplizierten Grundriss haben, dessen Gliederung sichmit zunehmender Höhe kaum verändert (z.B. lotrechte Drehzylinder). Her-vorragend geeignet ist die Methode zum Erstellen anschaulicher Stadtpläne:

50 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Abb. 2.10 Militärriss bzw.. . . Abb. 2.11 . . . Normalprojektion: Informativ

Man hat im Bild alle Straßenzüge und Gebäudegrundrisse bis auf den Maß-stab unverzerrt, kann also Längen- und Winkelmessungen vornehmen. DieSchrägansicht liefert im gleichen Bild Information, wie hoch die Gebäudezueinander sind bzw. wie sie aussehen. ◾

Abb. 2.12 Perspektivische Ansichten mit waagrechter Achse kommen Übereckstellungen, alsoNormalprojektionen mit waagrechter Achse, nahe. Links: Architekturentwurf von Lukas Galehr.Rechts: Man kann davon ausgehen, dass sich die Blüten der Taubnessel ähneln. Damit hat manmehrere Ansichten in einem Bild vereint.

Abb. 2.11 und Abb. 2.12 zeigen (gute Annäherungen an) Normalprojektioneneiner Szene. Die Bilder erlauben Rückschlüsse, die bei einer Zentralprojektionviel schwerer zu ziehen sind. Z.B. kann man sofort beurteilen, ob die dreiObjekte in Abb. 2.11 vollkommen gleichmäßig angeordnet sind, oder ob dieSchneedecke auf allen drei Stühlen gleich dick ist.● Rekonstruktion einer Raumsituation mithilfe von Schatten

Wie hoch ist die Katze in Abb. 2.13 rechts in der Luft?

Lösung :Das Bild zeigt zwei Fast-Parallelprojektionen (starkes Teleobjektiv) einer Katze im„Galopp“ auf einem Hang mit leichter Schräglage. Spielen wir ein bisschen SherlockHolmes: Das Bild rechts für sich alleine wirkt fast wie eine Fotomontage: Erst beimgenaueren Betrachten entdecken wir einen möglichen Schatten ganz rechts. Daslinke Bild (Bruchteile von Sekunden später aufgenommen) bestätigt die Annahme.Das Sonnenlicht fällt also sehr flach ein. Die Szene muss sich knapp nach Sonnenauf-gang bzw. knapp vor Sonnenuntergang abgespielt haben. Man sieht noch den Tau

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion 51

Abb. 2.13 Wie hoch ist die Katze in der Luft? Der Schatten gibt die Antwort!

im Gras glitzern – also war es am Morgen. Kann man jetzt vielleicht noch sagen,wie hoch die Katze im rechten Bild in der Luft ist?Nun, wenn wir ein bisschen großzügig sind, lässt es sich machen: Der Hang istoffensichtlich eine schräge Ebene. Das Licht kommt ziemlich genau von der Seite.Man erahnt den Schatten P s der linken hinteren Pfote P . Jetzt können wir einDreieck PP ′P s einzeichnen, dessen Seite P ′P s parallel zur Hangrichtung ist (PP ′

ist lotrecht). Der Abstand PP ′ gibt Aufschluss über die Sprunghöhe: Wenn dieBeckenhöhe der Katze sagen wir 30 cm beträgt (das Tier ist noch relativ klein),dann wird die Sprunghöhe etwas weniger als die Hälfte davon, also vielleicht 12 cm,betragen.

Abb. 2.14 Ein Skarabäus hebt von einem Autodach ab. Schlagschatten und Spiegelung geben inzweifacher Weise Zusatzinformationen über die räumliche Situation.

Abb. 2.14 zeigt eine andere Szene, an der Sie ihr Raumvorstellungsvermögen trai-nieren können. Hier liegt zusätzlich zum Schlagschatten eine Spiegelung an einerEbene (ein silbernes Autodach) vor. Insgesamt haben wir also drei Projektionen ineinem Bild.Wir haben in unseren Überlegungen die Parallelentreue der Normalprojektion unddie Parallelen- bzw. Teilverhältnistreue des Parallelschattens verwendet. Auf einem

52 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Foto, das mit einer gewöhnlichen Linse gemacht wurde, müsste man wesentlichgenauer vorgehen. Auch das werden wir noch besprechen.

Folgender Satz kann manchmal recht nützlich sein:

Zwei Geraden im Raum sind i. Allg. parallel, wenn sie in zwei Parallelrissen parallelerscheinen. Sie sind garantiert parallel, wenn sie in drei „unabhängigen“ Parallel-rissen parallel sind.

Beweis:Wenn zwei Geraden a und b in einer Parallelprojektion parallel sind, liegen sie inzwei projizierenden parallelen Ebenen α1 ∥ β1. Sind die Geraden in einer zweitenParallelprojektion parallel, dann liegen sie i. Allg. in zwei weiteren parallelen Ebenenα2 ∥ β2, und dann ist a = α1 ∩ α2 ∥ b = β1 ∩ β2.Allerdings könnte es sein, dass a und b windschief sind, und beide Projektions-richtungen zufällig rechtwinklig zum Gemeinlot n von a und b sind. In diesem Fallhilft nur eine Parallelprojektion, die eben nicht rechtwinklig zu n ist. Die drei Pro-jektionsstrahlen durch einen Raumpunkt dürfen also nicht in einer Ebene liegen. ◾

● Radarreflektoren und KatzenaugenAuf kleineren Schiffen baumelt häufig ein Gebilde der Form wie in Abb. 2.15.Man zeige, dass dieser aus drei paarweise rechtwinklig stehenden Quadratengebildete Reflektor alle einfallenden Strahlen (insbesondere Radarstrahlen)„zum Sender zurück schickt“. In ganz ähnlicher Weise funktionieren die Rück-strahler auf Fahrrädern („Katzenaugen“), wo das Licht des Autoscheinwerferszum betreffenden Auto zurückgeschickt wird.

Abb. 2.15 Baumelnder Radarre-flektor auf einem Schiff

Abb. 2.16 „Katzenaugen“: Reflektor auf den Fahrradspei-chen in verschiedenen Vergrößerungsstufen

Lösung :Das zweidimensionale Analogon ist viel besser bekannt: Eine Billardkugelwird über die „Doppelbande“ reflektiert und kehrt im Idealfall parallel zurAbstoßrichtung zurück. Der Beweis dazu ist in Abb. 2.17 links zu sehen: Wennman das Reflektionsgesetz zu Hilfe zieht („Einfallswinkel = Ausfallswinkel“),

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion 53

kehrt der Strahl mit den dortigen Winkelbezeichnungen unter dem Winkel90○ + (ε − 90○) = ε zurück.

Abb. 2.17 Reflektion einer Billardkugel

Nun in den Raum: Wir betrachten die Situation so, dass zwei der drei Spie-gelebenen projizierend erscheinen. In einem solchen Hauptriss handelt es sichgenau um das Billard-Problem. Der Spiegelung an den projizierenden Ebenenentspricht die ebene Doppelspiegelung, und die Spiegelung an der dritten –frontalen – Ebene ist nicht zu erkennen: Die Spiegelnormale erscheint näm-lich projizierend, und einfallender und ausfallender Strahl liegen somit inderselben projizierenden Ebene (Abb. 2.18 Mitte links und rechts)!

Abb. 2.18 Reflektion im Würfeleck (Mitte: Grund- und Aufriss)

Wir können den Strahl also in allen Hauptrissen stets parallel zur Einfalls-richtung sehen. Wenn zwei Geraden aber in drei unabhängigen Parallelrissenparallel erscheinen, sind sie auch im Raum parallel! ◾

Abb. 2.17 rechts beantwortet folgendes Problem: Wie muss ich eine Billard-kugel abstoßen, damit sie zum Anfangspunkt P zurückkehrt? Die Kugelbahn(der einfallende Strahl) wird zunächst an der ersten Bande gespiegelt. WelcheRichtung sie auch immer hat, sie muss durch den an dieser Bande gespiegel-ten Ausgangspunkt P ∗ gehen. Der schon einmal reflektierte Strahl soll nachSpiegelung an der zweiten Bande durch den Endpunkt Q = P gehen; er mussalso durch den an der zweiten Bande gespiegelten Punkt Q∗ gehen. Damitist der das erste Mal reflektierte Strahl eindeutig festgelegt.

54 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

● Spiegeloptik statt Brechungslinsen

Fast alle Tiere verwenden Brechungseigenschaften von Linsen oder Kristallen, umLicht auf ihrer Retina zu bündeln. Flusskrebse sowie einige Garnelen- und Hummer-arten bedienen sich eines anderen Tricks: Sie haben Komplexaugen, deren Facetteninnen verspiegelte quadratische Prismen sind. Wie soll das funktionieren?

Retina

Zahllose dünnequadratische Prismen

Lichtstrahl-richtung

Normal-projektion

Grundriss

Abb. 2.19 Links: In einem innen verspiegelten rechteckigem Prisma wird ein Teil der einfallendenLichtstrahlen genau einmal so „über die Bande“ reflektiert, dass der Strahl im Grundriss parallelaustritt. Rechts: Ordnet man sehr viele sehr dünne solcher Prismen auf einer Kugeloberfläche an,werden parallele Lichtstrahlen teilweise auf einer konzentrischen Kugel gebündelt.

Lösung :Die dahinterstehende Geometrie und wurde von Klaus Vogt 1980 entdeckt (K. Vogt:Die Spiegeloptik des Flusskrebsauges J. comp. Physiol. 135: 1-19): Wenn nämlichein Lichtstrahl in so ein verspiegeltes quadratisches Prisma gelangt, ist die Wahr-scheinlichkeit je nach Einfallswinkel und Einfallsrichtung mehr oder weniger groß,nach genau zweimaliger Spiegelung an zwei aufeinanderfolgenden Seitenflächen aufder anderen Seite „ins Freie“ zu gelangen. (Manche Strahlen werden öfter reflektiert,andere schaffen es ohne jede Reflexion.)In Richtung Prismenachse betrachtet (Grundriss) scheint der Lichtstrahl wie beimBillardtisch „über die Bande“ zu gehen (Abb. 2.19 links). Seine Neigung zur Pris-menachse bleibt dabei erhalten. Ist das Prisma sehr dünn, sieht die Doppelreflexionin guter Näherung wie eine einfache Reflexion an einer virtuellen – in Achsenrich-tung projizierenden – Ebene ε orthogonal zur Grundrissrichtung des Lichtstrahlsaus. Einfallender und ausfallender Lichtstrahl bilden mit ε denselben Winkel.Wir drängen nun tausende solcher hauchdünnen Prismen auf einer Kugeloberflächezusammen (Abb. 2.19 rechts) und belichten dieses System in vorgegebener Richtungs. Betrachten wir nun jene Prismen, deren Achsen zu s unter gleichem Winkel αgeneigt sind (sie scharen sich um einen Kleinkreis der Kugel). Alle Lichtstrahlen,die die spezielle Doppelreflexion schaffen, werden dann so reflektiert, als ob sie vonhunderten virtuellen Ebenen ε, die einen Drehkegel mit halbem Öffnungswinkelα berühren, reflektiert würden. Dementsprechend bilden die reflektierten Strahleneinen Drehkegel. Dessen Spitze hat vom Kugelmittelpunkt – wie man sich leichtüberlegt – in etwa den Abstand des halben Kugelradius.Zu jeder Lichtstrahlrichtung s bündeln sich also sehr viele Lichtstrahlen in einemPunkt, der auf einer konzentrischen Kugel im Inneren liegt. Etwas großzügig ge-sprochen werden also Lichtstrahlen von „weiter entfernten“ Punkten des Raums

2.3 Zugeordnete Normalrisse 55

recht lichtstark auf einen Punkt einer konzentrischen Kugel (der Retina) gebündelt.Das ist genau das Prinzip, das wir aus der geometrischen Optik kennen. EinzigerUnterschied zum Linsenauge: Wir brauchen dazu keine Linse!

Abb. 2.20 Spiegelaugen treten beim Flusskrebs und verschiedenen Garnelenarten und Hummernauf. Man erkennt Spiegelaugen an den rechteckigen Pseudopupillen (schwarzen Flecken, die ihreLage je nach Position des Betrachters ändern).

Bei den besagten Krebsen bzw. Garnelen sind die Augen, wie man in Abb. 2.20 se-hen kann, keine Kugeln, sondern Ellipsoide, auf die man die Überlegungen durchausübertragen kann. Man erkennt Augen mit Spiegeloptik an ihren „Pseudopupillen“,die nahezu rechteckig sind. Innerhalb dieser Rechtecke landen die Lichtstrahlen,die aus der Richtung des Beobachters kommen, in beschriebener Weise auf der Re-tina. Die viereckige Form hängt mit der viereckigen Form der einzelnen Facettenzusammen, die nicht-quadratische Form resultiert daraus, dass eben keine exakteKugel vorliegt. Die Facetten erscheinen schwarz, weil kein Licht mehr zum Betrach-ter zurückreflektiert wird. Die Lage der Pseudopupillen ändert sich daher, wenn derBeobachter die Position ändert. ◾

2.3 Zugeordnete Normalrisse

Um ein Objekt eindeutig erfassen zu können, brauchen wir i. Allg. mindes-tens zwei Projektionen. Abb. 2.22 zeigt (fast) synchrone Fotografien (Zen-tralprojektionen) einer Katze im Flug. Unter idealen Verhältnissen (und beiwirklich synchronen Bildern) könnte man aus mehreren solchen Bilder diePosition aller sichtbaren Körperteile rekonstruieren.Viel besser als Fotografien eignen sich Normalprojektionen. Wählt man dieProjektionen nicht unabhängig von einander, sondern zueinander rechtwink-lig, vereinfachen sich die meisten Aufgaben enorm.Ein Objekt kann man meist zwanglos mit einem rechtwinkligen Koordinaten-system verknüpfen (Abb. 2.21, Abb. 2.23). Dann heißen die Normalprojek-tionen auf die Koordinatenebenen die Hauptrisse. Bei Projektion entgegen

56 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Abb. 2.21 Zwei Projektionen liefern wesentlich mehr Information als eine einzige

Abb. 2.22 Zugeordnete Projektionen

der z-Achse erhält man den Grundriss, entgegen der x-Achse den Aufriss,entgegen der y-Achse den Kreuzriss.Hat ein Raumpunkt die Koordinaten P (x/y/z), dann haben seine Hauptrissedie Koordinaten P ′(x/y), P ′′(y/z) und P ′′′(x/z). Die drei Risse hängen so-mit paarweise durch jeweils eine Koordinate miteinander zusammen, so dassman sie einander zuordnen kann. Zeichnet man Grund- und Aufriss genauübereinander, dann gibt es von P ′ nach P ′′ einen Ordner (Abb. 2.24). AusGrund- und Aufriss lassen sich von jedem Punkt die Koordinaten ablesen.Die doppelt auftretende y-Koordinate legt den Ordner fest.Ebenso gibt es Ordner zwischen Auf- und Kreuzriss bzw. dem Grundrissund einem Seitenriss wie in Abb. 2.29 Mitte und links. (Zum besseren Ver-ständnis ist rechts eine allgemeine Normalprojektion eingezeichnet). Immerliegen die beiden zugeordneten Normalprojektionen eines Raumpunkts aufOrdnern. Die Lage des Koordinatenursprungs – und damit die Lage der Pro-jektionen der Achsen – ist für viele Anwendungen nicht von Wichtigkeit.

2.3 Zugeordnete Normalrisse 57

Abb. 2.23 Links: Die drei Hauptrisse (Normalprojektionen auf paarweise zueinander normaleEbenen). Rechts: Eine berühmte Studie von Leonardo da Vinci, fast 300 Jahre vor Gaspard Monge(Abb. 2.24). Die beiden unten angeordneten Risse sind zugeordnete Normalrisse. Die darüberangeordnete unverzerrte Vorderansicht des Kopfs ist ein weiterer zugeordneter Hilfsriss.

Abb. 2.24 So entstehen Grund-, Auf- und Kreuzriss (Prinzip von Gaspard Monge)

Vielmehr kommt es auf Relativpositionen zu Bezugsebenen parallel zu denKoordinatenebenen an.● Welches Objekt ist das?

Wie sieht ein räumliches Objekt aus, dessen Umriss von vorne gesehen ein Quadratist, von links gesehen ein gleichschenkliges Dreieck und von oben gesehen ein Kreisist?Für einen Anfänger ist diese Frage eine ziemliche Herausforderung. Selbst bei Vor-gabe der Hauptrisse des keilförmigen Objekts in Abb. 2.25 – dort sind neben denUmrissen auch eine zusätzliche Kante und eine halbe Ellipse zu erkennen – ist esnicht leicht, herauszufinden, wie das Objekt wirklich aussieht. Es handelt sich umeinen Drehzylinder, der zweimal symmetrisch abgeschnitten wurde. Dabei treten,wie wir bald sehen werden (S. 133), Ellipsen als Schnittkurven auf. ◾

● Einfache Netzkonstruktion (Abb. 2.26)Von einer quadratischen Pyramide ist das Netz (die Abwicklung) anzufertigen.

Lösung :Wir stellen das Objekt so einfach wie möglich auf. Dadurch erscheinen die Basis-

58 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Abb. 2.25 Hauptrisse und allge-meine Normalprojektion

Abb. 2.26 Netzkonstruktion mittels Hauptrissen(Paralleldrehen von AS)

kanten im Grundriss unverkürzt. Drehen wir eine Seitenkante um die Achse desObjekts in eine zur Aufrissebene parallele Ebene (die Drehung lässt sich im Grund-riss durchführen), dann erscheint die Kante im Aufriss unverzerrt. ◾

● Zuordnungsprobleme?

Nicht selten hat man es mit zwei oder mehr speziellen Ansichten eines Objekts zutun, die irgendwie nebeneinander gelagert sind. Man hat die Anschauung aber we-sentlich leichter im Griff, wenn man diese Risse in zugeordnete Lage bringt. So ganznebenbei ist das eine vorzügliche Schulung des räumlichen Vorstellungsvermögens.

Abb. 2.27 Links, Mitte: Zwei spezielle Ansichten. Rechts: Zugeordnete Lage.

Abb. 2.27 illustriert dies am Beispiel zweier Abbildungen eines Schneckenhausesin zueinander normalen Richtungen. Obwohl es sich um Fotografien – und daherkeine Normalprojektionen – handelt, lassen sich die beiden Fotos recht gut zuordnen(rechts). Dies hilft unmittelbar, um zugeordnete Punkte aufspüren zu können.In der amerikanischen Norm spricht man von top view, front view bzw. left sideview und right side view. Im Gegensatz zum Mongeschen Modell arbeitet manaber oft mit einer Ansicht von unten oder hinten (bottom view, back view). Daskann gelegentlich verwirren. Anderseits weichen die starren Normen ohnehin auf,weil heute mit dem Computer gearbeitet wird und zusätzliche allgemeine räumlicheAnsichten „gratis dabei sind“. ◾

● Was ist gebrochen bzw. luxiert?

Abb. 2.28 zeigt drei Röntgen-Aufnahmen eines linken Unterarms samt Hand. Die

2.3 Zugeordnete Normalrisse 59

Bilder zeigen einen Speichenbruch. Allerdings scheint zusätzlich ein Handwurzel-knochen (Mondbein) „herumzuschwirren“ (Bild ganz links), was eine Verrenkung(Luxation) vermuten ließe.

Abb. 2.28 Drei Röntgenaufnahmen. Rechts: Frontalansicht, Mitte ein Kreuzriss. Beim linken Bildwurde nicht exakt um 90○ geschwenkt („Übereckstellung“).

Die Aufnahme in der Mitte zeigt recht genau eine Ansicht von rechts (Kreuzriss)des linken Unterarms: Elle und Speiche liegen übereinander. Hier erscheint die Po-sition des in Frage stehenden Handwurzelknochens einigermaßen „normal“ (es liegtnämlich keine Luxation vor). Der Bruch in der Speiche ist im Kreuzriss besondersdeutlich zu sehen, insbesondere lässt sich der Winkel gut abschätzen, um den beim„Einrichten“ rückgestellt werden muss. ◾

Abb. 2.29 Grundriss (Mitte) und zugeordneter Normalriss (links) einer Szene (rechts)

● Schatten auf koordinatenparallele SchirmebenenIn Abb. 2.29 ist im Grundriss mithilfe einer zugeordneten Seitenansicht (Sei-tenriss) der Parallelschatten des Objekts auf die horizontale Basisebene zuermitteln. Die Richtung des Lichtstrahls sei in Grund- und Seitenriss angege-

60 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

ben. Verschiebt man diese Richtung durch zugeordnete Punkte P ′ und P ′′′,dann hat man im Seitenriss bereits das Bild P ′′′s des Durchstoßpunkts Ps

gefunden. Sein Grundriss P ′s liegt am Ordner.Ohne das Beispiel im Detail weiter zu besprechen (wir haben noch nicht über Schat-ten von Kugeln auf Ebenen oder Schatten von Geraden auf Kugeln gesprochen),kann man zumindest sofort Begrenzungslinien für den Schatten finden, indem manin beiden Hauptrissen streifende Lichtstrahlen an die Kugel betrachtet.

Seitenrisse werden in der Darstellenden Geometrie oft benötigt. Die origi-nelle (auf einem Papierfragment gefundene) Freihandskizze Abb. 2.30 solldas Prinzip erläutern: Wenn man zu zwei zugeordneten Normalrissen (z.B.Grund- und Aufriss) einen dritten Riss erzeugen will, der einem der beidengegebenen (hier dem Aufriss) zugeordnet ist, wählt man im wegfallendenRiss eine projizierende Bezugsebene ε senkrecht zur Ordnerrichtung (grüneingezeichnet). Sie ist auch im neuen Riss projizierend und senkrecht zurOrdnerrichtung. Auf den Ordern im neuen Riss kann man die Abstände vonε aus dem wegfallenden Riss übertragen (blau). Allerdings wird man Sei-tenrisse üblicherweise nicht verwenden, um anschauliche Bilder zu gewinnen,sondern – im Gegenteil – spezielle Ansichten zu erzeugen, in denen etwaEbenen projizierend sind ([22]).

Abb. 2.30 Seitenriss Abb. 2.31 Hauptprojektionen als Schatten

● Schatten liefern zusätzliche InformationSchatten unterscheiden sich geometrisch nicht von Projektionen. Kann manauf einem Bild Schatten erkennen, liefern diese ähnliche Zusatzinformatio-nen wie zusätzliche Risse. Abb. 2.31 zeigt ein mathematisch definiertes Herz(www.mathematische_basteleien.de/herz.htm). Aufgrund der Schatten aufdie Koordinatenebenen (sie entsprechen den Hauptrissen) kann man sehr gutbeurteilen, wie das Objekt rundum aussieht.

2.3 Zugeordnete Normalrisse 61

Abb. 2.32 Schatten liefern zusätzliche Informationen◾

Eine häufige Aufgabe ist die sogenannte Sichtbarkeitsentscheidung. Abb. 2.33illustriert, dass man manchmal auf einem Foto nicht beurteilen kann, wiescheinbare Kollisionspunkte liegen. Manchmal kommt einem der Zufall zuHilfe und man findet über Schlagschatten die Lösung (Abb. 2.32). Wir wollenuns überlegen, was i. Allg. für eine solche Entscheidung notwendig ist.

● Sichtbarkeitsentscheidung bei windschiefen GeradenZwei Geraden haben genau dann einen Schnittpunkt, wenn sie in einer Ebe-ne liegen. Liegen sie nicht in einer Ebene, sind sie „windschief“ zueinander(kreuzend).

Abb. 2.33 Oft ist eine Sichtbarkeitsentscheidung gar nicht so leicht zu fällen. Bei der Szene imlinken Bild wirft der Orca den „Stuntman“ in die Luft. Zur Beruhigung: Es kam zu keiner Kollisionmit der Säule. Im rechten Bild sieht man recht bald, dass der Fallschirm nicht einfädelt.

Denken wir uns Geraden materiell als Stäbe ausgeführt, dann wird in jederAnsicht eine Gerade eine windschiefe Gerade beim scheinbaren Schnittpunktverdecken oder dort von letzterer verdeckt werden. Um diese Entscheidung zufällen, brauchen wir zwei Projektionen – am besten zugeordnete Normalrisse.Abb. 2.34 zeigt Grund- und Aufriss zweier Geraden a und b. Der Schnitt-punkt im Aufriss entspricht nicht dem Schnittpunkt im Grundriss, denn sonstmüssten die Punkte auf einem Ordner liegen. a und b sind somit windschief.Im Grundriss überlagern einander ein Punkt 1 auf a und ein Punkt 2 auf b.Zeichnet man den Ordner durch den scheinbaren Schnittpunkt 1′ = 2′ undsucht die zugeordneten Punkte 1′′ ∈ a′′ bzw. 2′′ ∈ b′′, dann kann man be-urteilen, welcher Punkt höher liegt – und damit im Grundriss sichtbar ist.

62 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Ganz analog sucht man zu den überlagerten Punkten 3′′ ∈ a′′ = 4′′ ∈ b′′ dieGrundrisse 3′ ∈ a′ und 4′ ∈ b′ auf. Jener Punkt, der weiter vorne liegt, ist imAufriss sichtbar. Wir merken uns:

Die Sichtbarkeitsentscheidung in einem Normalriss geschieht in einem anderenihm zugeordneten Normalriss.

Abb. 2.34 Sichtbarkeitsentschei-dung in Theorie. . .

Abb. 2.35 . . . und Praxis: Die Beinstellungen sind schonverwirrend genug, aber wo verlaufen die Stricke?

Zeichentechnisch betont man die Verdeckung einer Geraden durch eine andere, in-dem man die verdeckte Gerade kurz unterbricht. Man erzeugt sozusagen eine „Aura“um jede Gerade. Solche kleinen Tricks unterstützen die Raumvorstellung beträcht-lich. Umgekehrt wirken sich Fehler bei solchen Sichtbarkeitsentscheidungen negativauf die Raumvorstellung aus, sie können ein geistig entstandenes dreidimensionalesObjekt „zerstören“.

Der folgenden wichtigen Sätze kommen in vielen Überlegungen zum Tragen:

Eine Gerade, die mit einer Ebene einen rechten Winkel bildet, ist rechtwinklig zujeder Geraden in der Ebene.

Beweis:Wir betrachten einen rechten Winkel mit den Schenkeln a und b (Scheitel S = a∩b).Halten wir a fest und lassen b um a rotieren, dann überstreicht b die Normalebeneν ⊥ a. Jede beliebige Gerade in ν ist zu einer der Lagen von b parallel, bildet alsoauch einen rechten Winkel mit a. Abb. 2.36 illustriert den Satz: Eine Baggerschaufel,die sich um eine Normale zur schrägen Geländeebene dreht, kann erfolgreich zumGlätten des Erdreichs eingesetzt werden. ◾

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 63

Abb. 2.36 Praktische Anwendung des konstanten rechten Winkels: Die rot eingezeichnete Dreh-achse der Baggerschaufel steht senkrecht zur gewünschten Geländeebene. Nun kann der Baggermittels Rotation des Auslegers mit der Schaufel den Hang glätten.

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel

Liegt eine Gerade parallel zur Bildebene und damit rechtwinklig zur Projekti-onsrichtung, nennt man sie Hauptgerade. Strecken auf Hauptgeraden werdenbei der Normalprojektion unverzerrt abgebildet. Für Hauptgeraden gilt der

Satz vom rechten Winkel: Ein rechter Winkel erscheint bei Normalprojektion nurdann als rechter Winkel, wenn mindestens einer der beiden Schenkel Hauptgeradeist.

Beweis:Seien wieder a und b die Schenkel und S = a∩b der Scheitel des rechten Winkels und π

die Projektionsebene. Die Gerade b überstreicht bei Rotation um a die Normalebeneν ⊥ a. Ist nun a ∥ π, dann ist die ganze Ebene ν projizierend und im Bild rechtwinkligzu a.Ist nun a /∥ π, dann ist ν nicht projizierend. Die Normalen n ⊥ a bilden dann mitπ stets verschiedene Winkel. Für die spezielle Normale b ∥ π gilt nach dem ebenGesagten, dass sie im Bild mit jeder Normalen, also auch mit a, einen rechten Winkelbildet.Der Satz lässt sich auch mittels Vektorrechnung elegant beweisen: Wir verwendenein angepasstes Koordinatensystem, bei dem die z-Achse senkrecht zur Bildebeneist. Zwei Vektoren a und b sollen im Raum orthogonal sein (a ⋅ b = axbx + ayby +azbz = 0). Dann sind die Vektoren genau dann in der Normalprojektion orthogonal(Bedingung: axbx + ayby = 0), wenn azbz = 0 gilt, also entweder az = 0 oder bz = 0,was bedeutet, dass entweder a oder b parallel zur xy-Ebene ist. ◾

● Lauter rechte Winkel. . .Abb. 2.37 zeigt zwei grundsätzlich verschiedene Fotos von Baukränen (Weit-winkel- und Teleobjektiv-Aufnahme). Bei diesen treten ja einigermaßen ge-nau rechte Winkel auf. Man erkläre, warum sämtliche rechten Winkel imrechten Bild auch im Bild als solche erscheinen.

Lösung :Die Aufnahme links ist eine klassische Zentralprojektion, bei welcher der Satz

64 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Abb. 2.37 Die ewige Baustelle: Die Sagrada Familia in Barcelona (Antoni Gaudí) ist seit Jahrenvon Baukränen eingekreist (das ist Teil des Konzepts). Die Kransäule bildet mit dem Balkeneinen rechten Winkel, den man auf Weitwinkelfotos (links) praktisch nie als solchen sieht, beiTeleobjektivaufnahmen (annähernd Normalprojektionen) mit waagrechter optischer Achse jedochpraktisch immer, denn dann sind sämtliche Säulen Hauptgeraden.

vom rechten Winkel nur in einem Ausnahmefall gilt: Beide Schenkel müssenparallel zur Bildebene (also Hauptgeraden) sein. Die Aufnahme rechts ist an-nähernd eine Normalprojektion. Wenn nun die optische Ache waagrecht ist(und damit die Bildebene = Sensorebene lotrecht), dann sind sämtliche Säu-len der abgebildeten Kräne Hauptgeraden, und der Satz vom rechten Winkelgilt: Egal, welche Richtung die Balken haben, sie bilden sich horizontal ab. ◾

Eine direkte Folge des Satzes vom rechten Winkel ist die folgende zeichen-technisch fundamentale Regel, die wir im Anhang über Freihandzeichnen imDetail besprechen werden:

Ein Kreis bildet sich bei Normalprojektion als Ellipse ab, deren Hauptachse recht-winklig zum Bild der Kreisachse steht. Der Kreisdurchmesser ist gleich der Längeder Hauptachse.

Beweis:Wir nehmen vorweg, dass das Kreisbild eine Ellipse ist (was wir noch zeigen werden).Unter allen Kreisdurchmessern (Abb. 2.38) bildet sich jener in wahrer Länge ab, derauf einer Hauptgeraden liegt. Weil sich alle anderen Durchmesser verkürzt abbilden,liegen auf der Hauptgeraden die Hauptscheitel der Bildellipse. ◾

● Sind Gepäck-Röntgen-Scans Normalprojektionen?Bei der Handgepäckskontrolle werden kleinere Gepäckstücke mittels Rönt-

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 65

Abb. 2.38 In Normalprojektion ist das Bild eines Kreises c eine Ellipse cn. Die Nebenachse voncn ist identisch mit dem Bild an der Kreisachse a. Die halbe Hauptachse ist gleich dem Radius r

des Kreises.

genstrahlen analysiert (Abb. 2.39), indem das Objekt auf einem Förderbandtransformiert wird und Querschnitte orthogonal dazu gescannt werden. Wel-che Projektion entsteht dabei?

Abb. 2.39 Der Koffer eines Fotografen passiert das Gepäcks-Röntgen. Es handelt sich dabei nichtum eine Fotografie (=Zentralprojektion), sondern um einen Scan, der einer fast orthogonalen Par-allelprojektion entspricht. Dementsprechend gilt in guter Näherung der Satz vom rechten Winkel.Zur Information die nachgestellte Szene, fotografisch festgehalten.

Lösung :Bei Analyse des linken Bildes in Abb. 2.39 lässt sich folgende Hypotheseaufstellen: Die Querschnitte werden offenbar erfasst, indem der Scan-Strahlnahezu orthogonal zur Beförderungsrichtung (und damit stets parallel), aberschräg, durch die Szene geführt wird. Das Ergebnis wird auf einer „Pixelleiste“orthogonal zur Strahlenrichtung gespeichert, wodurch eine Normalprojektiondes Querschnitts entsteht. Beim Durchschieben entsteht dann insgesamt je-denfalls eine Parallelprojektion, die aber sehr nahe an eine Normalprojektionherankommt.

66 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Zur Erhärtung dieser Hypothese kann man nach verschiedenen Kriterien tes-ten. Offensichtlich gilt Parallelentreue und Teilverhältnistreue, was man unterAnderem bei der eingekreisten externen Harddisk verifizieren kann. Wenn ei-ne Normalprojektion vorliegt, muss auch der Satz vom rechten Winkel gelten.Das lässt sich beim Kofferrand sehen (gestricheltes Achsenkreuz rechts), innicht-trivialer Weise aber auch bei den aufgesetzten langen Objektiven: Dieverschiedenen Kreisringe der Objektive stehen ja zur optischen Achse ortho-gonal. Bei den elliptischen Kreisbilder sollten die Hauptachsen der Ellipsenexakt senkrecht zum Bild der Achse stehen – was in der Tat recht genaustimmt. ◾

Abb. 2.40 Der Satz vom rechten Winkel ist für das Phänomen verantwortlich, dass die Mondsichelbei Sonnenuntergang „verdreht“ erscheint.

● Zeigt die Mondsichel nicht zur Sonne?Bei Sonnenuntergang ist der zunehmende Mond noch über dem Horizont.Dann sollte man doch annehmen können, dass die Mondsichel „zur Sonneschaut“. Doch die Sichel schaut leicht nach oben (Abb. 2.40). Warum?

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 67

Lösung :Wenn wir den Mond anvisieren und stark heranzoomen, liegt näherungswei-se eine Normalprojektion vor, wodurch der Satz vom rechten Winkel zumTragen kommt. Die Mondsichel setzt sich aus zwei Kurven zusammen: DemUmriss c der Mondsichel (ein Halbkreis) und der sichtbaren Hälfte des „Ter-minators“ t. Bei Letzterem handelt es sich um die Eigenschattengrenze desMondes, welche diesen in eine beleuchtete und eine unbeleuchtete Seite teilt(siehe dazu auch Anwendung S. 128).Um nun die Nebenachse der Bildellipse des Terminators zu bekommen, mussdie Achse s des Terminators auf die Bildebene π normalprojiziert werden.s kann auch als Sonnenstrahl durch den Mondmittelpunkt M interpretiertwerden (Abb. 2.40). Man kann nun wie folgt vorgehen: Sei Z der Betrachterund S∞ die beinahe unendlich weit entfernte Sonne. Die Projektionsebene π

ist orthogonal zum Hauptsehstrahl MZ. Die Normalprojektion sn der Achses = MS∞ des Terminators geht durch Mn und durch die NormalprojektionHn eines Hilfspunkts H auf s. Sie ist offensichtlich unter einem von Nullverschiedenen Winkel ϕ geneigt. Je höher der Mond noch am Himmel steht,desto größer ist der vermeintliche „Fehler“. In www1.uni-ak.ac.at/geom/

files/moon-tilt.pdf finden Sie mehr zu diesem Thema. Unter anderemwird dort eine Formel für den Winkel ϕ abgeleitet. ◾

● Wann genau beginnen der Frühling und die restlichen Jahreszeiten?Frühlings- und Herbstbeginn sind dadurch charakterisiert, dass Tag undNacht gleich lang sind (Äquinoktium). Sommerbeginn ist dann, wenn ma-ximale Tageslänge, Winterbeginn, wenn minimale Tageslänge erreicht wird.Wie können wir die zugehörigen exakten Zeitpunkte beliebig genau finden(Abb. 2.41)?

Raumsituation (Normalprojektion)

Hauptgerade

Nord-Sommer

Nord-Winter

Grundriss (Normalprojektion)

Hau

ptge

rade

Nord-Winter

Äqui-noktium

Äquinoktium

Äquinoktium

Äquinoktium

Abb. 2.41 Der Satz vom rechten Winkel ermöglicht es, den exakten Frühlingsbeginn zu bestim-men. Links eine allgemeine Normalprojektion, rechts der Grundriss. Die Gestalt der Bahnkurveder Erde wurde übertrieben elliptisch eingezeichnet, um die Überlegung zu verdeutlichen.

68 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Lösung :Nach dem ersten Keplerschen Gesetz ist die Bahn der Erde eine Ellipse miteinem Brennpunkt in der Sonne. Während eines Jahres bleibt die Achsen-richtung der Erde konstant. Äquinoktium (Tag-und-Nacht-Gleiche) tritt ein,wenn die Eigenschattengrenze der Erde (der Terminator) durch die Pole geht.Dann bilden aber die Erdachse und die Sonnenstrahlen einen rechten Winkel.Wenn wir einen Grundriss – also eine Normalprojektion auf die Bahnellipse– betrachten, sind alle Sonnenstrahlen Hauptgeraden, weil sie in der Pro-jektionsebene liegen. Da eine Normalprojektion vorliegt, gilt der Satz vomrechten Winkel: Man sieht demnach den gesuchten rechten Winkel zwischenSonnenstrahlen und der schrägen Erdachse – sofern er im Raum vorliegt –im Grundriss, weil ein Schenkel des Winkels Hauptgerade ist! Somit liegendie beiden Punkte, an denen Tag-und-Nacht-Gleiche vorliegt (Frühlings- undHerbstbeginn), auf einer Normalen zur Richtung des Grundrisses der Erd-achse.

Die zugehörige orthogonale Richtung (die somit die Richtung des Grundrissesder Erdachsenrichtung hat) liefert – in keineswegs trivialer Weise – gleich denSommer- bzw. Winterbeginn. Zu zeigen ist, dass dort der Winkel σ zwischenErdachse und Sonnenstrahlen extrem ist. Und schon wieder hilft uns der Satzvom rechten Winkel beim Beweis (Abb. 2.42):

Abb. 2.42 Der extreme Winkel zwischen den Sonnenstrahlen und der Erdachse.

Sei E jene Position der Erde auf der Bahnellipse, an der die Erdachse imGrundriss durch die Sonne S zu gehen scheint, A ein beliebiger Punkt aufder Erdachse (mit festem Abstand EA), A′ sein Grundriss und C der Lot-fußpunkt aus A auf die Gerade ES. Wir legen den Winkel σ durch dasrechtwinklige Dreieck AEC fest. Dieses Dreieck erscheint in der speziellenPosition wegen A′ = C projizierend. Bei Nachbarpositionen E∗ und E∗∗ vorbzw. nach dem speziellen Ereignis kann man C konstruieren, indem manden planaren Lotfußpunkt aus A′ zum zugehörigen Sonnenstrahl s∗ bzw. s∗∗

aufsucht, denn jede Sonnenstrahlrichtung ist Hauptgerade. Daraus folgt, dasssowohl E∗C∗ als auch E∗∗C∗∗ vor und nach der speziellen Position kürzerals EC sind und σ dadurch in E einen Extremwert angenommen hat. InKapitel 11 werden wir noch einiges mehr zu diesem Thema erarbeiten. ◾

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 69

● Kotierte ProjektionIn bestimmten Einsatzgebieten, etwa im Straßenbau (Abb. 2.43, Abb. 5.42rechts), Eisenbahnbau oder in der Geologie, kommt man unter Umständensehr gut auch mit einer einzigen Normalprojektion – dem Grundriss – zurecht,wenn man gezielt Höheninformationen angibt. Das Verfahren wird KotierteProjektion genannt.

Güterweg überwindet Geländestufe

Perspektive

Standpunkt

Abb. 2.43 Kotierte Projektion, aus der sogar recht einfach ein Zentralriss (perspektivisches Durch-schnittsverfahren, s.S. 292) konstruiert werden kann (oben). Der geplante Güterweg wird in eineGeländestufe eingepasst, wobei sich im Idealfall Einschnitte und Böschungen ausgleichen (Mate-rial-Umschichtung). Der kreisförmig gekrümmte gleichmäßig 10% ansteigende Weg hat schraubli-nienförmige Ränder, die Böschungen sind daher Schraubtorsen (s.S.249).

Es erlaubt, die häufigsten Grundaufgaben in den genannten Einsatzgebieteneffizient zu lösen. Straßenplanung im Gelände oder komplizierte Flächen inder Kartografie sind so leicht in den Griff zu bekommen. ◾

70 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders

Die klassische Darstellende Geometrie und das Maschinenzeichnen bedienensich vieler gemeinsamer Methoden. Im Maschinenzeichnen werden allerdingsviele „Zeichenkürzel“ und andere Vereinbarungen („Regeln“) verwendet. Dasbringt enorme Vorteile beim Zeichnen, verlangt vom Betrachter der Zeich-nung andererseits gewisse Vorkenntnisse. Das Wissen um das Wesen einesSchnittes im Maschinenzeichnen, das wir gleich besprechen werden, gehörtdazu. Wer sich die Objekte „wirklich“ zerschnitten denkt, macht einen grund-sätzlichen Fehler!Maschinenzeichner sind recht pragmatisch. Regeln sind nur „Empfehlungen“,die man, wenn es geht, einhalten sollte. Im Wissen darum, dass es fast un-möglich ist, alle Regeln gleichzeitig konsequent einzuhalten, hilft man sichdann mit Sätzen wie „nach Möglichkeit“, „wenn es der Platz erlaubt“, usw.

● Spezielle zusätzliche AnsichtenIm Maschinenzeichnen spricht man statt von Grund-, Auf-, Kreuz- und Sei-tenrissen von der Draufsicht, Vorderansicht, Ansicht von links bzw. rechtsund zusätzlichen Ansichten.„Geräte“ (so heißen die Objekte auch) kann man in allen möglichen speziellen undallgemeinen Ansichten darstellen. Solche Bilder helfen zwar dem Betrachter, sichdas Objekt besser vorstellen zu können, bauen kann man das Gerät aber oft genugnicht nach diesen Plänen.

Ansicht X

Abb. 2.44 Beim abgebildeten Werkstück genügt ei-ne Hauptansicht und eine einzige gezielte zusätzlicheAnsicht.

A

B

SCHNITT A B

Abb. 2.45 Schnitt durch einen Rohrkrüm-mer: Alles, was hinter der virtuellen Schnitt-ebene zu sehen ist, wird eingezeichnet.

Abb. 2.44 links zeigt ein Gerät, diesmal durch eine typische Maschinenzeichnungdargestellt: Es genügt eine Vorderansicht und eine gezielte zusätzliche Ansicht, umalle nötigen Maße in wahrer Länge zu sehen und auch bemaßen zu können. Dünne

2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders 71

strichpunktierte Linien werden im Maschinenzeichnen für unterschiedliche Zweckeverwendet. Im Allgemeinen stellen sie Rotationsachsen dar, könne aber auch alsSymmetrieachsen oder – in Form eines Achsenkreuzes – zum Markieren eines Kreis-mittelpunkts Verwendung finden. ◾

● Virtuelle SchnitteIm Maschinenzeichnen steht man immer wieder vor dem Problem, Objektedarzustellen, die selbst bei verschiedenen Projektionen nur schwer eindeutigzu erkennen oder gar zu bemaßen sind. Zu diesem Zweck hat man den Schnitteines Objekts entwickelt. Darunter versteht man eine gedachte Zerlegung desObjekts längs einer – meist zu einer Körperachse normalen bzw. die Achseenthaltenden – Schnittebene. In der Regel wird das, was in der Schnittebe-ne liegt, schraffiert (Ausnahmen bilden Längsschnitte von Streben, Rippen,Schrauben, Muttern, Beilagscheiben, usw.). Alles, was vor der Ebene liegt,wird weggelassen, alles dahinter gezeichnet.Abb. 2.45 links zeigt einen Schnitt durch einen Rohrkrümmer. Um zu erklä-ren, wo Bohrungen anzusetzen sind, aber auch, wo Schrauben eingeschraubtwerden, eignet sich ein einfacher Schnitt (AB). Die Pfeile deuten die Blick-richtung an. ◾

● Mehrfache virtuelle SchnitteAbb. 2.46 soll illustrieren, dass man auch bei vermeintlich einfachen Objektennicht mit einem einzelnen Schnitt auskommt. Dabei gilt folgende Regel: BeiMehrfachschnitten wird jeder Schnitt ohne Berücksichtigung anderer Schnitteausgeführt.

A

B

C

D

Schnitt AB Schnitt CD

Abb. 2.46 Mehrfachschnitte bei einem einzigen Objekt: Ganz links liegt ein Halbschnitt vor.Daneben sieht man eine Ansicht von links und zwei weitere Schnitte durch das Objekt.

Links ist zunächst eine Vorderansicht des Objekts (eine Düse) zu sehen. DasObjekt ist symmetrisch, daher kann man zwei Fliegen auf einen Schlag er-ledigen: Die eine Hälfte – bis zur strichpunktierten Symmetrieachse – wirdals Ansicht gezeichnet (ob die obere oder untere Hälfte, hängt von der ver-wendeten Norm ab). Weil die andere symmetrisch ist, stellt man die andereSeite im sogenannten Halbschnitt dar, um das – nicht allzu komplizierte –Innenleben der Düse zu illustrieren. Eine wichtige Regel dabei ist, dass dieSchnittachse nicht als Volllinie nachgezogen werden darf: Der Schnitt ist nurvirtuell!

72 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Nun wäre man bereits fertig, wenn alle Teile der Düse zylindrisch wären,denn es ist im Maschinenzeichnen vereinbart, dass Teile automatisch zylin-drisch sind, wenn nichts dagegen spricht. Eine Ansicht von links (im Regelfallrechts von der Vorderansicht gezeichnet) zeigt aber, dass zumindest der Dü-senkopf quadratisch ist. Was dahinter liegt, könnte immer noch zylindrischoder wieder quadratisch sein. Im vorliegenden Fall ist der Teil zwischen A

und B zylindrisch, die Verdickung rechts davon quadratisch. Das kann in ei-nem Schnitt von A nach B („Vollschnitt“) gut gezeigt werden. Schlussendlichsoll ein Vollschnitt von C nach D zeigen, dass der Rest der Düse wieder zy-lindrisch ist. Wenn Platz genug ist, werden hinter einander liegende Schnitte„in Serie“ gezeichnet. ◾

● BemaßungGeräte sollen erstens dort bemaßt werden, wo man es erwartet (dort, wodie Maße unverkürzt zu sehen sind), und zweitens so, dass am Werkstücknachgemessen werden kann. Deshalb werden in der Regel nicht die Radienvon Kreisen, sondern deren Durchmesser bemaßt, notfalls auch mit „fliegen-den Maßen“ (Abb. 2.47 ganz links). Wenn der Kreis projizierend ist, schreibtman das Durchmesserzeichen Ø dazu.

215

15

10

30

28

10

5

25 2

6

o 2

0/ o 2

6/ 39.5o

38

/

o 1

4/

o 2

0/

45´

Abb. 2.47 Mehrfachschnitte bei einem einzigen Objekt: Ganz links liegt ein Halbschnitt vor.Daneben sieht man eine Ansicht von links und zwei weitere Schnitte durch das Objekt.

Um nicht sichtbare Bohrungen und Ähnliches bemaßen zu können, arbeitetman entweder mit Vollschnitten oder Halbschnitten. Oft genügt es aber auch,das Objekt lokal „aufzureißen“, also einen Teilschnitt durchzuführen. Ist einObjekt zu lang, um zur Gänze abgebildet zu werden, unterbricht man eskurzerhand (z.B. mit einer Wellenlinie oder mit einer Achterschleife). Wich-tig sind immer die Außenmaße. Geschlossene Maßketten sind zu vermeiden.Maßlinien sollen sich nach Möglichkeit nicht überkreuzen.So einfach das Werkstück in Abb. 2.47 auch zu sein scheint: Eine anschaulicheSkizze davon zu erstellen, bei der alle Einzelheiten eindeutig zu erkennen

2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders 73

Abb. 2.48 Das in Abb. 2.47 beschriebene Werkstück, links mit echten Schnitten (falsch!), rechtstransparent in einer räumlichen Ansicht dargestellt.

sind, erscheint relativ schwierig. Im Zeitalter des Computers kann man sichmanchmal mit Transparenz-Zeichnungen über die Runden helfen (Abb. 2.48).Ein Viertel des Objekts herauszunehmen, erhöht zwar die Anschaulichkeit,birgt aber die Gefahr eines Missverständnisses! ◾

Schnitte in Bauzeichnungen

Abb. 2.49 Perspektivische Ansicht des in Abb. 2.50 dargestellten Objekts, mittels einer Foto-montage eingebettet in seine geplante zukünftige Umgebung.

Bauzeichnungen unterscheiden sich mitunter beträchtlich von Maschinen-zeichnungen. Schon die „Norm“ ist z.B. verschieden (1 cm statt 1 mm). Au-ßerdem gibt es keine Bemaßungspfeile, stattdessen Striche. Wie im Maschi-nenzeichnen sind jedoch virtuelle Schnitte von essentieller Bedeutung.Abb. 2.50 zeigt ein doch recht kompliziertes Gebäude (Cornelia Faißt) mitdrei zugeordneten Schnitten. Ohne jetzt im Detail darauf einzugehen: Hierkann niemand behaupten, sich aufgrund dieser drei Schnitte das Objekt wirk-lich vorstellen zu können, und es ist zumindest eine allgemeine Ansicht not-wendig (Abb. 2.49), um überhaupt erkennen zu können, worum es sich han-delt. Bewundernswerterweise entwickeln Architekten aber im Lauf der Zeiteine erstaunliche Gabe, aufgrund einer Serie von Schnitten tatsächlich tiefereEinsichten in nahezu unüberschaubare Szenen zu gewinnen.Im Vorgriff auf Kapitel 6 sei verraten: Die Außenwand des Gebäudes wird von soge-nannten HP-Schalen (hyperbolischen Paraboloiden) gebildet, die zwei verschiedene

74 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

Abb. 2.50 Gebäude mit einem horizontalen und zwei vertikalen Schnitten.

Scharen von Geraden tragen (Abb. 6.17, 7.7). Die in Abb. 2.50 eingezeichneten ebe-nen Schnitte solcher Flächen sind – wie der Name schon andeutet – Parabeln bzw.Hyperbeln.

Abb. 2.51 Trotz aller Computersimulationen: Das Modell ist nach wie vor für das Verständnissehr wichtig. Hier ist besonders deutlich der Charakter der Außenhaut zu sehen – diese trägt zwei

unterschiedliche Scharen von Geraden! Der verspiegelte Boden bringt natürlich für die Präsenta-tion zusätzliche Effekte, ist für das Erfassen des Objekts aber gewöhnungsbedürftig.

3 Polyeder:Vielflächig und vielseitig

Die nicht gekrümmten Flächendes Raums sind die Ebenen.Flächen, deren Oberfläche aus-schließlich von ebenen Vieleckengebildet werden, heißen Polyederoder „Vielflache“.Polyeder waren und sind derSchlüssel zu vielen geometrischenErkenntnissen. Neuerdings sindsie auch der Schlüssel zur com-putergerechten Behandlung allergekrümmten Flächen. Diese wer-den nämlich „trianguliert“, also inDreiecke zerlegt.

Wenn also der Computer mit allgemeinen Flächen rechnet (seien sie nochso kompliziert), wird oft genug eine Näherungsfläche herangezogen, welchedie Fläche je nach Feinheit der Triangulierung mehr oder weniger genauannähert.Unter den Polyedern spielen – wie so oft in der Geometrie – die Sonderfälleeine tragende Rolle. Es gibt z.B. einige wenige Polyeder, die aus lauter de-ckungsgleichen Vielecken bestehen. Unter ihnen sind die Platonischen Kör-per . Lässt man zwei Typen von Randpolygonen zu, spricht man von denarchimedischen Körpern . Von ihnen gibt es schon viel mehr. In der Naturkommen beide Typen sehr häufig vor, besonders im Mikrokosmos. Was alsovor mehr als zweitausend Jahren von den alten Griechen akribisch erforschtwurde, ist heute unter dem Mikroskop zu sehen.

Überblick3.1 Kongruenztransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

3.2 Konvexe Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

3.3 Die Platonischen Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

3.4 Weitere bemerkenswerte Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

3.5 Ebene Schnitte von Prismen und Pyramiden . . . . . . . . . . . . . . . . 100

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

76 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

3.1 Kongruenztransformationen

Bevor wir uns mit den Polyedern befassen, wollen wir den wichtigen Begriffder räumlichen Kongruenztransformation unter die Lupe nehmen. Darun-ter versteht man eine Transformation (Bewegung) im Raum, bei der beimbewegten Objekt Winkel und Längen erhalten bleiben (Abb. 3.1).

Abb. 3.1 Von den Flügeln abgesehen: Kongruenztransformationen

Dazu gehören die Translationen (Schiebungen) und Rotationen (Drehungen).Beide sind gleichsinnig kongruent.

Abb. 3.2 Drehungen beim Zauberwürfel nach Rubik

Im Gegensatz dazu sind die Spiegelungen an einer Ebene gegensinnig kon-gruent. Abb. 3.3 zeigt die alltägliche Spiegelung an einem lotrechten Spiegel.

Abb. 3.3 Spiegelungen an einer lotrechten Ebene. Die Pfauenfeder ganz rechts berührt die nichtverspiegelte vordere Glasschicht, was an den leicht eingedrückten Fasern zu erkennen ist.

Dabei wird nicht – wie man gerne glauben möchte – links und rechts ver-tauscht, sondern vorne und hinten, was besonders schön in Abb. 3.3 rechtszu sehen ist. Vom geometrischen Standpunkt kann man das allgemeiner for-mulieren: Bei einem Spiegel wird das Vorzeichen des Abstands eines Punktsvon der Spiegelebene umgedreht.

3.1 Kongruenztransformationen 77

Auch die Spiegelungen an einem Punkt sind – im Gegensatz zur Ebene – gegensin-nig! Im Raum kann man nämlich einen Umlaufsinn nur so definieren, dass man einsogenanntes räumliches Dreibein (eine Würfelecke) betrachtet.

Abb. 3.4 Drei (ungleichförmige) Rotationen um schneidende bzw. parallele Achsen

Abb. 3.4 zeigt drei unabhängige Rotationen um schneidende bzw. paralleleAchsen. Diese sind nicht gleichförmig (es handelt sich um harmonische Schwin-gungen), was aber vom geometrischen Standpunkt aus keinen Unterschiedmacht. Die äußerst rechte Achse ist übrigens fast projizierend.

Abb. 3.5 Rotation um eine allgemeine Achse

Setzt man zwei Drehungen um schneidende Achsen zusammen, so erhält manwieder eine Drehung um eine dritte Achse, die durch den Schnittpunkt der beidenAchsen geht.

Umgekehrt können die allgemeinen Drehungen im Raum in Drehungen umspezielle Achsen zerlegt werden. Die Erkenntnis stammt von Euler und ist inder analytischen Geometrie von enormer Bedeutung.Abb. 3.5 zeigt eine Drehung um eine allgemeine Gerade, und zwar jene Ach-se, um die man – bei diesem speziellen Fahrradtyp – das Vorderrad drehenkann (wir wollen davon absehen, dass sich diese Achse im konkreten Fall einwenig während der Bewegung ändert). Der Sonnenstand ist etwa so, dassdie Drehachse im Schatten beinahe punktförmig („projizierend“) erscheint.Beobachtet man die Drehung in Richtung der Drehachse (im speziellen Fallalso von der Sonne aus), so erscheint die Bewegung als „ganz normale“ zwei-dimensionale Drehung.

78 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

In Abb. 3.2 werden immer wieder Rotationen um schneidende Achsen aus-geführt. Allerdings nicht auf den ganzen „Zauberwürfel“, sondern immer nurauf einzelne Schichten. Dann funktioniert der Satz vom „Ersetzen durch eineeinzige Drehung“ natürlich nicht mehr, und es ist schon eine Kunst, all die-se Drehungen wieder ungeschehen zu machen. In einer Computer-Animationkann man das Ganze natürlich mit einem unfairen Trick angehen: Man lässtden Benutzer beliebig viele Drehungen ausführen, merkt sich aber alles undführt beim Befehl „Auflösen“ einfach die Drehungen in der umgekehrten Rei-henfolge und mit negativen Drehwinkeln wieder aus.

Abb. 3.6 Links: Spiegelung an einer Ebene? Rechts: Spiegelung an mehreren Ebenen, aber nichtleicht zu durchschauen (die Quallen befinden sich hinter den spiegelnden Ebenen).

Abb. 3.6 lässt zunächst die Vermutung aufkommen, dass es sich um eineSpiegelung handelt. Beim genaueren Hinsehen erkennt man natürlich, dasszwei verschiedene, im Wesentlichen aber gleichsinnig kongruente Tierchen zusehen sind. Sie können durch eine Drehung um 180○ zur Deckung gebrachtwerden. Die Drehachse ist etwa die Mittengerade der beiden parallelen Kör-perachsen.

Abb. 3.7 Diese Transformation ist rein mathematisch

Abb. 3.7 zeigt eine Transformation eines Skeletts aus der Hockstellung in die ge-streckte Stellung. Dazu ist in der Praxis eine „Komposition“ vieler Drehungen undTranslationen nötig. Einer Eingebung von Hannes Kaufmann zufolge kann man

3.2 Konvexe Polyeder 79

sämtliche Zwischenlagen sehr einfach berechnen, indem man diese als Linearkombi-nationen von Anfangs- und Endlage interpretiert.

Abb. 3.8 Nur bedingt Kongruenztransformationen

In der Computergrafik beschäftigt man sich intensiv mit Transformationen, diees erlauben, Lebewesen möglichst realistisch zu animieren (die Ibisse in Abb. 3.8sind allerdings echt). Einige professionelle Programme haben Module eingebaut,die solche Animationen bereits sehr realistisch aussehen lassen. Dazu braucht maneiniges Wissen über die Kinematik, der wir in diesem Buch die beiden Kapitel 10und 11 widmen.

Abb. 3.9 Solche Figuren entstehen durch . . . Abb. 3.10 . . . Spiegelungen im Dreiflach

3.2 Konvexe Polyeder

Ein geschlossenes Polyeder heißt konvex, wenn es keine Einbuchtungen besitzt.Wenn wir zwei beliebige Ecken durch eine Sehne miteinander verbinden, dannliegt diese zur Gänze innerhalb des Polyeders oder in einer Seitenfläche.

Solche Vielflache spielen in unserer Welt eine enorm große Rolle, und auchgeometrisch gesehen besitzen sie Eigenschaften, die sie besonders „einfach“machen.

80 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Prismen und PyramidenEin Prisma entsteht, wenn man ein Polygon (das nicht unbedingt eben seinmuss), parallel durch den Raum verschiebt. Man kann auch sagen: Man „ver-bindet“ ein Leitpolygon mit einem Fernpunkt. Diese zweite Definition lässtsich nämlich leicht erweitern, und man erhält eine Pyramide als Verbindungeines Leitpolygons mit einem beliebigen Punkt (der allerdings nicht in deretwaigen Trägerebene des Leitpolygons liegen und kein Fernpunkt sein darf).

Abb. 3.11 Von der Ferne immer noch riesig

So gesehen sind Prismen eigentlich nur Spezialfälle von Pyramiden: DerScheitel (die Spitze) der Pyramide ist dann ein Fernpunkt.Analog heißt ein ebenes Polygon konvex, wenn jede nur denkbare Sehne nichtaus dem Polygon hinaus ragt. Der folgende Satz ist unmittelbar einsichtig:

Wenn man ein ebenes konvexes Polygon mit einem festen Punkt (einem Fern-punkt) verbindet, der nicht in der Trägerebene liegt, entsteht eine konvexe Py-ramide (ein konvexes Prisma).

Abb. 3.12 Von der mehrstufigen Mastaba zur Perfektion

Die schönsten Beispiele für regelmäßige Pyramiden haben uns die alten Ägyp-ter hinterlassen. So nahe liegend ihre Gestalt ist, so schwierig war es, diekolossalen Objekte zu bauen. Bei einer quadratischen Grundfläche von überzweihundert Metern Seitenlänge war allein schon das Nivellieren des Fun-

3.2 Konvexe Polyeder 81

daments eine Meisterleistung, die zentimetergenau gelungen ist. Im Prinzipwurden zunächst Stufenpyramiden gebaut (Abb. 3.12 links), deren Oberflä-che in weiterer Folge spiegelglatt ausgeführt wurde (die Spitze der Cheops-Pyramide ist noch fast nicht stark beschädigt). Der Anblick muss vor 4500Jahren (!) noch überwältigender gewesen sein, als er es heute ist.

Eine Reihe von einfachen EigenschaftenKonvexe Polyeder haben, wie schon angedeutet, Eigenschaften, die uns beigeometrischen Überlegungen sehr behilflich sein können. Es gilt zunächstfolgender Satz:

Der Umriss und der Schlagschatten eines konvexen Polyeders auf eine beliebigeEbene sind konvexe Polygone.

Der Beweis folgt unmittelbar aus der „Sehnen-Definition“ der Konvexität:Denken wir uns ein solches Objekt mit lauter gespannten „Fasern“ gefüllt.Diese werfen Schatten, die ihrerseits niemals aus dem Schattenumriss desObjekts herausragen.

Abb. 3.13 Schatten konvexer Polyeder

● Schatten von Prismen und PyramidenAbb. 3.13 zeigt den Schatten dreier einfacher konvexer Körper. Schatten vonPrismen werden häufig auch von Schatten paralleler Prismenkanten berandet– den Rest bilden die Schatten der Kanten von Basis- und Deckfläche. Stehtdas Prisma auf der „Schirmebene“, dann sind die in Frage stehenden Kantenleicht gefunden: Man braucht nur die Lichtquelle in Kantenrichtung auf dieSchirmebene projizieren und dort die „Tangenten“ an das Basispolygon le-gen. In der Architektur liegen meist gerade Prismen und Parallelbeleuchtung(Sonne) vor. In diesem Fall erhält man die in Frage stehenden Prismenkanten,indem man den Grundriss der Lichtstrahlen an das Basispolygon „anlegt“.Bei Pyramiden sind die Überlegungen ganz ähnlich. Diesmal laufen alle Kan-ten in einem Punkt zusammen – auch im Schatten. Man wird daher denSchatten der Pyramidenspitze aufsuchen und aus diesem Punkt die Streifge-raden an das Basispolygon legen. Sie beranden das Schattenpolygon. ◾

82 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Eine weitere sehr praktische Eigenschaft konvexer Körper, die ebenfalls ausihrer Definition folgt, lautet:

Bei Projektion ist jede Seitenfläche eines konvexen Körpers entweder sichtbar,verdeckt oder projizierend.

Analog dazu gilt – wenn man sich statt des Sehvorgangs einen Beleuchtungs-vorgang denkt:

Konvexe Körper werfen keinen Schatten auf sich selbst. Ihre Seitenflächen sindentweder beleuchtet, im Eigenschatten oder im Streiflicht.

Diese Regel macht sich die Computergeometrie zunutze: Bei konvexen Körpern kannman den Normalvektor n einer Seitenfläche immer so orientieren, dass er nach außengerichtet ist. Wenn nun n mit dem zum Projektionszentrum / Lichtzentrum orien-tierten Projektionsstrahl / Lichtstrahl p einen spitzen Winkel bildet, ist die ganzeFläche sichtbar / beleuchtet. Man braucht dabei nur das Vorzeichen des Skalarpro-dukts n ⋅ p abzufragen. Das gilt auch dann noch, wenn Zentralprojektion / Zentral-beleuchtung vorliegt: In diesem Fall unterscheiden sich zwar die Projektionsstrahlen/ Lichtstrahlen durch die Punkte der Seitenfläche, aber die Entscheidung, ob derWinkel spitz oder stumpf ist, wird dadurch nicht beeinflusst.Aus dem bisher Gesagten können wir folgende Regel ableiten:

Sichtbarkeitsregel : In der Projektion eines konvexen Körpers gehen von einemEckpunkt, der ganz innerhalb des Körperumrisses liegt, entweder nur sichtbareoder nur nicht sichtbare Kanten aus. Das Umrisspolygon ist zur Gänze sichtbar.

Kombination mehrerer konvexer Körper

In der Praxis stellt man natürlich nicht immer nur genau einen konvexenKörper dar. Die Frage ist, welche der angeführten praktischen Regeln sichauf Szenen übertragen lassen, die aus mehreren solcher Bausteine bestehen.Wir wollen die Vorgangsweise an einem konkreten Beispiel besprechen. InAbb. 3.16 ist ein nicht-konvexer Körper dargestellt, der aber bei genauererBetrachtung „harmlos nichtkonvex“ ist: Er lässt sich problemlos in drei kon-vexe Bausteine zerlegen, und zwar in zwei regelmäßige achtseitige Prismenund einen quaderförmigen Anbau.Während die Sichtbarkeitsentscheidung bei einem solchen Körper von un-serer Raumvorstellung problemlos gemeistert wird, ist das Einzeichnen derSchatten keineswegs mehr „trivial“ und erfordert diszipliniertes Vorgehen.In einem ersten Schritt behandelt man jeden der drei konvexen Teilkörpereinzeln nach den vorhin aufgelisteten Regeln. Insbesondere kann man einzelndie Schlagschatten auf die Basisebene ermitteln. Der Gesamtschatten aufder Basisebene entsteht dann durch „Verschmelzen“ der einzelnen konvexen

3.2 Konvexe Polyeder 83

Abb. 3.14 Systematisches Vorgehen: Körper einzeln behandeln. . .

Schattenpolygone. Das so entstehende Schattenpolygon kann dadurch leichtkompliziert aussehen und ist natürlich i. Allg. nicht konvex.Ein Hinweis zum grafischen Ausfertigen (für uns ist das Freihandzeichnen ein wich-tiges Ziel, und wir haben ihm einen ganzen Anhang gewidmet): Der Schlagschattenauf eine Fläche „weiß nicht mehr, von welchem Teilkörper er stammt“. Alle Schlag-schatten auf eine Fläche nehmen die Textur der Fläche an, auf der sie liegen. Mansollte auch die einzelnen konvexen Schatten nicht besonders hervorheben. Schattenhaben immer „flächigen Charakter“. Selbst die Berandung des Gesamtschattenpo-lygons sollte nicht übertrieben hervorgehoben werden: Schattengrenzen sind – auchauf Fotografien – nicht besonders scharf ausgeprägt. Das hat damit zu tun, dass esin der Praxis keine wirklich punktförmige Lichtquelle gibt. Selbst die Sonne ist amFirmament eine „Scheibe“ mit einem halben Grad Öffnungswinkel.

Abb. 3.15 . . . und miteinander in Beziehungbringen

Abb. 3.16 Normalriss dreier konvexer Polyedermit Schatten

Durch das Zerlegen der Szene können wir auf jedem einzelnen konvexen Bau-stein jene Flächen aussortieren, die zur Gänze im Eigenschatten liegen. Fürsie gilt nun die wichtige Regel:

Flächen, die im Eigenschatten liegen, können nicht zusätzlich teilweise beschattetwerden.

Dies erleichtert die weitere Arbeit, bei der es nun darum geht, Schatten dereinzelnen Bausteine aufeinander zu ermitteln. Hier gilt zunächst:

Zwei konvexe Körper werfen niemals wechselweise Schatten aufeinander. Wennüberhaupt, dann wirft nur einer Schatten auf den anderen.

84 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Abb. 3.17 Der Detailausschnitt zeigt die Knickpunkte der Schattengrenze

Auf diese Weise erspart man sich viel Arbeit bzw. sind auch viele mögliche Fehler-quellen ausgeschaltet. Man kann sich eine Art Prioritätenliste anlegen, die sich inden allermeisten Fällen leicht sortieren lässt. Es gibt – bis auf wenige verzwickteAusnahmen – immer einen vordersten Teilkörper, der gar keine Schlagschatten „ab-bekommt“. In der nächsten Reihe kommen dann jene Körper, die nur von diesemKörper beschattet werden können, und so fort. Selbst bei den seltenen Fällen, indenen das Sortieren der Liste zunächst nicht möglich ist, kann man das Problemmeistern, indem man einzelne – meist sehr längliche – konvexe Teilkörper in zweiTeile zerlegt.

● Beschleunigung von Computerprogrammen

Abb. 3.18 Szenen aus. . . Abb. 3.19 . . . konvexen Polyedern

Wenn man alle Vorteile ins Kalkül zieht, die sich durch Zerteilen einer Szene inkonvexe Teilkörper ergeben, kommt man auch bei einigermaßen komplizierten Sze-nen wie in Abb. 3.18 sehr schnell zu realistischen Darstellungen. Das kann wichtigsein: Wenn man z.B. ein „Schachprogramm“ schreiben will, das in erster Linie intel-ligent reagieren soll, aber „so nebenbei“ dem menschlichen Spieler die momentaneSituation möglichst hautnah zeigen will. Hier wäre es schade, wenn allein für das„Rendern“ des Bildes wertvolle Zeit verloren geht. Wünschenswert (und in diesemFall problemlos möglich) ist eine Darstellung „in Echtzeit“, also dreißig Bilder proSekunde zu erzeugen.In [7] sind die entsprechenden Computer-Algorithmen detailliert beschrieben, diesolche schnellen Berechnungen möglich machen. Auch wenn sie – für Computergrafik-Begriffe – schon etwas älter sind, ermöglichen sie immer noch die schnellsten Com-

3.2 Konvexe Polyeder 85

Abb. 3.20 Interpretation als Voll- und Hohlkörper

putergrafiken mit korrekt berechneten Schlagschatten. Selbst die Szene in Abb. 3.19(sie stellt den mittlerweile museumsreifen, damals aber bahnbrechenden Minicom-puter Commodore Amiga dar) erlaubt Animationen in Echtzeit. Die Algorithmensind ein typisches Beispiel dafür, wie theoretisches geometrisches Wissen sehr ofteinen Vorsprung in einer anderen Disziplin ermöglicht. ◾

Abb. 3.20 zeigt links konvexe Polyeder, die „abgerundet“ sind. Die Eigenschatten-grenzen dieser Körper sind immer noch vergleichsweise einfach, und sämtliche Schat-tenpolygone stammen von diesen Eigenschattengrenzen.In Abb. 3.20 rechts wurden die größten Polygone aus dem Polyeder entfernt. Da-durch ist das Polyeder natürlich nicht mehr konvex. Andererseits kann man unterUmständen immer noch einige Vorteile aus der Tatsache ziehen, dass die „Hülle“ desPolygons konvex ist: So werfen entweder alle Teilflächen potentiell einen Schattenauf die Basisebene, oder gar keine. Weiter sind alle Vorderflächen des Polyedersentweder ganz beleuchtet oder ganz im Eigenschatten. Unter Ausnützung dieserVorteile kann die Szene mehrmals pro Sekunde realistisch dargestellt werden.

Mehrere Lichtquellen

Abb. 3.21 Halbschatten und Kernschatten eines konvexen Körpers

Unter Verwendung von Kunstlicht, aber auch bei gewöhnlichem Sonnenlichtund spiegelnden Flächen, entstehen nicht selten Halbschatten und Kern-schatten: Gebiete im Halbschatten sind von mindestens je einer Lichtquelle

86 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

beleuchtet bzw. nicht beleuchtet. Punkte im Kernschatten sind von keinerLichtquelle beleuchtet.Auch wenn das Ergebnis durchaus kompliziert aussieht: Geometrisch hat mandie Sache leicht im Griff, wenn man jede Lichtquelle einzeln „abarbeitet“. Beikonvexen Körpern erhält man dabei zwei oder mehr konvexe Schattenpoly-gone. Dort, wo sich alle Polygone überlappen, liegt Kernschatten vor. AndereGebiete sind mehr oder weniger stark beleuchtet, je nachdem, wie viele Licht-quellen von ihren Punkten aus zu sehen sind.

Abb. 3.22 Schattenprofile eines Hochhauses (Sommer- und Winterhalbjahr)

● SchattenprofileMan kann eine Szene hinsichtlich ihrer Beschattung im Lauf des Tages un-tersuchen, indem man in regelmäßigen Intervallen – z.B. alle Stunden – dieSchatten der Szene berechnet.Abb. 3.22 zeigt, wie man dann erkennen kann, wie viele Stunden einzelnePunkte an dem in Frage stehenden Tag im Schatten sind. Solche Frage habenbei baulichen Veränderungen in dicht bebauten Gebieten hohe Bedeutung.

Abb. 3.23 Unter Ausnützung neuer Hardware kann man heute mit dem Computer Schattenprofilein Sekundenschnelle erstellen. Dies ist eine große Hilfe für Architekten, die ja per Gesetz daraufachten müssen, dass neue Gebäude nicht zu viel Schatten auf die Umgebung werfen. Dabei kannman von jedem sichtbaren Punkt der Szene minutengenau sagen, wie lange er beschattet wurde(Programmentwicklung Günter Wallner, www.uni-ak.ac.at/geom/schattenprofile/). ◾

Wann liegt ein Polyeder vor?Abb. 3.24 zeigt zwei Gebilde, die keine Polyeder im strengen Sinn sind: Beim Modelllinks sind die Rotoren des Hubschraubers keine Polygone, beim Objekt rechts sind

3.2 Konvexe Polyeder 87

Abb. 3.24 Originelle Bastel-Ergebnisse mit Geomag. Zwei Ergebnisse sind aber „ungültig“: Beiechten Polyedern müssen alle Polygone geschlossen sein, und zwei aneinander grenzende Polygonein derselben Ebene werden „verschmolzen“.

Basis- und Deckfläche, die regelmäßige Sechsecke sind, in sechs gleichseitige Drei-ecke zerlegt, die in einer Ebene liegen. Wenn man die Mittelpunkte der Sechseckeaus der Ebene „herauszieht“, entsteht eine regelmäßige sechsseitige Pyramide, derenSeitenflächen aber nur mehr gleichschenklig und nicht gleichseitig sind.

Der Eulersche PolyedersatzFür geschlossene Polyeder, die „keine Löcher“ haben, insbesondere also für konvexePolyeder, hat L. Euler einen einfachen Zusammenhang zwischen der Anzahl e derEcken, der Anzahl k der Kanten und der Anzahl f der Flächen angegeben:

e+f = k+2So hat der Würfel e = 8 Ecken, k = 12 Kanten und f = 6 Flächen, und es ist8 + 6 = 12 + 2.Beweis:Ein eleganter und kurzer Beweis lässt sich mittels des Prinzips der Vollständigen In-duktion zeigen, das in der Mathematik recht häufig zum Ziel führt. Der Trick bestehtdarin, dass wir den Satz für Polyeder beweisen, denen wir eine Fläche abnehmen.Wir nennen diesen Polyedertyp „geöffnet“. Die Anzahl der Ecken und Kanten desgeschlossenen und des geöffneten Polyeders stimmen überein, während der geöffneteeine Fläche weniger hat. Für geöffnete Polyeder ist also zu zeigen, dass e+ f = k + 1gilt.Zunächst „verankern“ wir die Induktion: Der Satz stimmt im einfachsten Fall, einemeinzelnen Polygon (f = 1) mit e Punkten und ebenso vielen Kanten.Nun kommt der Schluss von f auf f + 1: Wir nehmen an, dass der Polyedersatz füralle geöffneten Polyeder mit maximal f Flächen gilt. Wenn sich daraus beweisenlässt, dass der Satz auch für geöffnete Polyeder mit f + 1 Flächen gilt, kann manden Schluss immer wieder anwenden und hat ihn für alle f bewiesen.

Abb. 3.25 Figur zum Beweis

Betrachten wir ein geöffnetes Polyeder mit f Flächen. Dieses zerlegen wir längs einesbeliebigen geschlossenen (nicht ebenen) Linienzugs, der aus m Kanten besteht, vondenen exakt zwei dem „Deckel“ angehören sollen (Abb. 3.25), in zwei offene Polyeder.

88 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Die beiden Teile bringen in Summe nach wie vor f Flächen auf die Waage, allerdingsum m − 2 mehr Kanten bzw. m − 1 mehr Ecken. Für beide Teilpolyeder gilt nachInduktionsvoraussetzung e1 + f1 = k1 + 1 bzw. e2 + f2 = k2 + 1, in Summe also(e1 + e2) + (f1 + f2) = (k1 + k2) + 2. Wegen e1 + e2 = e +m − 1, f1 + f2 = f undk1 + k2 = k +m − 2 haben wir (e +m − 1) + f = (k +m − 2) + 2 und damit tatsächliche + f = k + 1. ◾

3.3 Die Platonischen Körper

Vor knapp 2500 Jahren begannen „die alten Griechen“, räumliche geometri-sche Körper systematisch zu klassifizieren. Die Frage nach allen Polyedern,die aus kongruenten (deckungsgleichen) Teilflächen bestehen, die überall glei-che Winkel bilden, lag sehr nahe. Man kannte schon einige davon, und esstellte sich bald heraus, dass man schon alle bis auf eines kannte, jenes miteinem für Nicht-Griechen nicht gerade leicht auszusprechenden Namen Pen-tagondodekaeder (kürzer einfach Dodekaeder genannt).

Einfacher geht’s nicht

Der Würfel – auch regelmäßiges Hexaeder (Sechsflach) genannt – ist dasbekannteste Beispiel, auch wenn es nicht jenes regelmäßige Polyeder ist, dasmit den wenigsten Punkten, Kanten oder Seitenflächen auskommt: Er besitztacht Ecken, zwölf Kanten und sechs kongruente quadratische Seitenflächen.Was den Würfel so einfach macht, ist die Tatsache, dass alle seine Kanteneinen rechten Winkel bilden. Er ist also ein spezieller Quader, und Quaderkann man sich sehr einfach vorstellen, weil sehr viele Dinge des Alltags qua-derförmig sind.

Abb. 3.26 Der Schlagschatten eines Würfels ist i. Allg. ein Sechseck

Pyrit zählt zu den am häufigsten in der Natur vorkommenden sulfidischen Minera-lien. Es kristallisiert im kubischen Kristallsystem und tritt häufig in gut ausgebil-deten, würfelförmigen Kristallen auf, die eine charakteristische Streifung aufweisen,manchmal auch als Dodekaeder.Wenn eine Skizze von einem Würfel zu machen ist, zeichnen die meistenzunächst ein Quadrat und hängen dann vier gleich lange (oder etwas kürzere),

3.3 Die Platonischen Körper 89

Abb. 3.27 Pyrit („Katzengold“) mit würfelförmigen Kristallen

parallel schräg nach hinten laufende Strecken dran. Dadurch erhält man diehinteren Eckpunkte.

Abb. 3.28 Netz eines Würfels samt ebenem Schnitt (ungünstig gewählt, weil das Netz „zerfällt“)

Die Skizze ist durchaus aussagekräftig, auch wenn niemand in Wirklichkeiteinen Würfel in natura so sehen kann. Sie vermittelt, was wir über den Würfelwissen. Ein technischer Zeichner würde zwei Quadrate über- bzw. nebenein-ander zeichnen und sagen: Das eine ist die Vorderansicht, das andere dieDraufsicht bzw. Ansicht von rechts. Das ist noch eindeutiger, wenn auch fürden Anfänger nicht ganz so anschaulich. Aber jeder versteht es.Breiten wir das Modell eines Würfels in die Ebene aus. Das Ergebnis wirdgern als Netz des Würfels bezeichnet. Man spricht auch von Verebnungoder Abwicklung des Würfels. Jetzt haben wir das Bedürfnis, sechs Qua-drate so aneinander zu hängen, dass sie nicht allzu viel Platz wegnehmen(wenn wir z.B. mehrere Würfelmodelle basteln wollen), und dass außerdemwir nach dem Zusammenfalten möglichst wenige Kanten zusammenklebenmüssen (möglichst wenige Kanten doppelt im Netz vorkommen). Wenn wir,wie in Abb. 3.28, nur den Rest eines Würfels nach einem ebenen Schnitt abwi-ckeln wollen, müssen wir auch aufpassen, damit wir nach dem Ausschneidennicht plötzlich einzelne Teile in der Hand haben (wie in der Abbildung).Abb. 3.26 zeigt einen Würfel, der von zwei Lichtquellen beleuchtet wird. Zu jederLichtquelle gehört i. Allg. in der Basisfläche (der schattenempfangenden Schirme-bene) ein Sechseck. Die beiden Sechsecke haben immerhin vier Punkte gemeinsam,so lange der Würfel aufliegt. Dort, wo sie sich überlagern, haben wir Kernschatten,sonst nur Halbschatten. In Abb. 3.26 rechts haben wir bei einer Lichtquelle „Streif-licht“. Damit ist das Schattenpolygon ausnahmsweise ein Viereck. So ein Fall trittauch häufig ein, wenn die Lichtquelle nahe am Würfel liegt.

90 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Drei Gebilde aus gleichseitigen Dreiecken

Es kann nur einen platonischen Körper geben, dessen Seitenflächen regelmä-ßige Vierecke, also Quadrate sind: Es können in jeder Ecke nämlich nur dreiQuadrate aufeinander treffen. Wären es vier, dann wäre mit 4 × 90○ = 360○

bereits der volle Winkel erreicht, und die Ecke keine räumliche Ecke mehr.

Abb. 3.29 Szenen einer Abwicklung (Tetraeder, Oktaeder, Würfel)

Aus diesem Grund können wir auch keine regelmäßigen Sechsecke als Facet-ten eines platonischen Körpers hernehmen: Eine Ecke wird aus mindestensdrei Facetten gebildet, und 3 × 120○ (so groß ist der Winkel zwischen zweiSechseckkanten) ergibt ebenfalls schon 360○. Regelmäßige Polygone mit mehrals sechs Seiten scheiden von vorn herein aus.Wir können also nur neue platonische Körper aus gleichseitigen Dreieckenbzw. Fünfecken gewinnen. Beim gleichseitigen Dreieck (Kantenwinkel 60○)gibt es dafür immerhin drei Möglichkeiten: Man kann je drei, vier und sogarfünf Dreiecke eine Raumecke bilden lassen. In allen drei Fällen ist die Summealler Kantenwinkel in einer Ecke kleiner als der volle Winkel.Bilden bereits drei Dreiecke eine Ecke, dann ist man so gut wie fertig: Dasfunktioniert mit vier gleichseitigen Dreiecken, und wir haben das regelmäßigeTetraeder (Vierflach). Abb. 3.29 links zeigt, wie es aus seinem Netz entstehenkann.

Abb. 3.30 Szenen einer Abwicklung (Dodekaeder, Ikosaeder)

Bilden vier Dreiecke eine Ecke, dann erhalten wir das regelmäßige Oktaeder.Abb. 3.29 Mitte zeigt ein mögliches Netz und dessen Zusammenfalten. DasOktaeder kann auch als doppelte quadratische Pyramide mit gleicher Basis

3.3 Die Platonischen Körper 91

interpretiert werden. Beide Pyramiden haben als Höhe die halbe Diagonaledes Basisquadrats.

Abb. 3.31 Platonische Körper mit Geomag. Ganz rechts: Regelmäßiges Ikosaeder (Zwanzigflach).Die Kugeln und Stäbe sind bei Geomag natürlich gleich groß, nicht aber in der Abbildung: DasTetraeder ist vergrößert, das Dodekaeder verkleinert dargestellt.

Bilden schlussendlich fünf Dreiecke eine Ecke, dann erhalten wir das regel-mäßige Ikosaeder (von ikosi=20). Abb. 3.30 rechts zeigt ein mögliches Netzund dessen Zusammenbau zu einem doch schon einigermaßen kompliziertenGebilde.Damit ist die Riege der regelmäßigen Polyeder, die aus gleichseitigen Drei-ecken bestehen, erschöpft. In unserer Systematik geht sich nur noch ein Kör-per aus, bei dem je drei regelmäßige Fünfecke (Kantenwinkel 108○) eine Eckebilden (3 × 108○ < 360○).

Der letzte unaussprechlich schöne platonische Körper

Abb. 3.32 Entwicklung eines Dodekaeders

Ein halbes Dodekaeder (von pentagon=Fünfeck und dodeka=zwölf) entsteht,wenn man an jede Seite eines regelmäßigen Basis-Fünfecks ein beweglicheskongruentes Fünfeck „anhängt“ und diese Anhängsel so lange um die Kantendreht, bis ein Polyeder entsteht (Abb. 3.32 links).Zwei so entstandene spiegelsymmetrische halbe Dodekaeder passen dann zu-sammen, wenn man eine Hälfte um 36○ längs der lotrechten Achse verdreht

92 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

(Abb. 3.32 rechts). Abb. 3.30 links zeigt einen brauchbaren Vorschlag zumBasteln des Dodekaeders.

Abb. 3.33 Das „fertige“ Dodekaeder in allgemeiner Ansicht und Hauptrissen

Die Bedingung, dass alle Facetten eines Polyeders kongruent sind, ist offensichtlichsehr einschränkend. Die oft von Architekten gehegte Wunschvorstellung, eine belie-bige Flächenhaut durch lauter kleine kongruente Dreieckchen anzunähern (das wärewahrlich eine Kosten sparende Lösung, siehe dazu auch Abb. 6.38), scheitert somitschon im Keim: Man bekommt immer wieder Ecken einer kleinen Schar von Poly-edern heraus, unter denen sich die regelmäßigen Tetraeder, Oktaeder und Ikosaederbefinden (Abb. 8.33).

Abb. 3.34 Sternpolyeder als nicht-konvexe regelmäßige Polyeder

Eine in der Praxis allerdings nur sehr bedingt hilfreiche Ausflucht haben wirnoch: Wir verzichten auf die Konvexität des Körpers, aber auch der einzel-nen Facetten, indem wir zusätzlich „Pentagramme“ erlauben. Dann nämlichkommt man auf weitere vier Typen von platonischen Körpern: Die Sternpo-lyeder. Abb. 3.34 zeigt diese seltsamen Gebilde, die erst relativ spät (Kepler1615 bzw. Poinsot 1809) entdeckt wurden.Beim großen und kleinen „gesternten Dodekaeder“ (Abb. 3.34 links bzw. rechts)– beide von Kepler beschrieben – durchdringen einander zwölf fünfzackige Ster-ne (Pentagramme) – jeweils eines ist exemplarisch blau eingefärbt. Beim großenDodekaeder (Abb. 3.34 Mitte rechts) sind zwölf regelmäßige Fünfecke miteinanderverschnitten, beim großen Ikosaeder (Abb. 3.34 Mitte links) sind es zwanzig Dreie-cke.

● Dualisieren der platonischen KörperAufgrund ihrer Regelmäßigkeit kann man allen platonischen Körpern eineKugel einschreiben (Inkugel) bzw. umschreiben (Umkugel).

3.4 Weitere bemerkenswerte Polyeder 93

Abb. 3.35 Das Basteln eines Dodekaeders ist am Computer leicht. In der Praxis – mit denmagnetischen Bausteinen von Geomag – hilft das Einsetzen von „Panelen“. Ganz links sind erst5 Panele eingesetzt, und das Gebilde ist noch nicht stabil. Ab dem 6. Panel (Bild Mitte) ist derZwölfflächer absolut stabil.

Polarisiert man ein solches Polyeder an einer solchen Kugel, entsprechen denEcken die Seitenflächen des polaren Polyeders und umgekehrt. Das neue Po-lyeder ist wieder regelmäßig. Ist die Kugel die Inkugel, dann entsprechen denFacetten ihre Berührpunkte mit derselben, also ihre Mittelpunkte. Das ausallen Facettenmittelpunkten gebildete Polyeder ist also wieder platonisch!

Abb. 3.36 Polarisierung der platonischen Körper: Das Tetraeder ist zu sich selbst dual, der Würfelist dual zum Oktaeder und das Dodekaeder dual zum Ikosaeder.

Das Tetraeder (4 Ecken, 4 Flächen) ist „selbstdual“. Würfel (8 Ecken, 6 Flä-chen) und Oktaeder (6 Ecken, 8 Flächen) sind ebenso dual zueinander wieIkosaeder (12 Ecken, 20 Flächen) und Dodekaeder (20 Ecken, 12 Flächen).◾

Abb. 3.37 Die fünf platonischen Körper und fast ein sechster

Abb. 3.37 zeigt noch einmal die platonischen Körper nebeneinander. DieOberfläche des sechsten Körpers (der dritte von links) besteht idealisiertaus zehn gleichseitigen Dreiecken (man kann den Körper in zwei fünfseitigePyramiden zerschneiden). Die Winkel der Flächen sind jedoch nicht überallgleich.

94 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

3.4 Weitere bemerkenswerte Polyeder

Archimedische Körper

Abb. 3.38 Verschiedene archimedische Körper

Wenn man ein bisschen großzügiger ist und zwei verschiedene Typen von kon-gruenten Facetten zulässt, hat man schon viel mehr Möglichkeiten. Abb. 3.38zeigt einige solcher Körper, die allesamt schon von Archimedes untersuchtwurden.Der mit Sicherheit bekannteste archimedische Körper (bzw. eine kugelför-mige Variante davon) ist der Fußball. Er lässt sich aus dem Dodekaeder„entwickeln“ und besitzt dementsprechend 12 regelmäßige Fünfecke und 20regelmäßige Sechsecke.

Abb. 3.39 Gleich zwei archimedische Körper aus einem Dodekaeder

Abb. 3.40 Variationen eines Fußballs

● RaumparkettierungenSchneidet man einem Oktaeder geeignet die Ecken ab (Abb. 3.41 links),entsteht ein archimedischer Körper, der sich zum lückenlosen Ausfüllen desRaums eignet.Solche Parkettierungen des Raums sind mit regelmäßigen Körpern keineswegsleicht zu erreichen. Eine Parkettierung mit regelmäßigen Dodekaedern ist

3.4 Weitere bemerkenswerte Polyeder 95

Abb. 3.41 Links: Abgeschnittener Oktaeder (Durchdringung mit einem Würfel). Mitte: ExakteParkettierung mit solchen Gebilden. Rechts: Parkettierung mit unregelmäßigen Dodekaedern.

z.B. nicht möglich (Abb. 3.41 rechts). Der Nachweis dafür erfordert eineRechnung.Erst vor kurzer Zeit (1993) entdeckten Denis Weaire und Robert Phelan,dass man unregelmäßige Dodekaeder (12-Flächer) und volumengleiche Te-trakaidekaeder (14-Flächer) – die diesen sehr ähneln, aber zwei sechseckigeSeitenflächen besitzen – in Achterpackungen so anordnen kann, dass man mitsolchen Achterpackungen den Raum lückenlos parkettieren kann1.

Abb. 3.42 Parkettierung des Raums mit nicht regelmäßigen 12- und 14-Flächern nach Weaire-Phe-lan. Links und in der Mitte zwei Ansichten eines Grundbausteins, bestehend aus 8 volumengleichenPolyedern.

Abb. 3.43 Mehr oder weniger enge Kugelpackungen in Theorie und Praxis

Am einfachsten kann man natürlich mit Würfeln parkettieren, während Kugelnnicht gut geeignet sind. Bei diesen machen die Hohlräume in einer Packung wie inAbb. 3.43 schon fast die Hälfte des Volumens aus: Das Volumen der Kugel verhält

1Mehr dazu z.B. unter http://en.wikipedia.org/wiki/Weaire-Phelan_structure oder – de-taillierter und mathematisch – unter http://torus.math.uiuc.edu/jms/Papers/foams/forma.pdf.

96 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

sich nämlich zu jenem des umschriebenen Würfels so wie (4π/3) ∶ 8 ≈ 0,52. DurchVerschieben der einzelnen Lagen kann man den Raum etwas besser ausnützen undbringt es im Idealfall auf knapp 3/4 Ausnützung.Die Natur zeigt sich – wie so oft – in so einem Fall recht pragmatisch: Ein bisschenzwängen und drücken, und schon ist der Raum wieder optimal ausgenützt (Abb. 3.43rechts). ◾

Rhombische Polyeder

Abb. 3.44 Linker Block: Fünf platonische Körper führen zu zwei interessanten neuen Körpern:dem Rhombendodekaeder (12 Flächen) und dem Rhombentriakontaeder (30 Flächen). Rechts: Weildas Rhombendodekaeder aus einem Würfel erzeugt werden kann, eignet es für eine Raumparket-tierung.

Betrachten wir noch einmal die platonischen Körper. Ihre Flächen sind re-gelmäßige n-Ecke. Durch jede Kante e gibt es eine Verbindungsebene mitdem Zentrum C und damit auch eine Ebene ε senkrecht dazu (Abb. 3.44).Alle möglichen Ebenen ε durch die Kanten einer Fläche bilden eine regelmä-ßige n-seitige Pyramide. Zwei benachbarte Pyramiden haben eine Ebene ε

gemeinsam, wodurch die zugehörigen gleichseitigen dreieckigen Flächen derbeiden Pyramiden zu einem ebenen Rhombus verschmelzen.

Abb. 3.45 Parkettierung des Raums mit Rhombendodekaedern: verschiedene Ansichten bei derDrehung des Gebildes. Es treten keine rechte Winkel auf, und man braucht mehrere Bilder, umsich das Gebilde einigermaßen vorstellen zu können.

3.4 Weitere bemerkenswerte Polyeder 97

Man würde nun fünf neue Körper erwarten, die aus ebenso vielen Rhombenbestehen wie der zugehörige platonische Körper Kanten hat. Es stellt sichallerdings heraus, dass Würfel und Oktaeder (mit je 12 Kanten) zum glei-chen Ergebnis führen – dem Rhombendodekaeder (Abb. 3.44 oben Mitte undlinks). Das Gleiche gilt für das Pentagondodekaeder bzw. das Ikosaeder (je 30Kanten). Sie erzeugen das Rhombentriakontaeder (triaconta=30, Abb. 3.44Bilder unten). Das reguläre Tetraeder mit seinen sechs Kanten führt schluss-endlich auf ein triviales Ergebnis: den Würfel. Bei ihm sind sie RhombenQuadrate.

Abb. 3.46 Projiziert man die Kanten der platonischen Körper auf die Umkugel des Körpers,erhält man drei unterschiedliche bemerkenswerte rhombische Parkettierungen der Kugel.

Nachdem ein Rhombendodekaeder aus dem Würfel entsteht und man mitWürfeln den Raum füllen kann, haben wir ein weiteres – nicht-triviales – Ob-jekt für Raumparkettierung gefunden (Anwendung S. 94, Abb. 3.44 rechts).Die oberen Bilder in Abb. 3.46 illustrieren, dass die Scheitel der vorhin er-wähnten Pyramiden durch die Kanten der platonischen Körper über denMittelpunkten der regelmäßigen Flächen liegen. Wenn wir nun alle Punktedes Körpers und alle Pyramidenspitzen auf die Umkugel projizieren, erhaltenwir drei rhombische Parkettierungen der Kugel mit 6, 12 und 30 kongruentensphärischen Rhomben und 4 + 4 = 8, 8 + 6 = 14 und 20 + 12 = 32 Gitterpunk-ten. Die regelmäßige Verteilung von Punkten auf einer Kugel wird uns späternoch beschäftigen.

● Gibt es weitere Polyeder mit ausschließlich rhombischen Seitenflächen?Abb. 3.47 links zeigt ein Polyeder mit 30 Rhomben (eine irgendwie „verzerrteVersion“ unseres Rhombentriakontaeders) in den drei Hauprissen. Im Grund-riss sind die Kanten der Rhomben gleich lang, weil sie im Raum gleich langsind und stets gleiche Neigung zur Grundebene haben. Deshalb sind auchdie Höhendifferenzen stets gleich groß, und alle Eckpunkte des Triakonta-eders liegen in gleichverteilten horizontalen Schichtenebenen (im Aufriss gutzu erkennen).Im Grundriss bilden die sechs projizierenden Rhomben ein regelmäßiges Sechs-eck um den Grundriss A′ des Scheitels A. Nicht-trivialerweise liegen die sechs

98 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Abb. 3.47 Verallgemeinerte Polyeder, die aus Rhomben zusammengesetzt sind. Das Polyederlinks ist ein Rhombentriakontaeder – seine Höhe kann durch Änderung des konstanten Höhenun-terschieds zwischen den horizontalen Trägerebenen der Eckpunkte variiert werden. Rechts: Eine„geglättete Version“ aus Gusseisen.

Eckpunkte 1′, 2′, 3′, . . . von drei zusammenhängenden Rhomben gleichver-teilt auf einem (rot eingezeichneten) Kreis c′ durch A′. Wir könnten genausoeinen Kreis wählen, darauf sechs Punkte A, 1, 2, 3, . . . gleichmäßig verteilen,zusätzlich definieren, dass diese Punkte im Raum gleiche Höhenunterschiedebesitzen, und das Ganze sechsmal um eine vertikale Achse durch A um je60○ rotieren lassen. Das Ergebnis ist ein Polyeder mit 30 Rhomben.Diese Methode kann man verallgemeinern, um mehr Punkte zu erhalten(Abb. 3.47 Mitte). Wenn wir nur vier Punkte am roten Kreis wählen, er-gibt sich ein rhombisches Dodekaeder. Weil man den Höhenunterschied derPunkte frei wählen kann, ist die Höhe des Polyeders variabel.Abb. 3.47 rechts zeigt eine Verzierung auf einem geglätteten Polyeder, dasjenem in der Mitte entspricht. Wir werden später – bei den Schraublinien –auf dieses Beispiel zurückkommen (Anwendung S. 261). ◾

Catalanische Körper

Eugène Catalan beschrieb 1865 jene Körper, die zu den archimedischen Kör-pern dual sind. Die Flächen der catalanischen Körper sind kongruente nicht-regelmäßige Polyeder (Abb. 3.48). Ihre Ecken und Flächen entsprechen denFlächen und Ecken des dualen Typs.2 Wenn beim archimedischen Körper n

2Auf http://de.wikipedia.org/wiki/Catalanischer_Körper finden Sie einen guten Überblicküber die Körper und all ihrer Namen.

3.5 Ebene Schnitte von Prismen und Pyramiden 99

Kanten in einer Ecke zusammenstoßen, besteht der duale catalanische Körperaus (nicht regelmäßigen) n-Ecken.

Abb. 3.48 Polarisation der archimedischen Körper an einer Kugel um das Zentrum. Sechs (blaue)archimedische Körper gehen in (gelbe) Körper mit kongruenten Dreiecken über, zwei (graue) inKörper mit kongruenten Rhomben und die vier braunen archimedischen Körper liefern Polyedermit kongruenten Fünfecken oder Vierecken.

Schließlich kommen uns schon wieder die rein rhombischen Körper unter:das schon bekannten Rhombendodekaeder und das Rhombenikosaeder (20Flächen).● Klappbare Vasen und Blumentöpfe (Abb. 3.49)Verpackungsmaterial ist mitunter wasserdicht (Tetrapak). Steffen Kehrle entwarfdaraus „verstellbare“ Vasen, die sich – fast gleich einer Blume – mithilfe eines simplenGummirings fast stufenlos öffnen und schließen lassen.

Abb. 3.49 Stufenlos verstellbare Vase und Blumentopf aus Tetrapak ◾

100 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

3.5 Ebene Schnitte von Prismen und Pyramiden

Allgemeine Pyramiden entstehen, wie schon gesagt, indem wir ein beliebi-ges, nicht unbedingt ebenes Polygon mit einem festen Punkt, der Spitze derPyramide, verbinden. Ist die Spitze ein Fernpunkt, sprechen wir von einemPrisma.

Abb. 3.50 Von der räumlichen Situation zu einer Auf-gabe der Ebene: Parallelperspektivität

Abb. 3.51 Perspektive Affinität zweierPunktfelder

Schneidet man ein Prisma oder eine Pyramide mit zwei beliebigen Ebenen ε

und ε, die alle Seitenkanten schneiden, aber die Pyramidenspitze nicht ent-halten, dann stehen die beiden Schnittfiguren in einer Beziehung, die manim Fall eines Prismas als Parallelperspektivität bezeichnet, im Fall einer Py-ramide als Zentralperspektivität.Betrachtet man eine (räumliche) Parallelperspektivität in einem Parallelriss(z.B. auf dem Zeichenblatt), spiegelt sich diese als perspektive Affinität wider.Entsprechend erscheint eine (räumliche) Zentralperspektivität im Bild alsperspektive Kollineation.

Abb. 3.52 Von der räumlichen Situation zu einer Aufgabe der Ebene: Zentralperspektivität

Bei Parallelperspektivität (Abb. 3.50) bzw. Zentralperspektivität (Abb. 3.52)liegen entsprechende Punkte auf parallelen Perspektivitätsstrahlen bzw. Per-

3.5 Ebene Schnitte von Prismen und Pyramiden 101

spektivitätsstrahlen durch die Pyramidenspitze. Entsprechende Seiten derSchnittpolygone schneiden einander auf der Schnittgeraden a = ε ∩ ε: Diezugehörige Seitenfläche ϕ des Prismas bzw. der Pyramide schneidet ε und ε

nämlich nach den Trägergeraden ε∩ϕ und ε∩ϕ der entsprechenden Kanten,und diese müssen durch den Schnittpunkt ε∩ε∩ϕ = a∩ϕ gehen. Die Geradea heißt Perspektivitätsachse.Kennt man von einem Prisma bzw. einer Pyramide eine ebene Schnittfigur,dann kann man jeden weiteren Schnitt recht ökonomisch ermitteln, indemman die Perspektivitätsachse a sowie einen einzigen Schnittpunkt tatsäch-lich ermittelt. Dann zieht man sich auf eine „zweidimensionale“ Konstruktionzurück: Sei P1Q1 eine Seite der ersten Schnittfigur und der schon bekanntePunkt P2 auf der Kante durch P1, dann erhält man Q2 unmittelbar, weil ein-ander P1Q1 und P2Q2 auf a treffen müssen. Diese Konstruktion funktioniertin jeder Projektion und ist tatsächlich zweidimensional.

Abb. 3.53 Die räumliche Perspektivität überträgt sich in alle Risse. Links Parallelprojektion,rechts Zentralprojektion einer Parallelbeleuchtung. Im Bild links liegt eine ebene perspektive Af-finität, rechts eine ebene perspektive Kollineation vor.

Man kann sich nachträglich gesehen sogar von der räumlichen Interpretationlösen und folgende Definitionen festlegen:

Wenn zwei in einer Ebene liegende linear aufeinander bezogene Punktfelder der-maßen mit einander in Beziehung stehen, dass erstens zugehörige Punkte aufStrahlen liegen, die entweder parallel sind oder durch ein festes Zentrum gehen,und wenn sich zweitens entsprechende Verbindungsgeraden zweier Punkte auf ei-ner festen Achse a treffen, dann liegt eine ebene perspektive Affinität bzw. ebene

perspektive Kollineation vor. Die Verbindungsstrahlen entsprechender Punkte hei-ßen Affinitäts- bzw. Kollineationsstrahlen, die Achse heißt Affinitätsachse bzw.Kollineationsachse, das Zentrum heißt Kollineationszentrum.

Die Verbindungsgeraden entsprechender Punkte laufen durch ein Zentrum, das auchein Fernpunkt sein kann. Man nennt die Punkte in einem solchen Fall „perspektivaufeinander bezogen“. Das hatten wir schon einmal beim Satz von Kiepert (S. 15).Deswegen spricht man auch von perspektiver Affinität bzw. Kollineation.

102 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

Abb. 3.54 Perspektive Affinität (Raum) ↦ perspektive Kollineation (Ebene)

Für die perspektive Affinität gilt zusätzlich die Teilverhältnistreue und dieParallelentreue: Aus den beiden vorausgesetzten Eigenschaften (zugeordnetePunkte liegen auf Parallelen, zugeordnete Geraden schneiden einander aufder Affinitätsachse) folgt dies nämlich nach dem Strahlensatz.So gesehen sind zueinander perspektiv affin / kollinear, und zwar im Raumbei jeder Parallelprojektion / Zentralprojektion:

• Je zwei ebene Schnitte eines Prismas / einer Pyramide;

• Jedes ebene Polygon und seine Parallelprojektion / Zentralprojektion aufeine Ebene;

• Jedes ebene Polygon und sein Parallelschatten / Zentralschatten auf eineEbene.

Im Vorgriff auf das folgende Kapitel kann man Prismen / Pyramiden auch„verfeinern“, indem man statt eines Basispolygons eine Basiskurve wählt.Dann sind weiter zueinander perspektiv affin / kollinear:

• Je zwei ebene Schnitte eines Zylinders / eines Kegels.

Mathematisch gesehen drückt sich eine affine Beziehung zwischen zwei PunktfeldernP (x/y) und P ∗(x∗/y∗) durch eine lineare Beziehung zwischen den entsprechendenKoordinaten aus:

x∗ = Ax +B y, y∗ = C x +Dy (A, B, C, D ∈ R)Im übersichtlichen Matrizenkalkül [16] schreibt man p∗ =M ⋅ p. Die Abbildung isteindeutig umkehrbar und es gilt p = M−1 ⋅ p∗, wobei M−1 die Umkehrmatrix vonM ist.

In dieser enormen Anwendungsbreite liegt auch die Bedeutung der perspek-tiven Affinität bzw. Kollineation. Wir werden z.B. noch beweisen (S. 133),dass ein allgemeiner ebener Schnitt eines Drehzylinders eine Ellipse ist. An-dererseits ist die Basiskurve des Drehzylinders ein Kreis. Damit haben wirden Satz:

3.5 Ebene Schnitte von Prismen und Pyramiden 103

Kreis und Ellipse sind zueinander affin.

Abb. 3.55 Die affine Beziehung zwischen Kreis und Ellipse (aus ihr leitet sich die „Konstruktionnach de la Hire“, manchmal auch „Proklus-Konstruktion“ genannt, ab, die indirekt in Abb. 11.10rechts illustriert ist.)

Abb. 3.55 zeigt links die Affinität einer Ellipse zu ihrem Hauptscheitelkreisund rechts jene zu ihrem Nebenscheitelkreis.

γ

π

E

E′

h

pe

g = π ∩ γ

Augpunkt E, Bildebene π, Grundebene γKollineationsachse g = π ∩ γGelber Kreis e ⇒ Bildellipse ec

Roter Kreis p ⇒ Bildparabel pc

Blauer Kreis h ⇒ Bildhyperbel hc

pcec

hc

Abb. 3.56 Die kollineare Beziehung zwischen Kreis und den drei Kegelschnittstypen. Siehe dazuauch den allgemeinen Fall mit nicht lotrechter Bildebene (Abb. 9.24).

Abb. 3.56 kann als Vorgriff auf Kapitel 9 gesehen werden: Wenn Kreise (e,p und h) in einer Ebene γ aus einem Zentrum (dem Augpunkt E) auf eineBildebene π projiziert werden, erhält man im Schnitt mit den quadratischenProjektionskegeln Kegelschnitte (ec, pc und hc). Diese können Ellipsen, Pa-rabeln oder Hyperbeln sein.In jedem Fall überträgt sich die Zentralperspektivität im Raum auf eine per-spektive Kollineation in der Zeichenebene. Das Bild der Schnittgerade g von

104 3 Polyeder: Vielflächig und vielseitig

γ und π ist Kollineationsachse, das Bild des Zentrums E ist Kollineationszen-trum. Etwaige Schnittpunkte der Kreise mit ihren Projektionen in π liegenauf der Kollineationsachse.Das vorhin Gesagte gilt wegen der Vertauschbarkeit von π und γ nicht nur fürden Kreis, sondern für alle Kegelschnitte. Man kann also eine Hyperbel oderParabel mittels einer perspektiven Kollineation in eine Ellipse, im Speziellensogar in einen Kreis, „verwandeln“. Als Beispiel für die perspektiv kollineareAbbildung einer Ellipse soll Abb. 3.57 dienen – die Fotografie ist ja einekollineare Abbildung.

Abb. 3.57 Das Wasserbecken vor der Karlskirche in Wien ist elliptisch. Je nachdem, ob dieFotoebene den Rand nicht trifft, berührt oder schneidet, erhält man eine Ellipse (links), Parabeloder Hyperbel (rechts).

Abb. 3.58 zeigt zwei Fotos, auf denen jede Menge Kegelschnitte als kollineareBilder von Kreisen bzw. Ellipsen auftreten: Links sind es hauptsächlich Bildervon Kreisen (die kreisförmigen Begrenzungen des Pferdehalses bilden sichdabei als Teile von Hyperbeln ab), aber auch elliptische Schatten auf den imGebäude befindlichen Drehzylindern. Rechts treten elliptische Kegelschnitteauf, die sich im Foto ebenfalls als Ellipsen abbilden.

Abb. 3.58 Suchbild „Pferd zu Heidelberg“: Wie viele Kegelschnitte (bzw. Teile von solchen) sindauf den beiden Fotos zu sehen? Hinweis: Alle Randkurven am Pferd sind Kreisbögen, insbesondereauch am Pferdehals. Bei 3 Hyperbeln und 20 Ellipsen dürfen Sie aufhören. . .

4 Gekrümmt und doch einfach

In diesem Kapitel besprechenwir die Krümmungstheorie ebe-ner Kurven und Raumkurven so-wie die von der Raumvorstellungam einfachsten zu erfassenden ge-krümmten Flächen des Raums,die Kugel und die Zylinderflä-chen. Diese unterscheiden sich ineiner Hinsicht grundlegend voneinander. Die Kugel ist „dop-pelt gekrümmt“, die Zylinderflä-chen sind hingegen nur „einfachgekrümmt“.

Trotz der doppelten Krümmung wird die Kugel aus zwei Gründen bevorzugtan erster Stelle behandelt: Sie ist sehr einfach zu definieren (und auch vorzu-stellen), und sie spielt bei vielen weiteren geometrischen Überlegungen einezentrale Rolle. So ist jeder ebene Kugelschnitt ein Kreis, und zwei Kugelnschneiden einander immer nach einem Kreis.Zunächst brauchen wir die Theorie der ebenen Kurven bzw. Raumkurven.Hier geht es um Krümmung bzw. Torsion. Mithilfe von Kurven kann manFlächen erzeugen. Die Kugel entsteht z.B. durch Rotation eines Kreises umeinen seiner Durchmesser, Zylinderflächen werden beim Parallelverschiebenvon Geraden längs einer beliebigen Kurve überstrichen. Die Bilder aller Flä-chenkurven hüllen den Umriss der Fläche ein. Ist dieser Umriss bei jederProjektion geradlinig, ist die Fläche abwickelbar. Nur solche Flächen kannman ohne Deformation in die Ebene ausbreiten (abwickeln).Der ebene Schnitt eines Drehzylinders ist eine Ellipse, die bei Abwicklung ineine Sinuskurve übergeht. Der Schnitt zweier Drehzylinder ist in der Regeleine allgemeine Raumkurve, kann aber unter gewissen Umständen in Ellipsenzerfallen.

Überblick4.1 Ebene Kurven und Raumkurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

4.2 Die Kugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

4.3 Zylinderflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

106 4 Gekrümmt und doch einfach

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven

Bevor wir uns den gekrümmten Flächen zuwenden, wollen wir ein paar Be-griffe klären, die in der Differentialgeometrie wichtig sind. Jede Wissenschafthat nun mal ihre eigene Sprache, und ein paar Vokabeln müssen wir lernen,um uns präzise und auch kurz ausdrücken zu können.

Das Nötigste zur Theorie der ebenen KurvenDie Differentialgeometrie beschäftigt sich mit Grenzübergängen. Wenn manz.B. zwei Punkte P und Q einer ebenen Kurve betrachtet, bildet ihre Ver-bindungsgerade eine Sekante (lat. secare=schneiden). Rückt Q nun beliebignahe an P heran, so gibt es i. Allg. eine eindeutige Grenzlage und man sprichtvon der Tangente der Kurve (lat. tangere=berühren). Man sagt dann: DieTangente einer Kurve hat im Berührpunkt P zwei zusammengerückte Punktemit der Kurve gemeinsam. Die Normale in P auf die Tangente heißt Kur-vennormale. Bei einem Kreis etwa gehen alle Kurvennormalen durch denMittelpunkt. I. Allg. jedoch hüllen alle Kurvennormalen eine Kurve ein, diesogenannte Evolute.

Abb. 4.1 Tangente, Normale, Evolute verschiedener Kurven

Wir können zu einem Kurvenpunkt P auch zwei Nachbarpunkte Q und R

betrachten. Wenn die drei Punkte nicht auf einer Geraden liegen, definierensie einen Kreis. Lassen wir nun in einem Grenzübergang Q und R gegenP rücken, dann stellt sich eine wohl definierte Grenzlage des von den dreiPunkten definierten Kreises ein, der Krümmungskreis im Punkt P (der Kreiskann auch in eine Gerade oder einen Punkt ausarten). Er nähert die Kurvein der Umgebung des Kurvenpunkts viel besser an als die Tangente.

Der Ort der Mittelpunkte aller Krümmungskreise ist genau die von den Kurven-normalen eingehüllte Evolute.

Beweis:Der Krümmungskreis wird durch drei Nachbarpunkte P , Q und R festgelegt. SeinMittelpunkt findet sich demnach im Schnitt der Mittelsenkrechten von PQ und PR.

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 107

Sei Q∗ der Mittelpunkt von PQ und R∗ jener von PR. Dann konvergieren die Mit-telsenkrechten gegen die Kurvennormalen in Q∗ R∗. Der Umkreismittelpunkt vonPQR konvergiert somit gegen den Schnitt zweier benachbarten Kurvennormalen.◾

● Ein Kreis als EvoluteAbb. 4.1 zeigt Kurven mit ihren Evoluten. Man erkennt, dass die Evolutenimmer dann Spitzen aufweisen, wenn die Kurve einen Scheitel besitzt, alsoeinen Punkt, dessen Krümmungsradius einen Extremwert hat. Die rechteKurve ist besonders erwähnenswert. Sie ist so konstruiert, dass ihre Evoluteein Kreis ist, und heißt Kreisevolvente. ◾

● Krümmungskreise der Ellipse

Abb. 4.2 Evolute und Krümmungskreise einer Ellipse

In Abb. 4.2 ist die Evolute einer Ellipse zu sehen, eine karoförmige Kurvemit vier Spitzen in den Mittelpunkten der Krümmungskreise in den Ellip-senscheiteln. Die Figur illustriert auch die Konstruktion der Scheitelkrüm-mungskreise, die eine gute Zeichenhilfe darstellt. ◾

● Eine Kurve kann ihre eigene Evolute sein

Abb. 4.3 Logarithmische Spiralen mit Evolute

In Abb. 4.3 sind logarithmische Spiralen mit ihren Evoluten zu sehen. Eshandelt sich dabei um Kurven, die ein Strahlbüschel immer unter konstantem

108 4 Gekrümmt und doch einfach

Winkel ψ schneiden. In Polarkoordinaten (r,ϕ) lautet ihre Gleichung r =ep⋅ϕ. Der konstante Parameter p = cotψ entscheidet, wie schnell sich dieKurve zum Zentrum wickelt. Die Evolute einer solchen Kurve ist wieder einelogarithmische Spirale und zwar kongruent zur Ausgangskurve. Sie kann ingewissen Fällen sogar mit der Ausgangskurve übereinstimmen (Bild rechts).Die logarithmischen Spiralen spielen in der Natur eine große Rolle, weil siemit exponentiellem Wachstum zu tun haben. Aber auch in der Technik habensie ihren Platz: Im Bild S. 105 ist ein Plattenheber zu sehen. Durch dasGewicht der Platte werden die Spiralen nach unten gedrückt, und diesenDruck geben sie auf die Platte weiter. ◾

● Wir drehen das Lenkrad gleichmäßig

Abb. 4.4 Klothoide mit Wickelpunkten

Der Kehrwert des Krümmungsradius (Radius des Krümmungskreises) heißtKrümmung der Kurve, der Abstand zweier Punkte, längs der Kurve gemes-sen, heißt Bogenlänge. Abb. 4.4 zeigt eine sogenannte Klothoide. Sie ist da-durch gekennzeichnet, dass ihre Krümmung linear mit der Bogenlänge zu-nimmt. Dadurch nimmt der Krümmungsradius indirekt proportional zur Bo-genlänge ab (im Schaubild links eine Hyperbel). Klothoiden finden im Stra-ßenbau Anwendung, wo man z.B. durch stetige Drehung des Lenkrads auseiner Geraden in eine Kreisform gelangen will. Zur Gleichung der Kurve (sieerfordert das numerische Lösen von Integralen) siehe [16]. Die Kurve wickeltsich in endlosen Schlingen um zwei Punkte. ◾

Die Theorie der RaumkurvenLiegt die Kurve nicht in einer Ebene, wird die Sache schon anspruchsvoller.Am Begriff der Sekante bzw. Tangente wird sich nichts ändern. Die Kur-vennormale ist jedoch nicht mehr eindeutig festgelegt: Jede Normale auf dieTangente im Berührpunkt ist Kurvennormale und liegt in der Normalebeneν der Kurventangente.Wir können auch im Raum einen Kurvenpunkt P und zwei NachbarpunkteQ und R betrachten. Wenn die drei Punkte nicht auf einer Geraden liegen,definieren sie einen Kreis im Raum. Lassen wir nun in einem Grenzübergang

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 109

Abb. 4.5 Ebene Kurven inspirieren Künstler (Greg Lynn, „St.Gallen“)

Abb. 4.6 Krümmungskreise einer Raumkurve

Q und R gegen P rücken, dann stellt sich als Grenzlage wieder der Krüm-mungskreis der Kurve im Punkt P ein. Seine Trägerebene heißt Schmieg-ebene. Man sagt: Die Schmiegebene hat mit der Kurve im Berührpunkt dreizusammenfallende Punkte gemeinsam.

Abb. 4.7 Begleitendes Dreibein einer Raumkurve

Jetzt können wir unter all den Normalen der Kurve im Punkt P eine ganzbesonders hervorheben, nämlich jene, die in der Schmiegebene liegt. Wirnennen sie Hauptnormale. Und wenn wir noch als dritte im Bunde jene Nor-

110 4 Gekrümmt und doch einfach

male auszeichnen, die rechtwinklig zur Schmiegebene steht (man nennt sieBinormale), dann haben wir ein begleitendes Dreibein der Kurve komplett.Alle Schmiegebenen σ hüllen die Tangentenfläche der Kurve ein. Über sie werden wirnoch genauer sprechen. Alle Normalebenen ν einer Kurve hüllen eine Fläche ein,die unter dem Namen Normalentorse bekannt ist. In Abb. 4.25 sehen wir rechtsein Beispiel für so eine Fläche. Für uns interessanter ist jene Fläche, die von densogenannten rektifizierenden Ebenen eingehüllt wird. Die rektifizierende Ebene �

wird von der Kurventangente t und der Binormalen b aufgespannt (Abb. 4.7 rechts),und die dabei entstehende Fläche heißt rektifizierende Torse; sie tritt bei verdrehtenPapierstreifen auf (Abb. 5.45).

Abb. 4.8 Spezielle Projektionen einer Kurve

Bei Normalprojektion der Kurve auf die Schmiegebene in P ergibt sich eineebene Kurve, die in P denselben Krümmungskreis hat wie die Raumkurveselbst. Projiziert man normal auf die rektifizierende Ebene, hat die Kurve i.Allg. einen Wendepunkt Pn (der Krümmungskreis ist projizierend). Bei so-genannten Henkelpunkten P – Punkten in einer Symmetrieebene der Kurve– tritt ein Flachpunkt Pn auf. Bei Normalprojektion auf die Normalebenehingegen entsteht eine Spitze Pn, weil die Kurventangente projizierend ist.Zur Illustration soll Abb. 4.8 dienen, wo – bei derselben Kurve – zwei ver-schiedene allgemeine Punkte der Kurve gewählt wurden.Als Anwendung des Gesagten werden wir in Anwendung S. 116 die kürzestenVerbindungskurven (geodätische Linien) auf krummen Flächen besprechen.

Abb. 4.9 Torsion einer Raumkurve und so etwas ähnliches wie ein begleitendes Dreibein

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 111

Neben der Krümmung kennt man in der Geometrie auch den Begriff derTorsion (Windung) einer Kurve (Abb. 4.9).Kreise (als Raumkurven betrachtet) haben z.B. konstante Krümmung, aberkeine Torsion. Schraublinien als „verallgemeinerte Kreise“ haben ebenfallskonstante Krümmung, aber auch konstante Torsion.Die Torsion in einem Kurvenpunkt ist ein Maß dafür, wie schnell sich diezugehörige Schmiegebene um die Tangente dreht (in Analogie zur Krümmungeiner ebenen Kurve, die ein Maß dafür ist, wie rasch sich die Tangente um denKurvenpunkt dreht). Eine Kurve ohne Torsion liegt in einer festen Ebene, dieals Schmiegebene angesprochen werden kann (analog bleibt eine ebene Kurveohne Krümmung in einer festen Geraden, die als Tangente angesprochenwerden kann).

Raumkurven können Flächen erzeugen

Wenn eine Kurve durch den Raum bewegt wird (wobei sie ihre Form ändernkann), überstreicht sie in der Regel eine krumme Fläche. Die einzelnen Lagender Kurve nennen wir, um besser reden zu können, u-Linien. Die Bahnkurvender einzelnen Punkte bilden eine zweite Schar von Linien auf der Fläche, diev-Linien. Durch jeden Punkt P der Fläche läuft i. Allg. genau eine u-Linieund genau eine v-Linie. Die Tangenten tu und tv in P an die beiden Linienspannen eine Ebene τ auf. Sie berührt die Fläche in P und heißt Tangential-ebene. Die Normale n auf die Tangentialebene in P ist die Flächennormale.

Abb. 4.10 Tangentialebene, Flächennormale, u- und v-Linien einer Fläche

Kontur und Umriss einer Fläche

Betrachten wir eine gekrümmte Fläche aus einem Punkt E. Dann erkenntman meist deutlich eine Kontur der Fläche. Diese wird von gewissen Punktender Fläche gebildet, welche die Konturlinie genannt wird. Ein KonturpunktK ist dadurch ausgezeichnet, dass der Sehstrahl EK die Fläche berührt, alsoganz in der Tangentialebene von K liegt. Das bedeutet aber, dass er mit derFlächennormalen n einen rechten Winkel bildet. Merken wir uns folgendenwichtigen Satz:

In einem Konturpunkt bilden Sehstrahl und Flächennormale einen rechten Winkel.Die Tangentialebene im Konturpunkt enthält das Projektionszentrum.

112 4 Gekrümmt und doch einfach

Abb. 4.11 Konturpunkt, Kontur und Umriss einer Fläche in einer Projektionsebene

Bei Projektion auf eine Bildebene π wird die Fläche – abgesehen von allenfallsauftretenden Randkurven – von der Projektion der Konturlinie (dem Umriss)begrenzt.

Abb. 4.12 Der Flächenumriss (rot eingezeichnet) wird von den Bildern der Flächenkurven ein-gehüllt (in diesem Fall wurden je zwei verschiedene Scharen von Flächenkurven in blau bzw. grüneingezeichnet). Randkurven sind nicht Teil der Kontur.

Der Umriss wird auch von den Projektionen aller möglichen Flächenkurveneingehüllt. Der folgende Satz ist vor allem für geometrisch korrekte Freihand-zeichnungen wichtig:

Wenn eine Flächenkurve im Raum die Kontur der Trägerfläche schneidet, berührtihre Projektion i. Allg. den Umriss der Fläche.

Nur in seltenen Ausnahmefällen kann das Bild einer Flächenkurve c auch eineSpitze am Umriss haben, nämlich dann, wenn das Projektionszentrum zufäl-lig auf der Tangente von c im Schnittpunkt mit der Kontur liegt (Abb. 6.73).

● Wann entstehen auf einer krummen Fläche Glanzpunkte?

Die geometrische Grundvoraussetzung lautet: Ein Punkt P einer beleuchteten Flä-che kann nur dann Glanzpunkt sein, wenn das Projektionszentrum und die Licht-quelle in derselben Ebene durch die Flächennormale n in P liegen. Die zusätzlich ver-schärfende Bedingung lautet: n muss Winkelsymmetrale (Winkelhalbierende) vonLP und ZP sein. ◾

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 113

Abb. 4.13 Glanzpunkte in verschiedenen Flächen. Links: eine Lichtquelle (die Sonne). Rechts:Reflexionen von zwei nicht-punktförmigen Lichtquellen (Blitzlichter).

Wie misst man die Krümmung einer Fläche?Der Begriff der Flächenkrümmung ist wesentlich komplizierter als jener derKurvenkrümmung : Selbst wenn man in einem Flächenpunkt P nur die Nor-malschnitte der Fläche betrachtet (das sind Flächenkurven durch P in einerEbene durch die Flächennormale n), hat man es mit unendlich vielen Kur-venkrümmungen zu tun.

Abb. 4.14 Elliptische, parabolische und hyperbolische Krümmung, Flachpunkt (rechts unten)

Trotzdem kann man bei der unendlichen Vielfalt der gekrümmten Flächenqualitativ drei wesentlich verschiedene Arten von Flächenkrümmung in ei-nem Flächenpunkt unterscheiden. Dazu betrachten wir die Fläche so, dass PKonturpunkt ist (das heißt, das Projektionszentrum liegt in der Tangential-ebene von P ). Liegt nun die Fläche in jeder noch so kleinen Umgebung desPunkts P auf beiden Seiten der Tangentialebene, spricht man von hyperboli-scher Krümmung (Abb. 4.14 links unten). Jede Sattelfläche hat Punkte vondiesem Typus. Berührt die Fläche die Tangentialebene von einer Seite, dannliegt im allgemeinen Fall eine elliptische Flächenkrümmung vor (links oben;ein typisches Beispiel ist die Kugel). Gibt es in P eine ausgezeichnete Flä-chentangente, längs der die Fläche lokal gesehen ganz in der Tangentialebenebleibt, spricht man von parabolischer Krümmung (in Abb. 4.14 rechts obensieht man, wie sich der Tangentialschnitt zum Punkt hin „zuspitzt“). Wohlbekannte Vertreter dieses Typus sind Zylinder und Kegel. Ein vierter Typus

114 4 Gekrümmt und doch einfach

kann nicht flächendeckend vorkommen (wohl aber längs einer Kurve auf derFläche): Abb. 4.14 rechts unten zeigt einen sogenannten Flachpunkt.Diese Unterscheidung hat große praktische Bedeutung. Am einfachsten sindzur Gänze parabolisch gekrümmte Flächen zu bearbeiten. Noch mehr: siekönnen – und das ist charakteristisch für sie – sogar in die Ebene ausge-breitet („abgewickelt“) werden. Hyperbolisch gekrümmte Flächen können vielschwieriger bearbeitet werden als elliptisch gekrümmte.Sowohl elliptisch als auch hyperbolisch gekrümmte Flächen können nicht ab-gewickelt werden, was uns im Fall der Kugel besonders hart trifft: Es gibtkeine Methode, die Erdkugel ohne Verzerrung in einer Landkarte abzubilden.

Polygonnetze auf der KugelKugeln können wohl durch viele Polygone einigermaßen gut angenähert wer-den, diese können aber nicht alle untereinander kongruent sein (auch dieFacetten eines Insektenauges sind kongruent, wie man in Abb. 4.16 rechtserkennen kann). Abb. 4.16 zeigt die doch nicht ganz perfekte Verteilung derDreieckchen. Diese Triangulierung durch „Verfeinerung“ eines Ikosaeders.

Abb. 4.15 Links: Simulation eines Facettenauges: Ein verfeinertes Ikoseder als Dreiecksnetz(Abb. 4.16) liegt zugrunde. In den Schwerpunkten der Dreiecke werden Kugeln mit geeignetemRadius platziert. Diese schneiden einander und bilden Polygonmuster, die zumeist aus Sechsecken,gelegentlich aber auch aus Fünfecken bestehen. Rechts: Zum Vergleich die Augen einer Habichts-fliege.

● Möglichst gleichmäßige Aufteilung von Punkten auf einer Kugel

Das Problem, eine vorgegebene Anzahl von Punkten möglichst gleichmäßig auf derKugeloberfläche zu verteilen, ist nur bei 4, 6, 8, 12 und 20 Punkten exakt lösbar, weilsich dann die platonischen Körper in der Reihenfolge Tetraeder, Oktaeder, Würfel,Ikosaeder und Dodekaeder einstellen. Ausgehend von diesen Körpern kann man wiein Abb. 4.16 „verfeinern“, kommt dadurch aber auch nur auf Vielfache der genanntenZahlen.Abb. 4.17 illustriert ein mögliches Ergebnis für andere Punkteanzahlen. Die Lö-sungen wurden mit einem dynamischen Verfahren gefunden, das sich die Punktemagnetisch abstoßend denkt. Die kürzesten Abstände zwischen den Punkten sindTeile von Großkreisen auf der Kugel (s.S. 117), und die Abstoßungskräfte nehmen

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 115

Abb. 4.16 Verfeinerung des Ikosaeders

Abb. 4.17 10, 15, 64 bzw.250 Punkte einigermaßen gleichmäßig auf der Kugeloberfläche verteilt

mit dem Quadrat des Abstands ab. Durch Verschieben der Punkte auf der Oberflä-che wird nun eine Gleichgewichtslage ermittelt.Der Algorithmus wurde von Franz Gruber entwickelt, basierend auf dem genialenwie einfachen Algorithmus von Fruchterman/Reingold [5]. Das Problem ist auchunter dem Stichwort Thompson-Problem bekannt, bei dem es um die Minimierungder Energie von n gleichen Punktladungen auf der Kugel geht. ◾

● Triangulierung als mächtiges Hilfsmittel

Im Zeitalter der Computer hat die Methode der Triangulierung einen hohen Stel-lenwert: Triangulierungen spielen nicht nur bei der Approximation von Oberflächeneine Rolle, sondern dienen unter anderem auch zur Vereinfachung komplizierter geo-metrischer Volumina. Man kann viele schwierige physikalische Probleme mit ausrei-chender Genauigkeit lösen, wenn man sie in einfache Teilprobleme zerlegt.

Abb. 4.18 Angestupster Cognacschwenker und torkelnder Aschenbecher

Abb. 4.18 links zeigt, wie ein Körper – im konkreten Fall ein fiktiver Cognacschwen-ker – zunächst in Scheiben geschnitten wird. Die entstehenden Schnittkurven sindmitunter recht komplizierte geschlossene Linienzüge, die auch beliebig viele Löcher

116 4 Gekrümmt und doch einfach

haben dürfen. Im zweiten Schritt werden diese Schnitte trianguliert, also in Dreieckezerlegt. Diese können als Volumina (dreiseitige Prismen mit Scheibchendicke) inter-pretiert werden. Für jedes Prisma lässt sich nach einfachen Formeln der Schwer-punkt, das statische Moment oder das Drehmoment bezüglich beliebiger Achsenberechnen (siehe dazu auch [16]). Aus allen „gewichteten“ Schwerpunkten ergibtsich Gesamtschwerpunkt (im Bild rot markiert), die Summe aller Drehmomentedas gesamte Drehmoment, usw.Auf diese Weise kann man realistische physikalische Simulationen bewerkstelligen.So kann es durchaus sein, dass der Aschenbecher in Abb. 4.18 rechts sich mit ge-nügend Schwung aus seiner vermeintlich hoffnungslosen Situation wieder aufrichtet(und vorher hoffentlich leer war). Um Klassen komplizierter wird das Problem aller-dings, wenn man bewegte Flüssigkeiten simulieren muss. Hier kommt man mit reinerGeometrie nicht mehr durch. Komplizierter wird es zusätzlich, wenn Flüssigkeit mitins Spiel kommt. ◾

Abb. 4.19 Kunstwerke mit gekrümmten Annäherungen an eine Kugel (Kyoto). Beim Zusammen-biegen von geraden Stäben entstehen Großkreise auf der Kugel (vgl. auch Abb. 4.20 rechts).

● Geodätische Linien – die kürzeste Verbindung

Wenn man auf einer krummen Fläche zwei Punkte durch eine möglichst kurze Flä-chenkurve verbinden will, wird dies i. Allg. keine Gerade sein können (Abb. 4.20links). Insbesondere besprechen wir das Problem der kürzesten Verbindungslinie aufder Kugel (Anwendung S. 130, Abb. 4.20 rechts).Wir definieren zunächst:

Eine geodätische Linie auf einer Fläche ist dadurch gekennzeichnet, dass in all ihrenPunkten die zugehörige Schmiegebene die Flächennormale enthält.

Nun überlegen wir uns:

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 117

Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten einer Fläche ist eine geodätische Linieder Fläche.

Wir führen hier keinen Beweis in aller mathematischer Strenge, sondern machendie Sache nur plausibel: Nach Definition sind alle Hauptnormalen einer geodäti-schen Linie gleichzeitig Flächennormalen der Trägerfläche. Betrachten wir nun zweiNachbarpunkte Q und R eines Flächenpunkts P . In der Normalprojektion auf dieTangentialebene in P wird die Flächenkurve durch die Normalprojektion des Krüm-mungskreises angenähert – und diese ist eine Gerade, weil die Schmiegebene seineTrägerebene ist.

Abb. 4.20 Links: Geodätische Linien auf einer allgemeinen Fläche. Es wurde ein „rechtwinkligesDreieck“ eingezeichnet – der „Pythagoras“ gilt allerdings nur dann, wenn die Fläche abwickelbarist. Rechts: Geodätische auf einer Kugel sind Großkreise.

Mit anderen Worten: Lokal gesehen verhält sich die Kurve stets wie eine Gerade –und die ist bekanntlich die absolut kürzeste Verbindung. Jede andere Verbindungvon Q und R wäre ein Umweg.Für zwei wichtige Spezialfälle haben wir ein leicht anwendbares und schönes Ergeb-nis:

Geodätische Linien auf Kugeln sind Großkreise. Geodätische Linien auf abwickelbarenFlächen werden in deren Verebnung zu Geraden.

Zunächst zur Kugel (Abb. 4.20 rechts, aber auch Abb. 4.19): Die Schmiegebene derFlächenkurve muss die Flächennormale enthalten, also durch den Kugelmittelpunktgehen. Dann ist der Krümmungskreis in jedem Punkt der Kurve ein Großkreis.Würde die geodätische Linie vom Großkreis abweichen, müsste die Schmiegebene„schwenken“, was aber auf einen Widerspruch führt.Bei den abwickelbaren Flächen ist die Sache besonders leicht einzusehen: Die Ver-ebnung ist längentreu, und in der Ebene ist die kürzeste Verbindung eine Gerade.Abb. 4.65 zeigt geodätische Linien auf einem Drehzylinder, die durch Aufwicklungvon Geraden entstehen. Es handelt sich um Schraublinien, die wir in Abschnitt 7noch genau besprechen werden. ◾

118 4 Gekrümmt und doch einfach

Woran erkennt man eine abwickelbare Fläche?

Abb. 4.21 Geradlinige Umrissteile bei abwickelbaren Flächen müssen aus allen Richtungen zusehen sein.

Um eine Fläche abwickeln zu können, genügt es nicht, dass einzelne Flächenstückeparabolisch gekrümmt sind. Wenn aber die Fläche in jedem Punkt parabolisch ge-krümmt ist, dann muss sie in jedem Punkt eine ausgezeichnete Tangentenrichtunghaben, längs der die Fläche ganz in der Tangentialebene bleibt. Wandert man dieFläche längs der jeweiligen ausgezeichneten Tangentenrichtung entlang, bleibt manimmer in derselben Tangentialebene. Diese Ebene berührt die Fläche ständig. Dar-aus folgt, dass parabolisch gekrümmte Flächen aus lauter Geraden bestehen undentlang dieser Geraden von ein- und derselben Ebene berührt werden.Für die Abwickelbarkeit genügt es nicht, dass die Fläche aus lauter Geraden besteht.Im Gegenteil: Die meisten krummen Flächen, die aus lauter Geraden bestehen,erfüllen die Bedingung nicht und sind daher auch nicht abwickelbar!

Abb. 4.22 Abwickelbar bleibt abwickelbar. . .

Woran erkennt man nun, ob eine Fläche durchwegs parabolisch gekrümmt ist? Wennjede Tangentialebene längs einer ganzen Geraden berührt, und diese Tangentialebe-ne zufällig durch das Projektionszentrum geht, dann ist jeder Punkt der GeradenKonturpunkt. Mit anderen Worten: Die Kontur einer solchen Fläche besteht auslauter geradlinigen Anteilen.

Die einzigen Flächen, die in die Ebene ohne Dehnung und Stauchung abgewickelt werdenkönnen, sind die parabolisch gekrümmten Flächen. Eine abwickelbare Fläche erkenntman daran, dass ihre Kontur bei jeder beliebigen Projektion geradlinig ist.

Insekten wie der Haselblattroller schaffen das Verbiegen und Rollen eines Blatts aufihre Weise und legen ihre Eier in das geschützte „Nest“. Manchmal reicht dem Blatt

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 119

Abb. 4.23 Geradlinige Umrissteile und Schattengrenzen beim virtuellen Hüllkegel

schon der bloße Wasserentzug, um sich – zu anderen abwickelbaren Formen – um-zuwandeln (Abb. 4.24). Nachdem der „Schrumpffaktor“ aber nicht überall gleich ist,sondern z.B. bei den Blattadern geringer ist, kommt es bald zum „Verschrumpeln“der Blätter.

Abb. 4.24 Verschrumpeln von Blättern und gekrümmter Umriss.

Auch wenn die Kontur eines Objekts im Raum eine „harmlose“ Kurve ist, treten beiden Umrissen hyperbolisch gekrümmter Flächen relativ häufig Spitzen auf: Die Tan-gentialebene in einem Konturpunkt enthält in jedem Fall das Projektionszentrum.Deshalb kommt es immer wieder vor, dass die Tangente an die Kontur zufälliggenau durch das Zentrum läuft.Machen wir an dieser Stelle eine Zusatzbemerkung zu den Krümmungskreisen einerRaumkurve, ohne den Leser damit überfordern zu wollen. Ein Bild sagt mehr alstausend Worte – also bitte „einfach genießen“ (für mehr Information steht Fachlite-ratur zur Verfügung):Wandert ein Punkt eine Raumkurve entlang, ändert sich der zugehörige Krüm-mungskreis stetig. Die Fläche, die von allen Krümmungskreisen gebildet wird, kanndabei recht kompliziert sein (Abb. 4.25 links) und ist in jedem Fall doppelt ge-krümmt.Betrachtet man aber die Fläche, auf der die Achsen aller Krümmungskreise liegen,erhält man ebenfalls eine krumme Fläche, allerdings diesmal nur einfach gekrümmt.Man nennt die Fläche Polartorse oder Evolutentorse. Ihr Analogon in der Ebene

120 4 Gekrümmt und doch einfach

Abb. 4.25 Alle Krümmungskreise einer Raumkurve bzw. deren Achsen bilden eine Fläche

ist der Ort der Krümmungsmitten einer ebenen Kurve, also die Evolute. Abb. 4.25rechts zeigt die Polartorse eines kubischen Kreises (vgl. Abb. 6.31). Deutlich ist dergeradlinige Umriss zu erkennen.

Analoge Überlegungen für Schatten

Abb. 4.26 Eigenschatten und Schlagschatten krummer Flächen

Wir wissen schon, dass wir keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Projek-tion und einer Beleuchtung machen müssen. Alles, was wir bisher über Projektionengesagt haben, gilt auch für Zentralbeleuchtung oder Parallelbeleuchtung.Statt von der Kontur sprechen wir von einer Eigenschattengrenze, dem Umriss derProjektion entspricht die Schlagschattengrenze. So wird der Schlagschatten einerFläche vom Schatten der Eigenschattengrenze und etwaigen Schatten von Rand-kurven der Fläche umrandet. Bei abwickelbaren Flächen ist also meistens ein Teilder Schlagschatten-Berandung geradlinig (Abb. 4.26).Um es noch einmal mit anderen Worten auszudrücken: Ein Objekt erzeugt Schlag-schatten auf Ebenen, andere Objekte und – wenn es nicht konvex ist – unter Um-ständen auf sich selbst. Es gibt aber Teile der Oberfläche, die „automatsich dunkel“

4.1 Ebene Kurven und Raumkurven 121

Abb. 4.27 Eigenschatten (self shadow) und Schlagschatten (cast shadow): Im Inneren Teil desZylinders gibt es einen Schlagschatten des Zylinders auf sich selbst und Eigenschatten („dunkleFlächen“).

sind (Abb. 4.28), weil sie vom Licht abgewendet sind. Diese dunklen Anteile nenntman Eigenschatten.

Abb. 4.28 „Dunkle“ Teile auf einer Oberfläche: Flächenteile, die vom Licht abgewandt sind,liegen im „Eigenschatten“. Wenn die Oberfläche nicht konvex ist (wie in diesem Beispiel), könnenzusätzlich noch Schlagschatten der Fläche auf sich selbst dazukommen (hier nicht abgebildet),insbesondere, wenn – wie in den Bildern rechts – das Licht steil einfällt.

Die Kurve, die helle Flächenteile und Eigenschatten trennt, wird Eigenschatten-grenze, manchmal – insbesondere im Zusammenhang mit Planeten – Terminatorgenannt. Abb. 4.27 zeigt, dass der Innenteil eines hohlen (und daher nicht-konvexen)Zylinders beide Typen von Schatten trägt, welche durch die geradlinige Eigenschat-tengrenze durch T getrennt sind. Rein optisch kann man nicht zwischen den beidenTypen unterscheiden, und der trennende Terminator ist nicht klar zu erkennen.Wenn man aber solche Figuren zeichnet oder Computerprogramme schreibt, dieSchatten ermitteln können, muss man darüber Bescheid wissen!

122 4 Gekrümmt und doch einfach

4.2 Die Kugel

Nachdem wir gerade relativ ausführlich über abwickelbare Flächen gespro-chen haben, beginnen wir trotzdem mit einer nicht abwickelbaren Fläche.Der Grund dafür ist, dass wir die Kugel – weil sie so häufig vorkommt, undweil sie so viele spezielle Eigenschaften hat – mit unserer Raumvorstellungleicht erfassen können.

Abb. 4.29 Kugeln als Abstandsflächen

Die Kugel ist der Ort aller Raumpunkte, die von einem gegebenen Punkt (demMittelpunkt M) festen Abstand (den Radius r) haben.

Die Kugel kann aber auch anders definiert werden, was für verschiedene geo-metrische Überlegungen von Vorteil ist:

Abb. 4.30 Eine Kugel entsteht auch durch Rotation eines Kreises um einen Durchmesser

Eine Kugel entsteht auch durch Rotation eines Kreises um einen beliebigen Kreis-

durchmesser.

Betrachten wir einen Punkt P des Kreises während einer Rotation um einenfrei gewählten Durchmesser d: Er beschreibt einen Bahnkreis mit der Achsed und dem Radius dP . Bei maximalem Radius bildet die Gerade MP mit

4.2 Die Kugel 123

der Achse d einen rechten Winkel. Kugelkreise mit maximalem Radius (alsodem Kugelradius) heißen Großkreise, alle anderen Kleinkreise. Liegt P auf d,schrumpft der Kleinkreis zu einem „Nullkreis“ zusammen. Seine Trägerebenesteht rechtwinklig zum Berührradius (Abb. 4.31).Wenn wir jetzt bedenken, dass d auf unendlich viele Arten gewählt werdenkann, haben wir folgenden wichtigen Satz gezeigt:

Jeder ebene Kugelschnitt ist ein Kreis. Der Schnittkreis ist genau dann ein Groß-kreis, wenn die Schnittebene den Mittelpunkt enthält. Alle Tangentialebenen derKugel bilden mit dem Berührradius einen rechten Winkel.

Abb. 4.31 Tangentialebenen einer Kugel rechtwinklig zum Berührradius

Lassen wir zwei Kreise um ihre gemeinsame Durchmessergerade rotieren,erhalten wir zwei Kugeln. Die Schnittpunkte der Kreise bilden im Lauf derDrehung denselben Kreis:

Abb. 4.32 Der Schnitt zweier Kugeln ist immer ein Kreis

Der Schnitt zweier Kugeln ist stets ein Kreis in einer Ebene rechtwinklig zurVerbindungsgeraden ihrer Mittelpunkte.

Eine Anmerkung für Fortgeschrittene: Vielleicht denken Sie sich jetzt, dass manden Satz eigentlich genauer formulieren müsste: Zwei Kugeln haben natürlich nurdann einen Schnittkreis gemeinsam, wenn sie genügend nahe beisammen liegen.

124 4 Gekrümmt und doch einfach

Andererseits kann man nachrechnen, dass zwei Kugeln tatsächlich immer einenKreis gemeinsam haben – er ist nur nicht immer reell.Sein Mittelpunkt ist immer reell und liegt auf der Verbindung der Mittelpunkte,ebenso wie seine Trägerebene immer reell ist und rechtwinklig zur Verbindung derMittelpunkte steht. Es geht noch viel weiter (und da schießen wir über’s Ziel hin-aus, aber warum sollen wir’s verschweigen): Zwei Kugeln haben immer zusätzlicheinen garantiert nicht reellen Kreis in der Fernebene gemeinsam – den sogenanntenabsoluten Kreis (vgl. dazu auch S. 157). Wenn man das weiß, sind manche Dingenicht so überraschend: Eigentlich müssten zwei Kugeln nämlich eine Raumkurvevierter Ordnung gemeinsam haben. Weil aber der absolute Kreis automatisch dabeiist, bleibt nur noch eine ebene Kurve zweiter Ordnung übrig, also ein Kreis – undder kann reell oder auch nicht reell sein.Wenn wir einen Kreis nicht um einen Durchmesser, sondern um eine Sehne rotie-ren lassen, erhalten wir einen sogenannten Spindeltorus (Abb. 4.33 links). Darüberwerden wir bei den Drehflächen noch genauer sprechen.

Abb. 4.33 Links: Ein Kreis rotiert um eine seiner Sehnen und erzeugt dabei einen Spindeltorus.Rechts: Die berühmte Kuppel des Doms von Florenz (Filippo Brunelleschi , siehe auch Abb. 9.2)ist eine Annäherung an einen Spindeltorus. Benachbarte Kreisbögen werden mit (elliptischen)Zylindern verbunden.

Kugelschnitte treten in Architektur und Technik sehr oft auf. Unter ande-rem findet man solche bei der Hängekuppel, der böhmischen Kappe und derbyzantinischen Kuppel.

● Position eines FlugzeugsMan kann mittels Radar den augenblicklichen Abstand r eines Flugzeugs voneiner Bodenstation B bestimmen. Das Flugzeug liegt dann auf der Abstands-kugel um B im Abstand r (Abb. 4.34).Kennt man synchrone Messungen von drei Bodenstationen (deren gegen-seitige Lage natürlich bekannt ist), hat man drei Abstandskugeln, die zu-nächst zwei Punkte gemeinsam haben: Je zwei Kugeln schneiden einandernach einem Kreis, und alle drei Kreise gehen durch die gemeinsamen Punk-

4.2 Die Kugel 125

te (Abb. 4.35). Einer davon (über der Erdoberfläche) ist die Position desFlugzeugs. ◾

A

B

C

P

Abb. 4.34 Schnitt dreier Halbkugeln: Je zwei Halbkugeln schneiden einander längs eines Halb-kreises. Alle drei Halbkreise haben einen Punkt gemeinsam.

● Der „räumliche Pythagoras“

Abb. 4.35 Schnitt dreier Kugeln, Quader durch drei Punkte (Mitte)

Wir suchen einen Quader, bei dem die drei von einer Ecke P ausgehendenKanten durch drei feste Punkte A, B und C gehen (Abb. 4.35 Mitte). Wegen∠APB = ∠BPC = ∠CPA = 90○ liegt der Punkt auf den Thaleskugeln überAB, BC und CA. Für diese Quaderecke lässt sich mittels Vektorrechnungsehr elegant zeigen, dass das Quadrat der Fläche des Dreiecks ABC gleichder Summe der Quadrate der Flächen der Dreiecke APB, BPC und CPA

ist. Der analytische Beweis ist auch in [16] zu finden und wird ausnahmsweisewegen seiner Kürze hier angeführt.Beweis:Sei P Ursprung eines kartesischen Koordinatensystems mit den Punkte A(u/0/0),B(0/v/0) und C(0/0/w). Dann haben die Dreiecke APB, BPC und CPA die Flä-chen u⋅v

2, v⋅w

2und w⋅u

2.

Die Fläche d des Dreiecks ABC ergibt sich durch das Vektorprodukt

126 4 Gekrümmt und doch einfach

d = 1

2⋅ ∣�→AB ×�→AC ∣ = 1

2⋅ ∣⎛⎜⎝−uv

0

⎞⎟⎠×⎛⎜⎝−u0

w

⎞⎟⎠∣ = 1

2⋅ ∣⎛⎜⎝vw

wu

uv

⎞⎟⎠∣ = 1

2⋅ √(vw)2 + (wu)2 + (uv)2

Damit ist d2 = 1

4[ (vw)2 + (wu)2 + (uv)2 ] = b2 + c2 + a2. ◾ ◾

● Die Newtonsche KusszahlWie viele gleich große Kugeln kann man um eine ebensogroße Kugel im Zen-trum gruppieren, sodass einander die Kugeln nach Möglichkeit alle berühren?Newtons richtige Vermutung war 12, denn eine 13. geht sich einfach nichtmehr aus, obwohl noch ein bisschen Platz da wäre. Wie kann man sich andie Lösung heranarbeiten?

Abb. 4.36 Links: Sechs Kreise passen genau um einen gleich großen (blauen) Kreis im Zentrum.Mitte: Gegeben sei eine (blau eingezeichnete) Kugel. Man gruppiere möglichste viele gleich großeKugeln um sie herum. Rechts: Das Problem scheint sich bei der abgebildeten Zitterspinne, die ihreEier mit sich herumträgt, zu stellen.

Lösung :Sei r der Kugelradius. Dann liegen alle Kugeln, welche die zentrale KugelΣ0 berühren (Mittelpunkt im Koordinatenursprung), auf einer zu Σ0 kon-zentrischen Kugel Σ∗0 mit Radius 2r. Wir wählen eine erste Kugel Σ1, z.B.auf der x-Achse. Alle Kugeln, die jetzt Σ1 berühren, liegen auf einer zu Σ1

konzentrischen Kugel Σ∗1 mit Radius 2r. Der Schnittkreis von Σ∗0 und Σ∗1 istein horizontaler Kreis in der xy-Ebene (mit Radius

√3r). Man könnte nun –

wie in der Ebene – sechs Kugel in der xy-Ebene finden und dann irgendwieweitermachen. Das führt aber nicht zur optimalen Packung, obwohl wir aufbeiden Seiten drei (orange) Kugeln „drauflegen“ können, und damit genauauf 12 Kugeln kommen. Es ist aber so, dass man um eine Spur besser packenkann.Wir wählen dazu nur eine Nachbarkugel Σ2 in der xy-Ebene und treibendas Spiel weiter (konzentrische Kugel Σ∗2). Im Schnitt von Σ∗0 , Σ

∗1 und Σ∗2

bekommen wir zwei weitere Kugelmittelpunkte, die bezüglich der Grunde-bene symmetrisch sind, usw. Damit findet man wieder zwölf Kugeln um Σ0,

4.2 Die Kugel 127

aber diesmal bleibt ein wenig Platz. Allerdings passt leider keine dreizehnteKugel mehr hinein, was erst 1953(!) bewiesen werden konnte (siehe http:

//de.wikipedia.org/wiki/Kusszahl). In der Natur geht sich mit Quet-schen und Pressen vielleicht noch die eine oder andere Kugel aus (Abb. 4.36rechts). ◾

Kugelumriss und Schatten einer KugelDer folgende Satz liefert den Schlüssel für alle weiteren Überlegungen:

Die Tangentialebenen einer Kugel längs eines Kleinkreises umhüllen einen Dreh-kegel, jene längs eines Großkreises einen Drehzylinder.

Abb. 4.37 Berührende Kegel und ZylinderBeweis:Wir denken uns in der Ebene einen Kreis k (Mitte M , Radius r) und einen Punkt S,aus dem es zwei Tangenten t und t∗ an k gibt (Abb. 4.37). Die VerbindungsstreckeTT ∗ der Berührpunkte ist aus Symmetriegründen rechtwinklig zum Durchmesserd = MS. Nun lassen wir die Trägerebene des Kreises um d rotieren. k wird zueiner Kugel Σ, t überstreicht einen Drehkegel mit Spitze S, und der BerührpunktT überstreicht einen Kleinkreis u mit Achse d, den Berührkreis der beiden.Lassen wir S ins Unendliche rücken, dann wird aus dem Drehkegel ein Drehzylinderund aus dem Kleinkreis ein Großkreis. ◾

Wie sehen wir eine Kugel aus einem Zentrum E? In jedem Fall können wiraus E einen Drehkegel an die Kugel „anlegen“ oder „anschreiben“. Wenn E

unendlich weit weg ist, handelt es sich um einen Drehzylinder. Die Berühr-kurve des Drehkegels bzw. Drehzylinders ist ein Kleinkreis bzw. Großkreis u.Dieser Kreis ist aber bereits die Kontur der Kugel: Die Tangentialebene injedem Punkt geht nämlich gemäß Konstruktion durch E. Analoges gilt fürZentral- bzw. Parallelbeleuchtung, und wir haben zusammenfassend:

Die Kontur bzw. Eigenschattengrenze einer Kugel ist stets ein Kreis auf derKugel. Bei Parallelprojektion bzw. Parallelbeleuchtung sind Kontur bzw. Eigen-schattengrenze Großkreise.

128 4 Gekrümmt und doch einfach

Abb. 4.38 Umriss und Schatten einer Kugel

● Neigung der dünnen Mondsichel – eine „Temperaturangelegenheit“?Warum „liegt“ die dünne Mondsichel in tropischen Gegenden und ist in nörd-lichen Gegenden eher aufrecht?

Abb. 4.39 Neigung der dünnen Mondsichel: a) an den Polen, b) am Äquator bei Frühlings- undHerbstbeginn, c) irgendwo dazwischen im Winter, d) irgendwo dazwischen im Sommer.

Lösung :Ob die Sichel des Mondes liegt oder steht, hängt vom Bild der Eigenschat-tengrenze des Mondes ab. Diese erscheint als Ellipse, und mit deren Haupt-achse „liegt oder steht die ganze Sichel“. Folglich geht es darum, aus welcherRichtung der Mond angestrahlt wird. Geschieht dies von der Seite, steht dieSichel, kommt das Sonnenlicht von oben oder unten, liegt sie. Weiters müssenwir wissen: Die Mondbahn liegt einigermaßen in der Bahnebene der Erde umdie Sonne – der Ebene der Ekliptik. Er folgt daher von der Erde aus gesehen– zeitverschoben – bei Neumond der Bahn der Sonne am Firmament (siehedazu S. 388). Das gilt näherungsweise auch für die dünne Mondsichel (nichtaber für vollere Monde).Beginnen wir mit einem Extrem: Am Nordpol ist die Bahn der Sonne (fallsman sie überhaupt sieht) ein Kreis unter festem Höhenwinkel. Unter ähn-lichem Höhenwinkel liegt – nicht allzu weit von der Sonne entfernt – auchdie dünne Mondsichel. Der Mond wird also vom Nordpol aus gesehen „vonder Seite“ angestrahlt, so dass die Eigenschattengrenze als aufrechte Halbel-lipse zu sehen ist. Im tieferen Polarwinter ist nicht nur die Sonne, sondern

4.2 Die Kugel 129

auch die dünne Mondsichel nicht zu sehen. Wie allerdings auf S. 388 gezeigtwird, ist der Vollmond im Polarwinter sehr wohl sichtbar, und bei genaueremHinsehen „liegt“ der fast volle Mond dann wie in den Tropen!Das andere Extrem: Am Äquator gibt es zwei Tage im Jahr, wo sich dieSonne auf einem Kreis durch den Zenit bewegt. Die dünne Mondsichel folgtdieser Bahn. Die Eigenschattengrenze erscheint diesmal als liegende Halbel-lipse: Vom Äquator aus gesehen wird der Mond in den Tagen um den Neu-mond ziemlich genau von oben (zunehmender Mond, in den Nachmittags-und Abendstunden) oder von unten (abnehmender Mond in den Morgen-stunden) angestrahlt.Generell sind die Bahnkreise der Sonne und des Mondes in den Tagen umden Neumond in südlicheren Gefilden steiler als in nördlicheren Gegenden. Jesteiler, desto mehr wird die Bildellipse der Eigenschattengrenze des Mondeswaagrecht sein. Zudem kann man sagen: Die Mondsichel wird im Sommereher liegen als im Winter. Irgendwie könnte man tatsächlich sagen: Die Lageder Mondsichel hat etwas mit der Temperatur zu tun . . . ◾

Abb. 4.40 Navigationssysteme auf Schiffen. Links: Halbkugeln, die auf Drehzylinder aufgesetztsind. Beim Übergang der beiden Flächen sieht man den Knick in der Eigenschattengrenze. Mit-te: Zwei Kugelkappen, dazwischen ein kurzes Drehzylinderstück. Rechts: Die „Satellitenschüssel“kommt in ihrer Form einer Kugelkappe sehr nahe (theoretisch ist sie Drehparaboloid, AnwendungS. 193). Der Eigenschatten der Kappe auf sich selbst ist kreisförmig (siehe auch Abb. 4.61).

Der kürzeste Weg auf der ErdoberflächeIm Raum ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade.Auf der Erdkugel haben wir bei großen Distanzen ein Problem damit: Wirkönnen nicht wie Jules Vernes zum Mittelpunkt der Erde reisen. Die kürzesteVerbindung zweier Punkte A und B auf der Kugel ist ein Großkreis, also einKreis, dessen Ebene durch A, B und die Kugelmitte M festgelegt ist. Wennein Schiff also von einem Punkt auf einem bestimmten Breitenkreis zu einemanderen, weit entfernten Punkt am selben Breitenkreis fahren will, ist diekürzeste Verbindung nicht der Breitenkreis (außer am Äquator)!Dabei wäre der Breitenkreis viel praktischer für die Navigation: Er lässt sich nämlichproblemlos berechnen, wenn man den Höhenwinkel zum Sonnenhöchststand misst(siehe S.384). Deswegen fuhr man in früheren Zeiten trotzdem vorzugsweise auf

130 4 Gekrümmt und doch einfach

Breitenkreisen – lieber ein paar Seemeilen mehr, als eine lebensrettende Insel imOzean „verpassen“: die exakte Bestimmung des Längenkreises auf hoher See warnämlich eine äußerst schwierige Sache, die erst mit dem Aufkommen „sturmfester“Uhren gelöst wurde [16].

● Von Vienna nach Varadero

Im Zeitalter des GPS (Global Positioning System) kann man tatsächlich anstre-ben, möglichst auf einem Großkreis von A nach B zu kommen. Natürlich spielenWasser- oder Luftströmungen („Jet streams“) darüber hinaus eine gewichtige Rolle.Abb. 4.41 zeigt den Verlauf einer Flugroute zwischen zwei Kontinenten – naturge-mäß dargestellt auf einer 2D-Karte, die Großkreise nicht als solche erkennen lässt.Es handelt sich um Fotografien eines in den Flugzeugen montierten Bildschirms mitniedriger Auflösung.

Abb. 4.41 Links: Kürzester Weg von Wien nach Varadero. Rechts: Flugrouten sind – zumindesttheoretisch – Großkreise. In der Praxis werden vor allem die Jet-Streams, aber auch andere Über-legungen miteinbezogen. Die Routen gehen deshalb oft in den hohen Norden, auch wenn Start undZiel auf dem gleichen Breitenkreis liegen.

In Abb. 4.41 Mitte wurde diese 2D-Karte nachträglich auf eine Kugel transformiert.In der gegebenen Ansicht sollte nun die Flugroute als nahezu projizierender Groß-kreis erscheinen. Die Abweichung ist in der Tat nicht allzu groß. Der Flug von Wien(48○ nördlicher Breite, 16○ östlicher Länge) nach Varadero in Kuba (20○ nördlicherBreite, 70○ westlicher Länge), führt zunächst etwas in nördlichere Breiten. An derBeschattung der Erdkugel, welche den Nordpol tief im Schatten lässt, erkennt man,dass der Flug etwa zum Zeitpunkt der Wintersonnenwende stattgefunden hat. Wäh-rend des mehrstündigen Flugs wandert die Schattengrenze nach Westen. Im Bildrechts sind ideale Flugrouten eingezeichnet (der kürzeste Weg ist ein Großkreis).Satellitenbahnen sehen im Übrigen auch so aus. ◾

4.3 Zylinderflächen 131

4.3 Zylinderflächen

Vom altbekannten Drehzylinder. . .

Wir haben mittlerweile schon sehr oft den Begriff Drehzylinder verwendet,weil davon ausgegangen werden kann, dass sich jeder einen Drehzylindervorstellen kann. Eine exakte Definition könnte erstens wieder sein:

Ein Drehzylinder ist der Ort aller Punkte, die von einer gegebenen Geraden (derAchse) festen Abstand (Radius) r haben.

Ähnlich wie bei der Kugel erklären wir den Drehzylinder aber auch durcheine Bewegung:

Ein Drehzylinder entsteht durch Rotation einer Geraden um eine zu ihr paralleleAchse.

So gesehen sind Drehzylinder „verfeinerte“ regelmäßige Prismen. Vom Com-puter werden sie meist auch als regelmäßige Prismen mit hoher Kantenzahldargestellt (mit freiem Auge erkennt man den Unterschied zwischen einemsagen wir 200-seitigem Prisma und einem Zylinder nur schwer).Beide Erzeugungen definieren den Drehzylinder unbegrenzt, also „unendlichlang“. In der Praxis sind Drehzylinder meist durch Normalschnitte zur Ach-se, also Kreise, begrenzt. Dann ist die Abwicklung eines solchen begrenztenDrehzylindermantels ein Rechteck der Breite 2π ⋅ r und der Höhe h.

Abb. 4.42 Umriss und Schlagschatten eines Drehzylinders

Drehzylinder sind einfach (parabolisch) gekrümmt. Ihr Umriss, aber auchihr Schlagschatten, besteht daher in der Regel aus zwei Geraden (und denBildern bzw. Schatten der Randkreise).

. . . zu den allgemeinen Zylindern

In der Geometrie ist ein Zylinder keineswegs automatisch ein Drehzylinder(wie etwa im Maschinenzeichnen).

132 4 Gekrümmt und doch einfach

Ein allgemeiner Zylinder entsteht, wenn eine Gerade längs einer beliebigen Leit-kurve parallel verschoben wird.

Abb. 4.43 Allgemeiner Zylinder: Ebener Schnitt, Schnitt mit einer Geraden

Zylinder behalten wesentliche Eigenschaften des Drehzylinders bei, wennman von der Rotationssymmetrie absieht. Sie sind generell einfach gekrümmt,also abwickelbar, was man daran erkennen kann, dass ihre Konturen bzw. Ei-genschattengrenzen aus Geraden bestehen.

Abb. 4.44 Zylindrische Berandung eines Klangkörpers

Der Umriss der zylindrischen Berandung bei einer Gitarre ist ein schönesBeispiel dafür. Sowohl bei Normalprojektion (Abb. 4.44 links), als auch beiZentralprojektion sind die Umrisse geradlinig. Bei den vorliegenden Fotogra-fien wurde mit Streulicht fotografiert (Innenaufnahme), das keine scharfenSchattengrenzen liefert. Trotzdem ist zu erkennen, dass der Schatten derSeitenwand geradlinig ist.Jeder kann sich in Sekundenschnelle ein Modell eines allgemeinen Zylinders„basteln“. Zu diesem Zweck nehme man einfach ein Blatt Papier und ziehe esüber eine Tischkante. Dadurch verändert man die Struktur des platt gewalz-ten Papiers fast unmerklich, und es entsteht eine Rolle. In der Natur tretensolche Rollen bei Pflanzenblättern (Abb. 4.46) häufig auf.

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt 133

Abb. 4.45 Allgemeine Zylinder Abb. 4.46 Gerollte Palmblätter

Allgemeine Zylinderflächen spielen in der Architektur eine große Rolle: Mankann damit Dachformen oder Fassaden gestalten, die einigermaßen kosten-günstig herstellbar sind, weil sie in der Ebene zugeschnitten werden können.Rein geometrisch haben wir es oft bei Parallelprojektionen oder Parallel-schatten mit „umschriebenen“ bzw. angeschriebenen Zylindern zu tun – wieschon im Fall der Kugel, wo der umschriebene Zylinder ein Drehzylinder ist.

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt

Ein klassischer Beweis der Raumgeometrie

Abb. 4.47 Schrägschnitte von Drehzylindern

Die „herkömmliche“ – von den Griechen definierte – Ellipse tritt als ebenerSchrägschnitt eines Drehzylinders auf.

Beweis:Der Beweis ist so genial wie einfach und stammt vom Franzosen Dandelin: Dieherkömmliche Ellipse ist der Ort aller Punkte der Ebene, für welche die Summe derAbstände zu zwei festen Punkten – den Brennpunkten F1 und F2 – konstant ist.Dandelin erkannte, dass diese Punkte als Berührpunkte jener beiden kongruenten

134 4 Gekrümmt und doch einfach

Kugeln gedeutet werden können, welche den Drehzylinder und die Schnittebeneberühren.

Abb. 4.48 Die Dandelinschen Kugeln Abb. 4.49 Rohrknie

Nennen wir die Punkte vorsorglich F1 und F2 (sie liegen nicht am Drehzylinder).Betrachten wir nun einen beliebigen Punkt P auf der Schnittkurve. Durch P gibtes eine Zylindererzeugende e, welche die Kugeln in den Punkten 1 und 2 berührt.Wir können sagen: Die (identischen) Geraden P1 und P2 berühren beide Kugeln,und die Summe der Berührstrecken P1+P2 ist konstant, nämlich genau die Streckevon 1 nach 2. Andererseits sind aber auch die Geraden PF1 und PF2 Tangenten andie Kugeln aus P . Alle Tangenten aus einem festen Punkt P an eine Kugel habeneine konstante Tangentenstrecke und bilden einen Drehkegel. Es ist also PF1 = P1

und auch PF2 = P2. Damit ist auch die Summe PF1 +PF2 konstant (= 12), was zuzeigen war. ◾

Jede Menge AnwendungenSteht der Zylinder lotrecht, sind der tiefste Punkt A und der höchste PunktB auf der Schnittkurve die Hauptscheitel der Schnittellipse (Abb. 4.49). DerMittelpunkt M ist der Schnittpunkt der Ebene mit der Zylinderachse. DiePunkte C und D in gleicher Höhe wie M sind die Nebenscheitel.

Abb. 4.50 Entstehung eines Rohrknies: Zwei konzentrische kongruente Ellipsen werden durchDrehung zur Deckung gebracht.

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt 135

Die beiden Teile eines schräg abgeschnittenen Zylinders können zu einemRohrknie zusammengebaut werden, indem man einen der beiden um die Nor-male zur Schnittebene im Ellipsenmittelpunkt durch 180○ verdreht (Abb. 4.50).Wenn die Schnittebene mit der Zylinderachse den Winkel ϕ bildet, dann bil-den die Rohrachsen und die Ebenen der Abschlusskreise den Winkel 2ϕ.Insbesondere tritt für ϕ = 45○ ein rechtwinkliges Rohrknie auf.

Abb. 4.51 Gewölbe mit Schnittellipsen

Vier Drehzylinder, die keilförmig beidseitig unter 45○ abgeschnitten wurden,passen wunderbar zu einer Balkenverbindung zusammen. Dabei treten zweiSchnittellipsen auf, die einander in den Nebenscheiteln rechtwinklig schneiden(in Abb. A.10 ist so eine Verbindung skizziert).Geometrisch tritt dasselbe Problem auf, wenn einander zwei drehzylindrischeGewölbe schneiden (Abb. 4.51 zeigt Untersichten eines Kreuzgewölbes undeines Tonnengewölbes).

Abb. 4.52 Variationen einer Verbindung von drei Zylindern

Variationen solcher Drehzylinder-Verbindungen (Abb. 4.52) sollen illustrie-ren, welch enorme Bedeutung den ebenen Drehzylinderschnitten zukommt.Wenn man das Spiel weitertreibt, kann man sechs zugespitzte Drehzylinder-keile zusammenstecken, wobei man ein Raumkreuz erhält. Diesmal sind sechsSchnittellipsen im Spiel, und es ist eine wahre Herausforderung an unserRaumvorstellungsvermögen, eine Skizze dieses Gebildes zu zeichnen (mehrdazu im Anhang über Freihandzeichnen).

136 4 Gekrümmt und doch einfach

Abb. 4.53 Durchdringung zweier Drehzylinder: Palmenhaus/Schönbrunn Wien

Abb. 4.54 Balkenverbindung mit drei Balken, Variation mit achtseitigen Prismen

Abb. 4.54 links zeigt eine Balkenverbindung mit drei paarweise rechtwinkli-gen Achsen. Das „Innenleben“ (Mitte links) ist ein gut rollendes Gebilde. Fürden Computer sind solche Durchdringungen oft mit numerischen Problemenverbunden (man muss Ebenen schneiden, die „fast“ identisch sind). Deshalbwurden in Abb. 4.54 die Radien der Zylinder ganz leicht unterschiedlich an-genommen. Dies bewirkt sofort ein „Abreißen“ der Durchdringungskurven inden Doppelpunkten.In Abb. 4.54 rechts wurden die Zylinder durch regelmäßige achtseitige Prismenangenähert. Das gemeinsame Innere der Prismen ist dann ein Körper, der aus lauterkongruenten Quadraten bzw. Sechsecken besteht.

Man kann mehrere Zylinderhufe „in Serie“ aneinander hängen (Abb. 4.56).Das ergibt dann näherungsweise einen sogenannten Torus, über den wir nocheiniges zu sagen haben.Bei der Abwicklung geht ein durch Kreisschnitte begrenzter Drehzylinder inein Rechteck der Breite 2π ⋅ r über. Welche Kurve entsteht aber aus einemelliptischen Schrägschnitt?Diesmal geht’s einfach nicht ohne Rechnung. Wir müssen die Bogenlänge –die bei der Abwicklung auftritt – mit der Höhenkote eines Kurvenpunkts inVerbindung bringen. Betrachten wir einen Punkt der Ellipse in Grund- undAufriss. Im Grundriss ist P ′ ein Kreispunkt mit den Koordinaten x = r ⋅cosu,y = r⋅sinu (u ist dabei der Polarwinkel im Bogenmaß). Wenn die Schnittebene

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt 137

Abb. 4.55 Abwicklung eines Zylinderhufs: Die Schnittkurve ist eine Sinuslinie, von der mandie Krümmungskreise sowie die Wendetangenten (Winkel β) angeben sollte (z.B. ist der Krüm-mungskreis im Punkt 4 gleich groß wie jener der normal auf die Tangentialebene τ projiziertenSchnittellipse).

Abb. 4.56 Abwicklung einer Rohrverbindung

unter dem Winkel α = 90−β zur horizontalen Basisebene (Ebene in Höhe derNebenscheitel) geneigt ist, hat die Höhe von P den Wert z = y ⋅tanα = k ⋅y; kist konstant. Der Punkt hat in der Abwicklung die Koordinaten P v(r ⋅ u/z),also P v(r ⋅ u/k ⋅ r ⋅ sinu). Die abgewickelte Kurve ist somit im Wesentlicheneine Sinuskurve.Den Hauptscheiteln 4 und 8 der Schnittellipse entsprechen die Scheitel derSinuskurve, den Nebenscheiteln ihre Wendepunkte. Die Neigung der Wende-tangente entspricht der Neigung der Schnittebene.Wenn man eine Rohrverbindung abwickelt, kann man einfach einen Prototypenabwickeln. Die anderen Teile sind kongruent. Man kann aber noch ökonomischervorgehen: Wenn man sich vor der Abwicklung den nächstfolgenden Huf um 180○

verdreht denkt, dann wird die Rohrverbindung zu einem Drehzylinder „gestreckt“.Wir brauchen also nur einen Drehzylinder mit unter Umständen mehreren – imWesentlichen kongruenten – Schrägschnitten abwickeln. Das Ergebnis ist ein Recht-eckstreifen, auf dem eine oder mehrere, oft kongruente Sinuskurven eingetragensind. So etwas freut den Praktiker, denn der Materialverschleiß ist dadurch absolutminimiert!

138 4 Gekrümmt und doch einfach

Immer funktioniert’s natürlich nicht

Abb. 4.57 Allgemeine Durchdringungen von Drehzylindern

Eigentlich muss es verwundern, dass der Schnitt zweier Drehzylinder über-haupt zwei Ellipsen ergibt. Es gibt nämlich einen berühmten Satz, der ei-gentlich etwas ganz Anderes behauptet:

Theorem von Bézout: Zwei rational algebraische Flächen der Ordnung m und n

haben i. Allg. eine Schnittkurve der Ordnung m ⋅ n gemeinsam.

Beweis:Die beiden Flächen werden von einer beliebigen Testebene nach zwei ebenen Kurvenm-ter bzw. n-ter Ordnung geschnitten. Wenn es uns gelingt, zu zeigen, dass diesem ⋅ n Punkte gemeinsam haben, sind wir fertig, denn dann hat nach Definition dieDurchdringungskurve dieselbe Ordnung.Der noch zu zeigende Satz über ebene rational algebraische Kurven ist, wie derName schon andeutet, ein klassisch algebraisches Problem. Die algebraische Kurven-ter Ordnung ist durch die implizite Gleichung

∑ai ⋅ xi ⋅ yj = 0 mit 0 ≤ i + j ≤ n

gegeben. Die algebraische Kurve m-ter Ordnung kann man entweder genauso an-schreiben, oder aber mittels eines Parameters t in der Form

x =m

∑k=0

bk ⋅ tk, y =m

∑k=0

ck ⋅ tk

angeben. Setzt man diese Parameterdarstellung in die implizite Gleichung ein, erhältman eine algebraische Gleichung der Ordnung m ⋅ n in t, die nach dem Fundamen-talsatz der Algebra m ⋅n Lösungen hat (komplexe Lösungen und Mehrfachlösungenmitgezählt). ◾

Wenn man also zwei Flächen zweiter Ordnung schneidet (und zu ihnen gehö-ren die Drehzylinder), dann ist eine Raumkurve vierter Ordnung zu erwarten.Abb. 4.57 zeigt etwa die Durchdringungskurven von Drehzylindern mit schneiden-den Achsen und leicht unterschiedlichen Radien (die Kurven erscheinen in Achsen-richtung projiziert kreisförmig, normal zur Ebene der beiden Achsen projiziert als

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt 139

Abb. 4.58 Ausrundung einerDurchdringung

Abb. 4.59 Allgemeine Durchdringung von Zylindern(links: Biberfraß)

Hyperbeln). Solche Durchdringungen gibt es zuhauf in technischen Anwendungen.Abb. 4.59 zeigt ein kurioses Beispiel aus der Natur: Ein Biber hat einen mächti-gen Baum so angenagt, dass beim nächsten starken Sturm „Einsturzgefahr“ für denBaum besteht.

Abb. 4.60 Die Raumkurven können unter Umständen zerfallen

Die Schnittkurve zweier Drehzylinder kann auch „zerfallen“:Die beiden Schnittellipsen zusammen bilden ebenfalls eine Raumkurve vier-ter Ordnung (schließlich haben sie vier Punkte mit einer beliebigen Ebenegemeinsam).Abb. 4.60 illustriert, wie der Schnitt zweier Drehzylinder zerfällt, wenn zwei Krite-rien erfüllt sind: Erstens müssen die Zylinder gleichen Radius haben, und zweitensmüssen einander ihre Achsen schneiden. Das kann man auch so formulieren: Diebeiden Flächen müssen eine gemeinsam eingeschriebene Hilfskugel besitzen. In derNormalprojektion auf die von den Achsen aufgespannte Ebene zerfällt die bei ver-schiedenen Durchmessern auftretende Hyperbel in ein Geradenpaar: Eine reguläreHyperbel kann nämlich keinen Doppelpunkt haben.Die Sache mit den zerfallenden Durchdringungen wird nicht nur in der Tech-nik weidlich ausgenützt, sie tritt auch in der Natur ständig bei den Schlag-schatten auf, denn es gilt der Satz:

140 4 Gekrümmt und doch einfach

Der Schatten einer ebenen Randkurve einer Fläche zweiter Ordnung auf die Flä-che selbst ist ein Kegelschnitt.

Abb. 4.61 Schlagschatten einer Kugelzone oder eines Drehzylinders auf sich selbst.

Beweis:Die ebene Randkurve ist ein Kegelschnitt k (Abb. 4.61). Die Lichtstrahlen durch k

bilden einen Kegel (bzw. bei Parallelschatten einen Zylinder) zweiter Ordnung. Inden beiden Punkten, wo die Eigenschattengrenze der Fläche (ein Kegelschnitt bzw.ein Geradenpaar) die Randkurve schneidet, berühren einander der Lichtkegel unddie Fläche. Durch diese doppelte Berührung zerfällt die Durchdringungskurve inzwei Kegelschnitte. Einer davon ist die Randkurve, der zweite trägt die Berandungdes Schlagschattens der Randkurve auf die Fläche selbst. ◾

Abb. 4.62 Schatten eines Kugelteils bzw. Drehzylinders auf sich selbst

● Schatten als DurchdringungskurvenIn Abb. 4.63 ist zu erkennen: Die Lichtstrahlen um den Reifen bilden annä-hernd einen schiefen Kreiszylinder (er bildet sich in der Fotografie als Kegelmit dem Sonnenpunkt als Spitze ab). Im Schnitt mit der drehzylindrisch ge-bogenen Bahn (Halfpipe) ergibt sich als Schatten des Reifens eine Raumkurvevierter Ordnung. ◾

4.4 Die Ellipse als ebener Drehzylinderschnitt 141

Abb. 4.63 Der Schatten des Reifens auf der gekrümmten Bahn ist eine Raumkurve 4. Ordnung

Der Abwickelvorgang. . .Abb. 4.64 links illustriert anschaulich, wie ein drehzylindrisches Blechstückzu einem Rechteck verformt werden kann. Mechanisch wird man dabei sovorgehen, dass man das Blech in gleichmäßigen Abständen immer ein wenigbiegt. Je weiter eine Erzeugende von der Mittenerzeugenden entfernt ist,desto öfter muss dieser Biegevorgang wiederholt werden.

Abb. 4.64 Kontinuierliche Abwicklung eines Drehzylinders und wie man damit ein Schwimmbe-cken überdachen kann.

Die farblich hervorgehobene Position sieht in etwa wie ein halber elliptischerZylinder aus (ist es aber nicht exakt). Sie diente in Abb. 4.64 rechts alsDach eines kleineren Schwimmbeckens. Die Spiegelung im Wasser ergänzt denZylinderteil zu einem geschlossenen Zylinder, der einem elliptischen Zylindernahe kommt.

. . . und seine UmkehrungManchmal muss man in der Praxis nicht abwickeln, sondern „aufwickeln“(Abb. 4.65). Man denke etwa an das Aufkleben eines Etiketts auf eine Wein-flasche oder an eine kreisrunde Aluminiumfolie, die man zusammenrollt undin den Hals einer Rotweinflasche steckt, um das „Abschneiden“ des Wein-strahls zu erleichtern (Abb. 4.65 rechts). Wenn man beim Aufwickeln Gera-

142 4 Gekrümmt und doch einfach

Abb. 4.65 Umkehrung der Abwicklung („Aufwicklung“) auf einen Drehzylinder. Links: Aufrollungvon Geraden (Schraublinien) und einem Kreis. Rechts: Eine zu einem Drehzylinder zusammenge-rollte kreisförmige Aluminiumfolie dient als „Weinabtropfer“.

den „mitnimmt“, entstehen geodätische Linien auf dem Trägerzylinder (sieheS.116). Im allgemeinen Fall handelt es sich dabei um Schraublinien – überdiese wichtige Kurve werden wir noch ausführlich sprechen.Nimmt man einen Kreis mit, dessen Durchmesser zufällig der Umfang desZylinders ist, entsteht eine Kurve mit Doppelberührung. Ein solche Linie istin Abb. 4.65 links rot eingezeichnet. Die Doppelberührung ist im verdecktenBereich zu erkennen. In Abb. 6.28 sind im Hintergrund auf den Bambus-Hockern ebenfalls Kreise zu erkennen, die auf einen Drehzylinder aufgewickeltwurden.

Abb. 4.66 Aufwicklung Abb. 4.67 „Aufwicklung“ eines Kreises

Die Herstellung der Kartoffelchips in Abb. 4.67 ist geometrisch gar nicht soleicht zu interpretieren. Offensichtlich wird zunächst eine dünne Breischichtkreisförmig ausgestochen. Wenn man dieses Objekt dann – wie bei einem„Nudelwalker“ – auf einem Drehzylinder aufwickelt, entstehen natürlich keinedoppelt gekrümmten Flächen. Es ist anzunehmen, dass der Brei gleich aufeine doppelt gekrümmte Schablone aufgepresst wird. Der zähflüssige Teigverkraftet die notwendige Dehnung bzw. Stauchung.Abb. 4.66 links zeigt zwei alt-ägyptische Armreifen, bei denen zunächst ebeneKurven aus purem Gold auf einen „elliptischen Zylinder“ (den Unterarm)aufgewickelt sind.

5 Mehr über Kegelschnitte undabwickelbare Flächen

Neben der Kugel und den Zy-lindern sind die Kegel jene Flä-chen, die wir uns gut vorstellenkönnen. Sie sind wie die Zylin-der einfach gekrümmt und abwi-ckelbar. Unter den Kegeln spie-len Drehkegel bzw. schiefe Kreis-kegel eine entscheidende Rolle. Ih-re ebenen Schnitte sind die Ke-gelschnitte: Ellipse (im Spezial-fall Kreis), Hyperbel und Para-bel. Durch die räumliche Deutungdieser wohl berühmtesten ebenenKurven gelangt man zu vielen Ge-meinsamkeiten der drei Typen.

Kegel und Zylinder sind abwickelbar: Man kann sie ohne Deformation in dieEbene ausbreiten. Diese Eigenschaft haben sonst nur noch die Torsen (Tan-gentenflächen von Raumkurven). Wie die Zylinder und Kegel bestehen sie auslauter Geraden und werden längs dieser „Erzeugenden“ von Ebenen berührt.Genau diese Eigenschaft macht sie als abwickelbare Flächen leicht erkenn-bar: Ihre Umrisse sind ausschließlich Erzeugende, und auch Schattengrenzenhaben immer geradlinige Anteile.Doppelt gekrümmte Flächen wie die Kugel lassen sich nicht abwickeln. Weilaber das Ausbreiten einer Fläche eine außerordentlich wichtige Aufgabe ist,haben sich Mathematiker und Geometer außerordentlich viele Gedanken ge-macht, wie man wenigstens die Erdkugel so auf eine (ebene) Landkarte trans-formieren kann, dass gewisse Eigenschaften nicht verloren gehen.

Überblick5.1 Kegelflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

5.2 Kegelschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

5.3 Torsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

5.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 172

5.5 Die „physikalische“ Spiegelung an Kreis, Kugel und Drehzylinder . . . . 180

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

144 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

5.1 Kegelflächen

Neben den Zylindern sind wegen ihrer Einfachheit die Kegel hervorzuheben.Wir definieren ganz allgemein:

Abb. 5.1 Bewegung einer Geraden durch einen festen Punkt (rechts: Näherung)

Ein Kegel wird von einer Geraden e überstrichen, die stets durch einen festenPunkt S geht. S heißt Scheitel, e Erzeugende des Kegels.

In der Geometrie ist ein Kegel nicht begrenzt, kann also immer als Doppel-kegel aufgefasst werden (Abb. 5.2 links).Insbesondere fallen die wohl bekannten Drehkegel in diese Flächenklasse,denn es gilt:

Abb. 5.2 Schatten von Drehkegeln und Drehzylinder

Ein Drehkegel entsteht durch Rotation einer Geraden e um eine sie schneidendeAchse.

In der Praxis treten oft nur Teile von Drehkegeln auf, welche manchmal garnicht so leicht als solche zu identifizieren sind (Abb. 5.4, Abb. 5.5).

5.1 Kegelflächen 145

Abb. 5.3 Drehkegel mit Breitenkreisen und Erzeugenden

Abb. 5.4 Rotation von Geraden und kegelförmige Ausbohrung

Abwicklung eines DrehkegelsBeim Drehkegel sind alle Erzeugenden gleich lang (genauer: alle Abschnitteder Erzeugenden zwischen der Spitze und einem Kreisschnitt). Wenn wir denKegel in die Ebene abwickeln, wird er in einen Kreissektor übergehen.Gemäß Abb. 5.6 kann man den Öffnungswinkel ω des Kreissektors durchGleichsetzen entsprechender Kreisbögen erhalten. Mit den Bezeichnungender Figur ist 2π ⋅ r = ω ⋅ s, und somit

ω = r

s2π bzw. im Gradmaß ω○ = r

s⋅ 360○

Beim gleichseitigen Kegel mit s = 2r erhalten wir eine halbe Kreisscheibe.Ein Drehkegelstumpf geht in einen Kreisringsektor über, Kurven auf demKegel gehen in Kurven über, die die Erzeugenden unter demselben Winkelschneiden wie im Raum (Anwendung S. 161).

Abb. 5.5 Vulcania European Park of Vulcanism Conus von Hans Hollein (Drehkegelteile)

146 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Abb. 5.6 Abwicklung eines Kegels

● Aufwicklung auf einen KegelSo wie beim Drehzylinder können wir die Abwicklung „umkehren“. Wir tragenin den abgewickelten Drehkegelmantel eine beliebige Kurve ein, z.B. einenKreis (wie in Abb. 5.7).

Abb. 5.7 Aufwicklung eines Kreises

Das Ergebnis ist eine Raumkurve k am Kegel, die, wenn wir sie abwickeln,eben diese Kurve ergibt. Die Kurve k ist punktweise wie folgt zu ermitteln:Wir wählen eine Erzeugende ev in der Abwicklung. Zum entsprechenden Zen-triwinkel ϕv ermitteln wir den Zentriwinkel ϕ am Basiskreis und tragen dieErzeugende e am Kegel ein. Jetzt muss nur noch der Abstand SvP v aus derAbwicklung auf e abgetragen werden. ◾

Allgemeine Kegel sind in der Praxis nicht so häufig anzutreffen wie allgemeineZylinder. Nicht selten findet man solche Kegel als Verbindungsflächen zweier– oft in parallelen Ebenen liegenden – „Leitkurven“ (Abb. 5.12).

● Verbindungskegel zwischen Kreis und RechteckAbb. 5.8 zeigt, wie die Verbindungsfläche aus (ebenen) Dreiecken und schie-fen Kreiskegeln so zusammen gestückelt werden kann, dass sie keine Kantenaufweist:Sind z.B. ein Kreis k und ein in einer parallelen Ebene gelegenes Rechteck r

als Randkurven gegeben (Abb. 5.8 links), dann sucht man jene Kreispunkte

5.1 Kegelflächen 147

Abb. 5.8 Verbindungsfläche Rechteck-Kreis in Theorie. . .

Abb. 5.9 . . . und Praxis

1, 2, 3 und 4 auf, in denen die Tangenten parallel zu den Rechtecksseitensind. Diese Punkte verbindet man mittels Dreiecken mit den Rechtecksseiten.Übrig bleiben vier schiefe Kreiskegel, die von den Dreiecken berührt werden.Haben die Trägerebenen der Randkurven eine Schnittgerade s gemeinsam(Abb. 5.8 rechts), dann erhält man die Punkte 1 bis 4, indem man die Recht-ecksseiten mit s schneidet und von dort die passenden Tangenten an k legt.◾

● Düse beim HaarföhnEin Kreis und ein an den kürzeren Seiten kreisförmig abgerundetes Rechteckin einer parallelen Ebene sind durch eine glatte Fläche zu verbinden.

Abb. 5.10 Theorie. . . Abb. 5.11 . . . und Praxis

148 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Lösung :Abb. 5.10 schließlich zeigt den Fall, wo das Rechteck durch Kreise abgerundetist. Dies ist bei der Anwendung in Abb. 5.11 der Fall.Folgende Idee führt elegant zum Ziel: Die längeren Seiten des Rechtecks „er-ledigt“ man – wie im vorangegangenen Beispiel – mit zwei Dreiecken. Esbleiben zwei verschieden große Kreise in parallelen Ebenen übrig (wir er-gänzen in Gedanken die oberen Halbkreise zu vollen Kreisen). Nun gibt esoffensichtlich zwei schiefe Kreiskegel mit Spitzen S1 und S2, auf denen dieKreise liegen. Sie bilden Verbindungsflächen, welche die beiden Dreiecke be-rühren.Abb. 5.12 zeigt einen Schalter am Flughafen, der nach dieser Methode gebautwurde. Der Vorteil ist, abgesehen vom Design, dass es keine Kanten gibt, andenen man sich stoßen könnte. ◾

● Der Kegel von Le Corbusier

Abb. 5.13 zeigt einen Entwurf des berühmten französischen Architekten (1887-1965), der durch seine formstreng-funktionale Architektur bekannt wurde.Eine genauere Analyse des doch anspruchsvollen Objekts zeigt, dass dieseserstaunlich einfach entstand:Corbusier entwickelte genau wie in Anwendung S. 146 eine Verbindungsflächeeines Basisquadrats mit einem Kreis. Anschließend jedoch schnitt er das ausDreiecken und schiefen Kreiskegeln gebildete Objekt schräg ab. Die Deck-fläche besteht somit aus Ellipsenteilen (siehe dazu nächster Abschnitt) undGeraden. ◾

Abb. 5.12 Verbindungskegel . . . Abb. 5.13 . . . zweier Leitkurven (nach Le Corbusier)

Ein theoretischer Satz mit großer technischer AnwendbarkeitGeometrie übt ohne Zweifel eine Faszination aus, die zunächst unabhängigvon jeder Anwendbarkeit sein kann. Wenn man aber zu einem Satz der theo-retischen Geometrie so viele Anwendungen finden kann wie für den folgenden,kann man sich noch mehr darüber freuen.

Berühren einander zwei Flächen zweiter Ordnung in zwei Punkten, dann zerfälltdie Schnittkurve in zwei Kegelschnitte.

5.1 Kegelflächen 149

Abb. 5.14 Symmetrische und unsymmetrische Hosenstücke

Es lässt sich nämlich zeigen, dass eine nicht zerfallende Durchdringungskur-ve vierter Ordnung nur einen Doppelpunkt (also eine Selbstdurchdringung)haben kann. Andererseits kann man zeigen, dass immer dann, wenn einanderzwei Flächen berühren, die Durchdringungskurve dort einen Doppelpunkthaben muss.Mit obigem Satz kann man leicht folgenden für die Praxis wichtigen Satzeinsehen:

Haben zwei Flächen zweiter Ordnung eine gemeinsam eingeschriebene Hilfskugel,dann zerfällt die Durchdringungskurve in zwei Kegelschnitte.

Abb. 5.15 Zylinderdurchdringung samt Explosionszeichnung

Abb. 5.16 Zerfallende Durchdringungen von Flächen zweiter Ordnung

Die Schnittkurve der beiden Flächen ist zunächst von vierter Ordnung. Siewird – so wie beide Trägerflächen – die Kugel doppelt berühren. In den Be-rührungspunkten haben die beiden Flächen dieselbe Tangentialebene, und es

150 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

liegen Doppelpunkte vor. Dies führt zum Zerfallen der Kurve in zwei Kegel-schnitte.Abb. 5.16 Mitte links zeigt zwei Drehkegel, die eine gemeinsam eingeschrie-bene Hilfskugel haben. Dadurch zerfällt die Schnittkurve in zwei Ellipsen.Materialisiert man nur jeweils einen Teil jedes Drehkegels, dann bleibt nureine der beiden Ellipsen übrig.

Abb. 5.17 Expo in Genf

Abb. 5.16 rechts geht nun eine Stufe weiter und transformiert die Drehke-gel affin. Dadurch werden sie zu allgemeinen Kegeln zweiter Ordnung. DieSchnittellipse geht dabei in eine neue Ellipse über. Immerhin faszinierte diesesMotiv das Architekturbüro Coop Himmelb(l)au so sehr, dass es in mehrerenberühmten Bauwerken verewigt ist (etwa in Genf, wo die Türme je 40 Meterhoch sind, Abb. 5.17, oder in Abb. 5.18).Eine räumliche affine Transformation wird rechnerisch sehr einfach durchgeführt:Die neuen Koordinaten der Punkte sind beliebige Linearkombinationen der altenKoordinaten.

Abb. 5.18 UFA Cinema Center, Dresden und Paradise Cage

5.2 Kegelschnitte 151

5.2 Kegelschnitte

Ebene Schnitte eines DrehkegelsDie geometrische Vokabel Kegelschnitt kommt in jedem Geometriebuch sohäufig vor wie sonst nur noch „Gerade“ und „Kreis“. Manchmal wird auchder Ausdruck Kurve zweiter Ordnung bzw. Kurve zweiten Grades verwen-det. Tatsächlich meint man immer dasselbe damit: Es handelt sich um jeneKurven, die algebraisch gesehen zwei Schnittpunkte mit einer Geraden ha-ben.

Abb. 5.19 Die verschiedenen Kegelschnitte

Die Kurven sind nämlich – mathematisch gesprochen – durch eine algebraischeGleichung zweiter Ordnung der Form

a1 x2 + a2 y

2 + a3 xy + a4 x + a5 y + a6 = 0 (5.1)

gegeben (dabei dürfen nicht alle der ersten drei Koeffizienten Null sein, sonst lägeeine lineare Gleichung vor). Wenn man jetzt für die Variable y den linear abhängigenTerm k x + d einsetzt, ergibt sich immer eine quadratische Gleichung in x, die zuden zwei Schnittpunkten führt. Doppellösungen und konjugiert imaginäre Lösungensind im algebraischen Sinn zu zählen.

Was ist ein zerfallender Kegelschnitt?Wir unterscheiden zerfallende und nicht zerfallende (reguläre) Kegelschnitte.Geometrisch gesehen entstehen die regulären Kegelschnitte im Schnitt einesDrehkegels mit einer Ebene, die nicht die Kegelspitze enthält. Dann ergebensich – je nach Neigung der Ebene – Ellipsen, Hyperbeln oder Parabeln.Eine Ebene durch die Kegelspitze schneidet den Kegel entweder nach zweiErzeugenden, berührt sie längs einer Erzeugenden, oder „gar nicht“ (genauer:nach zwei imaginären Geraden mit der Kegelspitze als reellem Schnittpunkt).Für Personen, die mathematisch firm sind: Ein Drehkegel mit halbem Öffnungs-winkel α, die Spitze im Koordinatenursprung und der z-Achse als Kegelachse kannmathematisch durch die Gleichung

x2 + y2 − t2z2 = 0

mit t = tanα > 0 beschrieben werden. Ein nicht horizontaler Schnitt mit einer Ebene

px + z = 0, p > 0

152 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

durch den Ursprung (Normalvektor (p,0,1)T ) liefert die Bedingung

y = ±x ⋅ √p2t2 − 1,

also ein Geradenpaar, das genau dann reell ausfällt, wenn p2t2 ≥ 1, also p ≤ cotα

gilt; ansonsten handelt es sich um ein Paar konjugiert imaginärer Geraden.

BrennpunkteAlle regulären Kegelschnitte haben zwei Brennpunkte, wenn wir auch Fern-punkte zulassen. Bei Ellipse und Hyperbel sind beide Brennpunkte gewöhn-liche Punkte, bei der Parabel „rutscht“ einer der beiden Brennpunkte in Ach-senrichtung ins Unendliche.Diese Denkweise bringt Vorteile: Viele Eigenschaften von Ellipsen bzw. Hy-perbeln, die sich auf die Brennpunkte beziehen, lassen sich auf die Parabelübertragen, die offensichtlich eine – durchaus erwähnenswerte – Zwischen-stellung einnimmt. Im Übrigen brauchen wir auch die nicht regulären Kegel-schnitte nicht immer von den regulären trennen. Wir können uns ein Paarschneidender Geraden problemlos als Hyperbel denken, die von sehr sehr weitweg betrachtet wird (eine Hyperbel ist nämlich fast überall fast geradlinig;nur in der Umgebung der Scheitel ändert sie kurzfristig ihre Richtung). Auchein paralleles oder zusammenfallendes Geradenpaar kann man sich zur Notals „unendlich flache Ellipse“ vorstellen.Nehmen wir als Beispiel einen Satz, der sich auf die sogenannten Brennstrah-len bezieht (das sind die Verbindungsgeraden eines Punkts des Kegelschnittsmit den Brennpunkten):

Bei einem Kegelschnitt halbiert jede Tangente den Winkel der zugehörigen Brenn-strahlen.

Abb. 5.20 Die Dandelinschen KugelnBeweis:Ein eleganter Beweis dieses Satzes stützt sich auf den Beweis von Dandelin, woein Kegelschnitt als ebener Drehkegelschnitt erklärt wird. Die Tangente t in einemKurvenpunkt P lässt sich dadurch räumlich als Schnittgerade der Tangentialebene

5.2 Kegelschnitte 153

τ an den Kegel mit der Schnittebene ε deuten. τ berührt die erste DandelinscheKugel in 1, ε in F1. Aus Symmetriegründen bildet t mit den Berührstrecken P1 undPF1 den gleichen Winkel. Dasselbe gilt für die zweite Dandelinsche Kugel. Weil aberdie Trägergeraden von P1 und P2 identisch sind, bildet t mit den BrennstrahlenPF1 und PF2 den gleichen Winkel. ◾

Dieser Satz hat praktische Anwendbarkeit. Mehr darüber bei den Flächenzweiten Grades, wo es um Brennspiegel und Ähnliches geht. Weiter ergibtsich daraus folgende interessante Aussage:

Kegelschnitte mit gemeinsamen Brennpunkten (konfokale Kegelschnitte) schnei-den einander unter rechtem Winkel.

Beweis:Zunächst gilt: Die beiden Kegelschnitte sind von verschiedenem Typus – zwei kon-fokale Ellipsen bzw. konfokale Hyperbeln haben keine reellen Schnittpunkte. Auchkonfokale Parabeln sind disjunkt (Abb. 5.23). Es kann sich also nur um eine Paa-rung vom Typ Ellipse–Hyperbel handeln. Für beide gilt, dass im Schnittpunkt dieTangente Winkelhalbierende der zugehörigen Brennstrahlen ist. Es gibt immer zweiWinkelhalbierende, und die bilden einen rechten Winkel. ◾

Abb. 5.21 Ein Netz konfokaler Kegelschnitte

Ein anderer Satz, der sich auf die Brennpunkte bezieht, lautet:

Ein Kegelschnitt ist der Ort aller Punkte, die von einem festen Kreis und einemfesten Punkt seiner Ebene gleichen Abstand haben.

Beweis:Der „Beweis“ für die Parabel ist eigentlich deren Definition: Die Parabel ist als Ortaller Punkte erklärt, die von einem Punkt und einer Geraden gleichen Abstand ha-ben. Wenn man diese Leitgerade als Kreis um den unendlich fernen zweiten Brenn-punkt ansieht, passt alles wieder zusammen.

154 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Bei den beiden anderen Kegelschnittslinien beweisen wir gleich eine Verallgemeine-rung des Satzes, welche diesen Spezialfall einschließt. ◾

Abb. 5.22 Berührkreise von zwei gegebenen Kreisen

Wieder gibt es Anwendungen für diesen Satz. Betrachten wir etwa jenesHüllgebilde, das entsteht, wenn wir in allen Punkten des Kegelschnitts mitdem Zirkel einstechen und einen Kreis durch einen Brennpunkt zeichnen. Eshandelt sich dabei um den „Leitkreis“, der durch den anderen Brennpunktbzw. den ersten Brennpunkt selbst geht.Die angekündigte Verallgemeinerung des obigen Satzes lautet:

Jeder Kegelschnitt ist Ort der Mittelpunkte jener Kreise, die zwei gegebene Kreisederselben Ebene berühren.

Beweis:Zunächst gilt: Die Parabel tritt nur auf, wenn einer der beiden Kreise unendlichgroß ist, also in eine Gerade ausartet. Den Fall hatten wir schon.Seien nun k1 und k2 zwei Kreise mit den Mittelpunkten F1 und F2 und den Radienr1 und r2. Dann können wir den Mittelpunkt P eines Berührkreises k mit Radiusr konstruieren, indem wir z.B. zwei konzentrische Kreise um F1 bzw. F2 mit denRadien r1±r und r2+r schneiden (Abb. 5.22). Für P gilt aber ∣PF1±PF2∣ = ∣r1±r2∣.◾

Wenn einer der beiden Kreise auf einen „Nullkreis“ zusammenschrumpft, liegt dervorangegangene Satz vor.

Parabeln und Kettenlinen

Bemerkenswert ist, dass es wohl unendlich viele „wesentlich unterschiedliche“ Ellip-sen bzw. Hyperbeln gibt, aber nur einen Prototyp einer Parabel. Alle Parabeln gehennämlich durch bloße Vergrößerung bzw. Verkleinerung aus einem Prototyp hervor.Diese Eigenschaft teilt sie etwa mit den Kreisen, den Kettenlinien (Abb. 5.25), aberauch den „Parabeln höherer Ordnung“ der Form y = a ⋅ xn.Hier passt ein kleiner Einschub über die Kettenlinie. Diese stellt sich als Gleichge-wichtslage eines hängenden Seils ein. In [16] wird die Kurve ausführlich behandelt.

5.2 Kegelschnitte 155

Abb. 5.23 Parabeln und . . . Abb. 5.24 . . . Kettenlinien mit verschiedenen Parametern

Abb. 5.25 Kettenlinien als Gleichgewichtslagen (Elisabethbrücke Budapest)

Aus ihrer Funktionsgleichung

y = a ⋅ cosh x

a= a

2(ex/a + e−x/a)

lässt sich erkennen, dass der Faktor a nur ein Ähnlichkeitsfaktor ist.Kettenlinien gleichen den Parabeln in der Umgebung des Scheitels, und man kannsie in der Praxis sogar näherungsweise durch solche ersetzen. In ihrer Gleichungsteckt jedoch eine Exponentialfunktion, und die ist nicht algebraisch, sondern tran-szendent. Kettenlinien ergeben sich als Lösungen einer Differentialgleichung: Ausder lokalen Bedingung, dass einander die tangentialen Zugkräfte des linken und desrechten Teils des Seils und das Gewicht in jedem Punkt das Gleichgewicht haltensollen, ergibt sich die Form der Kurve.

Abb. 5.26 Links: Gleichgewichtslage bei einem hängenden Seil, rechts: verschiedene Winkel in B

erzeugen unterschiedliche Seilkräfte.

156 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Abb. 5.27 . . . und umgekehrte Kettenlinien zur Erhöhung der Tragfähigkeit

Abb. 5.28 Auf den Kopf gedrehte Kettenlinie als stabiler Träger

Dreht man die Kettenlinie „auf den Kopf“, erhält man die optimale Form einerBogenbrücke, bei der sich der Druck in jedem Punkt völlig gleichmäßig auf beideSeiten verteilt. Abb. 5.27 zeigt ein Modell und dessen praktische Ausführung imGaudi -Museum in Barcelona, Abb. 5.28 eine wesentlich größere Version.

● Quadratische Räder

Eine interessante, wenn auch eher akademische Frage, lautet: Wie müsste eine Straßebeschaffen sein, damit ein quadratisches Rad ohne Vertikalbewegungen der Achseabrollen kann (Abb. 5.29)?

Abb. 5.29 Eine holprige Straße und ein quadratisches Rad können sich „aufheben“

Die Lösung findet sich z.B. in [27]. Es handelt sich um eine umgekehrte Kettenlinie.◾

Wie viele Angabeelemente braucht man für einen Kegelschnitt?

Ellipse und Hyperbel sind durch fünf Punkte bzw. fünf Tangenten eindeutig fest-gelegt, Parabeln durch vier.

5.2 Kegelschnitte 157

Auf den exakten geometrischen Beweis wollen wir hier verzichten. Analytisch ge-sehen muss man i. Allg. ein lineares Gleichungssystem mit sechs Variablen – denKoeffizienten der Kegelschnittsgleichung Formel (5.1) – auflösen, bei denen es abernur auf das Verhältnis ankommt.Man kann – bei Angabe von fünf Punkten bzw. fünf Tangenten - beliebig vieleweitere Punkte bzw. Tangenten eindeutig konstruieren. Dazu braucht man die zu-einander dualen Sätze von Pascal bzw. Brianchon, die wir hier weder formulierennoch beweisen wollen. Der Satz von Pascal ist aber in Abb. 5.33 illustriert – manerkennt dort eine einfache lineare Konstruktion für einen beliebigen weiteren Punktdes Kegelschnitts.

Abb. 5.30 Je zwei Kegelschnitte durch vier gemeinsame Punkte. Mitte rechts: Eine Parabel ist –wenn auch zweideutig – durch 4 Punkte festgelegt. Ganz rechts: Kreise haben automatisch zwei –wenn auch imaginäre und unendlich ferne – Punkte gemeinsam (durch Kreuze symbolisiert).

Bei der Parabel braucht man nur vier Punkte bzw. Tangenten, weil die Ferngeradeautomatisch Tangente und damit fünftes Bestimmungsstück ist. Allerdings gibt eszwei Lösungen, die in Abb. 5.30 rechts illustriert sind.Eine Parabel „in Hauptlage“ (die Achse ist dann entweder x-parallel oder y-parallel)ist durch drei Bestimmungsstücke festgelegt. Man kennt dann nämlich nicht nur dieFerntangente, sondern auch den zugehörigen Berührpunkt (in Achsenrichtung).Kennt man einen Punkt und die zugehörige Tangente, spricht man von einem Li-nienelement. Eine Parabel ist daher i. Allg. durch zwei Linienelemente festgelegt.Die Frage, wie viele Punkte man braucht, um einen Kegelschnitt eindeutig festzu-legen, ist algebraisch schnell zu beantworten, wenn man die analytische Geometriezu Hilfe zieht. Dort ist eine Kurve zweiter Ordnung durch sechs Parameter fest-gelegt, bei denen aber einer frei gewählt werden kann. Das bedeutet: Wenn manfür fünf Punkte deren Koordinaten in Formel (5.1) einsetzt, erhält man ein linearesGleichungssystem mit fünf Variablen, das eindeutig lösbar ist.Kreise haben, wie z.B. in [16] analytisch bewiesen wird, immer zwei unendlich ferne(und imaginäre) Punkte gemeinsam. Auch wenn sich etwas in uns sträubt, so etwasanzuerkennen, erklärt dies viele vermeintliche Widersprüche. Jetzt ist auch klar,warum ein Kreis, der ja auch ein Kegelschnitt ist, bereits durch 3 Punkte eindeutigbestimmt ist: Die fehlenden beiden sind die sog. „absoluten Kreispunkte“ (siehe dazuauch S. 124 und S. 220).

Wann ist die Lösung mehrdeutig?Sind fünf gleichartige Bestimmungsstücke, also fünf Punkte oder fünf Tan-genten, gegeben, ist der Kegelschnitt, der durch sie festgelegt ist, eindeutigbestimmt. Mischt man die Angabeelemente, dann erhält man zwei Lösungen

158 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

(Mischungsverhältnis 4 ∶ 1) bzw. vier Lösungen (3 ∶ 2). Auf die Begründungdafür wollen wir hier verzichten. Wir wollen hier nur exemplarisch einige vonden vielen Angabevarianten lösen.

Die umgekehrte Papierstreifenkonstruktion

Eine interessante Möglichkeit, eine Ellipse zu „konstruieren“, ist die soge-nannte Papierstreifenkonstruktion (Abb. 5.31):

Abb. 5.31 Die „Papierstreifenmethode“ und ihre Umkehrung

Man bewegt einen Papierstreifen, auf dem drei Punkte P , X und Y mar-kiert sind, mittels eines Achsenkreuzes xy so, dass X auf x und Y auf y

geführt wird. P beschreibt dann eine Ellipse mit den halben AchsenlängenPX und PY . Den Beweis führen wir im Kinematik-Kapitel. Jedenfalls kannman dieses Wissen insofern verwenden, als man bei einer gegebenen Achsesamt Scheiteln und einem allgemeinen Punkt P auf der Ellipse die fehlendenScheitel sofort finden kann, indem man mit dem Zirkel einen Papierstreifeneinpasst. Ist z.B. die halbe Hauptachse a bekannt, dann kennt man PY undkann damit X ermitteln. Die Strecke PX = b ist die halbe Nebenachse.

● Ellipse bzw. Hyperbel bei gegebenen Achsen durch ein Linienelement

Die Ellipse bzw. Hyperbel ist bezüglich beider Achsen symmetrisch. Kennt man alsoeinen Punkt, kennt man weitere drei symmetrische Punkte. Die Tangente liefertdrei zusätzliche Tangenten, und die Angabe scheint überbestimmt. Aber wegen derSymmetrie gibt es keinen Widerspruch.Wir betrachten das Linienelement im ersten der vier durch die Achsen definiertenQuadranten. Um besser reden zu können, bezeichnen wir die Achsen als x- undy-Achse, ohne uns festzulegen, welche der beiden die Hauptachse ist.Die Schnittpunkte der Tangente t mit den Achsen sollen X und Y heißen. Je nach-dem, wo diese Punkte liegen, ist eine Ellipse oder eine Hyperbel zu erwarten.Im „elliptischen Fall“ kann man z.B. eine Affinität der Ellipse zu einem ihrer Schei-telkreise ausnützen. Die x-Achse sei Affinitätsachse. X bleibt fest, der Radialstrahldurch den gegebenen Punkt P wird im „Kreisfeld“ rechtwinklig schneiden. Der ent-sprechende Kreispunkt P ∗ ist daher erstens am Thaleskreis über MX zu findenund zweitens am Affinitätsstrahl normal zur x-Achse, die Affinitätsachse ist. Jetztkann der Kreis um M durch P ∗ eingezeichnet werden. Im Schnitt mit der Affini-tätsachse finden sich Scheitel der Ellipse, die anderen Scheitelpunkte findet mandurch Vervollständigung. Welche Scheitel die Hauptscheitel sind, entscheidet sicherst jetzt.

5.2 Kegelschnitte 159

Im Fall einer Hyperbel wollen wir eine Lösung vorstellen, die vielleicht linienmä-ßig nicht die kürzeste ist, aber eine interessante Kombination des bisher Gesagtendarstellt: Wir ermitteln zunächst wie gerade besprochen eine Ellipse, die durchden gegebenen Punkt P geht und dort eine zur Tangente t rechtwinklige Tangen-te besitzt. Diese Ellipse ist konfokal zur gesuchten Hyperbel. Damit hat man dieBrennpunkte F1 und F2 der Hyperbel und ist mehr oder weniger fertig.

Abb. 5.32 Räumliche Deutung einer Kegel-schnittskonstruktion

Abb. 5.33 Der Satz von Pascal ermöglicht beiAngabe von fünf Punkten 1,⋯, 5 die lineareKonstruktion weiterer Punkte X – etwa auf einerGeraden x durch 3 – über die Pascal-Gerade p,festgelegt durch die Hilfspunkte U = 24∩ 35 undV = x ∩ 14 (⇒W = p ∩ 15⇒X = 2W ∩ 3V ).

● Kegelschnittskonstruktion durch räumliche Deutung

Bei manchen Angabe-Konstellationen kommt man mit räumlicher Deutung zum Er-gebnis. Hier soll exemplarisch ein relativ anspruchsvolles Beispiel besprochen wer-den: Gegeben seien drei Punkte A, B und C sowie zwei Tangenten s und t einesKegelschnitts. Dann deutet man s und t als Umrisserzeugende eines lotrechten Dreh-kegels im Aufriss. Eine der beiden Winkelhalbierenden ist dann Aufriss der erstpro-jizierenden Achse des Kegels. (Man dreht die Angabe entsprechend (Abb. 5.32).)Die Basisebene kann in beliebiger Höhe „eingezogen“ werden. Nun ergänzt man dieGrundrisse der drei Punkte A, B und C über die zugehörigen Erzeugenden. Diedrei Punkte erhalten damit eine räumliche Bedeutung. Sie liegen am Drehkegelund spannen jene Ebene ε auf, deren Schnittkurve mit dem Kegel nicht nur A, Bund C beinhaltet, sondern im Aufriss auch – wie jede andere nicht projizierendeebene Schnittkurve auch – die Kegelerzeugenden s = s′′ und t = t′′ berührt. DasAngittern der Punkte ist allerdings nicht eindeutig. Für jeden Punkt gibt es zweiMöglichkeiten, was 8 Varianten ergibt, von denen je zwei gleiche Aufrisse haben.Somit sind vier verschiedene planimetrische Lösungen zu erwarten. In Abb. 5.32wird eine willkürliche Konstellation ausgewählt.Um die Ebene ε projizierend zu machen, gittern wir die horizontale Hauptgeradedurch C an der Geraden AB an (Hilfspunkt 1). In einem Seitenriss mit Blickrichtung1C tritt die gewünschte projizierende Lage ein. Dort findet man sofort die räum-lichen Hauptscheitel, aber auch die Berührpunkte mit den gegebenen Tangenten(diese sind die Umrisspunkte im Aufriss, z.B. T ). ◾

160 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Konstruktion der Kegelschnitte

Abb. 5.34 Konstruktion der Kegelschnitte

Wenn man Kegelschnitte konstruiert, sollte man unbedingt die Krümmungs-kreise in den Scheitelpunkten einzeichnen. Die Konstruktionen sind ohne Be-weis in Abb. 5.34 zu sehen. Die Ellipse bleibt stets innerhalb der größerenund außerhalb der kleineren Krümmungskreise. Der Übergang sollte beimEinzeichnen „harmonisch“ geschehen. Das Einzeichnen allgemeiner Punkteist eher kontraproduktiv, weil diese wegen der Zeichenungenauigkeiten wo-möglich die Ausgewogenheit der Kurve stören.Die Parabel kann man sich als eine Ellipse denken, von der ein Scheitel (undauch Brennpunkt) im Unendlichen liegt. Die Hyperbel nähert sich bei Entfer-nung vom Krümmungskreis immer mehr ihren Asymptoten an. Skizziert maneine Hyperbel, muss man unbedingt die Asymptoten mit berücksichtigen!Allgemeine Punkte konstruiert man, indem man die Definitionen der Kegel-schnitte über ihre Brennpunkte heranzieht. Bei der Ellipse ist die Summeder Abstände von den Brennpunkten konstant, bei der Hyperbel der Betragder Differenz. Bei der Parabel ist der Abstand zum Brennpunkt gleich demAbstand zur Leitgeraden. Die Tangente in dem konstruierten Punkt halbiertin allen Fällen den Winkel der Brennstrahlen.

● Was hat eine antike Säule mit einer Ellipse zu tun?

Abb. 5.35 Herstellung antiker Säulen und was gelegentlich davon übrig bleibt. . .

Antike (griechische und römische) Säulen sind bekanntlich keine gewöhnli-chen Drehzylinder, sondern in der Mitte „gebaucht“. Tatsächlich fand man

5.2 Kegelschnitte 161

in Stein geritzte Anleitungen für die Konstruktion des Meridians: Man hatteeinen Kreisbogen zu konstruieren, mit vertikalen Linien zu schneiden unddie vertikalen Strecken zu vervielfachen (z.B. zu verzehnfachen). Ein Kreis,dessen Ordinaten vervielfacht werden, ist aber eine Ellipse.Wenn man eine Ellipse rotieren lässt, bekommt man noch lange kein Ellipsoid.Ein solches entsteht nur, wenn die Ellipse um eine ihrer beiden Achsen rotiert.Für Interessierte: Das Ergebnis bei Rotation um eine achsenparallele Sehne ist eineDrehfläche, die affin zu einem Spindeltorus ist (Abb. 4.33).Nun könnte man auf dem Standpunkt stehen, dass das Ganze Haarspalterei ist,und dass es doch ziemlich egal sein sollte, welche exakte Form so eine Säule hat– Hauptsache irgendwie bauchig, wenn’s schon sein muss. Weit gefehlt! Die altenGriechen waren in dieser Hinsicht „Haarspalter“, und es war eine eigene Kunst,die Säulen anzufertigen. Ecksäulen etwa waren etwas stärker dimensioniert, unddas nicht etwa aus statischen Gründen, sondern weil sie meist im Gegenlicht unddadurch automatisch schlanker erscheinen.

● Winkelgestreckte Kegelschnitte

Abb. 5.36 Winkelgestreckte Kegelschnitte und eine Assoziation dazu, die natürlich nichts damitzu tun hat. . .

Abb. 5.37 Abwickelvorgang beim Drehkegel (samt ebenen Schrägschnitt)

Wenn man einen Drehkegel samt einem ebenen Schnitt in die Ebene ausbrei-tet, geht der Kegelschnitt in eine Kurve über, die optisch nur noch wenig miteinem Kegelschnitt gemeinsam hat.

162 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Mathematisch handelt es sich aber um eine Kurve mit durchaus ähnlicherBauart. Sie entsteht aus dem Grundriss des Kegelschnitts, wenn man denPolarwinkel zum Kurvenpunkt mit einem Faktor t = g/w < 1 multipliziert. gist die Länge der Kegelerzeugenden im Grundriss, w die wahre Länge. DerRadialabstand muss dann mit dem Wert 1/t = w/g > 1 vergrößert werden. ◾

● Schatten an der WandAbb. 5.38 Mitte zeigt eine Situation, die wir aus dem täglichen Leben kennen:Eine Lampe wirft gekrümmte Schatten an die Wand. Offensichtlich handeltes sich um Kegelschnitte. Wie kommen sie zustande?

Abb. 5.38 Schatten an der Wand

Lösung :Vorab: Die Kegelschnitte haben nichts damit zu tun, dass der Lampenschirmkegelförmig ist! Wichtig sind die kreisförmigen Berandungen des Schirms. Be-trachten wir z.B. den unteren Rand. Durch die einigermaßen punktförmigeLichtquelle (den glühenden Draht der Lampe) gibt es einen Projektionsdreh-kegel, der die Wand treffen und diese nach einem Kegelschnitt schneidenwird. Von welchem Typ der Kegelschnitt ist, hängt davon ab, welche Nei-gung die Wand bezüglich des Projektionskegels hat (die Neigung des kegel-förmigen Lampenschirms ist belanglos). Deswegen ist der untere Schatten inAbb. 5.38 links keine Parabel (wie man spontan glauben könnte), sonderneine Hyperbel.Dieselben Überlegungen gelten für den oberen Randkreis. I. Allg. ist derobere Projektionskegel nicht „die Verlängerung“ des unteren Kegels (wie inAbb. 5.38). Wir haben es also mit einem zweiten Kegelschnitt zu tun, dervom unteren unabhängig ist. ◾

● Wurfparabeln

Abb. 5.39 zeigt ein Spiel mit angenäherten Wurfparabeln. Wirft man einObjekt schräg in die Luft, ist seine Bahnkurve (ohne Berücksichtigung desLuftwiderstands) eine Parabel. Bei der speziellen Ansicht in Abb. 5.39 hatman den Eindruck eines „hüpfenden Wasserstrahls“. Durch diverse Faktorenkommt es natürlich zu Unregelmäßigkeiten des Parabelbogens, die das freie

5.2 Kegelschnitte 163

Abb. 5.39 Angenäherte Wurfparabeln

Auge aber kaum wahrnimmt (das Bild wurde mit sehr kurzer Belichtungszeitaufgenommen). ◾

● Warum sind die Planetenbahnen Ellipsen? (Abb. 5.40)

Abb. 5.40 Die Bahnen der Planeten sind Ellipsen

Kepler entdeckte diesen Sachverhalt mit Hilfe sehr genauer Messungen. Geo-metrisch gesehen ist die Erklärung dafür gar nicht so leicht zu formulieren,weil wir eigentlich Differentialgleichungen lösen müssen1. Newton fand diegeometrische Erklärung 70 Jahre nach Kepler. Mehr darüber in Kapitel 11.◾

1http://user.gs.rmit.edu.au/rod/files/publications/Satellite{\%}20Orbits.pdf

164 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

5.3 Torsen

Neben den allgegenwärtigen Zylindern und Kegeln ist die dritte und letzteKlasse von einfach gekrümmten Flächen nicht sehr bekannt. Kein Wunder:Die Flächen treten meist in sehr versteckter Form auf und haben selten spek-takuläre Formen – ihr Umriss ist immer geradlinig.Torsen sind, wie wir schon gesagt haben, Tangentenflächen von Raumkur-ven. Sie werden also von Ebenen – den Schmiegebenen der Raumkurve –eingehüllt.

Jede Ebene hüllt im Lauf einer Bewegung eine Torse, einen Zylinder oder einenKegel ein. Sie berührt die entstehende Hüllfläche in jeder Lage entlang einerganzen Erzeugenden.

Abb. 5.41 Sanddünen als Böschungstorsen

Eine wichtige Klasse unter den Torsen sind die Böschungstorsen. Sie sinddadurch charakterisiert, dass alle ihre Tangentialebenen gleich „geböscht“sind, also den gleichen Neigungswinkel zu einer Basisebene haben. SolcheTorsen treten als Gleichgewichtslagen von Sanddünen auf: Sand wird bis zueinem gewissen Neigungswinkel „abrieseln“. Ab einem Grenzwinkel, der vonder Korngröße abhängt, ist die Reibung der Körner so groß, dass sich einGleichgewicht einstellen wird. Denken wir uns einen Grat einer Sanddüne.Aus jedem seiner Punkte rieselt Sand in alle Richtungen und formt einenDrehkegel (Böschungskegel). Die Hüllfläche aller Böschungskegel (Abb. 5.41links) ist die Düne. Je zwei Nachbarkegel schneiden einander längs einerHyperbel, die im Grenzfall zu einem Geradenpaar durch die Kegelspitze wird.Im Straßenbau macht man sich diese Erkenntnis zunutze. Man kennt für dasverwendete Material (Sand oder Schotter) die Grenzwinkel und konstruiertnun durch die Straßenränder Böschungstorsen zu diesem Winkel. Damit hatman zwei Fliegen auf einen Schlag: Erstens kann man davon ausgehen, dassdie Torsen stabil sind und es zu keinem Hangrutschen kommt, und zweitenshat man die notwendigen Erdbewegungen minimiert.

5.3 Torsen 165

Abb. 5.42 Böschungstorsen im Straßenbau

Abb. 5.43 Aufgewickelte Sesselformen (Bernhard Schwarzbauer)

Wie erzeugt man ein abwickelbares Band?

Wir wissen, dass neben den „trivialen“ Zylindern und Kegeln ausschließlichdie Torsen abwickelbar sind. Nehmen wir einen Rechteckstreifen aus Papierund heften die schmalen Ränder zusammen. Die entstandene Schleife ist na-türlich abwickelbar, weil wir das Papier nicht dehnen oder stauchen können,ohne dass es zerreißt. Wenn wir den Streifen nicht verdreht haben, entstehtein Zylinder, und die Mittellinie des Streifens ist der Normalschnitt dessel-ben. Bei Verdrehung entsteht eine Torse, und die Mittellinie wird zur echtenRaumkurve.

● Gezielte Erzeugung von Papierstreifen

Gibt es zu einer beliebigen Raumkurve c einen zugehörigen „Papierstreifen“ mit derMittellinie c (Abb. 5.44, Abb. 5.45)?Betrachten wir die drei Torsen, die mit der Raumkurve verknüpft sind: Die Tangen-tenfläche als Einhüllende aller Schmiegebenen, die Normalentorse als Einhüllendealler Normalebenen und die rektifizierende Torse als Einhüllende jener Ebenen, dieauf Schmiegebene und Normalebene rechtwinklig stehen.Die Mittellinie c wird bei der Verebnung eine Gerade, ist also eine geodätische Li-nie auf der Torse. Von diesen Linien wissen wir, dass ihre Schmiegebene in einemPunkt auf die Tangentialebene der Fläche rechtwinklig stehen muss (s. S. 116).Damit scheidet die Tangentenfläche aus, bei der die Schmiegebene gleichzeitig Tan-gentialebene ist. Aus Abb. 4.25 rechts ersehen wir, dass die Normalentorse die Kurvegar nicht trägt. Bleibt also nur mehr die rektifizierende Torse, und für die sind allenotwendigen Bedingungen erfüllt: Die Kurve liegt auf der Torse und ist für die Torsegeodätische Linie.

166 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

c

P

t

�σ

Abb. 5.44 Die rektifizierende Torse einer Raumkurve c kann so beschnitten werden, dass dieganze Fläche bei Abwicklung ein Papierstreifen wird, dessen Mittellinie die Abwicklung von c ist.

Abb. 5.45 Rektifizierende Torsen dreier Raumkurven (blau eingezeichnet)

Die Erzeugenden der gesuchten Torse treffen die Mittellinie trotz der Winkeltreueder Abwicklung keineswegs rechtwinklig. Im Gegenteil: Die einzige Gerade in derrektifizierenden Ebene, welche mit der Tangente von c einen rechten Winkel bildet,ist nämlich die Binormale, und der Ort aller Binormalen ist keine Torse. Die Me-thode, jeweils zwei Nachbar-Normalebenen der Kurve zu schneiden, führt also nichtzum Ziel (sondern zur in diesem Fall wenig interessanten Binormalentorse). ◾

● Die Abwicklung einer Torse

Jede Torse kann als Tangentenfläche einer Raumkurve g interpretiert werden. g

heißt Gratlinie der Torse. Die Tangenten von g sind gleichzeitig die Erzeugendender Torse. Bei der Abwicklung geht die Gratlinie in eine ebene Kurve gv über. DieTangenten von gv entsprechen nach wie vor den abgewickelten Erzeugenden derFläche, so dass gv die Einhüllende der Torsentangenten ist.Die Gratlinie ist allerdings in der Praxis nur selten relevant, weil von der unendlichgroßen Tangentenfläche i. Allg. Teile verwendet werden, die nicht an die Gratliniegrenzen. Beim Windrad in Abb. 5.46 ist die Gratlinie ohne Bedeutung. Ähnlichesgilt beim Oloid, dessen Abwicklung in Abb. 6.47 zu sehen ist, und für die Abwicklungin Abb. 5.47. ◾

5.3 Torsen 167

Abb. 5.46 Abwicklung einer Torse: Wie wird es gemacht? Mitte: Zwei ineinander gesteckte kon-gruente Teile. Rechts ist einer dieser Teile abgewickelt.

Abb. 5.47 Abwicklung einer Torse, welche das Möbiusband enthält. Jede Zwischenlage ist wiedereine Torse, auf der das mittransformierte Band durch geodätische Linien begrenzt wird.

● Annäherung einer krummen Fläche durch RechteckstreifenEine durchaus geläufige Methode, insbesondere im Schiffsbau, ist es, nichtallzu stark gekrümmte Flächen durch abwickelbare Streifen anzunähern.Holzplanken – aber auch Planken aus Aluminium, wenn sie unter starkerZugbelastung stehen – können z.B. recht gut „tordiert“ werden. In Abb. 5.48ist dieses Modelliersystem recht gut zu erkennen. ◾

Wir erzeugen beliebige abwickelbare FlächenIn der Architektur besteht der dringliche Wunsch, abwickelbare Flächen zuverwenden. Schließlich ist die Erzeugung solcher Flächen um vieles leichterund billiger als die Erzeugung von doppelt gekrümmten Flächen.Dazu gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht: Die gute ist, dass manzu zwei beliebigen Randkurven immer eine abwickelbare Verbindungsflächefinden kann. Die schlechte Nachricht ist, dass abwickelbare Flächen immergeradlinige Umrisse haben und daher niemals etwas „Kugelhaftes“ an sichhaben können. Sie sind uns mit anderen Worten sehr oft ein bisschen zuwenig gekrümmt. Auf S. 285 wird ein Programm vorgestellt, mit dem mandirekt mit abwickelbaren Flächen modelliert – und dadurch sehr wohl zuguten Resultaten kommen kann.

168 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Abb. 5.48 Eine krumme Fläche wird aus Planken „modelliert“

Abb. 5.49 Wie Architekten krumme Glasfassaden kostengünstig bauen. . .

● Abwickelbare VerbindungsflächenSei c1 eine beliebige Raumkurve (Abb. 5.50) und c2 eine Kurve in einer Ebeneε2. Wir geben nun ein Rezept an, wie wir eine abwickelbare VerbindungsflächeΦ von c1 und c2 finden können:Für beliebig viele Punkte P1 ∈ c1 ermitteln wir die Tangente t1, schneidensie mit der Trägerebene ε2 und legen aus dem Durchstoßpunkt T1 = T2 eineTangente t2 an c2. Der zugehörige Berührpunkt P2 bestimmt zusammen mitdem Ausgangspunkt P1 eine Erzeugende e der Fläche Φ. Die Tangentialebenevon Φ ist längs der ganzen Erzeugenden fest und durch die Verbindung von e

mit t1 festgelegt. Wegen unserer Konstruktionsvorschrift liegt auch t2 in derTangentialebene, so dass kein Widerspruch auftritt. Die Serie von auf dieseWeise definierten Tangentialebenen hüllt eine Torse, also eine abwickelbareFläche, ein. Die Konstruktion beinhaltet den Fall, dass auch c1 eine ebeneKurve ist.Sind umgekehrt beide Kurven c1 und c2 echte Raumkurven, ist die Sache zwarimmer noch lösbar, aber um vieles aufwändiger: Statt der Trägerebene ε2 vonc2 ist diesmal die Tangentenfläche Φ2 von c2 heran zu ziehen. Die Tangentet1 an c1 ist dann nicht mit der Ebene ε2, sondern mit Φ2 zu schneiden. Dafürbraucht man einen Computer!Ein interessantes Beispiel für eine spezielle Verbindungstorse ist in Abb. 5.51zu sehen. Hier liegen Leitkurven in parallelen Ebenen vor. Die Erzeugendender Verbindungstorse sind in einem solchen Fall die Verbindungsgeraden jener

5.3 Torsen 169

Abb. 5.50 Konstruktion einer Verbindungstorse (links: Oloid)

Abb. 5.51 Centrum Bank von Vaduz (Hans Hollein) mit Zylindern als Oberflächen

Punkte auf den beiden Leitkurven, in denen die Tangenten an die Leitkur-ven parallel sind. Das Bild rechts offenbart allerdings, dass alle Erzeugendenparallel sind – und somit ein Zylinder vorliegt. Offensichtlich wurde also voneinem Zylinder ausgegangen und dieser mit den Seitenflächen geschnitten. ◾

Spiegelung an einer abwickelbaren FlächeSpiegelungen (Reflexionen) an krummen Flächen sind ein sehr anspruchsvol-les geometrisches Thema. Werden alle Lichtstrahlen, die von einer punktför-migen Lichtquelle ausgehen, an einer solchen Fläche reflektiert, erhalten wirein Gewirr von Strahlen, welche eine neue Fläche einhüllen: die sogenannteBrennfläche oder Kaustik. Solche Brennflächen sind i. Allg. recht kompliziertund voll von „Singularitäten“. In Anwendung S. 182 werden wir die Spiege-lung an einer Kugel besprechen.Die Sache vereinfacht sich deutlich, wenn die reflektierende Fläche nur ein-fach gekrümmt ist: Zylinder, Kegel und Torsen werden längs einer ganzenErzeugenden von einer festen Ebene berührt.Abb. 5.52 zeigt, was bei Spiegelung an einer Ebene passiert: Alle Lichtstrah-len aus einer punktförmigen Lichtquelle (die auch – wie die Sonne – unendlich

170 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Abb. 5.52 Reflexion von Lichtstrahlen an einer Ebene

weit weg sein kann) durch eine beliebige Gerade der Ebene bilden eine Ebene.Die gespiegelten Lichtstrahlen liegen dann in der gespiegelten Ebene, welchedurch die Gerade und die gespiegelte Lichtquelle festgelegt ist.Ist nun die reflektierende Fläche einfach gekrümmt, können wir sie längs jederErzeugenden durch ihre Tangentialebene ersetzen. Es gilt dann immer nochdie einfache Sachlage wie bei der Ebene (Abb. 5.53):

Alle an einer Erzeugenden einer einfach gekrümmten Fläche gespiegelten Licht-strahlen liegen in einer Ebene (der Brennebene). Diese geht durch den zurLichtquelle bezüglich der längs der Erzeugenden berührenden Ebene gespiegeltenPunkt.

Abb. 5.53 Spiegelung an einer einfach gekrümmten Fläche

Lassen wir nun die Erzeugende auf der Fläche Φ entlang wandern, dann erhal-ten wir eine Schar von Brennebenen, welche eine Torse einhüllen. Die Brenn-fläche einer abwickelbaren Fläche ist somit ebenfalls abwickelbar. Konkret istz.B. die Brennfläche eines Zylinders wieder ein Zylinder. In Anwendung S. 182werden wir die Spiegelung am Drehzylinder unter die Lupe nehmen. Der Ortaller an den Tangentialebenen gespiegelten Lichtquellen ist eine Kurve, dieBrennlinie.

5.3 Torsen 171

● Glänzende Erzeugenden auf Alu-Zylindern

Betrachten wir Abb. 5.53 rechts: Dort ist eine von den längs einer Erzeugenden ge-spiegelten Strahlen gebildete Ebene projizierend. Denken wir uns jetzt noch paral-leles Licht und betrachten die Fläche aus größerer Distanz, wodurch die Sehstrahlendurch die Punkte der Erzeugenden einigermaßen parallel sind. Dann „blitzt“ jederPunkt der Erzeugenden, und die ganze Erzeugende ist gleißend hell. Solche Effektesieht man oft auf Drehteilen aus Aluminium (Drehzylinder oder Drehkegel), aberauch bei Glasflaschen im Sonnenlicht. ◾

● Leuchtende Kurven

Bei Reflexion an einer Ebene haben wir folgende Situation: Eine abwickelbare Flä-che spiegelt eine Lichtquelle (z.B. ein Lichtspot oder die Sonne). Alle Brennebenenschneiden die Ebene nach einer Geraden. Diese Brenngeraden hüllen eine Kurveein, nämlich die Schnittkurve der Brennfläche mit dieser Ebene. Wir haben also:Die Reflexion einer abwickelbaren Fläche auf eine Ebene ist eine leuchtende Kur-ve. Leuchtend ist die Kurve deshalb, weil sie sämtliches Licht, das auf die Flächeauftrifft, bündelt (und unter Umständen sogar einen Hitzeeffekt hervorruft). ◾

● Lichtspiele am Wasser (Abb. 5.54):Jeder kennt das faszinierende, ständig wechselnde Spiel der Reflexionsmuster vonSonnenlicht an Bootswänden und Hausmauern. Offensichtlich kommt es hier zumeben beschriebenen Bündelungseffekt der Lichtstrahlen.

Abb. 5.54 Lichtspiele über Wasser (links) bzw. unter Wasser (rechts)

Das lässt die Vermutung aufkommen, dass die Oberfläche von bewegtem Wassernur einfach gekrümmt ist. Tatsächlich ist dies näherungsweise der Fall, wenn dieBewegung des Wassers durch Wind geschieht. Die entstehenden Wellenoberflächensind dann im Idealfall Zylinder – also einfach gekrümmt. Nun kommt es aber auchzu Reflexionen der Wellen an Hafenmolen oder Bootswänden. Dadurch entstehenneue zylindrische Wellen, die mit den ursprünglichen Wellen Überlagerungen bilden.Alles in Allem offensichtlich ideale Voraussetzungen für ein schönes Schauspiel. . .◾

● Spiegelnde Compact Discs – und seltsame Effekte

Jeder von uns hat sich schon einmal über die seltsamen Spiegelungen auf einer CDgewundert. Dabei fallen zwei Dinge auf: Erstens sind die Spiegelungen leuchtendeGeraden, die blitzschnell ihre Positionen ändern (sich im Wesentlichen um den Mit-telpunkt der CD drehen), und zweitens sieht man deutlich alle Regenbogenfarben.

172 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Mit den Spuren (eigentlich ist es nur eine Spur) kann es nichts zu tun haben: DerEffekt tritt auch bei Rohlingen auf.

Abb. 5.55 Eine CD spiegelt in allen Regenbogenfarben

Hier spielen einige weitere Eigenschaften des Lichts zusammen – abgesehen von derbloßen Reflexion. Grob gesprochen handelt es sich um Interferenzerscheinungen. DieCD besteht im Wesentlichen aus dem Kunststoff Polycarbonat, der einseitig miteiner Aluminiumschicht bedampft wird (das Aluminium reflektiert den Laserstrahl,mit dem die Daten gelesen werden). Zum Schutz vor chemischen Reaktionen wirddie Scheibe mit durchsichtigem Kunststoff geschützt.Wenn ein Lichtstrahl durch den Kunststofflack treten will, reflektiert ein Teil davonan seiner Oberfläche. Der Rest wird an der Oberfläche abhängig vom Einfallswin-kel gebrochen (und dabei in seine verschiedenen Farbanteile aufgefächert). An dergegenüberliegenden Oberfläche des Lacks bzw. spätestens an der Aluminiumschichtwird dann reflektiert, „retour gebrochen“ und der Strahl tritt parallel zum an derersten Oberfläche gespiegelten Strahl ganz leicht versetzt aus. Zusätzlich kommt eszur Beugung der Lichtstrahlen, weil ein optisches Beugungsgitter (mehrere tausendÖffnungen pro Zentimeter) vorliegt. Der reflektierte und der nach Irrwegen ganzleicht parallel versetzte Lichtstrahl interferieren nun. Dies kann zu Verstärkungen,aber auch zum Auslöschen ganzer Farbanteile führen. Mehr darüber auf der Web-seite zum Buch. Ähnliche Effekte gibt es übrigens auf Schmetterlingsflügeln undFischschuppen. ◾

5.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“

Das Dilemma mit der Abwicklung doppelt gekrümmter Flächen

Wir wissen mittlerweile, dass man doppelt gekrümmte Flächen nicht abwi-ckeln kann – schon gar nicht eine Kugel. Jeder Versuch, die Oberfläche einerKugel in eine Ebene zu pressen, endet mit Dehnungen und Stauchungenderselben, oder aber mit Rissen. Die in Abb. 5.56 dargestellte Methode desMandarinenschälens kommt nahe an die Methode nach Walter Wunderlichin Abb. 5.57 heran. Die Methode in Abb. 5.56 rechts hat einiges mit der An-

5.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“ 173

Abb. 5.56 Wie man es auch dreht und wendet, die Kugel ist nicht abwickelbar!

Abb. 5.57 Die „Apfelschälmethode“ nach Wunderlich und eine Annäherung durch Zylinder

näherung der Kugel durch zylindrische Streifen in Abb. 5.57 Mitte zu tun.Die Natur löst das Problem gelegentlich auch schlagartig (Abb. 5.58).Dabei wäre gerade die Abwicklung der Kugel so wichtig für viele Anwendun-gen – insbesondere für die Kartografie. Offensichtlich sind alle Landkarten,mit denen wir ständig arbeiten, mit irgendwelchen Tricks hergestellt worden,um mit der Krümmung der Kugel fertig zu werden. Das geht natürlich aufKosten gewisser Eigenschaften, die uns sonst wohl vertraut sind. Zur Illus-tration betrachte man Abb. 5.59, wo es darum geht, jene Teile der Erdkugelzu zeigen, die gerade von der Sonne beschienen werden.Im linken Bild ist die Situation klar verständlich: Die Schattengrenze derErdkugel ist ein Großkreis. Im rechten Bild die entsprechende Situation ineiner relativ üblichen Weltkarte, bei der die geografischen Längen bzw. Brei-ten einfach als kartesische Koordinaten verwendet werden. Dem Großkreisentspricht eine wellenartige Kurve, die aber keine Sinuslinie ist. Eine sol-che Abbildung hat den Vorteil, dass man leicht die geografische Position

Abb. 5.58 Die „Holzhammermethode“ funktioniert manchmal auch. . .

174 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Abb. 5.59 Die Schattengrenze im verzerrenden Koordinatennetz

findet. Damit hat es sich aber schon: Winkel, Längen und damit automa-tisch Flächen werden stark verzerrt. Am Schlimmsten ist das Ganze in denPolgegenden. Im Äquatorbereich ist die Verzerrung wesentlich geringer.

Abb. 5.60 Eine etwas ungewöhnliche „Abwicklung“ einer Kugel. . .

● Also doch abwickelbar?Architekten wollen gerne Modelle ihrer Entwürfe basteln. Mittlerweile arbei-ten sie mit teilweise ausgezeichneter Entwurfs-Software. Wenn sie dann denMenüpunkt „abwickeln“ drücken, weigert sich der Computer keineswegs. Sokommt bei der Kugel ein seltsam zerfranstes Gebilde heraus, das bei genau-erem Betrachten aus lauter Sektoren von Kreisringen besteht. Wie das?Abb. 5.60 zeigt die räumliche Situation: Die Kugel wird durch mehrere Dreh-kegelstümpfe mehr oder weniger gut angenähert. Jeder einzelne Kegelstumpflässt sich abwickeln, wobei ein Sektor eines Kreisrings entsteht. Je genauerdie Annäherung, desto mehr Kreisringe entstehen.So originell die Idee ist, sie ist in der Kartografie nicht anwendbar: Man stellesich eine Weltkarte vor, auf der alle Kontinente „seziert“ auf Streifen verteiltsind. . . ◾

Eine winkel- und kreistreue ProjektionDie Zentralprojektion der Kugelpunkte aus einem Kugelpunkt auf die gegen-überliegende Berührebene spielt in der Kartografie eine wichtige Rolle undheißt stereografische Projektion. Wir wollen nun zeigen:

Bei der stereografischen Projektion bleiben Schnittwinkel und Kreise erhalten.

5.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“ 175

Abb. 5.61 Stereografische Projektion der Erdkugel aus dem Südpol

Beweis:Sei Z das Projektionszentrum auf der Kugel und π die gegenüberliegende Tangen-tialebene. Sie sei der Einfachheit halber horizontal. Den Geraden dieser Grundebeneπ entsprechen bei der Zentralprojektion Kreise durch Z, die sich als Schnitt ihrerVerbindungsebenen mit der Kugel ergeben. Betrachten wir zwei solche Geraden a

und b mit Schnittpunkt P und Schnittwinkel ϕ. Ihnen entsprechen zwei Kreise akund bk auf der Kugel durch Pk und Z.

Abb. 5.62 Stereografische Projektion der Erdkugel aus der Antipode von Wien

In beiden Schnittpunkten zweier Kugelkreise sind die Schnittwinkel natürlich gleich.Der Schnittwinkel von ak und bk in Z ist aber der Winkel ϕ, weil die zugehörigenKreistangenten in der horizontalen Tangentialebene von Z liegen und deshalb zu a

bzw. b parallel sind. Daher schneiden einander ak und bk auch im Punkt P k unterdem Winkel ϕ. Was für den Schnittwinkel zweier Geraden gilt, gilt allgemein für denSchnittwinkel zweier Kurven, denn der Schnittwinkel ist als Winkel der zugehörigenTangenten definiert. Damit haben wir die Winkeltreue bewiesen.Zum Beweis der Kreistreue holen wir kurz etwas aus: Die stereografische Projek-tion auf π ist eigentlich nichts Anderes als eine Zentralprojektion auf π – unterbesonderer Berücksichtigung der Punkte einer zwischen Zentrum und Bildebene„eingeschobenen“ Hilfskugel (genauer: Die Einschränkung einer Zentralprojektionauf die Kugel). Wenn wir Punkte oder auch Geraden mitprojizieren, die nicht aufder Kugel liegen, ist das nicht verboten; Winkeltreue und die Eindeutigkeit in beideRichtungen gelten aber nur für Elemente der Kugel.

176 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Sei nun kk ein Kreis auf der Kugel. Nun betrachten wir einen Drehkegel, der dieKugel längs kk berührt. Er hat eine Spitze Sk und lauter Erzeugende, die den Kreisauf der Kugel unter rechtem Winkel schneiden. Nun projizieren wir Sk aus Z nachS ∈ π. Den Erzeugenden entsprechen bei der Zentralprojektion Geraden durch S.Auf jeder solchen Geraden befindet sich irgendwo das Bild eines Punkts von kk.Dort (und nur dort) gilt die bewiesene Winkeltreue. Die Tangente der Projektionk ∈ π von kk muss dort – wie auf der Kugel – die projizierte Kegelerzeugende unterrechtem Winkel schneiden. Es gibt aber nur einen Typus von Kurve, welche einStrahlbüschel rechtwinklig durchsetzt: den Kreis! Mehr noch: S muss Mittelpunktdieses Kreises sein!Wenn der Kugelkreis kk durch das Zentrum Z geht, dann liegt die Spitze Sk des„angeschriebenen“ Drehkegels in gleicher Höhe wie Z, ihre Projektion S ist daherein Fernpunkt. Das Strahlbüschel der projizierten Kegelerzeugenden wird zu ei-nem Parallelenbüschel, die projizierte Kurve k zu einer Geraden, die dieses Büschelrechtwinklig durchsetzt – oder meinetwegen zu einem Kreis mit „Mittelpunkt imUnendlichen“. ◾

Eine praktische Landkarte

Wenn man die Punkte der Erdkugel aus dem Erdmittelpunkt auf eine belie-bige Tangentialebene der Erdkugel projiziert, erhält man eine Landkarte derErde, bei der alle Ebenen durch den Mittelpunkt – und damit alle Großkrei-se – projizierend erscheinen. Die Großkreise sind aber, wie wir gleich sehenwerden, die kürzesten Verbindungsrouten zwischen zwei Punkten auf der Ku-geloberfläche. Auf der eben definierten Landkarte braucht man also nur zweiPunkte mit dem Lineal zu verbinden und hat die kürzeste Route eingetragen(Abb. 5.63).

Abb. 5.63 Von Tunis nach Tokio

So verblüffend einfach das Prinzip erscheint, hat es doch den Nachteil, dassdie Verzerrung der Landkarte enorm sein wird, weil das Projektionszentrumrelativ nahe an der Projektionsebene liegt. Projiziert man z.B. die nördlicheHalbkugel auf die Tangentialebene im Nordpol (immerhin fliegen viele Flug-

5.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“ 177

zeuge bei ihren Langstreckenflügen sehr hoch in den Norden), dann erscheintdie ganze südliche Halbkugel inklusive Äquator gar nicht mehr auf der Karte,aber auch geografische Breiten südlich des 30. Breitengrades werden schonsehr weit außerhalb liegen.

● Von Bombay nach Buenos AiresDer praktisch veranlagte amerikanische Architekt Richard Buckminster Ful-ler löste das Flugroutenproblem auf seine Weise (Abb. 5.64): Er projiziertnicht nur auf eine Ebene, sondern auf die Seitenflächen eines der Erde ge-schickt angepassten Kuboktaeders, auf dem sich acht gleichseitige Dreieckeund vier Quadrate befinden (der Name leitet sich aus einer Mischung vonKubus und Oktaeder ab). Der Zufall will es nämlich, dass die Kontinentesich recht praktisch auf die Flächen dieses Polyeders verteilen. Breitet mandas Kuboktaeder in die Ebene aus, erhält man eine nicht allzu sehr verzerrteWeltkarte (die allerdings nicht zusammenhängend ist), auf der die kürzes-ten Flugstrecken so lange geradlinig erscheinen, als man sich auf einer Sei-tenfläche befindet. Beim Übergang zur nächsten Fläche tritt ein Knick auf.Flugrouten innerhalb der Kontinente sind aber sehr praktisch zu finden.

Abb. 5.64 Mit Buckminster Fuller am Kuboktaeder von Bombay nach Buenos Aires

Eine theoretisch interessante Lösung des Flugroutenproblems liefert die ste-reografische Projektion. Auf einer Landkarte, die durch eine solche Projekti-on der Erdkugel entstanden ist, sieht man wegen der Winkel- und Kreistreuedie Längen- und Breitenkreise kreisförmig, wobei sich jeder Längenkreis mitallen Breitenkreisen rechtwinklig schneidet. Die kürzesten Strecken zwischenzwei Punkten sind ebenfalls Kreise, die eine gewisse Nebenbedingung erfüllenmüssen, die wir gleich erarbeiten wollen. Hat man so einen Kreis eingezeich-net, kennt man in jedem Punkt der Flug- oder Schiffsroute den richtigenKurswinkel.

178 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

● Kürzeste VerbindungMan ermittle den kürzesten Weg zwischen zwei weit entfernten Punkten A

und B der Erdkugel in der stereografischen Abbildung.

Abb. 5.65 Der kürzeste Weg in der stereografischen Projektion

Lösung :Der kürzeste Weg von A nach B auf der Kugeloberfläche ist ein Großkreis(Abb. 5.65). Er ist eindeutig durch die Trägerebene ABM festgelegt (M istder Erdmittelpunkt). Schneidet man zwei beliebige Großkreise, dann liegendie Schnittpunkte diametral (bezüglich M). Großkreise sind in der stereogra-fischen Projektion somit Kreise, die durch zwei gegenüberliegende Punkte amInversionskreis (der Bild des Äquators ist) gehen. Nach dem Satz über diekonstante Potenz eines Punkts bezüglich eines Kreises (S. 10) kennen wirdaher das Produkt der Abstände auf den Sekanten durch M (sowohl durchA als auch durch B). Damit lassen sich zwei zusätzliche Punkte A und B amgesuchten Großkreis angeben (einer davon genügt zur Konstruktion). ◾

Die Inversion am Kreis von „höherer Warte“Kehren wir noch einmal zur Inversion in der Ebene zurück. So interessantdiese theoretisch war, so erscheint sie doch ein bisschen willkürlich. Hat dieTransformation MP ⋅MP ∗ = r2 vielleicht eine „höhere“ Bedeutung?

Abb. 5.66 Eine wunderschöne räumliche Deutung der Inversion

5.4 Über Landkarten und „Kugelabwicklungen“ 179

Sei die Äquatorebene π Bildebene der stereografischen Projektion und derNordpol Z das Projektionszentrum (Abb. 5.67); S sei der Südpol. Pk und P ∗kseien zwei Kugelpunkte mit demselben Normalriss in π. Die Punkte Z,Pk undP ∗k liegen damit am selben Großkreis, den wir uns ab jetzt als Kugelumrissdenken.Seien P bzw. P ∗ die zugehörigen Punkte bei der stereografischen Projektion.Dann liegen auch die Punkte Pk, P

∗ und S auf einer Geraden (Spiegelung anπ), die nach dem Satz von Thales auf PZ rechtwinklig steht.

Abb. 5.67 Inversion als stereografische Projektion

Für die nachfolgende einfache Rechnung denken wir uns ein zweidimensio-nales Koordinatensystem mit der Kugelmitte M als Ursprung, der x-AchseRichtung P und der y-Achse Richtung Z. Wenn x0 die x-Koordinate vonP bezeichnet, dann hat die Gerade PZ den Anstieg − r

x0(r= Kugelradius).

Der Anstieg der Geraden PkS ist dann x0

r, und ihre Gleichung lautet folglich

y = x0

r⋅x−r. Um P ∗ zu erhalten, brauchen wir diese nur noch mit der x-Achse

zu schneiden:x0

r⋅ x − r = 0⇒ x0 ⋅ x = r2

Dies zeigt bereits, dass P und P ∗ invers bezüglich des Kreises um M mitRadius r sind.Wählt man als Projektionsebene der stereografischen Projektion statt π dieTangentialebene in S, werden alle Bildlängen verdoppelt, und damit habenwir den Satz:

Sei π die waagrechte Zeichenebene, auf deren Ursprung eine Kugel vom Durch-messer 1 ruht. Projiziert man übereinander liegende Punkte der Kugel vom höchs-ten Punkt der Kugel auf π, dann erhält man Punkte, die bezüglich des Einheits-kreises in π invers sind.

Streng genommen müsste man den Satz nachträglich wie folgt allgemeiner formulie-ren: Sei Z ein Punkt einer Kugel, π Berührebene der Kugel im gegenüberliegendenPunkt und k0 der Großkreis der Kugel parallel zu dieser Ebene. Dann bilden sichdie beiden von k0 berandeten symmetrischen Kugelhälften in der Zentralprojektionaus Z auf π als Punktfelder ab, die bezüglich der Zentralprojektion von k0 inverssind.

180 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Die vermeintlich ein bisschen an den Haaren herbei gezogene Inversion derEbene ist für ein dreidimensional denkendes Lebewesen etwas ganz Einfa-ches, nämlich die Spiegelung einer Kugelhälfte an der Berandungsebene. Das„missing link“ ist eine stereografische Projektion. Nun könnten wir uns na-türlich Gedanken machen, ob ein vierdimensional denkendes Lebewesen dieInversion des Raums an einer Kugel ebenso einfach interpretieren kann – et-wa mittels einer verallgemeinerten stereografischen Projektion des Raums aufeine „Hyperkugel“. Der Gedankengang lässt sich tatsächlich erweitern, undes funktioniert! Der einzige Haken: Wir können es meinetwegen nachrechnen,vorstellen können wir es uns nicht mehr.

Von unserer höheren Warte lassen sich die wichtigsten Eigenschaften derInversion sehr einfach beweisen:

Die Inversion ist winkeltreu und kreistreu. Geraden entsprechen Kreise durch denMittelpunkt des Inversionskreises.

Beweis:Sowohl die Winkeltreue als auch die Kreistreue folgen aus der Winkeltreue bzw.Kreistreue der stereografischen Projektion, die zweimal (in umgekehrten Richtun-gen) angewendet wird.Die Spiegelung auf der Kugel ändert auch nichts an den Schnittwinkeln bzw. derKreiseigenschaft. Geraden entsprechen bei der stereografischen Projektion Kreisedurch das Projektionszentrum (die Schnittkreise der Projektionsebene mit der Ku-gel). Bei der Spiegelung werden daraus Kreise durch den „Aufpunkt“ M , die bei derumgekehrten stereografischen Projektion in Kreise durch M übergehen. ◾

Einen anderen Beweis der Kreistreue finden Sie im mathematischen Werkzeugkasten.Er wird dort recht elegant mithilfe der komplexen Zahlen geführt. Der Vorteil desgeometrischen Beweises ist wieder einmal, dass die „Abfallprodukte“ dem geometri-schen Verständnis förderlich sind. Immer ergibt eins das andere, und irgendwannhat man ein abgerundetes geometrisches „Weltbild“, in dem viele Dinge klar werden,deren Beweise sonst aus der Mathematik „zugekauft“ werden müssen.

5.5 Die „physikalische“ Spiegelung an Kreis, Kugelund Drehzylinder

Wir haben bisher schon des Öfteren von Spiegelung am Kreis gesprochen (beider Inversion), wobei nicht immer eine physikalische Spiegelung gemeint war.Eine Spiegelung an einer Fläche, wie wir sie aus der Natur kennen, befolgtzwei Regeln:Erstens liegen einfallender und reflektierter Lichtstrahl in einer Ebene, welchedie Ebenennormale enthält, und zweitens bleibt der Winkel – gemessen zurNormalen – gleich („Einfallswinkel = Ausfallswinkel“).

5.5 Die „physikalische“ Spiegelung an Kreis, Kugel und Drehzylinder 181

● Die Spiegelung an einer EbeneSei E der Augpunkt und S jener Punkt, der Licht aussendet (Abb. 5.68links). Blicken wir in die Spiegelebene τ , dann sehen wir einen Reflexpunkt R.Geometrisch erhalten wir R, indem wir den Punkt S an τ spiegeln und diesenPunkt S∗ mit E verbinden. Das Auge kann nun nicht mehr unterscheiden,ob es den Reflex R oder den gespiegelten Punkt S∗ sieht.Tatsächlich sind die beiden Regeln erfüllt: Erstens liegen SR und RE ineiner Ebene, die das Lot n enthält, und zweitens sind Einfallswinkel ζ1 undAusfallswinkel ζ2 gleich groß. Das Problem der Spiegelung an einer Ebene istsomit eine einfache (weil lineare) Aufgabe. ◾

● Spiegelung an einer krummen Fläche

Abb. 5.68 Spiegelung an krummen Flächen

Die Spiegelung an einer krummen Fläche ist i. Allg. natürlich ein ungleichkomplizierteres Unterfangen. Man betrachtet eine Tangentialebene τ in einembeliebigen Flächenpunkt R (Abb. 5.68 links). Dann spiegeln wir den Raum-punkt S an τ . Wenn zufällig die Verbindungsgeraden ER und ES∗ identischsind, haben wir in R einen Reflexpunkt von S gefunden (bei komplizierterenFlächen kann es durchaus mehrere „Reflexe“ geben).

Abb. 5.69 Spiegelung an einer doppelt gekrümmten Fläche (Cloud Gate Chicago, Anish Kapoor)

Praktisch finden wir alle Reflexe, indem wir für eine größere Anzahl vonFlächenpunkten den beschriebenen Test durchführen und für den Fall, dass

182 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

man schon „fast“ einen Reflex erwischt hat, in der Umgebung des jeweiligenPunkts mit Näherungsverfahren verfeinern. ◾

Die soeben beschriebene allgemeine Suchmethode kostet natürlich enormenRechenaufwand, und wir wollen sie hier nicht genauer besprechen. In seinerDiplomarbeit hat Franz Gruber ein Verfahren entwickelt, das Spiegelungenwie in Abb. 5.69 in „Echtzeit“ (mehrere Bilder pro Sekunde) ermöglicht.Für uns interessant sind zwei Spezialfälle, die einigermaßen häufig auftreten.

● Spiegelung am DrehzylinderSei Φ ein Drehzylinder (Abb. 5.68 Mitte), den wir der Einfachheit halberlotrecht hinstellen. Das Spiegelproblem reduziert sich auf eine zweidimen-sionale Spiegelung am Basiskreis, wenn wir alle Punkte in die Basisebenenormal projizieren. Wir müssen dann nur einen Punkt R′ finden, der ausE′ gesehen der Reflex von S′ am Basiskreis ist: Die gleichen Winkel in derBasisebene bewirken nämlich auch die Winkelgleichheit in jener Ebene, dievon E, R und der Zylindernormalen n =MR aufgespannt wird.

Abb. 5.70 Anamorphosen: Spiegelung am Drehzylinder

Die Spiegelung am Drehzylinder, die wir aus diversen Hallen mit verspiegelten Säu-len kennen, wurde in früherer Zeit verwendet, um sogenannte Anamorphosen zuerstellen. Der Betrachter sieht ein skurril verzerrtes Bild im zylindrischen Spiegel„normal“ (Abb. 5.70). ◾

● Spiegelung an der KugelAuch die Spiegelung an einer Kugel lässt sich sofort auf die Spiegelung aneinem Großkreis zurückführen: Die Kugelnormale enthält immer den Mittel-punkt M der Kugel, und die in Frage stehenden Lichtstrahlen ER und RS

liegen in der Großkreisebene MES. ◾

Damit wird das Problem immer dringlicher, die physikalische Spiegelung amKreis unter Kontrolle zu bekommen. Um es vorweg zu nehmen: Die Sacheist elementar nicht lösbar, weil man nachweisen kann, dass eine Gleichungvierten Grades zu lösen ist. Für den Computer ist dies kein Problem (es gibtsogar Formeln zum Auflösen von Gleichungen vierten Grades), mit Zirkelund Lineal ist die Aufgabe aber nicht zu schaffen.

5.5 Die „physikalische“ Spiegelung an Kreis, Kugel und Drehzylinder 183

Abb. 5.71 Spiegelungen in Kugeln

Abb. 5.72 Die physikalische Spiegelung an der Kugel

Ein einfacher Sonderfall kann elementar beantwortet werden: Wenn der zuspiegelnde Punkt S zufällig denselben Abstand vom Kreis (in der Praxisvon der Kugel bzw. dem Drehzylinder) hat wie der Augpunkt E, werden dieReflexpunkte Ri genau auf den Winkelhalbierenden von MS und ME liegen.Mit diesem Wissen sind die Glanzpunkte in den Augen (Abb. 5.73), die voneiner Lichtquelle rühren, gut zu lokalisieren. Umgekehrt lässt sich auch dieLage der Lichtquelle bei Kenntnis der Glanzpunkte rekonstruieren.

Abb. 5.73 Glanzpunkte in Kugelkappen

Auch im allgemeinen Fall geben wir uns nicht gleich geschlagen und wollendas „Drumherum“ ein wenig beleuchten:

184 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

● Kegelschnitte mit gegebenen Brennpunkten, die einen gegebenen KreisberührenWir wissen, dass bei Kegelschnitten die Kurventangente bzw. Kurvennor-male den Winkel der Brennstrahlen halbiert. Ein Lichtstrahl durch einenBrennpunkt E wird also in den anderen Brennpunkt S gespiegelt.Wenn ein solcher Kegelschnitt einen gegebenen Kreis k im Kurvenpunkt R

berührt, dann stimmt dort die Kreistangente mit der Kegelschnittstangenteüberein, und wir haben genau das Spiegelungsproblem am Kreis.

Abb. 5.74 Vier konfokale Kegelschnitte, die einen gegebenen Kreis berühren

Um also einen weiteren Punkt am gesuchten Kegelschnitt zu finden, suchenwir jenen Punkt R auf k, der bezüglich E der Reflexpunkt von S am Kreisk ist. Bei Außenspieglung scheint die Lösung eindeutig zu sein, aber es führtkein Weg an der Lösung einer Gleichung vierten Grades vorbei. Die vier Lö-sungen müssen nicht immer alle reell ausfallen. Das Ergebnis sind vier konfo-kale Kegelschnitte (Abb. 5.74), die einander übrigens rechtwinklig schneiden,wie wir schon bewiesen haben. ◾

Abb. 5.75 Die Libelle drückt die Wasseroberfläche an drei Stellen ein, die an den Glanzpunktensofort zu erkennen sind.

Immer noch schwebt die Frage im Raum, wie denn die vier „Reflexe“ von S

am Kreis k für die Augpunktposition geometrisch gefunden werden können

5.5 Die „physikalische“ Spiegelung an Kreis, Kugel und Drehzylinder 185

(Abb. 5.76 links). Eine Antwort kann nur lauten: durch Probieren. Indemman R am Kreis wandern lässt, wird der Lichtstrahl ER variiert. Der zuge-hörige einfallende Lichtstrahl ist immer das Spiegelbild bezüglich der Kreis-normale und kann leicht konstruiert werden. Irgendwann wird S bezüglichdieses Spiegelbilds die Seite wechseln, und mit grafischer Genauigkeit ist dortdie Lösung gefunden.

● Brennlinien beim KreisDas soeben beschriebene „Herumprobieren“ liefert eine Schar von reflektier-ten Strahlen, die eine Kurve einhüllt. Die Gestalt dieser unter dem NamenBrennlinie (Kaustik) bekannten Kurven kann variieren. Für Punkte außer-halb des Kreises sieht sie aber doch einigermaßen wie in Abb. 5.76 rechtsaus.Der Name Brennlinie stammt daher, dass man sich statt des Augpunkts E

auch eine punktförmige Lichtquelle denken kann, und dann treten tatsächlichan zylindrischen spiegelnden Wänden solche hell beleuchteten Kurven auf.Liegt der Punkt E im Inneren des Kreises k, dann treten Brennlinien auf,die vom Typ wie in Abb. 5.77 sind.

Abb. 5.76 Die gespiegelten Strahlen hüllen eine gespitzte Kurve ein

In jedem Fall gibt es aus E dann mehrere (maximal vier) Tangenten an dieBrennlinie, welche zu den gesuchten Reflexpunkten führen.

Abb. 5.77 Der Punkt kann auch im Kreisinneren liegen

186 5 Mehr über Kegelschnitte und abwickelbare Flächen

Bei der Spiegelung an der Außenwand des Kreises kommt nur eine der vierLösungen praktisch in Frage. Man findet sie nachträglich durch Ausprobieren.Liegt E innerhalb des Kreises, können alle Lösungen auch tatsächlich zusehen sein.Abb. 5.78 soll illustrieren, warum die räumliche Inversion an einer Kugelgern als Kugelspiegelung bezeichnet wird, obwohl eine echte (physikalische)Kugelspiegelung eigentlich nichts damit zu tun hat: Bei der Inversion erhaltenwir ein wohl definiertes räumliches Objekt, das vom Betrachter unabhängigentsteht (im konkreten Fall eine Dupinsche Zyklide, die auf S. 229 genauerbesprochen wird). Das Spiegelbild, das man beim Blick auf die Kugel sieht,ändert hingegen ständig seine Gestalt, wenn der Beobachter den Standpunktwechselt.

Abb. 5.78 Inversion und physikalische Spiegelung an einer Kugel

So gesehen ist die optische Ähnlichkeit der beiden Bilder in Abb. 5.78 nurdeswegen so auffällig, weil das inverse Objekt aus dem richtigen Blickwinkelbetrachtet wird. M. C. Escher hat seine Kugelspiegelungen übrigens mitInversion angenähert.

Abb. 5.79 Ein Torus als Luftblase in Glas eingeschlossen

Abb. 5.79 zeigt zum Vergleich das Bild eines Torus, das durch Brechungverzerrt ist. ◾

6 Prototypen

Die große Mehrheit aller krum-men Flächen ist nicht in dieEbene auszubreiten. Die doppel-te Krümmung in einem Flächen-punkt kann wie bei der Kugel ineine Richtung rechtwinklig zur zu-gehörigen Tangentialebene („nachunten“) erfolgen, oder – wie bei ei-ner Sattelfläche – in beide entge-gengesetzten Richtungen (im Bildlinks „nach oben und unten“).

Wenn man die einfachsten Fälle dieser Art – nämlich die Flächen zweitenGrades – hinsichtlich ihres Verhaltens bezüglich der Tangentialebene unter-sucht, hat man schon weit reichende Aussagen über das lokale Krümmungs-verhalten für alle Flächen gefunden.Flächen, die elliptisch oder hyperbolisch gekrümmt sind, können nicht ohneDeformation in die Ebene ausgebreitet werden. Jene Flächen, die abwickelbarsind, müssen in allen Punkten parabolisch gekrümmt sein.Die Flächen zweiter Ordnung sind aber nicht nur als Prototypen von Interes-se. Sie haben eine Fülle von speziellen Eigenschaften, die technische Anwen-dungen erlauben. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Parabolscheinwerfer.Als erste allgemeinere Flächenklasse werden in weiterer Folge die Drehflä-chen besprochen. Abgesehen von den Drehflächen zweiter Ordnung spieltder Torus eine bedeutende Rolle. Diese Fläche vierter Ordnung findet sich inzahllosen Anwendungen und entsteht nicht nur durch Rotation eines Kreisesum eine in dessen Ebene liegende Achse, sondern auch durch Rotation einerKugel.

Überblick6.1 Flächen zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

6.2 Drei Typen von Flächenpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

6.3 Drehflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

6.4 Der Torus als Prototyp für alle anderen Drehflächen . . . . . . . . . . . 221

6.5 Rohr- und Kanalflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

188 6 Prototypen

6.1 Flächen zweiter Ordnung

Die einfachste Fläche ist eine Ebene. Sie hat mit jeder allgemeinen Testgera-den des Raums genau einen Schnittpunkt gemeinsam. Man sagt deshalb: DieEbenen sind von erster Ordnung (und es gibt keine anderen Flächen ersterOrdnung).Jene Flächen, die mit einer Testgeraden zwei Schnittpunkte gemeinsam ha-ben (diese müssen nicht immer reell ausfallen, und sie können auch zusam-menfallen), bezeichnet man als Flächen zweiter Ordnung. Wir kennen schoneinige davon: Die Kugel, den Drehzylinder und den Drehkegel.Wenn man auf diese drei Flächentypen affine Verzerrungen anwendet (solcheTransformationen ändern nichts an der Anzahl der Schnittpunkte mit einerTestgeraden), erhält man Ellipsoide, elliptische Zylinder und quadratischeKegel .Durch kollineare Verzerrungen (auch sie sind lineare Abbildungen, welche dieOrdnung der Fläche nicht verändern) erhält man schließlich die Paraboloideund Hyperboloide sowie die parabolischen und hyperbolischen Zylinder. Beiden Kegeln kann man, wie wir bald sehen werden, nicht verschiedene Typenauseinander halten, und spricht daher von den quadratischen Kegeln .

Die doppelt gekrümmten Flächen zweiter Ordnung – Ellipsoide, Paraboloide undHyperboloide – sind affin bzw. kollinear zur Kugel. Die einfach gekrümmten Flä-chen zweiter Ordnung – elliptische, parabolische und hyperbolische Zylinder bzw.quadratische Kegel – sind affin bzw. kollinear zum Drehzylinder bzw. Drehkegel.

Abb. 6.1 Elliptische Zylinder mit Kreisschnitten

Abb. 6.1 zeigt eine interessante „Spielerei“ mit elliptischen Zylindern, die eigent-lich schiefe Kreiszylinder sind: die einzelnen Hufe lassen sich – im Gegensatz zuden ellipsenförmigen Schnitten der Drehzylinder – wegen der Kreisgestalt stufenlosgegeneinander verdrehen.

EllipsoideAlle Zylinder und Kegel sind, wie wir schon wissen, abwickelbar, weil sieeinfach gekrümmt sind. Ellipsoide sind – wie die Kugel – doppelt gekrümmt.I. Allg. sind Ellipsoide „dreiachsig“ und besitzen keine Rotationssymmetrie,

6.1 Flächen zweiter Ordnung 189

sondern drei paarweise aufeinander rechtwinklig stehende Symmetrieebenen.Betrachtet man jene Ellipsoide, die durch Rotation einer Ellipse entstehen,kann man abgeplattete und eiförmige Drehellipsoide unterscheiden.

Abb. 6.2 Links und Mitte: Dreiachsige Ellipsoide, rechts: Drehellipsoid

● Die Gestalt der ErdeDie Erdkugel ist bekanntlich keine exakte Kugel, sondern näherungsweiseein abgeplattetes Drehellipsoid. Vereinfacht spricht man auch vom Geoid.Die exakte Gestalt der Erdkugel ist ein Ellipsoid mit vielen kleinen Dellenund Ausbuchtungen. Diese „Schönheitsfehler“, die Abplattung an den Poleneingeschlossen, sind für Physiker und Geodäten relevant. Rein optisch ist dieErde aber praktisch nicht von einer Kugel zu unterscheiden. ◾

Ellipsoide „erben“ wegen ihrer Affinität zu den Kugeln wichtige Eigenschaftender Kugel:

Jeder ebene Schnitt eines Ellipsoids ist eine Ellipse. Der Umriss eines Ellipsoidsbei Normalprojektion ist stets eine Ellipse, bei Zentralprojektion ein Kegelschnitt.

● Ellipsoide im KuppelbauAbb. 6.3 links zeigt die Kuppel des Berliner Reichstags, die exakt die Form

Abb. 6.3 Exakte elliptische Kuppel bzw. „so etwas Ähnliches“ (Karlskirche Wien)

eines halben Drehellipsoids hat. In Abb. 6.4 sind Normalprojektionen undeine Zentralprojektion (Perspektive) der Kuppel zu sehen.

190 6 Prototypen

Abb. 6.4 Die Reichstagskuppel in Berlin ist ein halbes Drehellipsoid

Der Florenzer Dom ist nicht zuletzt wegen seiner Kuppel so berühmt (seinErbauer war Brunelleschi , Abb. 9.2). Die Kuppel ist allerdings kein exaktesEllipsoid – auch nicht näherungsweise. Sie wird durch Zylinder angenähert,die einander längs Ellipsen schneiden. Allerdings haben diese Schnittellipsenihren Hauptscheitel nicht auf der Rotationsachse. ◾

● Ellipsoid im Industrial Design

Abb. 6.5 Kugelförmige und ellipsoidförmige Teekanne

Abb. 6.5 rechts zeigt Boris Sipeks Teekanne in der Form eines Ellipsoids. Ge-nau genommen ist die Kanne so etwas wie ein „Zauber-Ei“, wenn man darandenkt, wie die einzelnen Teile überhaupt zusammen gefügt werden können.Sipek verwendet bei vielen seiner Arbeiten bewusst affine Verzerrungen. Esgibt auch ein kugelförmiges Pendant der Kanne (links). ◾

Mathematisch gesehen werden die Flächen zweiter Ordnung durch eine sogenannteimplizite Gleichung der Form

a1 x2 + a2 y

2 + a3 z2 + a4 xy + a5 yz + a6 xz + a7 x + a8 y + a9 z + a0 = 0

dargestellt. Wenn man eine Testgerade mit der Gleichung

x = u1 + t v1, y = u2 + t v2, z = u3 + t v3

6.1 Flächen zweiter Ordnung 191

mit der Fläche zum Schnitt bringt, erhält man eine algebraische Gleichung zweiterOrdnung für jenen Parameter t der Geraden, der zu den beiden möglichen Schnitt-punkten führt.

Abb. 6.6 Konvexe Flächen, aber nicht von zweiter Ordnung

Beim Abzählen von Schnittpunkten darf man sich nicht wirklich aufs Augenmaßverlassen. Die konvexen Flächen in Abb. 6.6 (diese haben keine Einbuchtungen undEinschnürungen) scheinen immer nur maximal zwei Schnittpunkte mit einer Test-geraden zu haben. Trotzdem ist bei Weitem nicht jede Oberfläche eines konvexenKörpers von zweiter Ordnung. Bei der rechten Fläche in Abb. 6.6 handelt es sichz.B. um eine Superkugel mit der impliziten Gleichung x4 + y4 + z4 = r4. Die Flächeist also von vierter Ordnung. Die Flächentangenten in den Flachpunkten berührendie Fläche „von höherer Ordnung“.Wenn die Fläche aber von zweiter Ordnung ist, hat das für unsere Überlegungenenorme Vorteile: Wir wissen dann z.B., dass jeder ebene Schnitt mit der Flächeeine Kurve zweiter Ordnung ist, also i. Allg. ein Kegelschnitt (reell oder komplex).Dieser kann aber auch in ein Geradenpaar (reell oder komplex) oder eine doppeltzu zählende Gerade (immer reell) zerfallen.

Lauschen und leuchten. . .Eiförmige Drehellipsoide findet man wegen ihrer eleganten Form oft im De-sign. Indem man die Brennpunkteigenschaft der Ellipse ausnützt, kann manauch fokussierende Lampen bauen, deren reflektierendes Inneres Teil eineseiförmigen Drehellipsoids ist. Sie bündeln das gesamte Licht, welches imBrennpunkt der Lampe erzeugt wird, auf den zweiten, nicht materialisier-ten Brennpunkt.

Abb. 6.7 Wellenfronten, ausgehend von Punkten innerhalb einer Ellipse

Man kann natürlich statt Licht andere Wellen auf diese Weise bündeln, etwaWärmestrahlung (Brennspiegel) oder Schallwellen (Abb. 6.7). Die Bündelung

192 6 Prototypen

funktioniert optimal, wenn sich die Quelle exakt in einem Brennpunkt befin-det (links bis Mitte), ist aber gegen kleinere Abweichungen nicht sehr sensibel(rechte Bilder). Die Figur zeigt den Verlauf der Wellenfronten. Dadurch kannman etwaige Interferenzen beobachten.

Abb. 6.8 Sichtbare Wellenfronten

● Flüsterschalen und seltsame akustische ErscheinungenAbb. 6.9 zeigt zwei gegenüberliegend aufgestellte Schalen in der Bibliothekdes Stifts Vorau (Steiermark), die den abgeschnittenen Kappen eines Drehel-lipsoids entsprechen. Ohne es nachgemessen zu haben, könnten die Schalenauch kugelförmig sein: Der Unterschied zwischen der Kappe eines Drehel-lipsoids und der zugehörigen Krümmungskugel im Scheitel ist in der Praxisvernachlässigbar.

Abb. 6.9 Flüsterschalen. . . Abb. 6.10 . . . und Klangwelten

Befindet man sich mit seinem Ohr in der Nähe des einen Brennpunkts, kannman über etwa 20 Meter geflüsterte Worte verstehen, die in der Nähe desanderen Brennpunkts gesprochen werden.In Abb. 6.10 ist eine künstlerische Variante des Akustik-Effekts (BernhardLeitner) zu sehen. Dabei wurden Paraboloide verwendet, die den Grenzfallvon Ellipsoiden darstellen, wie wir gleich sehen werden. Aus deren Brenn-punkten wird Klang zur Schale projiziert, parallel gebündelt und auf eine

6.1 Flächen zweiter Ordnung 193

Wand geworfen, von der er sich nach Spiegelung als akustische Erscheinungim Ausfallswinkel abbildet. ◾

Paraboloide

Abb. 6.11 Wellenfronten bei einer Parabel

Abb. 6.11 illustriert die Reflexion von Wellenfronten, wenn man statt derEllipse eine Parabel verwendet. Deutlich ist zu sehen, dass es eine Wellenfrontaus Ebenen genau dann gibt, wenn der Ausgangspunkt der Brennpunkt ist.Lässt man eine Parabel um ihre Achse rotieren, erhält man ein Drehpara-boloid, und mit Abb. 6.11 auch einen deutlichen Hinweis auf die vielfältigentechnischen Anwendungsmöglichkeiten solcher Flächen als Reflektoren (Ra-darschirme, Satellitenempfänger, Radioteleskope, usw.).

● „Empfangsschüsseln“ (Abb. 6.12 links)In der Theorie müssen Schüsseln von Satelliten exakte Drehparaboloide sein,und das Empfangsgerät muss sich exakt im Brennpunkt befinden. Allerdingsgilt auch hier, wie bei den Flüsterschalen von vorhin, dass die Schüssel rechtgut durch eine Krümmungskugel angenähert werden kann.

Abb. 6.12 Drehparaboloide als Empfänger bzw. effektive Fernscheinwerfer

Wichtig ist nur, dass das Empfangsgerät dann nicht im Mittelpunkt der Kugelmontiert ist, sondern im halben Kugelradius entfernt angebracht wird: DerRadius des Scheitelkrümmungskreises der Parabel ist nämlich der doppelteAbstand vom Brennpunkt zum Scheitel. Da der Empfänger ohnehin nichtpunktförmig ist, gestatten die Geräte auch, dass die Achse der Empfangs-schüssel nicht exakt mit der Strahlungsrichtung übereinstimmt. Der Sensormuss dann aber exzentrisch montiert sein (vgl. dazu Abb. 4.40)! ◾

194 6 Prototypen

● Parabolische Scheinwerfer und SonnenkollektorenMontiert man im Brennpunkt eines verspiegelten Drehparaboloids eine punkt-förmige Lichtquelle, dann werden alle Lichtstrahlen, die den Spiegel tref-fen, parallel zur Achse austreten. Solche Lichtspots sind also „Weitstrahler“,Abb. 6.12 rechts).

Abb. 6.13 Parabolscheinwerfer Abb. 6.14 . . . bzw. dessen Umkehrung

In der Praxis werden oft stabförmige Lichtquellen verwendet. In diesem Fallwird man parabolische Zylinder verwenden (Abb. 6.13). Solche Zylinder könn-te man auch benützen, um Sonnenlicht auf einem Rohr zu bündeln. In die-sem Rohr befindet sich eine Flüssigkeit, die erhitzt und abgeleitet wird. DerSchirm liegt in Ost-West-Richtung und wird so mit der Sonne geschwenkt,dass die Sonne in seiner Symmetrieebene bleibt. ◾

Parabolische Schiebflächen

Affin verzerrte Drehparaboloide, also elliptische Paraboloide, sind natürlichebenso Flächen 2. Ordnung. Durch geschickte Kollineation erhält man auchhyperbolische Paraboloide. Wir wollen aber eine andere Definition vorziehen:

Abb. 6.15 Paraboloide als Schiebflächen

6.1 Flächen zweiter Ordnung 195

Verschiebt man eine Parabel längs einer zweiten festen Parabel mit parallelerAchse und unterschiedlicher Trägerebene, so überstreicht die bewegte Parabelein Paraboloid.

Sind die beiden Parabeln auf die gleiche Seite gekrümmt, erhält man einelliptisches Paraboloid, sonst ein hyperbolisches (Abb. 6.15). Ist eine der Pa-rabeln überhaupt nicht gekrümmt, also geradlinig, entsteht ein parabolischerZylinder. Die beiden Parabeln sind in ihrer Funktion austauschbar. Die Pa-raboloide tragen also zumindest zwei gleichberechtigte Scharen von Parabeln(wir werden gleich zeigen: Es gibt sogar unendlich viele Scharen).Ein Paraboloid in Hauptlage (enthält den Ursprung, Achse ist die z-Achse) wirdanalytisch durch die Gleichung

z = A ⋅ x2 +B ⋅ y2beschrieben. Wenn A und B gleiches Vorzeichen haben, ist das Paraboloid elliptisch,wenn es verschieden ist, hyperbolisch. Verschwindet entweder A oder B, liegt einparabolischer Zylinder vor.Schneidet man das Paraboloid mit einer beliebigen lotrechten (achsenparallelen)Ebene y = k ⋅ x + d, indem man diese lineare Beziehung in die Gleichung des Para-boloids einsetzt, so erhält man mit

z = A ⋅ x2 +B ⋅ (k ⋅ x + d)2 = (A +B k2) ⋅ x2 + 2Bkd ⋅ x +Bd2

die Gleichung einer lotrechten Parabel. Das bedeutet: Jeder lotrechte Schnitt lieferti. Allg. eine Parabel. Deren Krümmung hängt nur von k, nicht aber von d ab.Auf jedem Paraboloid gibt es somit für jede Ebenenstellung (festgelegt durch k)eine unendliche Schar von kongruenten Parabeln, die durch Schiebung ineinanderübergehen.Im Fall des hyperbolischen Paraboloids haben A und B verschiedene Vorzeichen,und A/B ist negativ. Dann verschwindet bei k = ±√−A/B der Koeffizient des qua-dratischen Gliedes, und die Schnittparabel wird zur Geraden. Das bedeutet, dassdas hyperbolische Paraboloid zwei Scharen von Geraden trägt, die im Grundriss einNetz aus parallelen Geraden bilden. Fassen wir zusammen:

Jeder ebene Schnitt eines Paraboloids parallel zur Achse ist eine i. Allg. eineParabel. Beim hyperbolischen Paraboloid degeneriert die Schnittparabel bei zweiEbenenstellungen in eine Gerade. Hyperbolische Paraboloide tragen somit zwei

verschiedene Scharen von Geraden, die bei Projektion in Achsenrichtung zuein-

ander parallel erscheinen.

Die Ränder der Fläche sind in Abb. 6.16 Erzeugenden, die ein windschie-fes Vierseit bilden. Die durch die von den Erzeugenden der jeweils anderenSchar zugeordneten Punkte gebildeten Punktreihen sind kongruent, wenn dieRanderzeugenden im Grundriss symmetrisch angeordnet sind, sonst ähnlich.Man kann also sagen:

Ein hyperbolisches Paraboloid ist auch das Erzeugnis kongruenter bzw. ähnlicherPunktreihen.

196 6 Prototypen

Abb. 6.16 Hyperbolisches Paraboloid als Erzeugnis kongruenter Punktreihen

Klassisch schön und sehr brauchbarParaboloide spielen in der Flächentheorie eine fundamentale Rolle. Alle ge-krümmten Flächen verhalten sich lokal so wie ein Paraboloid. Darüber wer-den wir im nächsten Abschnitt noch mehr erfahren.

Abb. 6.17 Hyperbolisches Paraboloid (HP-Schale)

In der Architektur sind die hyperbolischen Paraboloide (Abb. 6.19) von Be-deutung. Dort werden sie kurz HP-Schalen genannt. Mit ihnen kann manz.B. elegant und sehr stabil rechteckige Grundrisse überdachen (Abb. 6.17).Beim Bauen hat man den Vorteil, dass man ein Gerüst aus Geraden aufbauenkann.Abb. 6.18 zeigt einen Entwurf für Twin-Towers von Paolo Piva, wo Seiten-flächen von HP-Schalen gebildet werden.

HyperboloideDie Eigenschaft, zwei verschiedene Scharen von Geraden zu tragen, teilen dieHP-Flächen nur noch mit einer einzigen Gattung von Flächen, den einscha-ligen Hyperboloiden, die ebenfalls von zweiter Ordnung sind.Ein Drehhyperboloid entsteht, wenn man eine Hyperbel um eine ihrer Achsenrotieren lässt. Je nach Drehachse ist das Ergebnis zweischalig oder einschalig.Das zweischalige Drehyperboloid(Abb. 6.20) ist in der Praxis nicht so be-deutend wie das einschalige. Eine Anwendung besteht darin, dass man es alsLampenschirm für absolut punktförmiges Licht verwenden könnte (Abb. 2.5).Dies deshalb, weil aufgrund der elementaren Eigenschaften der Kegelschnit-te Licht, das in einem Brennpunkt leuchtet, so reflektiert wird, dass es (im

6.1 Flächen zweiter Ordnung 197

Abb. 6.18 Hochhäuser mit HP-Schalen als Innenwand (Mitte: Grundriss)

Abb. 6.19 Ein hyperbolisches Paraboloid trägt zwei Scharen von Geraden, sowie Hyperbeln undParabeln.

Fall der Hyperbel in der Verlängerung) vom zweiten Brennpunkt ausgeht.Allerdings müsste man direkten Lichteinfall von der Lichtquelle durch loka-les Abdecken verhindern, wodurch ausgerechnet in der Gegend der Achse desLichtspots keine Beleuchtung stattfindet.Das einschalige Drehhyperboloid ist in der Praxis viel wichtiger. Es entstehtnicht nur durch Rotation einer Hyperbel um die Nebenachse, sondern auchbei der Drehung einer Geraden um eine windschiefe Achse. Diese keines-wegs triviale Erkenntnis stammt von Christopher Wren, dem Erbauer derSt. Paul’s Cathedral in London.Ein Drehhyperboloid mit Achse z wird durch die Gleichung

x2 + y2

a2− z2

c2= 1

beschrieben. Schneiden wir dieses mit der lotrechten Tangentialebene x = a, dannhaben wir mit

y2

a2− z2

c2= 0⇒ z = ± c

ay

198 6 Prototypen

Abb. 6.20 Zweischaliges Drehhyperboloid in verschiedenen Ansichten

Abb. 6.21 Erzeugung eines Hyperboloids durch eine Hyperbel

die Gleichung von zwei Geraden gefunden. Durch Rotation erhält man die beidenGeradenscharen, die auf der Fläche liegen.

Abb. 6.22 Doppelte Erzeugung eines Drehhyperboloids durch Geraden

Betrachten wir jetzt einen allgemeinen Punkt P auf der Fläche. Durch ihn gehendann immer genau eine Gerade e der ersten Schar und eine Gerade f der zwei-ten Schar. Die Geraden e und f spannen eine Ebene τ auf. Nun ist der Schnitteiner Ebene mit einer Fläche zweiter Ordnung immer eine Kurve zweiter Ordnung.Offensichtlich zerfällt diese Kurve hier in zwei schneidende Geraden. Man könnteauch sagen: Es handelt sich bei e und f um eine „ausgeartete“ Hyperbel. Wir ken-nen jetzt zwei Kurven e und f durch den Flächenpunkt P (Geraden sind Kurvenerster Ordnung, was man unter anderem an ihrer linearen Parameterdarstellungerkennt). Deren Tangenten in P – das sind natürlich die Geraden selbst – spannennach Definition die Tangentialebene auf. Somit ist τ = ef die Tangentialebene in P .

6.1 Flächen zweiter Ordnung 199

Wenden wir auf unser Drehyperboloid eine beliebige räumliche Affinität an, ändertsich an dieser Aussage nichts, und wir haben:

Jede Tangentialebene τ eines einschaligen Hyperboloids schneidet aus diesem ein Gera-denpaar e, f aus. Die Fläche bleibt innerhalb eines jeden der vier von e und f festgelegtenSektoren immer auf der gleichen Seite von τ .

Mit ganz ähnlichen Gedankengängen lässt sich zeigen, dass jede nicht ausgearteteFläche zweiten Grades, welche eine Geradenschar {e} trägt, automatisch eine zwei-te Schar {f} tragen muss: Jeder ebene Schnitt durch e liefert eine Kurve zweiterOrdnung, die aber mit e einen „geradlinigen Anteil“ hat, also in ein Geradenpaar(e, f) zerfallen muss.Damit ist klar, dass es auf den HP-Flächen – so wie auf den Hyperboloiden – zweiGeradenscharen gibt. Wie sieht es mit den Zylindern und Kegeln zweiten Grades(elliptische, hyperbolische und parabolische) aus? Bei ihnen berührt die Tangen-tialebene τ nicht nur in einem Punkt, sondern längs der gesamten Erzeugenden.Es liegen also zwei zusammenfallende „Nachbarerzeugende“ in τ : Die Kurve zweiterOrdnung artet in ein identisches Geradenpaar aus.

A

B

C

D

E

F

G

H

Φ

Abb. 6.23 Ein Würfel rotiert um eine Raumdiagonale. Je drei Punkte wandern auf einem Dreh-kreis. Die Kanten, welche die Drehachse schneiden, überstreichen zwei Drehkegel, die sechs restli-chen Kanten, die windschief zur Drehachse liegen, überstreichen ein Drehyperboloid.

● Das Hüllgebilde eines rotierenden Würfels (Abb. 6.23)Was passiert, wenn ein Würfel um eine Raumdiagonale (z.B. AG) rotiert?

Lösung :Von den zwölf Kanten des Würfels gehen je drei durch A und G und schneidendie Drehachse unter gleichem Winkel (der Winkel tritt in kongruenten rechtwink-ligen Dreiecken mit der Hypotenuse AG und der Kantenlänge bzw. einer Quadrat-Diagonale auf). Die Kanten sind also Erzeugende ein und desselben Drehkegels, dersomit dreifach bei der Drehung überstrichen wird. Die Punkte B, D und E bzw. C,F und H bilden je ein gleichseitiges Dreieck orthogonal zur Drehachse und bewegensich auf nur zwei Kreisen. Die restlichen sechs Kanten sind windschief zur Drehach-

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se und überstreichen gleich sechsfach ein- und dasselbe Drehhyperboloid. Drei derKanten gehören der einen, und die drei restlichen der anderen Geradenschar desHyperboloids an (Abb. 6.23 Mitte und rechts). ◾

Abb. 6.24 Barcelona und seine Affinität zu Hyperboloiden: Am Flughafen sieht man bereits denKontrollturm (Ricardo Bofill Levi). Rechts: Antoni Gaudí’s Modell für die Hyperboloide im Dachder Sagrada Família.

● Erzeugnis von Punktreihen auf Kreisen in parallelen EbenenWandert ein Punkt auf einem Kreis und ein zweiter Punkt auf einem Kreis ineiner parallelen Ebene mit gleicher Winkelgeschwindigkeit, so erzeugt die Ver-bindungsgerade i. Allg. ein einschaliges Hyperboloid. Sind die entsprechendenKreistangenten parallel, entsteht ein Zylinder (das funktioniert auch, wenndie Kreise nicht – anders als in Abb. 6.25 – genau übereinander liegen).

Abb. 6.25 Erzeugnis gleichsinnig bzw. gegensinnig kongruenter Punktreihen

Man kann ein einschaliges Hyperboloid also auch als Erzeugnis kongruen-ter Punktreihen auf parallelen Kreisen ansehen. Durchlaufen die Punkte ihre

6.1 Flächen zweiter Ordnung 201

Trägerkreise im entgegengesetzten Umlaufsinn, dann entsteht eine neue Flä-che, die nicht mehr von zweiter Ordnung ist. Im Spezialfall Abb. 6.25 rechtsergibt sich ein sogenanntes Kreiskonoid, das uns später noch einmal unter-kommen wird (Abb. 7.3). ◾

Die Tatsache, dass zwei von einander unabhängige Geradenscharen auf einemeinschaligen Drehhyperboloid liegen, wird praktisch ausgenutzt. Hocker, dieso geflochten werden (Abb. 6.28), haben enorme Tragfähigkeit. Die überdi-mensionalen Kühltürme von Kraftwerken werden im Übrigen auch in Formvon Drehhyperboloiden gebaut und können dadurch vergleichsweise sehr dünn-wandig sein.

● Stabil und leichtgewichtig

Die Kühltürme vieler Kraftwerke haben die Form eines Drehhyperboloids. Die hier

Abb. 6.26 Kühltürme eines Atomkraftwerks. Die Geometrie wäre perfekt, aber Beispiele aus derVergangenheit haben gezeigt, dass es immer wieder zu unkontrollierbaren Reaktionen kommt . . .

abgebildeten (Temelin) sind 155 m hoch und haben einen Maximaldurchmesservon 130 m. Die Verjüngung nach oben hin bedingt eine Beschleunigung des hei-ßen Wasserdampfs. Dies führt – nach dem aerodynamischen Paradoxon – zu einerDruckverminderung, die den Dampf kühlt. ◾

● Verallgemeinerungen der ErzeugungsweiseEs liegt der Gedanke nahe, dass man die doppelte Erzeugung eines Drehhy-

Abb. 6.27 Die Verallgemeinerung funktioniert nicht immer

202 6 Prototypen

perboloids durch zwei rotierende Geraden verallgemeinern kann. Tatsächlichfunktioniert die doppelte Erzeugungsweise, solange die erzeugenden Kreisein parallelen Ebenen liegen. Das Ergebnis ist dann ein allgemeines Hyper-boloid (Abb. 6.27 links), das immer noch zwei Scharen von Geraden trägt.„Verkantet“ man allerdings die Kreise, erzeugen die beiden Geradenscharenzwei verschiedene Flächen, die nichts mehr mit einem Hyperboloid zu tunhaben (Abb. 6.27 Mitte bzw. rechts). ◾

Zwei kongruente Drehhyperboloide können unter gewissen Voraussetzungenaneinander gepasst werden (Abb. 6.29). Die Flächen berühren einander längsder gemeinsamen Erzeugenden. Wenn man sich die beiden Achsen fest denktund eines der beiden Hyperboloide um seine Achse rotieren lässt, muss sichdas andere – bei „gleitfreiem Reiben“ – ebenfalls um seine Achse drehen.

Abb. 6.28 Drehhyperboloide und – im Hintergrund auf den Bambus-Hockern – interessante„Aufwicklungen“ auf Drehzylinder (vgl. S. 141).

Auf diese Weise wird die Drehung um die eine Achse gleichmäßig auf ei-ne Drehung um die zweite – windschiefe – Achse übertragen. In der Praxisgeschieht dies tatsächlich bei den sogenannten Hypoidrädern. Solche Rädersind aber nicht die am Besten geeigneten zur Übertragung von Drehungenum windschiefe Achsen. Dies liegt daran, dass die Hyperboloide nicht aufein-ander rollen, sondern gleichzeitig aneinander gleiten. Eine solche Bewegungheißt Schrotung. Viel häufiger findet man sogenannte Evolventenzahnräder,auf die wir noch zu sprechen kommen. Die Zahnflanken sind dabei Torsen,also abwickelbare Flächen. Dadurch kommt es zu einer „Momentanrollung“ohne Gleiten. In Abb. 11.14 ist eine weitere sehr originelle Lösung der Auf-gabe zu sehen.Wir wissen schon, dass jede Fläche zweiter Ordnung von einer beliebigenEbene nach einer Kurve zweiter Ordnung geschnitten wird. Man kann aberauch zeigen:

6.1 Flächen zweiter Ordnung 203

Abb. 6.29 Schrotende Drehhyperboloide

Die Kontur einer Fläche zweiter Ordnung liegt in einer Ebene und ist daher eineKurve zweiter Ordnung (bei den doppelt gekrümmten Flächen ein Kegelschnitt,bei den einfach gekrümmten ein Geradenpaar).

Beweis:Die doppelt gekrümmten Flächen zweiter Ordnung gehen durch Kollineation aus ei-ner Kugel hervor. Wir können umgekehrt jede solche Fläche durch eine Kollineationin eine Kugel transformieren. Dabei geht das Projektionszentrum in einen Punktüber, aus dem der berührende Drehkegel an die Kugel zu legen ist. Der Berührkreisentspricht in der Kollineation der Kontur der Fläche zweiter Ordnung, die somit einKegelschnitt ist.Analog kann man die einfach gekrümmten Fälle durch Kollineation auf den Falleines Drehzylinders (oder auch Drehkegels) zurückführen. ◾

In Abb. 6.29 tritt z.B. vier Mal eine Hyperbel, ein Mal eine Ellipse und ein Mal einKreis als Umriss eines Drehhyperboloids auf.Abb. 6.20 illustriert, dass der Umriss einer Fläche zweiter Ordnung nicht unbedingtreell ausfallen muss: Im Bild rechts scheint es keinen Umriss für das zweischaligeDrehhyperboloid zu geben. Mathematisch gesehen gibt es schon einen Umriss –dieser ist aber imaginär. Imaginäre Umrisse treten immer dann auf, wenn mansich im Inneren einer Kugel, eines Ellipsoids, eines Drehzylinders oder Drehkegelsbefindet.Was für den Umriss gilt, gilt auch für die Eigenschattengrenze. Es lässt sichsogar zeigen, dass auch etwaige Schatten von Randkurven der Fläche auf dieFläche selbst wieder Kegelschnitte sind:

Eigenschattengrenze und Schlagschatten eines ebenen Schnitts einer Fläche zwei-ter Ordnung auf die Fläche sind Kurven zweiter Ordnung.

Der Beweis für die Aussage über die Schlagschatten sei kurz skizziert: Sei L dieLichtquelle und c der Schatten werfende ebene Schnitt der Fläche Φ (also eineKurve zweiter Ordnung). Dann ist der Projektionskegel Λ aus L ein Kegel zweiterOrdnung (bei parallelen Lichtstrahlen ein Zylinder zweiter Ordnung). Wir suchenΛ∩Φ. Dies lässt zunächst (nach dem Theorem von Bézout , S.138) eine Raumkurvevierter Ordnung erwarten. Allerdings muss diese Kurve bereits den ebenen Schnitt

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Abb. 6.30 Ellipse als Schlagschatten auf die Innenseite einer Fläche 2. Ordnung

c, also eine Kurve zweiter Ordnung, enthalten. Damit kann der Restschnitt, unddas ist der Schatten von c, nur noch von zweiter Ordnung sein.Zur Illustration dieses bemerkenswerten Satzes diene wieder Abb. 6.29. Dortkommen aber auch Schatten der Hyperboloide aufeinander vor. Diese sinddann tatsächlich kompliziertere Raumkurven (vierter Ordnung).

Abb. 6.31 Kubischer Kreis als Durchdringungskurve

● Kubischer Kreis:Wenn man einen Zylinder zweiter Ordnung mit einem Kegel zweiter Ordnung schnei-det, ist i. Allg. eine Raumkurve vierter Ordnung als Durchdringungskurve zu er-warten. Haben der Zylinder und der Kegel aber eine Erzeugende gemeinsam, danngehört diese Gerade zur Kurve. Man sagt, sie spaltet sich von der Durchdringung ab.Berühren einander die beiden Flächen längs dieser Erzeugenden, ist der Restschnittein Kegelschnitt, sonst eine Raumkurve dritter Ordnung. In Abb. 6.31 ist so eineKurve zu sehen, wobei ein Drehzylinder und ein schiefer Kreiskegel gewählt wurden.Das Ergebnis heißt aufrechter kubischer Kreis. Im Grundriss erscheint die Kurve alsKreis, bei jeder anderen Projektion als Kurve dritter Ordnung. Ein kubischer Kreisgehört zu den einfachsten nicht-ebenen algebraischen Raumkurven. Wir haben ihndaher bei den Raumkurven öfter zur Illustration gesehen.Für Interessierte: Eine mögliche Parameterdarstellung der Kurve lautet

x = r ⋅ cosu, y = r ⋅ sinu, z = h ⋅ tanu/2 (u ∈ [−π/2, π/2]),wobei r der Radius des Zylinders und h ein Streckfaktor für die Höhenkote ist.Eine Raumkurve mit noch einfacherer Parameterdarstellung ist die kubische Parabel

x = t, y = t2, z = t3

6.2 Drei Typen von Flächenpunkten 205

6.2 Drei Typen von Flächenpunkten

Wir haben im letzten Abschnitt sehr ausführlich über die Flächen zweiterOrdnung gesprochen. Das hat zwei Gründe: Zum Einen haben diese Flächen– wie wir gesehen haben – vielfach praktische Bedeutung. Der zweite Grundwird bald klar werden:

Krümmung einer ebenen Kurve

Abb. 6.32 Kurven mit „Schikanen“

Beginnen wir mit einem zweidimensionalen Vergleich und denken wir unseine beliebige krumme Kurve (ohne „Schikanen“ wie Spitzen, Knick- oderSprungstellen, vgl. Abb. 6.32) in der Zeichenebene.

Abb. 6.33 Krümmungskreise einer ebenen krummen Kurve

In jedem Punkt P dieser Kurve gibt es eine Tangente. Diese kann als „lineareAnnäherung“ an die Kurve in der Umgebung des Punkts P interpretiertwerden. Weiter gibt es in jedem Punkt einen Krümmungskreis, der die Kurveschon viel besser annähert. Man könnte sagen, es handelt sich dabei umeine quadratische Näherung. Je nachdem, auf welcher Seite der Tangente derKrümmungskreis liegt, können wir positive und negative Krümmungen derKurve unterscheiden. Je kleiner der Krümmungskreis, desto stärker ist dieKrümmung (Abb. 6.33).Eine andere Art, sich quadratisch an eine Kurve anzuschmiegen, ist in Abb. 6.34zu sehen. Diesmal wurden statt der Krümmungskreise Parabeln verwendet,die – ebenso wie die Krümmungskreise – durch drei Nachbarpunkte (und diezusätzliche Angabe der Achsenrichtung) festgelegt sind.

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Abb. 6.34 Krümmungsgleiche Parabeln einer krummen Kurve

Im Raum ist Krümmung gar nicht so leicht zu definieren!Wir versuchen nun, die Vorgangsweise in den Raum zu übertragen: Wenn P

ein Flächenpunkt ist, dann nähert die zugehörige Tangentialebene τ ∋ P dieFläche linear an. Aber was entspricht dem Krümmungskreis? Betrachten wireine beliebige Flächentangente t ∋ P . Es gibt dann unendlich viele Flächen-kurven c, die t zur Tangente besitzen. Jede einzelne dieser Kurven hat „ihren“Krümmungskreis. Nun hat Meusnier gezeigt, dass alle diese Krümmungs-kreise zum Linienelement (P, t) auf einer gemeinsamen Kugel, der Meus-nier -Kugel, liegen (Abb. 6.35). Der Mittelpunkt dieser Kugel ist gleichzeitigKrümmungsmittelpunkt für den Normalschnitt der Fläche durch t.

Abb. 6.35 Meusnier -Kugeln zu verschiedenen Tangentenrichtungen

Hauptkrümmungen

Die Existenz der Meusnier -Kugel ist natürlich beeindruckend. Was aber passiert,wenn wir t ändern? Das wurde natürlich auch schon bis ins Detail untersucht – mitdem Ergebnis, dass die Sache dann recht aufwändig wird und nicht wirklich etwasAnschauliches herauskommt. Zumindest gehen die Ergebnisse über den Rahmendieses Buchs hinaus.Das Folgende sei ohne Beweis mitgeteilt: In jedem Punkt der Fläche gibt es einegrößte und eine kleinste Meusnier -Kugel. Sie gehören zu einem Paar orthogona-ler Flächentangenten, sogenannten Krümmungstangenten. Schneiden wir die Flächemit einer Ebene, die zur Tangentialebene parallel und nur „infinitesimal“ entfernt ist(Abb. 6.36). Ihre Schnittkurve mit der Fläche ist dann lokal (in infinitesimaler Um-gebung des Flächenpunkts) von einer Ellipse, Hyperbel oder einem Parallelenpaar– im Folgenden Indikatrix genannt – nicht mehr zu unterscheiden. Die Achsen der

6.2 Drei Typen von Flächenpunkten 207

Abb. 6.36 Schnitte parallel zur Tangentialebene, Dupinsche Indikatrix

Indikatrix sind die Krümmungstangenten. Das bedeutet aber auch, dass man dieKrümmung aller Normalschnitte kennt, wenn die Indikatrix bestimmt ist – insbe-sondere genügt die Kenntnis der Krümmung längs der Krümmungstangenten. DieseEntdeckung geht auf Dupin zurück.

Abb. 6.37 Dreiachsiges Ellipsoid mit Krümmungslinien

Krümmungslinien sind jene Flächenkurven, deren sämtliche Tangenten Krümmungs-tangenten sind, die also stets der stärksten bzw. schwächsten Krümmungsrichtungfolgen.Die beiden Scharen von Krümmungslinien schneiden einander stets rechtwinklig.Betrachtet man einen Flächenpunkt und schneidet die Fläche parallel zu dessenTangentialebene τ , erhält man Ellipsen oder Hyperbeln, deren Achsen parallel zuden in τ liegenden Tangenten an die Krümmungslinien sind. Abb. 6.37 Mitte zeigtKrümmungslinien auf einem dreiachsiges Ellipsoid. Es lässt sich nachweisen, dassdie Krümmungslinien Schnittkurven mit „konfokalen“ (ebenfalls dreiachsigen) Hy-perboloiden sind (Abb. 6.37 rechts).

Abb. 6.38 Dreiachsiges Ellipsoid mit einer geschickten Triangulierung

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Abb. 6.38 Mitte und rechts zeigt Entwurf und Bauphase des Projekts „hangar8“(Volkmar Burgstaller). Ein dreiachsiges Ellipsoid wird trianguliert, indem es zu-nächst in Scheiben geschnitten wird und dann Punkte der einen Schnittlinie mitPunkten der nächstfolgenden Schnittlinie so verbunden werden, dass in etwa gleich-seitige Dreiecke entstehen. Wir wissen, dass die Betonung auf „in etwa“ liegt, dennaußer ganz speziellen Polyedern kann keine Fläche durch lauter kongruente Dreieckeangenähert werden. Abb. 10.26 zeigt übrigens die Fläche noch einmal (von innen).Abb. 6.38 links zeigt ein Parfum-Fläschchen von Guerlain (diesmal liegt ein Dre-hellipsoid vor), bei dem ein ähnliches Triangulierungsprinzip verfolgt wurde, wobeije sechs Dreiecke zu einem Sechseck zusammengefasst wurden.

Krümmungsgleiche Parabeln führen zu einem wichtigen SatzDer andere Ansatz ist wieder, statt der Krümmungskreise zu den verschie-denen Tangentenrichtungen krümmungsgleiche (oskulierende) Parabeln zuverwenden, deren Achsenrichtung die Flächennormale in P ist. Sie sollen –wie die Krümmungskreise der Normalschnitte – durch drei Nachbarpunkteauf den Normalschnitten festgelegt sein. Diesmal ist das Ergebnis – nämlichdie von allen möglichen Parabeln gebildete Fläche – einfach: Es handelt sichstets um die uns schon vertrauten Paraboloide (elliptisch oder hyperbolisch)bzw. parabolischen Zylinder!Wenn wir die Fläche mittels Parabeln quadratisch annähern, kommen wiralso immer auf die genannten drei Flächen. Die Näherung wird umso bessersein, je kleiner wir den Bereich wählen, wo der Vergleich stattfindet. Lokalgesehen gibt es somit nur drei Typen von Flächen:

Im Wesentlichen ist jede noch so komplizierte Fläche in der Umgebung eines regu-lären Punkts gleich gekrümmt wie ein elliptisches oder hyperbolisches Paraboloidbzw. im Grenzfall wie ein parabolischer Zylinder (Abb. 6.39). Der Flächenpunktheißt dementsprechend elliptisch, hyperbolisch oder parabolisch.

Abb. 6.39 Die drei verschiedenen Typen von Flächenpunkten

Paradoxerweise ist das zweischalige Hyperboloid elliptisch gekrümmt, obwohl es jedeMenge Hyperbeln trägt (Abb. 6.20). Auch der Umriss (falls reell) ist eine Hyperbel!Wenn wir nicht nur einen „mikroskopischen Ausschnitt“, sondern die gesamteFläche betrachten, wird die Sache schon wesentlich komplizierter. Jetzt sindden Variationen keine Grenzen gesetzt. Trotzdem kann man – Bezug neh-mend auf die lokalen Eigenschaften – nach wie vor von elliptisch, hyperbo-

6.2 Drei Typen von Flächenpunkten 209

lisch oder parabolisch gekrümmten Flächenteilen sprechen, denn die lokalenEigenschaften wechseln i. Allg. nicht willkürlich, sondern kontinuierlich.

Abb. 6.40 Der „Sattelpunkt“ ist jedes Mal von anderem Typus

Abb. 6.40 zeigt drei Flächen, die auf den ersten Blick einer HP-Fläche (hyper-bolisches Paraboloid) ähneln. Im vermeintlichen Sattelpunkt sind die Flächenallerdings unterschiedlich gekrümmt (links elliptisch, in der Mitte parabolischund rechts hyperbolisch). In der Umgebung des in Frage stehenden Punktshat also nur die rechte Fläche wirklich etwas mit einer HP-Fläche zu tun. Daserkennt man auch daran, dass sich die Tangentialebene in die Fläche „hin-einfleischt“, diese also durchdringt. Im Fall der mittleren Fläche gibt es aucheine Durchdringung mit der Tangentialebene, aber nicht in der unmittelbarenUmgebung des Punkts.Die exakte HP-Fläche und das einschalige Drehhyperboloid sind durchwegshyperbolisch gekrümmt, während konvexe Flächen (also Flächen, die einenKörper begrenzen, der keine Einbuchtungen oder Einschnürungen besitzt)immer elliptisch oder parabolisch gekrümmt sind.● Ein spannendes Experiment

Kann ein zweidimensionales Wesen auf einer Fläche feststellen, ob und wie stark„seine Trägerfläche“ gekrümmt ist, ohne in den 3-dimensionalen Raum auszuwei-chen?

Abb. 6.41 Der Test mit dem Kreis

Die Antwort der Mathematiker lautet: Ja! Das Wesen muss nur einen Kreis mitRadius r zeichnen (Abb. 6.41) und dessen Umfang abmessen. Ist dieser Umfang2π ⋅ r, dann lebt es auf einer parabolischen Fläche, ist der Umfang größer, dannauf einer hyperbolischen Fläche. Wesen auf elliptischen Flächen – wie wir auf derErdkugel – stellen fest, dass der Umfang kleiner als erwartet ist.

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Überprüfen wir das an einem konkreten Beispiel: Wir zeichnen auf der Erdkugelum den Nordpol einen Kreis mit einem Radius von r = 10000 km (ein Viertel desErdumfangs). Dann liegen alle Kreispunkte am Äquator. Dessen Umfang beträgt40000 km. Es ist aber 2π ⋅r ≈ 62800 km. Unsere Trägerfläche ist also stark elliptischgekrümmt. Das vermuteten wir ja schon ein paar Jahrhunderte lang (und vorhereinige kluge Köpfe der Antike, wie Eratosthenes vor mehr als 2200 Jahren, der schonrecht genau den Erdumfang kannte). Der „Beweis“ für die Hartnäckigsten konnteaber erst im Raketenzeitalter nachgeliefert werden.Das Experiment hat eine spannende Zusatz-Komponente: Die Mathematiker kön-nen beweisen, dass alles auch eine Dimension höher funktioniert. Wir können alsofeststellen, ob unser Raum gekrümmt ist, ohne in die vierte Dimension ausweichenzu müssen. Es ist nur nicht so einfach. So wie es derzeit aussieht, ist unser Raum glo-bal wenig gekrümmt. Lokal hat er jede Menge Dellen in der Umgebung der großenMassen (schwarzen Löcher). ◾

● LichtkantenAbb. 6.42 zeigt zwei Schiebflächen, die sich nur wenig unterscheiden: Im rech-ten Bild wird eine kubische Parabel längs einer zweiten kubischen Parabelverschoben. Die Fläche ist überall, auch an der kritischen „Mittellinie“ (beimFarbwechsel) krümmungsstetig. Links wird die parallel verschobene kubischeParabel durch zwei gewöhnliche Parabeln angenähert, die in ihrem Scheitelkeinen krümmungsstetigen Übergang haben. Ein Laie muss öfter hinsehen,um zu erkennen, dass im Gegensatz zum rechten Bild an der MittellinieKnickstellen bei der Schattierung auftreten. Und doch spielen solche Fein-heiten in Anwendungen eine große Rolle: Im Karosseriebau sind Lichtkantenmeist unerwünscht, und Karosserieteile sind wegen der stark reflektierendenLackierung optisch sehr sensibel auf solche Stellen.

Abb. 6.42 Krümmungssprung. . . Abb. 6.43 . . . oder nicht?

Abb. 6.43 zeigt zwei Drehflächen, bei denen zwei unterschiedlich gekrümmteMeridiankreise zusammengesetzt sind. Der Übergang passiert links an ei-ner allgemeinen Stelle, rechts genau an jener Stelle, wo die Kreistangentenhorizontal sind. Bei der ersten Fläche treffen elliptische und hyperbolischePunkte unvermittelt aufeinander. Bei der rechten Fläche berührt die horizon-tale Tangentialebene beide Teilflächen längs des gesamten Schichtenkreises.

6.2 Drei Typen von Flächenpunkten 211

Seine Punkte sind – für beide Teilflächen – parabolisch. Deswegen ist derKrümmungssprung – im Gegensatz zum Bild links – nicht als „Lichtkante“wahrnehmbar.

Abb. 6.44 Die Reflexion des Lichts zeigt die Delle im Fliegenauge

Abb. 4.40 links zeigt eine Kugelkappe, die an einen Drehzylinder grenzt. Hier trittnicht nur eine Kante auf, das Licht verhält sich in der Reflexion völlig anders! ◾

Liegen auf einer Fläche ausschließlich parabolische Punkte, dann ist die Flä-che nicht doppelt, sondern nur einfach gekrümmt. Es gibt wenige Flächen-klassen mit dieser Eigenschaft, und doch spielen sie eine wichtige Rolle in derPraxis: Es sind die abwickelbaren Flächen, zu denen die Zylinder und Kegelgehören (siehe auch Kapitel 5). Sie können vergleichsweise leicht hergestelltwerden, indem man ihren „Zuschnitt“ ohne Dehnung oder Stauchung verbiegt(Abb. 6.45 links).

Abb. 6.45 Abwickelbare Fläche: Möbiusband (rechts: Herstellungsanleitung)

Abwickelbare Flächen erkennt man optisch sofort daran, dass ihr Umrissaus jeder Blickrichtung ausschließlich aus geradlinigen Teilen besteht – mandenke an die Umrisserzeugenden von Kegeln und Zylindern (Randkurvenzählen nicht zum Umriss, sondern nur jene Flächenkurven, längs derer dieTangentialebenen projizierend erscheinen). Als weniger bekannte Beispieleseien die im Straßenbau auftretenden Böschungstorsen, das Oloid (Abb. 6.47)und das Möbiusband (Abb. 6.45) genannt.

212 6 Prototypen

Abb. 6.46 Abwickelbare Oberflächen aus verschiedenen Ansichten

● Umwälzbarkeit mit praktischen KonsequenzenDas Oloid (vgl. auch Abb. 5.50 und 6.82), erfunden vom Schweizer IngenieurPaul Schatz, ist eine jener abwickelbaren Flächen, die durchaus praktischeVerwendung haben. Es lässt sich auf einer Tischplatte schaukelnd dahinrol-len, was ihm den lautmalerischen englischen Namen „Wobbler“ eingetragenhat (Abb. 6.47 rechts).

Abb. 6.47 Links, Mitte: Umwälzung des Oloids nach Paul Schatz (www.oloid.ch). Rechts: Ab-wicklung nach Stachel/Dirnböck (www.geometrie.tuwien.ac.at/stachel).

Als eine Konsequenz davon kann man es auf ungewöhnliche Weise umwälzen(Abb. 6.47). Wenn man die Umwälzung im Wasser betreibt, entstehen be-merkenswert weit ausstrahlende Strömungen, die man sich zunutze machenkann, um z.B. Abwässer aufzubereiten. ◾

6.3 Drehflächen 213

6.3 Drehflächen

Flächen, die rotationssymmetrisch sind, spielen in Natur und Technik einewichtige Rolle.

Eine Drehfläche entsteht durch Rotation einer beliebigen Kurve um eine festeAchse. Liegt die erzeugende Kurve in einer Ebene durch die Achse (Meridianebe-ne), heißt sie Meridian der Fläche.

Abb. 6.48 Drehfläche in Theorie und Natur

Jeder Punkt der erzeugenden Kurve erzeugt bei Rotation einen Breiten-kreis (manchmal auch Schichtenkreis oder Parallelkreis genannt) der Flä-che. Wenn die Kurve nicht in der Meridianebene liegt, kann man den axial-symmetrischen Meridian ermitteln, indem man alle Breitenkreise mit einerfesten Meridianebene schneidet.

Abb. 6.49 Drehfläche mit Meridianen und Breitenkreisen (schräge Achse)

Hat der Meridian eine zur Drehachse parallele Tangente, entsteht bei Ro-tation des zugehörigen Punkts ein Kreis mit lokal minimalem bzw. maxi-malem Radius. Solche Kreise nennt man Kehlkreise bzw. Gürtelkreise (auchÄquatorkreise). Randkreise sind i. Allg. natürlich keine solchen Kreise. Istdie Meridiantangente rechtwinklig zur Achse, entsteht ein Plattkreis (auchFlachkreis).Bei Rotation der Meridiantangente überstreicht diese i. Allg. einen Drehkegel mitScheitel auf der Drehachse. So gesehen wird die Fläche auch von ihrer Berührkegel-

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schar eingehüllt. Die Fläche kann aber auch als Hüllfläche all jener Kugeln inter-pretiert werden, deren Mitten auf der Achse liegen, und die den Meridian berühren(Abb. 6.48 rechts).

Abb. 6.50 Zwei Kurvenscharen auf einer Drehfläche

Drehflächen verkraften jede Drehung um die Achse und Spiegelungen aneiner beliebigen Meridianebene. Ist die erzeugende Kurve keine ebene Kur-ve (Abb. 6.50), dann ist neben dieser Kurve auch eine an einer beliebigenMeridianebene gespiegelte Kurve „erzeugend“. (Jede beliebige Kurve auf derDrehfläche erzeugt wenigstens einen Teil der Drehfläche.)

● Vase mit Ellipse als AbschlussDie in Abb. 6.51 abgebildete Vase entsteht im unteren Bereich durch Rotationeiner Sinuslinie. Im oberen Bereich ist sie so gestaltet, dass ihr Abschluss einezur Achse geneigte Ellipse ist.

Abb. 6.51 Vase mit Ellipse als schrägem Abschluss

Es stellt sich nun die Frage, welche Drehfläche diesen einfachen Schrägschnitterlaubt. Es muss sich lokal um eine Drehfläche zweiter Ordnung handeln! Imkonkreten Fall ist die Fläche hyperbolisch gekrümmt, und die Fläche ist imoberen Teil ein Drehyperboloid – im Bereich des Schrägschnitts schon beinaheein Drehkegel. ◾

● Verzerrtes WeinfassEine wohl bekannte Drehfläche ist das Weinfass. Es war schon so mancher

6.3 Drehflächen 215

Ausgangspunkt wichtiger Berechnungen. Unter anderem hat Kepler an die-sem Beispiel die nach ihm benannte und in der Mathematik sehr wichtige„Fassregel“ entwickelt.

Abb. 6.52 Affin verzerrte Drehflächen (links: Original)

Abb. 6.52 zeigt links ein „Aushängeschild“ einer Gaststube: Das Weinfassist affin verzerrt. Das merkt der Wanderer aber erst, wenn er dem Objektrelativ nahe gekommen ist – und es daher von der Seite betrachten kann.Das rechte Bild zeigt dasselbe Foto, diesmal einfach – planimetrisch – in dieBreite gestreckt. Dadurch entsteht wieder der Eindruck einer Drehfläche. ◾

Abb. 6.53 Umriss einer Drehfläche in Natur und Technik

Abb. 6.54 Unterbrochene Flächenumrisse in Natur (Feuerlilie) und Computergrafik

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Der Torus ist häufigster Baustein höherer Ordnung

Eine Kugel entsteht durch Rotation eines Kreises um einen beliebigen Durch-messer. Verschiebt man die Rotationsachse innerhalb der Kreisebene in eineallgemeine Lage, so entsteht bei der Rotation eine schon wesentlich kompli-ziertere Fläche. Sie wird Ringfläche oder Torus genannt, und ist, wie mannachrechnen kann, eine algebraische Fläche von 4. Ordnung. Geometrischist dies auch so einzusehen, dass in jeder Meridianebene ein Kreispaar liegt(Abb. 6.55), das von einer Testgeraden in maximal vier Punkten geschnittenwird.

Abb. 6.55 Torus als Drehfläche: Ein Kreis rotiert um eine Gerade in seiner Trägerebene.

Dieselbe Fläche entsteht auch, wenn eine Kugel rotiert, für welche der Kreisin der Meridianebene Großkreis ist. Man kann also in einem Torus eine Kugel„herumrollen“ lassen oder herumschieben, was viele praktische Anwendungennach sich zieht.

Abb. 6.56 Torus als Hüllfläche von Kugeln

Ein Torus ist eine Drehfläche vierter Ordnung, die durch Rotation einer Kugelbzw. eines Kreises um eine in seiner Ebene gelegene Achse entsteht, die denMittelpunkt nicht enthält.

Der Außenring eines Torus besteht aus elliptischen Punkten, der Innenringaus hyperbolischen. Die „Plattkreise“, auf denen man den Torus auf eine

6.3 Drehflächen 217

Ebene legen kann, tragen parabolische Punkte; jeder solche Kreis befindetsich zur Gänze in der Tangentialebene jedes solchen Punkts.

Abb. 6.57 Torusketten: Jedes Glied besteht aus halben Ringflächen, die zylindrisch verbundensind.

Eine klassische Stahlkette (Abb. 6.57) besteht aus Gliedern, die aus zweihalben Ringflächen bestehen, die durch Drehzylinder verbunden sind. DerRadius des den Torus erzeugenden Kreises ist dabei knapp kleiner als derKehlkreisradius.

Abb. 6.58 Torusteil und affin verzerrte Tori

Lässt man nur Teile des erzeugenden Kreises (Meridiankreises) rotieren, ent-stehen offene Drehflächen, die geometrisch aber immer noch als Torus be-zeichnet werden. Dasselbe gilt, wenn zwar der gesamte Kreis der Drehungunterworfen wird, aber nicht 360○ gedreht wird (Abb. 6.58 links).

Abb. 6.59 Licht am Ende des torusförmigen Tunnels

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Abb. 6.59 zeigt die perspektivische Innenansicht eines Torus – eine Heraus-forderung an die Lichtempfindlichkeit des Films und die Nerven der „Teil-nehmer“.

Abb. 6.60 Eine von beiden Flächen ist kein Torus

Abb. 6.60 zeigt zwei Flächen, die sehr eng mit einem Torus verknüpft sind.Genauer: Die linke Fläche ist ein Halbtorus bzw. wird von Flächenstückenbegrenzt, die einem Halbtorus angehören. Die rechte Fläche entsteht ganzähnlich wie ein Torus, allerdings wird der Meridiankreis kontinuierlich kleiner.Diese Fläche ist daher keine Drehfläche.

Abb. 6.61 Andere Varianten. . .

Abb. 6.61 zeigt andere Variationen. Das linke Bild ist eine Computergrafik.Wollte man einen doppelt gekrümmten Torus mit einer Schleife modellieren,hätte man natürlich immer nur eine Approximation, weil die Fläche, die vonder Schleife gebildet wird, nur einfach gekrümmt ist. Das rechte Modell gehtauf M.C. Escher zurück und wird – nicht ganz korrekt – als „Escher-Torus“bezeichnet.

Nichttriviale Schnitte des TorusAlgebraisch gesehen ist der Torus eine Fläche vierter Ordnung. Jede Schnitt-kurve ist daher i. Allg. eine ebene Kurve vierter Ordnung. Unter ihnen be-finden sich die sogenannten Cassinischen Kurven, die entstehen, wenn derSchnitt parallel zur Rotationsachse geführt wird. Diese Kurven sind uns schonuntergekommen (Abb. 1.31, Abb. 6.62 rechts). Enthält die Schnittebene dieAchse, dann zerfällt die Kurve in zwei Kreise.Es gibt noch andere Stellungen der Schnittebene, bei der die Schnittkurve in zweiKreise zerfällt: Jede Ebene rechtwinklig zur Achse erzeugt zwei konzentrische Schnitt-

6.3 Drehflächen 219

Abb. 6.62 Torusschnitte parallel zur Achse

kreise, die bei den „Plattkreisebenen“ (auf diesen kann der Torus aufliegen) zusam-menfallen.

Abb. 6.63 Villarceau-Kreise in Theorie, Holzmodell und Kunst (Benno Artmann)

Es gibt sogar einen keineswegs trivialen Fall, bei dem die Schnittkurve in Krei-se zerfällt. Die Ebene muss dabei ein zur Achse symmetrisches Meridiankreispaarin hyperbolischen Flächenpunkten berühren. Nun haben wir den Fall, dass zweiSchnittflächen (der Torus und die Ebene) eine Kurve vierter Ordnung gemeinsamhaben, die – wegen der zweifachen Berührung – zwei Doppelpunkte haben muss.Dies ist aber nur bei einem Zerfall der Kurve möglich. Hier müssen es Kreise sein,in welche die Kurve zerfällt, bei einer anderen Fläche vierter Ordnung könnten esbeliebige Kegelschnitte sein.

Abb. 6.64 Villarceau-Kreise als Hüllkurven

220 6 Prototypen

Allerdings handelt es sich bei den beiden Kegelschnitten (Abb. 6.64) um Hüllkurvenjener Kreisschar, die von jenen Kugeln ausgeschnitten werden, die den Torus erzeu-gen. Folglich müssen die Hüllkurven zirkular sein (durch die absoluten Kreispunkteder Schnittebene gehen, vgl. S. 157). Diese bemerkenswerte Entdeckung stammtvom französischen Geometer Villarceau.

Abb. 6.65 Loxodromen auf Ringflächen

Villarceau entdeckte noch mehr: Die nach ihm benannten Kreise schneiden alleMeridiankreise – und damit auch alle Schichtenkreise – unter gleichem Winkel.Eine solche Kurve nennt man eine Loxodrome der Fläche.

Abb. 6.66 Kugelloxodromen mit verschiedenen Kurswinkeln

Der Kurswinkel dieser Loxodrome ist natürlich ein ganz spezieller. Wenn man denWinkel nur geringfügig ändert, bleibt die Kurve nicht mehr in einer Ebene. Siewird in den meisten Fällen auch keine geschlossene Kurve mehr bleiben, sondernsich „in alle Ewigkeit“ um den Torus winden, ohne wieder an den Ausgangspunktzu gelangen. Für spezielle Winkel sind die Kurven aber geschlossen (Abb. 6.65)– und dann auch algebraisch, das heißt, sie sind durch algebraische Gleichungenbeschreibbar.Die Kugel ist – wenn man so will – auch ein spezieller Torus. Der Mittenkreisist bei ihr auf einen Punkt zusammengeschrumpft. Loxodromen auf Kugeln falleninteressanterweise nie algebraisch aus. Bei den Kugelloxodromen handelt es sichum spiralförmige Kurven, die sich um die Pole wickeln. Wenn ein Schiff konstantenKurswinkel zur Nordrichtung einschlägt, fährt es entlang einer solcher Loxodrome!In tropischen Breiten ist dies eine nicht unvernünftige Strategie, um ohne großenNavigationsaufwand relativ schnell von A nach B zu kommen. Spätestens in derUmgebung des Pols wird der Kapitän seine Strategie ändern müssen. . .

6.4 Der Torus als Prototyp für alle anderen Drehflächen 221

6.4 Der Torus als Prototyp für alle anderenDrehflächen

Die Bedeutung des Torus in der Geometrie besteht unter anderem auch darin,dass man jede Drehfläche durch eine Folge von Torusteilen annähern kann.Dies ist eine direkte Folge der Tatsache, dass man jede ebene Kurve durcheine Folge von Krümmungskreisen annähern kann (Kurven, die durch an-einander Hängen von Kreisen entstehen, heißen Korbbögen). Man kann alsosagen:

Lokal gesehen ist jede beliebige Drehfläche so gekrümmt wie ihr „oskulierenderTorus“.

Manche Drehflächen in der Architektur sind ohnehin Teile eines Torus, auchwenn man es ihnen nicht sofort ansieht. Die Kuppel der Ibn-Toulun-Moscheein Kairo (erbaut im 8. Jh.) ist Teil eines sogenannten Spindeltorus, weil derMeridiankreis die Drehachse schneidet (Abb. 6.67 links, Abb. 6.68).

Abb. 6.67 Spindeltorus in der Architektur und Natur

Abb. 6.68 Spindeltorus als Ornament in einer antiken Mauer

Auch in der Natur sind nicht selten Innenteile eines Torus zu finden (Abb. 6.67rechts), wobei wir großzügig genug sein wollen und nur von der „Grundform“sprechen. So gesehen könnte auch der unter Druck aus einer Düse austre-

222 6 Prototypen

tende Wasserstrahl in Abb. 6.69 in der Anfangsphase recht gut durch einenSpindeltorus angenähert werden.

Abb. 6.69 Ein Wasserstrahl beim Austritt aus einer Düse

● Von Kontaktlinsen und Stabsichtigkeit

Träger von Kontaktlinsen (oder Brillen) haben sicher des Öfteren von ihrem Augen-arzt oder Optiker Worte wie „sphärisch“ oder „torisch“ gehört. Die Oberflächen vonsphärischen Linsen (Gläsern) sind einfach Kugelkappen mit leicht unterschiedlichemRadius. Dadurch wird der Brennpunkt des Linsensystems versetzt (bei „Einstellungauf Unendlich“ sollte der Brennpunkt genau auf der Netzhaut liegen). Bei sphäri-schen Linsen spielt es keine Rolle, wie sie (durch Adhäsion) am Auge haften: DieKugel hat in jeder Tangentenrichtung gleiche Krümmung.Wie das optische System im Auge wirklich funktioniert, ist erstens relativ komplexund zweitens anders, als die meisten glauben. Die eigentliche Brechung geschiehtnämlich an der Hornhaut, während die Linse im Auginneren nur noch für die Fein-korrektur zuständig ist. Mehr darüber in Anwendung S. 329.

Abb. 6.70 Kontaktlinsen

Noch komplizierter wird die Sache, wenn man zusätzlich Astigmatismus (Stabsich-tigkeit) hat. Nun sind die Hauptkrümmungen der Hornhaut – oder manchmal auchder Linse im Auge selbst – unterschiedlich. Dadurch werden Punkte auf der Netz-haut „stabförmig“ abgebildet. Die Korrekturlinse hat dann Oberflächen in der Formvon Toruskappen. Die Achse des Torus ist zu allem Überfluss nicht selten verdreht,so dass es eine Unzahl von verschiedenen torischen Linsen gibt, während die Anzahlder sphärischen Linsen (bei Abstufung in Viertel-Dioptrien) beschränkt und nichtselten beim Optiker lagernd sind.

6.4 Der Torus als Prototyp für alle anderen Drehflächen 223

Harte sphärische Kontaktlinsen können allerdings Astigmatismus bis zu einem ge-wissen Grad alleine dadurch ausgleichen, dass sich kleinere Hohlräume zwischen derLinse und dem Auge mit Tränenflüssigkeit füllen, und diese hat fast den gleichenBrechungsindex wie die Hornhaut. Die Flüssigkeit ergänzt damit die Hornhaut zueiner Kugel (Abb. 6.70 links). Weiche Linsen hingegen passen sich der Torus-Formder Hornhaut an. ◾

Spitzen im UmrissTorusteile – und damit viele Drehflächen – neigen dazu, bei Projektion Um-rissspitzen zu entwickeln. Abb. 6.71 zeigt verschiedene Ansichten – bei denmeisten treten Spitzen auf. Bei einer Normalprojektion rechtwinklig zur Ach-se (Abb. 6.71 links oben, auch näherungsweise beim Foto der Anemone 6.72)zerfällt die Kontur in zwei Kreise und die projizierenden Plattkreise. In Ach-senrichtung bilden Gürtelkreis und Kehlkreis die Kontur (Abb. 6.71 rechts).

Abb. 6.71 Umrissspitzen beim Umriss eines Torus

Abb. 6.72 Vierteltorus bei einer Anemone

Abb. 6.73 Wie die Umrissspitzen entstehen: Injedem Punkt K der Konturlinie k geht die zuge-hörige Tangentialebene τ durch das Zentrum Z.Wenn die Tangente s von k durch Z geht, liegteine Spitze S vor.

Die zugehörige Kontur im Raum ist eine ganz normale Flächenkurve k (beim Toruswie in Abb. 6.73 aus zwei Ästen bestehend), die keine Spitzen aufweist. In jedemPunkt K von k geht die zugehörige Tangentialebene τ , aufgespannt durch die Tan-gente t an k und den zugehörigen Projektionsstrahl, durch das Projektionszentrum.Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Tangente an k in einem Punkt S di-rekt durch das Projektionszentrum Z geht, gar nicht so gering. Genau dann ist dieKurve lokal gesehen „projizierend“, und ihr Riss hat eine Spitze. Die Konturliniek in Abb. 6.73 ist in manchen Bereichen „getreppt“; das hat mit der Tatsache zu

224 6 Prototypen

tun, dass der Torus trianguliert ist und die Konturkanten des Näherungspolyederseingezeichnet sind. In der Projektion aus Z sind diese Treppen nicht zu sehen.

Abb. 6.74 Umriss von Torus, Hyperboloid, Kettenfläche. Beim Hyperboloid gibt es niemals Um-rissspitzen, beim Innenteil des Torus sehr häufig.

Abb. 6.74 illustriert, wie die Normalrisse dreier optisch sehr ähnlicher Dreh-flächen selbst bei gleicher Projektionsrichtung Spitzen haben können oderauch nicht. Die Kettenfläche (auch Katenoid genannt) entsteht übrigensdurch Rotation einer Kettenlinie (Abb. 5.25). Der Umriss des Hyperbolo-ids ist immer eine Hyperbel (Abb. 6.74 Mitte), weshalb bei dieser Flächeniemals Umrissspitzen auftreten können.

Abb. 6.75 Coop Himmelb(l)au: Großes Ägyptisches Museum Kairo

Die Frage, welche Fläche in Abb. 6.75 vorliegt, kann also nach diesem Gesichts-punkt erfolgen. Es handelt sich um ein Hyperboloid, das allerdings zur Decke hinseine Gestalt in Richtung Torus ändert.Abb. 6.76 zeigt die Umrissspitzen bei allgemeinen Drehflächen. Rechts ist der Me-ridian recht gut zu erkennen; dort treten keine Spitzen auf. In den beiden anderenBildern ist die eine Spitze zu finden (siehe dazu auch den Anhang über das Frei-handzeichnen).

Durchdringung von DrehflächenBei der Glockenblume in Abb. 6.76 treten bei den Blütenblättern Randkur-ven auf, die in der Projektion in Achsenrichtung ziemlich genau Kreisbö-

6.4 Der Torus als Prototyp für alle anderen Drehflächen 225

Abb. 6.76 Umrissspitzen bei Drehflächen (links und Mitte)

gen sind. Man könnte also sagen: Die Randkurven der Blätter entstehen alsDurchdringungskurven der Drehfläche mit Drehzylindern. Das ist keineswegsübertrieben ausgedrückt. Ein Designer am Computer kann die Fläche bzw.Kurve so relativ rasch modellieren!Im Maschinenbau treten besonders häufig Durchdringungskurven von Dreh-flächen auf. Häufig schneiden einander dabei die Achsen der Drehflächen, undfür diesen Spezialfall hat bereits Gaspard Monge ein Verfahren angegeben,das mit einem einfachen Trick schnell zum Ziel führt.

Abb. 6.77 Prinzip: Variation der Mongeschen Hilfskugel. . .

Wenn man um den Schnittpunkt der Achsen eine Hilfskugel legt, dann wirddiese beide Flächen jeweils nach Kreisen schneiden (Abb. 6.77). Punkte derSchnittkurve der beiden Drehflächen sind dann die Schnittpunkte dieser Krei-se.Projiziert man die Flächen normal auf die von den beiden Drehachsen aufge-spannte Ebene, dann sind sämtliche Schnittkreise mit der Mongeschen Ku-gel projizierend, das heißt, sie erscheinen als Strecken. Damit hat man aberunmittelbar ihre Schnittpunkte gegeben. Variiert man nun die Größe derHilfskugel, kommt man zu beliebig vielen Punkten der Schnittkurve.Eine Anmerkung für Fortgeschrittene: Auch wenn einander die Kreise auf der Mon-geschen Hilfskugel nicht mehr reell schneiden, haben sie doch immer konjugiertkomplexe Schnittpunkte gemeinsam. Ihre reelle Verbindungsgerade ist nach wie vor

226 6 Prototypen

Abb. 6.78 . . . bei Normalprojektion auf die Verbindungsebene der Achsen

die Schnittgerade der beiden Trägerebenen der Kreise auf der Kugel. Man kannzeigen, dass die Normalprojektion der Schnittkurve in der „Verlängerung“ durchden Riss jeder solchen Schnittgerade geht. Solche Punkte nennt man „parasitischePunkte“.● Reverse Engineering

Denken wir noch einmal an die Glockenblume von vorhin: Die Kunst ist es, beischeinbar allgemeinen Flächen jene Flächenteile zu finden, die einer bekannten Flä-chenklasse wie den Drehflächen angehören. In der Computergeometrie gibt es dafürden eigenen Begriff Reverse Engineering. Speziell entwickelte Programme untersu-chen digitalisierte (von 3D-Scannern erfasste) Objekte und versuchen, diese in Teilezu zerlegen, welche z.B. Drehflächen oder abwickelbare Flächen sind.

Abb. 6.79 Drehfläche (im oberen Bereich ein Drehellipsoid)

Dies kann in der Praxis von großem Vorteil sein. Denken Sie etwa an ein von einemgenialen Architekten erstelltes Modell mit vielen krummen Flächen. Wenn diesesProjekt verwirklicht werden soll, lassen sich die Baukosten enorm reduzieren, wennman die Flächen ohne substantielle Änderung im Design auf gewisse Standardflä-chen zurückführen kann.Abb. 6.79 zeigt den Kalkpanzer eines Seeigels, im Prinzip eine allgemeine Drehflä-che. Beim zweiten Hinsehen erscheint der gesamte obere Teil als Drehellipsoid, wasder Schatten bestätigt. Beim unteren Teil handelt es sich um einen affin verzerrtenTorus, was man als Laie beim Anblick von Abb. 6.80 nicht auf Anhieb erkennt.Mit einiger Übung erkennt man in Abb. 6.81 links ebene Torusschnitte und rechtstorusförmige Rillen.

6.4 Der Torus als Prototyp für alle anderen Drehflächen 227

Abb. 6.80 Innenbereich der obigen Drehfläche (Teil eines affin verzerrten Torus)

Abb. 6.81 Ebene Torusschnitte, torusförmige Rillen in einer Halbkugel

Reverse Engineering versucht nun, Methoden zu finden, die es dem „dummen aberschnellen“ Computer ermöglichen, Sachverhalte zu erkennen bzw. zu beweisen, diewir unter Umständen mit freiem Auge gar nicht so leicht erkennen können. Dazuwird viel geometrische Theorie eingesetzt:

● Gaußsches Normalenbild

Man kann den Punkten einer Fläche Punkte auf einer Kugel zuordnen, indem mandie zugehörigen Flächennormalen durch den Mittelpunkt der Einheitskugel parallelverschiebt und mit dieser schneidet. I. Allg. verteilen sich die zugeordneten Punkteflächendeckend auf der Kugel.Ist die Ausgangsfläche abwickelbar, dann wird sie längs jeder Erzeugenden von ein-und derselben Tangentialebene mit fester Normalenrichtung berührt. Dadurch re-duziert sich das Normalenbild auf eine Kurve auf der Kugel, nämlich das sphärischeBinormalenbild der Gratlinie der Fläche. Abb. 6.82 zeigt das Normalenbild einesOloids (blau). Die Kurve könnte man als „Tennisballkurve“ bezeichnen. Sie teiltdie Kugel exakt in zwei kongruente Hälften und besitzt kongruenten Grund- undAufriss bzgl. ihrer Symmetrieebenen.Verschiebt man alle Erzeugenden der Fläche durch den Kugelmittelpunkt, erhältman das sphärische Erzeugendenbild . Im Fall des Oloids ist dies (rot eingetragen)eine Kurve mit vier Spitzen, die ebenfalls einen hohen Symmetriegrad aufweist.Diese Kurve ist das sphärische Tangentenbild der Gratlinie der Fläche.Zuletzt kann man noch das sphärische Hauptnormalenbild der Gratlinie betrachten,das grün eingetragen ist. ◾

● Automatisiertes Erkennen von Zylindern, Kegeln und Torsen

Das sphärische Bild einer Fläche ist nicht nur theoretisch interessant, sondern wird

228 6 Prototypen

Abb. 6.82 Sphärisches Tangenten-, Normalen- und Binormalenbild beim Oloid

beim Reverse Engineering eingesetzt: Um festzustellen, ob eine Fläche abwickelbarist, kann man sie mit einem 3D-Scanner einscannen. Dabei ergibt sich eine „Punkt-wolke“, die natürlich aufgrund von Messungenauigkeiten „verrauscht“ ist. Nun in-terpoliert man die Flächennormalen der Wolke und verschiebt diese durch den Mit-telpunkt einer Testkugel. Je genauer sich dieses sphärische Bild der Fläche in derNähe einer Kurve konzentriert, desto mehr erhärtet sich der Verdacht, dass dieFläche abwickelbar ist.

Abb. 6.83 Rekonstruktion eines Schneckenhauses nach Boris Odehnal u.A.: Das Gebilde ist imWesentlichen eine Spiralfläche (siehe nächstes Kapitel), die man mittels einer großen Anzahl vonvermessenen Punkten „idealisieren“ kann. Vergleicht man das perfekte Gebilde mit dem tatsächli-chen, erkennt man im konkreten Fall, dass die Schnecke ihre Strategie beim Hausbau in der letztenPhase ändert.

Auf diese Weise erkennt der Computer auch leicht allgemeine Zylinder: Ihr sphäri-sches Normalenbild ist ein Großkreis der Kugel, dessen Achsenrichtung die Erzeu-gendenrichtung des Zylinders ist.Das sphärische Normalenbild eines Drehkegels ist ein Kleinkreis der Testkugel. ◾

6.5 Rohr- und Kanalflächen 229

6.5 Rohr- und Kanalflächen

Wie man eine neue Flächenklasse erfinden kann. . .Eine bemerkenswerte Fläche stellt sich ein, wenn man den Torus an einerKugel invertiert, welche in der Mittenkreisebene des Torus ihren Mittelpunkthat (Abb. 6.84).

Abb. 6.84 Inversion eines Torus an einer Kugel

Die Inversion im Raum ist „kugeltreu“ und, wie die ebene Version, kreistreu.Die entstehende Fläche – sie heißt Dupinsche Zyklide – wurde vom franzö-sischen Geometer Charles Dupin untersucht und erbt vom Torus eine Viel-zahl schöner Eigenschaften. Algebraisch gesehen ist sie bemerkenswerterweiseebenfalls von vierter Ordnung.

Abb. 6.85 Dupinsche Zyklide (Ringzyklide)

Dupinsche Zykliden besitzen – wie der Torus – zwei Plattkreisebenen und tragenzwei Scharen von Kreisen, die den Breitenkreisen und den Meridiankreisen ent-sprechen. Weiters liegen beim Torus je zwei Villarceau-Kreise in einer den Torusdoppelt berührenden Ebene. Bei Inversion geht diese Ebene in eine Kugel über,die Villarceau-Kreise wieder in Kreise auf der Zyklide, die auf dieser Kugel liegenmüssen – und damit nicht mehr in einer Ebene liegen (E. Hartmann).

Solche Flächen sind natürlich keine Drehflächen mehr. Sie haben dennochetwas mit den Drehflächen gemeinsam, weil sie durch (sogar zwei) Scharenvon Kugeln mit ständig variierendem Radius als Hüllfläche erzeugt werdenkönnen. Bei den Drehflächen sind die Kugeln auf der Drehachse zentriert

230 6 Prototypen

(Abb. 6.86), bei den Dupinschen Zykliden auf der Mittelellipse und Mit-tenhyperbel bzw. den beiden Mittenparabeln. Flächen, die von Kugeln mitvariablem Radius eingehüllt werden, heißen Kanalflächen.Der Torus kann insbesondere noch von Kugeln mit festem Radius erzeugtwerden. Solche Flächen heißen Rohrflächen.Natürlich ist jede Rohrfläche automatisch Kanalfläche. Der Torus ist damitauf zweifache Art Kanalfläche : Einmal als Drehfläche (Kugelmitten auf derAchse), das zweite Mal als Rohrfläche (Kugelmitten auf dem Mittenkreis).

Abb. 6.86 Jede Drehfläche ist trivialerweise auch eine Kanalfläche

Abb. 6.87 Dupinsche Zyklide als Einhüllende einer Schar von Kugeln, deren Äquatorkreise zweigegebene Kreise in einer Ebene berühren.

Dass die Mittenkurven einer Dupinschen Zyklide Kegelschnitte sind, könnenwir übrigens sofort nachvollziehen: Eine Ellipse bzw. Hyperbel ist nämlichder Ort aller Kreismittelpunkte, die zwei gegebene Kreise berühren (s. S.154).Somit kann man jede Dupinsche Zyklide auf zweifache Art als Einhüllendealler Kugeln definieren: die Mitten der Kugeln liegen in einer Ebene und dieKugeln berühren dort zwei Kreise (Abb. 6.87).Lässt man auch zu, dass einander die Angabekreise berühren bzw. schneiden,kann man drei verschiedene Typen unterscheiden: Neben dem ringförmigen

6.5 Rohr- und Kanalflächen 231

Abb. 6.88 Dupinsche Zykliden („Einhorn“ und zwei „Zweihörner“)

erhält man den „einhörnigen“ und den „zweihörnigen“ Typ (Abb. 6.85 undAbb. 6.88).

Abb. 6.89 Michael Schrott hat in Abb. 6.89 Teile solcher Zweihörner zu einer Kette aufgefädelt,die sich innerhalb eines Torus befindet.

Rohrflächen und AusrundungsflächenRohrflächen entstehen durch Bewegung einer Kugel längs einer Mittellinie.Abb. 6.90 zeigt, wie solche Flächen von der Gestalt der Mittellinie und demRadius der bewegten Kugel abhängen. Zwei nahe beisammen liegende Lagender Kugel haben einen Kreis gemeinsam. Er liegt in der Normalebene derVerbindungsgerade der beiden Mittelpunkte. Lassen wir die beiden Kugella-gen zusammenrücken, wird aus der Verbindungsgerade die Tangente an dieMittellinie und aus dem Kreis ein Großkreis der Kugel.

Abb. 6.90 Rohrflächen als Hüllfläche einer bewegten Kugel

232 6 Prototypen

Abb. 6.91 Rohrflächen in der Kunst: Klangwelten von Bernhard Leitner

Abb. 6.92 Rohrflächen in der Natur: Tausendfüßer und eine Annäherung durch eine Rohrfläche.

Bewegt man einen Kreis entlang einer Kurve zentriert so, dass seine Achse Tan-gente der Kurve ist, überstreicht er dieselbe Rohrfläche wie eine konzentrischeKugel mit gleichem Radius.

6.5 Rohr- und Kanalflächen 233

Rohrflächen sind in Natur und Technik häufig zu finden (Abb. 6.92), weilsie flexibel gebaut werden können, wenn man den Radius des erzeugendenKreises klein hält.Abb. 6.91 zeigt einen organisch geführten Schlauch, durch den Schall geleitet wird.An 40 Stellen wurden Öffnungen angebracht, die als Klangquellen fungieren. Je nachProgrammierung werden Krümmungen betont, kontrapunktiert oder in fugenartigeAbläufe verwandelt.

● AusrundungsflächenRohrflächen sind gut geeignet, um ebene oder zylindrische Seitenflächen vonWerkstücken gegen eine Ebene auszurunden: Man rollt eine Kugel mit gege-benem Durchmesser entlang der Ebene so, dass sie das Werkstück berührt.Der relevante Teil der Hüllfläche der Kugel ist die gesuchte Rundungsfläche.

Abb. 6.93 Ausrundungsflächen in Theorie und Praxis

Abb. 6.93 zeigt die weitaus häufigsten Fälle: Eine Abrundung zu einer ebenenFläche ergibt einen Teil eines Drehzylinders, eine Abrundung zu einem Dreh-zylinder einen Teil eines Torus. Im Bild rechts sieht man, wie mehrere Torizusammenstoßen. Bei der Anemone in Abb. 6.72 geht der drehzylindrischeSchaft wie bei einer klassischen Ausrundung in einen Vierteltorus über.

Abb. 6.94 Ausrundungsflächen in der Architektur: BMW-Welt, München (Coop Himmel(b)lau)

Im Maschinenbau sind solche Ausrundungen zur Erhöhung der Stabilitätwichtig, dienen manchmal aber auch zusätzlich der Vermeidung von scharfenKanten (Abb. 4.58) bzw. dem Design. Selbst „im großen Stil“ braucht man

234 6 Prototypen

Ausrundungsflächen (Abb. 6.75, Abb. 6.94, Abb. 6.95) um Architektenträu-me wahr werden zu lassen.

Abb. 6.95 Ausrundungsflächen in der Architektur: Niterói Contemporary Art Museum, Brasilia(Oscar Niemeyer). Die Ausrundungsfläche besteht aus zwei unterschiedlichen Torusteilen mit einemdazwischengeschalteten Drehkegel.

● Die Höhen eines Tetraeders führen zu einer ästhetischen LampeDie Designer-Lampe in Abb. 6.96 zeugt von einigem geometrischen Verständ-nis: Vier Drehzylinder mit gleichem Radius und schneidenden Achsen sollen„gleichverteilt“ angeordnet werden. Sie müssen dann die Höhen eines gleich-seitigen Tetraeders sein (Abb. 6.96 Mitte). Die Schnittkurven sind dadurch– ohne Ausrundungen – Teile von sechs Ellipsen in entsprechenden Symme-trieebenen.

Abb. 6.96 Die Achsen der vier Drehzylinder sind Höhen eines gleichseitigen Tetraeders. DieAusrundungsflächen sind relativ kompliziert.

Beim Ausrunden der Zylinder führen wir eine Kugel mit ihrer Mitte aufzwei koaxialen Drehzylindern (der Zylinderradius wird um den Kugelradiusvergrößert), die sich wiederum nach Ellipsen schneiden. Die Bahnkurve desMittelpunkts setzt sich somit aus Ellipsenbögen zusammen. ◾

7 Weitere bemerkenswerteFlächenklassen

Flächen kann man im Idealfalldurch eine Bewegung definieren.So entstehen Drehflächen durchRotation einer Kurve um eineAchse, Schraubflächen erfahrenzusätzlich eine Schiebung längsder Drehachse. Schiebflächen er-hält man durch Verschieben ei-ner Kurve längs einer anderen,Regelflächen werden von Geradenim Lauf einer beliebigen Kurveüberstrichen. Andere Flächen ent-stehen, indem Raumkurven längsanderer geführt werden, dabeiaber nach gewissen Regeln ihreGestalt ändern. Dazu gehören et-wa die Spiralflächen.

Alle genannten Flächenklassen spielen eine bedeutende Rolle in Natur undTechnik. Schraubflächen sind dazu geeignet, Rotation in Translation „um-zuwandeln“, was sie als Propellerflächen oder Bohrerflanken nutzbar macht.In der Natur findet man wiederum verschiedene Arten von Spiralungen, et-wa bei Schneckenhäusern, Tierhörnern oder auch bei den Galaxieformen imWeltall.Besondere Erwähnung finden die Schiebflächen, die als Mittenflächen vonRaumkurven interpretiert werden können. Schwieriger in den Griff zu be-kommen sind Flächen, die sich keiner solchen Gesetzmäßigkeit unterordnenlassen, z.B. die sogenannten Minimalflächen, die durch eine ganz charakte-ristische Flächenkrümmung gekennzeichnet sind und eine große Rolle in derPhysik bzw. in Architektur und Natur spielen.

Überblick7.1 Regelflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

7.2 Schraubflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

7.3 Verschiedene Typen von Spiralflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

7.4 Schiebflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

7.5 Minimalflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

236 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

7.1 Regelflächen

Neben den Drehflächen bilden die Regelflächen (auch Strahlflächen genannt)eine bedeutsame Flächenklasse.

Regelflächen werden von einer bewegten Geraden überstrichen. Sie sind, obwohlsie lauter Geraden tragen, i. Allg. nicht abwickelbar.

Abb. 7.1 Bewegung einer Geraden

Abb. 7.1 soll den Sachverhalt illustrieren: Eine Gerade wird durch den Raumbewegt und überstreicht dabei eine i. Allg. doppelt gekrümmte Fläche (wassofort am krummen Umriss zu erkennen ist).Beginnen wir mit den abwickelbaren Ausnahmen: Zylinder entstehen durchBewegung einer Geraden parallel zu einer festen Richtung, sind also nachDefinition Regelflächen. Sie sind abwickelbar und haben stets geradlinigeUmrisse.Auch Kegel sind abwickelbare Regelflächen: Sie entstehen, wenn eine Geradebeliebig durch einen festen Scheitel bewegt wird.

Abb. 7.2 Tangentenfläche einer Raumkurve. Rechts: dieselbe Fläche, aber anders abgeschnitten;die Gratlinie verläuft auf einem Ellipsoid, ihr Grundriss ist eine „Nierenkurve (Nephroide).“

Schlussendlich sind auch die Torsen, also die allgemeinsten einfach gekrümm-ten (und damit abwickelbaren) Flächen Regelflächen, denn sie tragen lauterGeraden. Die zugehörige Bewegung der Geraden kann (ohne Beweis) so in-terpretiert werden: Bewegt man einen Punkt K entlang einer Leitkurve k

7.1 Regelflächen 237

und die Gerade als Tangente von k, entsteht eine Torse. Die Leitkurve heißtin einem solchen Fall Gratlinie, weil sich zeigen lässt, dass die erzeugte Tan-gentenfläche längs ihr einen scharfen Grat besitzt (Abb. 7.2).Wir können damit sagen:

Alle abwickelbaren Flächen (Zylinder, Kegel und Torsen) sind Regelflächen.

Nun zu den allgemeinen Regelflächen, deren Gestalt natürlich sehr variati-onsreich, keineswegs aber beliebig sein kann. In jedem Fall wird ein beliebigerTangentialschnitt durch einen Flächenpunkt P die durch ihn gehende Lageder Geraden (Erzeugende) beinhalten. Daher gilt:

Alle nicht-abwickelbaren Regelflächen sind hyperbolisch gekrümmt und daherüberall „sattelförmig“.

Konoide

Abb. 7.3 Konoidale Regelflächen als Dachform (Kreiskonoid)

Eine interessante Kategorie von nicht-abwickelbaren Regelflächen bilden diesogenannten Konoide. Bei ihnen ist die Bewegung der erzeugenden Geradenso definiert, dass die Geraden immer eine Leitgerade und eine beliebige an-dere Leitkurve treffen. Als Zusatzbedingung muss die Fläche eine Richtebenehaben, die zu allen Erzeugenden parallel ist. Abb. 7.3 zeigt ein Kreiskonoid,bei dem die Leitkurve ein Halbkreis ist.Abb. 7.4 zeigt eine konoidale Dachform, die im Wesentlichen so definiert ist,dass eine horizontale Leitgerade mit einer gewellten Kurve durch im Grund-riss parallele Geraden verbunden wird. Die Frage ist, ob die entstehendeRegelfläche abwickelbar ist, was für den Bau Vorteile brächte.Rein optisch ist die Frage schwer zu beantworten, weil die zu erkennendenUmrisse einfach zu kurz sind, um eine Krümmung zu erkennen.Andererseits ist die Frage theoretisch sofort zu verneinen, denn es gilt:

238 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.4 Allgemeine konoidale Regelflächen als Dachform. Rechts ein Modell von Antoni Gaudízur praktischen Herstellung.

Eine Regelfläche, die eine Leitgerade besitzt, ist nicht abwickelbar. Insbesondereist ein Konoid nicht abwickelbar.

Ist nämlich P ein Punkt auf der Leitgeraden, dann besteht der Tangential-schnitt in P aus der erzeugenden Geraden und der Leitgeraden. Der Punktist daher hyperbolisch.

Abb. 7.5 Konoidale Regelflächen im Design (Santiago Calatrava)

Abb. 7.5 zeigt eine ähnliche Aufgabenstellung. Wieder handelt es sich umzwei Konoide mit horizontaler Leitgerade, die eine Raumkurve gemeinsamhaben (diese erscheint bei spezieller Ansicht (Abb. 7.5 links) als Parabel).Durch Verdrehen der Fläche erkennt man leichte Krümmungen im Umriss,was zur Folge hat, dass die Flächen „fast“, aber eben nicht „ganz“ abwickelbarsind. In der Praxis bedeutet dies, dass eine leicht dehnbare Oberfläche – etwaeine elastische Zeltplane – mit der Krümmung keine Schwierigkeit habenwird.Wenn wir schon bei diesem Beispiel sind: Die beiden Flächen in Abb. 7.5 las-sen sich wie in Abb. 7.6 illustriert „animieren“. Ausgehend von einer Parabel,welche die Stablängen in der Ausgangsfläche festlegt, wird die untere „Lat-te höher gelegt“. An den Knickstellen müssen dann natürlich entsprechendeSchaniergelenke angebracht sein, welche ein seitliches Wegkippen der Stäbeverhindert.

7.1 Regelflächen 239

Abb. 7.6 . . . bzw. als originelles Schiebetor

Zwei wichtige und zwei schöne Anwendungsbeispiele

Es gibt einige Konoide, die in der Literatur unter speziellen Namen bekanntsind.

Abb. 7.7 Die HP-Fläche ist Konoid, Schiebfläche, Fläche zweiter Ordnung usw.

Ein sehr wichtiges Konoid ist die HP-Schale (Abb. 7.7), die als zweite Leit-kurve ebenfalls eine Gerade besitzt. Daraus ergibt sich dann, wie schon be-sprochen, dass die Fläche sogar unendlich viele Leitgeraden besitzt. Je zweiGeraden der einen Schar bilden mit je zwei Geraden der anderen Schar einwindschiefes Erzeugenden-Vierseit. Bei entsprechender Ansicht erscheinenbeide Erzeugendenscharen als Parallelenbüschel, sonst ist der Umriss immereine Parabel.HP-Flächen sind nicht nur hoch interessante Flächen. Sie sind auch sehr prak-tisch, weil sie lokal als Prototyp für jede beliebige Regelfläche herangezogenwerden können. Abb. 7.8 illustriert, wie eine Regelfläche von einer HP-Flächelängs einer ganzen Geraden berührt wird.

Eine optisch sehr ansprechende Fläche erhält man, wenn die Leitkurve eineParabel ist.Eine solche Fläche ist von dritter Ordnung, deren Prototyp durch die einfache Glei-chung z = x2y beschrieben werden kann. Ein Prototyp einer HP-Schale lässt sichübrigens durch die fast gleich aussehende Formel z = xy beschreiben. Auf die Pro-totypen kann man noch beliebige Affinitäten anwenden. Wegen der Parallelentreue

240 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.8 Jede Regelfläche wird längs einer Geraden von einer HP-Fläche berührt

Abb. 7.9 Konoid dritter Ordnung mit Parabel als Leitkurve

der Affinität bleiben die Flächen Konoide, und auch an der Ordnung der Flächeändert sich nichts.

Neben der HP-Fläche ist die Wendelfläche von großer Bedeutung. Sie ent-steht, wenn die Erzeugende um eine rechtwinklig schneidende Achse gedrehtund zum Drehwinkel proportional längs der Achse verschoben wird. Die Ach-se ist Leitgerade, und alle Erzeugenden sind zu einer Normalebene der Achseparallel. Jede Bahnkurve eines Punkts auf der Erzeugenden könnte als zweiteLeitkurve herhalten. Diese Bahnkurven sind Schraublinien. Die Wendelflächegehört nämlich auch zu den Schraubflächen, und dort werden wir sie nochgenauer besprechen.Die Wendelfläche hat keine „Ordnung“ im algebraischen Sinn. Man nennt sie tran-szendent. Es wird also nicht gelingen, die Koordinaten x, y, z ihrer Punkte durcheine algebraische Beziehung in Verbindung zu bringen. Eine mögliche Parameter-darstellung bzw. implizite Darstellung der Fläche lautet:

x = v ⋅ cosu, y = v ⋅ sinu, z = c ⋅ u (u ∈ R, v ∈ R) ⇒ x

y= tan

z

c

u ist der Drehwinkel um die z-Achse, v der Abstand von der Achse. Je nach Wahlder Parameterintervalle erhält man Ausschnitte aus der prinzipiell unbegrenztenFläche.Als viertes und letztes Beispiel für ein Konoid wollen wir eine Fläche vorstel-len, die unter dem Namen Plücker-Konoid bekannt ist. Sie entsteht ähnlich

7.1 Regelflächen 241

Abb. 7.10 Tangentialschnitt bei Flächen zweiter bzw. dritter Ordnung

Abb. 7.11 Die Wendelfläche ist Konoid und Schraubfläche

wie die Wendelfläche, allerdings ist die Schubbewegung der Erzeugenden inRichtung der Leitgeraden nicht proportional zum Drehwinkel selbst, son-dern zum Sinus desselben. Dadurch entsteht eine sogenannte harmonischeSchwingung der Geraden.Die Bahnkurven von Punkten der Erzeugenden sind Umschwungkurven. ImGegensatz zur Wendelfläche ist das Plücker-Konoid erstaunlicherweise alge-braisch, und zwar von dritter Ordnung. Das bedeutet, dass jede beliebigeTestgerade drei exakt berechenbare Schnittpunkte liefert, von denen zweiauch konjugiert komplex sein können.

Abb. 7.12 Plücker-Konoid

242 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Aufgrund seiner Erzeugungsweise hat das Plücker -Konoid die Parameterdarstellung

x = v ⋅ cosu, y = v ⋅ sinu, z = c ⋅ sin 2u (u ∈ R, v ∈ R).Nun lassen sich aber wegen sin 2u = 2 sinu ⋅cosu und sin2 u+cos2 u = 1 die Parametereliminieren, und es ergibt sich die implizite Gleichung der Fläche mit

c ⋅ x ⋅ y = 2(x2 + y2) ⋅ z,wodurch erkennbar ist, dass das Plücker-Konoid von dritter Ordnung ist.

Abb. 7.13 Regelfläche im Brückenbau

In der Architektur finden sich recht häufig „Drahtmodelle“ von Regelflächen.Abb. 7.13 zeigt Calatravas Fußgängerbrücke in Bilbao.

7.2 Schraubflächen

Die Faszination SchraublinieIn der Ebene gibt es genau eine Kurve, die unendlich viele Spiegelungen undRotationen „verkraftet“, nämlich den Kreis. Das macht sicherlich einen Teilseiner Schönheit, aber auch seiner praktischen Anwendbarkeit aus.Im Raum gibt es eine ganze Schar von Kurven, welche in sich selbst bewegtwerden können. Es handelt sich um die Schraublinien.

Unter einer Schraubung versteht man die Zusammensetzung aus einer Drehungum eine feste Achse und einer gleichzeitigen proportionalen Schiebung längs die-ser Achse. Zu einer vollen Umdrehung gehört die Ganghöhe als Schiebstrecke.

Die Schraublinien sind die Bahnkurven von Punkten bei einer Schraubung.Sie werden bei der Schraubung kontinuierlich in sich übergeführt. Zusätzlichverkraften sie unendlich viele Punktspiegelungen (das Zentrum muss auf derAchse liegen) und Translationen in Achsenrichtung mit ganzzahligen Vielfa-chen der Ganghöhe als Schiebstrecke.Der Proportionalitätsfaktor heißt Schraubparameter und soll im Folgendenmit p bezeichnet werden. Wird ein Punkt durch einen Winkel ϕ um die

7.2 Schraubflächen 243

Abb. 7.14 Schraublinien mit „begleitendem Dreibein“

Schraubachse verdreht, dann wird er gleichzeitig um eine Schiebstrecke p ⋅ ϕlängs dieser Achse verschoben. Ist h die Ganghöhe, dann ist p = h

2π.

Ist der Schraubparameter positiv, spricht man von einer Rechtsschraubung,bei negativem Parameter von einer Linksschraubung. p = 0 liefert als Spezial-fall eine reine Drehung, p = ∞ eine reine Schiebung.Die Drehung – bzw. damit verknüpft die Schiebung – muss keineswegs gleichförmigsein. Wichtig ist die Proportionalität. Wenn sich eine Pflanze um eine Stange rankt(Abb. 7.15), kann die Wachstumsgeschwindigkeit durchaus unterschiedlich sein. DasErgebnis sieht trotzdem gleich aus. Ein Mathematiker würde sagen: Die Schraubliniebraucht nicht nach der Zeit parametrisiert sein.

Abb. 7.15 Schraublinien bei Normalprojektion auf die Achse

Folgende Eigenschaften sind an Eleganz kaum zu überbieten:

Schraublinien liegen immer auf Drehzylindern um die Schraubachse a. Sie sindzur Grundebene π ⊥ a gleich geböscht. Bei Normalprojektion auf π erscheinteine Schraublinie als Kreis, bei Normalprojektion auf eine Ebene ν ⊥ π (ν ∥ a)als Sinuskurve. Bei Abwicklung des Trägerzylinders geht eine Schraublinie in eineGerade über.

Beweis:Sowohl eine Schiebung in Achsenrichtung als auch eine Drehung um die Achse ändertden Abstand zur Achse nicht. Schraublinien liegen daher auf Drehzylindern. Dieseerscheinen bei Normalprojektion in Achsenrichtung projizierend, also als Kreis.Aufgrund der Definition der Schraublinie durchsetzt diese jede Erzeugende desTrägerzylinders unter gleichem Winkel. Der Quotient aus Schubkomponente und

244 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Drehkomponente ist stets konstant – auch wenn man nur einen unendlich kleinenAbschnitt (also die Tangente t) der Kurve betrachtet. Die Tangente liegt ganz inder Tangentialebene τ des Zylinders, wo die Winkel zu den Erzeugenden bzw. zurGrundebene π gemessen werden können. Dieser Winkel α = ∠tπ hat die Größetanα = p/r, wenn r den Abstand von P zur Schraubachse bezeichnet.Projiziert man t normal auf eine Ebene ν ⊥ π, dann bleibt die Schubkomponenteunverzerrt, während die Drehkomponente abhängig vom Winkel ψ = ∠τν mit demFaktor cosψ verkürzt wird. Die Projektionskurve ist daher eine Kosinuslinie – unddamit auch eine Sinuslinie. Die beiden Kurven unterscheiden sich nicht in ihrerGestalt, sondern sind nur phasenverschoben. Da die Schraublinie alle Erzeugendendes Trägerzylinders unter gleichem Winkel schneidet, geht sie bei Abwicklung diesesDrehzylinders in eine Gerade über.Wir wollen nun die Bahnkurve eines Punkts P im Abstand r von der Achse analy-tisch erfassen und den Beweis des obigen Satzes rechnerisch führen.Zu diesem Zweck passen wir ein kartesisches Koordinatensystem der Situation mög-lichst einfach an: Die Achse sei die z-Achse, und P (r/0/0) liege auf der x-Achse.Nach Verdrehung durch ϕ und gleichzeitiger Schiebung um p ⋅ ϕ hat P die Koordi-naten

x = r ⋅ cosϕ, y = r ⋅ sinϕ, z = p ⋅ ϕ.Der Aufriss der Bahnkurve hat die Darstellung

y = r ⋅ sinϕ, z = p ⋅ ϕ,ist also eine Sinuskurve mit der Gleichung y = r ⋅ sin(z/p). Aber auch jede anderehorizontale Normalprojektion unter dem Einfallswinkel α liefert eine kongruente,weil nur phasenverschobene Kurve in einem (u, z)-Koordinatensystem:

u = x ⋅ cosα + y ⋅ sinα = r ⋅ cosϕ ⋅ cosα + r ⋅ sinϕ ⋅ sinα = r ⋅ cos(ϕ − α), z = p ⋅ ϕDie Abwicklung der Kurve hat in einem (v, z)-System die lineare Gleichung

v = r ⋅ ϕ, z = p ⋅ ϕ⇒ z = p/r ⋅ v,weshalb die Kurve eine Gerade ist. ◾

Abb. 7.16 Schraublinie mit Schatten

Allgemeine Normalrisse von Schraublinien (Abb. 7.16) sind – wie wir späternoch zeigen werden – affin zu sogenannten Radlinien. Zentralrisse wie inAbb. 7.16 rechts haben natürlich kompliziertere Gestalt und sind eine schöneHerausforderung für jeden Freihandzeichner.

7.2 Schraubflächen 245

Wenn man Geraden oder Kreise verschraubt. . .

Sämtliche Bahnkurven bei einer Schraubung sind Schraublinien. Welche Flä-chen entstehen nun, wenn wir statt Punkten andere Gebilde verschrauben,z.B. Geraden?

Abb. 7.17 Links: Nur der Scharm der Wendelfläche tröstet in der Parkgarage. Mitte: Wendel-treppe in der Sagrada Familia (Salvador Dalí). Rechts: Intercity Bank in Lima (Hans Hollein).

Wir haben bei den Regelflächen bereits stillschweigend eine ebenfalls sehr be-deutende Schraubfläche besprochen, nämlich die Wendelfläche (Abb. 7.11).Sie entsteht, wenn eine Gerade, welche die Schraubachse unter rechtem Win-kel trifft, verschraubt wird.Wendelflächen sind vor allem in der Technik zu finden. So sind z.B. die glattverputzten Wände auf der Unterseite von Wendeltreppen oder die aufwärtsführende Fahrtrasse der Parkgarage in Abb. 7.17 von diesem Typus. VonBedeutung sind die Flächen auch bei den Oberflächen von Schiffsschrauben,Propellern oder Ventilatoren.

Abb. 7.18 Schiffsschraube, Wasserschraube des Archimedes

246 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Mithilfe von Wendelflächen kann man durch bloße Rotation einen Schuberzeugen – die Schraubbewegung wird sozusagen in ihre Komponenten Dre-hung und Schiebung zerlegt. Durch die Trägheit des Mediums, in dem mansich fortbewegen will (Luft oder Wasser) kann sich die Fläche auf dem Me-dium „abstützen“ und das Flugzeug oder Schiff vorwärts bewegen (Schif-fe auch rückwärts, Abb. 7.18). Wendelflächen werden auch zum Heben vonFlüssigkeiten verwendet, was schon Archimedes erkannt und umgesetzt hat(Abb. 7.18 Mitte und rechts).

Abb. 7.19 Doppelschneckenmischer bei einer Schneefräse

Eine interessante Anwendung der Wendelfläche ist der sogenannte Doppel-schneckenmischer (Abb. 7.19), der z.B. in Baggerschaufeln eingebaut wer-den kann (und dort elektrisch betrieben wird), oder aber bei Schneefräsenzur Anwendung kommt. Durch bloße Rotation des Mischers wird das Sand-Zement-Gemisch im linken Bereich von der linksgängigen Schnecke in dieeine Richtung und von der rechtsgängigen, gegenläufigen Schnecke in die an-dere Richtung gepresst. Varianten davon haben eine durchgehende äußereSchnecke und eine gegenläufige innere Schnecke.

Abb. 7.20 Theoretische Version eines Doppelschneckenmischers

Abb. 7.20 zeigt eine „rein geometrische“ Variante einer Doppelschnecke, beiwelcher der Übergang von einer Schraublinie zur anderen „glatt“ (also diffe-renzierbar) ausgeführt wurde.

● Die Doppelhelix der DNSIn der Molekularbiologie ist die Doppelhelix zum Symbol geworden. Das Erb-

7.2 Schraubflächen 247

material ist in Form von Desoxyribonucleinsäure (DNS) gespeichert, die alsdoppelter Strang oder Doppelhelix von Molekülen in den Chromosomen desZellkerns vorliegt. Diese DNS-Stränge ranken sich – ganz wie gegenüberlie-gende Schraublinien auf der Wendelfläche – um eine gedachte Achse. Etwasmehr darüber in Anwendung S. 252. ◾

Abb. 7.21 Schraubzwinge und Schraubstock

Die Umwandlung von Drehung in Schub muss nicht unbedingt mit Fortbe-wegung zu tun haben. Jede Olivenpresse oder Schraubzwinge, jeder Schraub-stock, jeder Korkenzieher macht sich dieses Prinzip zunutze. Im Kleinen wirddie Umwandlung von Drehung in Schiebung bei jeder gewöhnlichen Schraubeangewendet!

Abb. 7.22 Schraubenbolzen und Schraubenmuttern

Dabei stellt sich die Frage, welche Schraubflächen bei einem Schraubgewindezum Tragen kommen. Offensichtlich sind es nicht – wie z.B. bei der Schraub-zwinge – Wendelflächen. Die Flächen werden von schräg zur Schraubach-se liegenden Geraden erzeugt. Sehen wir uns die Sache vom geometrischenStandpunkt genauer an.

Verschiedene Typen durch die Lage der GeradeWenn man die erzeugende Gerade der Wendelfläche parallel verschiebt, sodass sie die Schraubachse nicht mehr trifft, entstehen sogenannte gerade of-fene Schraubregelflächen. Abb. 7.24 zeigt zwei solche Flächen, wobei die linkeFläche einen negativen Schraubparameter besitzt und die mittlere einen po-sitiven. Im dazu gehörigen Grundriss sieht man deutlich die Kehlschraublinie(das ist jene Schraublinie mit minimalem Achsabstand).Wenn die erzeugende Gerade bezüglich der Grundebene geneigt ist, hat manden allgemeinen Fall. Zur Illustration dienen die beiden rechten schiefen of-

248 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.23 Sacklöcher und Durchgangslöcher

Abb. 7.24 Links- und rechtsgängige gerade Schraubregelflächen

fenen Schraubregelflächen in Abb. 7.25. Trifft die schräge Erzeugende dieSchraubachse, dann spricht man von einer schiefen geschlossenen Schraubre-gelfläche.Schiefe Schraubregelflächen haben einen Selbstschnitt, der naturgemäß wie-der eine Schraublinie ist.

Es gibt nur einen Typus von abwickelbaren SchraubflächenKeine der bisher genannten Schraubregelflächen ist i. Allg. abwickelbar, wasman am krummen Umriss sofort erkennt. Die Fläche in Abb. 7.25 rechtsscheint allerdings geradlinige Umrissteile zu besitzen. Tatsächlich kann eine

Abb. 7.25 Verschiedene schiefe Schraubregelflächen

7.2 Schraubflächen 249

Abb. 7.26 Schraubtorse mit Gratschraublinie

schiefe offene Schraubregelfläche unter einer Bedingung abwickelbar sein: DieErzeugenden müssen Tangenten einer Schraublinie g sein. Die ganze Flächeist dann Tangentenfläche (Torse) von g, und g ist auf dieser Torse ein scharferGrat. Abb. 7.26 zeigt eine weitere Schraubtorse, wobei im rechten Bild einanderer Ausschnitt der Fläche zu sehen ist (jede Regelfläche ist im Prinzipunbegrenzt).

Abb. 7.27 Ein abwickelbarer Spezialfall einer Schraubregelfläche (Drehzylinder)

Abb. 7.27 illustriert, dass es noch einen Ausnahmefall bei den Schraubregel-flächen gibt: Wenn die verschraubte Gerade parallel zur Schraubachse ist,erhalten wir einen Drehzylinder. So gesehen kann der Drehzylinder nicht nurals Drehfläche, sondern auch als Schraubfläche interpretiert werden.

Abb. 7.28 Kegelräder mit effizienten Zahnflanken

250 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.29 Fräserflanken Abb. 7.30 Autobahnauffahrt in Theorie. . .

Schraubtorsen haben in der Ingenieur-Praxis große Bedeutung. Im Maschi-nenbau treten sie als Zahnflanken bei den sogenannten Evolventenzahnrädernoder Fräsern (Abb. 7.29) auf, welche auch zur Übertragung von Drehungenauf geneigte Achsen verwendet werden. Im Straßenbau bilden sie die Bö-schungen von Autobahn-Auffahrten (Abb. 7.30 und 7.31).

Abb. 7.31 . . . und Praxis (im Grundriss treten Klothoiden auf)

Abb. 7.32 Steinbohrer mit Schraubtorsen als Flanken

Man kann natürlich auch Kreise oder Kugeln verschrauben

Wenn man andere Kurven als Geraden verschraubt, erhält man komplizierte-re Flächen. Der in Natur und Technik häufigste Fall tritt auf, wenn wir einenKreis verschrauben. Allein schon bei Einschränkung auf diese Kreisschraub-flächen gibt es viele Typen, die durch die Ausgangslage des verschraubtenKreises charakterisiert sind.Abb. 7.33 zeigt z.B. einen originellen Schlüsselanhänger, der im ungedehnten Zu-stand sehr gut eine Kreisschraubfläche annähert, bei welcher der verschraubte Kreisdas „Profil“ der Fläche bei Normalschnitt auf die Schraubachse ist.Der mit Abstand am häufigsten vorkommende Typus von Kreisschraubflä-chen ist jener der Schraubrohrfläche.

7.2 Schraubflächen 251

Abb. 7.33 Spezielle Kreisschraubfläche: Der verschraubte Kreis befindet sich in einer Querschnitt-sebene normal zur Schraubachse, was am Schlagschatten erkannt werden kann. Die eingefärbtenKreisteile bilden Zonen auf der Fläche, die von Schraublinien berandet werden.

Eine Schraubrohrfläche entsteht, wenn ein Kreis verschraubt wird, dessen AchseTangente der Bahnschraublinie seines Mittelpunkts ist. Sie entsteht auch alsHüllfläche jener Kugel, die den Kreis als Großkreis besitzt.

Abb. 7.34 Schraubrohrfläche in verschiedenen Normalprojektionen

Die letzte Behauptung ist leicht einzusehen: Der Kreis wird einer Bewegung unter-worfen, deren Richtung nach Definition rechtwinklig zu seiner Ebene ist. Die Flächewird daher längs des Kreises von einem Drehzylinder berührt, und in diesen Dreh-zylinder passt eine Kugel, die den Kreis als Großkreis besitzt. Die Erzeugung derSchraubrohrfläche durch eine Kugel macht die Bedeutung der Fläche aus.

Abb. 7.35 Schraubrohrfläche und Meridiankreisschraubfläche als Rutsche

252 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.36 Schraubrohrfläche, diesmal mit dem Querschnitt erzeugt

Es kann also eine Kugel durch die Fläche hindurch rollen, wobei sie in jederLage die Fläche längs eines Großkreises berührt. Viele Rutschen in Kinder-schwimmbädern bestehen sinnvollerweise aus Teilen von Schraubrohrflächen(Abb. 7.35 links). Oft findet man auch die Variante, dass ein Kreis in einerMeridianebene verschraubt wird (deutlich in Abb. 7.35 Mitte zu sehen). Dieentstehende Fläche heißt dann Meridiankreisschraubfläche.Abb. 7.34 zeigt verschiedene Normalrisse einer Schraubrohrfläche (links rechtwinkligzur Achse, rechts in Achsenrichtung). Deutlich sieht man, dass der erzeugende Kreisnicht vertikal ist, sondern die jeweilige Tangente der Mittenschraubline zur Achsehat. Der Umriss hat – abhängig vom Radius der verschraubten Kugel – oft Spitzen.Abb. 7.36 zeigt dieselbe Schraubrohrfläche, diesmal nicht von einem Kreis erzeugt,sondern von einem nierenförmigen Querschnitt. Punkte dieses Querschnitts erhältman, indem man vom ursprünglich erzeugenden Kreis ausgeht, und dessen Punk-te P so lange verschraubt, bis sie in einer zur Achse normalen Querschnittsebeneπ „landen“. Dabei entspricht dem Höhenunterschied Δz = Pπ ein proportionalerDrehwinkel ϕ = c ⋅Δz.

Abb. 7.37 Stahlseil (zwei Schraubrohrflächen) mit geringer Belastung

Schraubrohrflächen gehören zu den in Natur und Technik häufigsten Flächenüberhaupt. Wenn man es genau nimmt, sind natürlich auch die „Schraubli-nien“ in Abb. 7.15 und Abb. 7.16 solche Flächen.

7.3 Verschiedene Typen von Spiralflächen 253

● Das Geheimnis der DNS (Desoxyribonucleinsäure)

Abb. 7.38 Desoxyribonucleinsäuren codieren die Erbinformation und geben sie über die Keim-zellen an die folgende Generation weiter. Geometrisch lassen sie sich durch zwei ineinander ver-schränkte Schraubrohrflächen gut veranschaulichen.

Das Geheimnis der DNS an dieser Stelle lüften zu wollen, würde an Vermes-senheit grenzen. Wie schon in Anwendung S. 246 erwähnt: DNS-Molekülebestehen aus der berühmten Doppelhelix. Jeder einzelne Strang ist die Ab-folge einzelner Molekülbausteine (Phosphorsäure, Desoxyribose und einer dervier Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin). Die Reihenfolge der Basenstellt den genetischen Code dar. ◾

7.3 Verschiedene Typen von Spiralflächen

Abb. 7.39 Schraublinie, Helispirale und „klassische“ Spirale (rechtsgängig)

HelispiralungZur gewöhnlichen Schraubung gibt es eine interessante Variante, die in derNatur recht häufig vorkommt. Es handelt sich um die Helispiralung. Wäh-

254 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

rend die Schraubung Querschnitte unverändert lässt, werden diese bei derHelispiralung linear zur Höhe vergrößert oder verkleinert.

Abb. 7.40 Helispiralung eines horizontalen gleichseitigen Dreiecks (linksgängig)

Abb. 7.39 stellt Schraubung (links) und Helispiralung (Mitte) gegenüber.Abb. 7.40 zeigt jene Fläche, die entsteht, wenn man eine solche Transforma-tion auf ein gleichseitiges Dreieck anwendet, das die Achse in seinem Mittel-punkt unter rechtem Winkel schneidet.

Abb. 7.41 Helispiralung: Pieter Bruegel der Ältere, Turmbau zu Babel

Das Prinzip lautet: Drehe dich um die Achse um einen beliebig großen Winkelϕ und verändere deinen Abstand vom Zentrum gleichzeitig um den Wert p⋅ϕ.Die Größe p heißt Parameter der Helispiralung. Das Wachstum ist somitlinear, denn zum doppelten Winkel gehört auch der doppelte Abstand.

Eine Helispiralung liegt vor, wenn der Raum um eine Achse gedreht und gleich-zeitig aus einem festen Zentrum auf der Achse proportional verkleinert bzw.vergrößert wird.

Dies entspricht folgendem „Wachstums-Rezept“ der Natur: „Vergrößere dichlinear aus einem Zentrum und rotiere gleichzeitig proportional dazu um eineAchse durch das Zentrum.“

7.3 Verschiedene Typen von Spiralflächen 255

Abb. 7.42 Variation von Kreis-Helispiralflächen in Theorie. . .

Abb. 7.43 . . . und Praxis

Ein solches Prinzip scheint bei Wachstum von Tierhörnern, aber auch beimWachstum von Pflanzentrieben, manchmal sogar beim Wachstum von gewis-sen Bäumen aufzutreten.Geometrisch bedeutet die Anweisung, dass bei jeder Umdrehung um die Ach-se alle Punkte ihren Achsenabstand um den gleichen Betrag verändern.Auf der Achse gibt es einen ausgezeichneten Punkt, den Ursprung des Wachs-tums, von dem alle Bahnkurven – sie heißen Helispiralen – ausgehen. Ih-re Grundrisse sind Archimedische Spiralen. Diese ebenen Kurven entstehennämlich so, dass ein Punkt auf einem gleichmäßig rotierenden Stab mit gleich-förmiger Geschwindigkeit wandert.

Abb. 7.44 Helispiralförmige Ausnehmung – Entwurf Anita Aigner, Franz Leák ([20])

256 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Räumlich interpretiert entsteht eine Helispirale also auch, indem ein Punktauf einer Geraden gleichmäßig dahin wandert, welche ihrerseits um eine sieschräg schneidende Achse rotiert. Eine andere Variante könnte lauten: Wennein Punkt bei einer Schraubung auf einer Normalen zur Schraubachse gleich-mäßig bewegt wird, ist seine Bahnkurve eine Helispirale. Der Punkt wandertdabei auf einer Wendelfläche.

Abb. 7.45 Die Tangentenfläche einer Helispirale (links und rechts) sowie eine verblüffende Asso-ziation dazu (Röhrenwurm, Dalmatien).

Abb. 7.46 Diese Spirale ist„nur“ eine Zentralprojektion einerSchraublinie.

Abb. 7.47 Bei diesem Korkenzieher geht eine Schraub-rohrfläche in eine Helispiralfläche über, die dann nicht mehrRohrfläche, sondern Kanalfläche (S. 229) ist.

Die klassische SpiralungNeben der Helispiralung gibt es noch viele Arten von Spiralung im Raum.Im Prinzip geht es immer um eine Zusammensetzung einer Drehung um eineAchse und einer irgendwie mit dem Drehwinkel in Zusammenhang stehen-den Änderung des Abstands zu einem festen Punkt auf der Drehachse. Eineentsprechende ebene Spiralung funktioniert ganz analog.Das Prinzip der klassischen (sogenannten zylindro-konischen) Spiralung lau-tet: Drehe dich um die Achse um einen sehr kleinen Winkel ϕ und vergrößeredeinen Abstand vom Zentrum gleichzeitig um einen zu deiner Größe und demDrehwinkel proportionalen Anteil, was einer Multiplikation mit (1 + p ⋅ ϕ)gleich kommt. Die Größe p heißt Parameter der Spiralung. Dadurch kommteine Art „Zinseszins-Rechnung“ zustande, denn jedes Mal ist das „Ausgangs-kapital“ größer geworden. Das Wachstum ist somit exponentiell.

7.3 Verschiedene Typen von Spiralflächen 257

Abb. 7.48 Spiralwendelfläche (links) und Spiraltorsen

Lassen wir jetzt beliebige Drehwinkel zu, haben wir folgende Definition:

Eine klassische Spiralung liegt vor, wenn der Raum um eine Achse gedreht undgleichzeitig aus einem festen Zentrum auf der Achse exponentiell verkleinert bzw.vergrößert wird.

Abb. 7.49 Schneckenhäuser haben ein kompliziertes Innenleben

Dies entspricht folgendem „Wachstums-Rezept“ der Natur: „Vergrößere dichum einen gewissen Prozentsatz aus einem Zentrum und rotiere gleichzeitigproportional zum Prozentsatz um eine Achse durch das Zentrum.“ Ein solchesWachstum tritt offensichtlich bei den Kalkschalen von Schnecken und Mu-scheln auf, denn diese Gehäuse entsprechen oft genug entsprechenden compu-terberechneten Flächen (Abb. 7.50). Untersuchungen von Boris Odehnal zu-folge treten bei vielen Exemplaren aber Unregelmäßigkeiten auf (Abb. 6.83).

Der Zusammenhang mit der SchraublinieWir wollen die Erzeugung der drei vorgestellten Bahnlinien (Schraublinie,Helispirale, klassische Spirale) noch einmal unter möglichst gleichen Anfangs-bedingungen gegenüberstellen.Gegeben seien eine Achse a (z.B. die z-Achse), ein fester Drehwinkel Δϕ undeine feste Schiebstrecke Δz in Achsenrichtung.

258 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.50 Computersimulationen von „echten“ Muscheln und Schneckenhäusern

Sei nun P ein beliebiger Punkt. Auf ihn wenden wir immer wieder folgendeVorschriften an: Zuerst wird P durch Δϕ um a gedreht und dann längs a umΔz verschoben.

Abb. 7.51 Schraubung, Helispiralung und klassische Spiralung im Grundriss

Das ergibt bereits Punkte einer Schraublinie. Für die Helispiralung wird P

zusätzlich normal zur Achsenrichtung um eine zum Drehwinkel proportionaleSchiebstrecke s = p ⋅Δϕ verschoben, während er für die klassische Spiralungaus dem Ursprung mit einem festen, zum Drehwinkel proportionalen Fak-tor k = (1 + p ⋅Δϕ) verändert wird. Dadurch erhält man Punkte auf einerHelispirale bzw. klassischen Spirale.Wenn man n Mal so viele Punkte ermitteln will, ist von Δz, Δϕ und derSchiebstrecke s der jeweils n-te Teil zu nehmen. Der Verkleinerungsfaktorbei der klassischen Spirale ist durch dessen n-te Wurzel zu ersetzen.Schraublinien und klassische Spiralen sind im Gegensatz zu den HelispiralenBöschungslinien, (also Linien mit konstantem Winkel zur Achse bzw. zurBasisebene) auf Zylindern mit achsenparallelen Erzeugenden (im Fall derSchraublinie ein Drehzylinder, bei der klassischen Spirale ein logarithmischerZylinder).

7.4 Schiebflächen 259

7.4 Schiebflächen

Schiebflächen als Ort von SehnenmittelpunktenHinweis: Die Beweise der in diesem Abschnitt angeführten Sätze lassen sichelegant mittels Vektorrechnung führen und sind in www1.uni-ak.ac.at/

geom/dld/canada-lines.pdf zu finden.

Wenn wir alle Punkte P1 einer beliebigen Kurve c1 mit allen P2 einer beliebi-gen Kurve c2 (Abb. 7.52) verbinden, ist der Ort aller Mittelpunkte M der Ver-bindungssehnen eine Schiebfläche. Die Fläche trägt zwei Scharen kongruenterKurven. Ihre Prototypen c∗1 und c∗2 sind zu c1 und c2 ähnlich (Faktor 1/2).

c2M

P1

P2c1

c∗1c∗2

Abb. 7.52 Gegeben sind zwei Kurven c1 und c2: Der Ort der Mittelpunkte der Sehnen P1 ∈ c1und P2 ∈ c2 ist gesucht.

Paraboloide als SchiebflächenAbb. 7.52 zeigt bereits den bekanntesten und einfachsten Fall: Wenn c1 undc2 Parabeln mit paralleler Achsenrichtung und nicht-parallelen Trägerebenensind, ist die Schiebfläche ein Paraboloid (2.Ordnung). Wenn eine der beidenKurven eine Gerade ist, ist das Ergebnis ein parabolischer Zylinder. Sindbeide Kurven Geraden, so ist die Schiebfläche trivialerweise eine Ebene.Der angegebene Satz stimmt für „echte Raumkurven“, wenn c1 = c2 ist, d.h.eine einzige Raumkurve kann bereits eine Schiebfläche erzeugen. Ab jetztnennen wir so eine Fläche Mittenfläche.

Die Wendelfläche als SchiebflächeNeben dem Paraboloid als klassisches Beispiel für eine Schiebfläche gibt esfolgendes nicht-triviales Beispiel:

Die Mittenfläche einer Schraublinie ist eine Wendelfläche. Diese ist daher nichtnur Schraubfläche, sondern auch Schiebfläche.

Wegen c1 = c2 sind die Prototypen c∗1 und c∗2 der beiden Parameterlinienscha-ren kongruent. Alle Parameterlinien schneiden die Schraubachse und sindkeine Bahnschraublinien der Wendelfläche.Die erzeugende Schraublinie c = c1 = c2 liegt auf der Wendelfläche Φ, die da-mit eindeutig bestimmt ist. Wenn wir den Radius r von c variieren, wird(bei gleichem Parameter p) dieselbe Wendelfläche erzeugt. Wieder erhält

260 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

c2

M

P1

P2

c1c∗2

c∗1

Abb. 7.53 Wenn c1 = c2 eine Schraublinie ist, ist die Mittenfläche eine Wendelfläche, die zweinicht-triviale Scharen von Schraublinien trägt.

Φ

Φ

aa

c∗2c∗1

c∗2c∗1

Abb. 7.54 Links: Zwei kongruente nicht-triviale Schraublinien c∗1

und c∗2

mit beliebig gewähl-tem Radius sind auf einer Wendelfläche eingezeichnet. Rechts: Projiziert man in Richtung einerTangente der grünen Schraublinie wird die rote Schraublinie Konturlinie.

man zwei Scharen von nicht-trivialen Schraublinien auf Φ mit dem Radius r2

(Abb. 7.54).

Eine Wendelfläche (Parameter p) trägt eine zweiparametrige Schar von kongruen-ten Schraublinien (Parameter p

2). Ihre Projektion in Achsenrichtung ist ein Kreis

durch das Bild der Achse der Fläche.

Im Zusammenhang mit den „nicht-trivialen“ Schraublinien gibt es folgendenschönen Satz1:

Die Kontur einer Wendelfläche ist für jede Parallelprojektion eine Schraublinie.

1Der Satz konkurriert in seiner Schönheit mit folgendem Satz: Die Kontur einer Quadrik (Flächezweiter Ordnung) ist bei jeder Projektion ein Kegelschnitt.

7.4 Schiebflächen 261

Drehflächen, die zugleich Schiebflächen sindDer Drehzylinder ist trivialerweise Drehfläche und Schiebfläche. Weniger tri-vial ist das Drehparaboloid (Abb. 6.15 links), das ja auch – wie alle Pa-raboloide – Schiebfläche ist. Aber es kommt noch besser (Beweis wieder inwww1.uni-ak.ac.at/geom/dld/canada-lines.pdf):

c1

M

P2

P1

c2

c∗1c∗2

Abb. 7.55 Wenn zwei koaxiale Schraublinien c1 und c2 gegensinnig kongruent sind, ist die Mit-tenfläche eine Drehfläche.

Wenn wir eine Sinuskurve (Amplitude r) um ihre Achse rotieren lassen, kanndie erzeugte Drehfläche auch als Schiebfläche mit zwei gegensinnig kongruentenSchraublinien, die auf Drehzylindern mit Durchmesser r verlaufen und die Achseder Drehfläche enthalten, interpretiert werden.

Abb. 7.56 Anwendung der bemerkenswerten Dreh- und Schiebfläche: Rechts der Gherkin towerin London (Norman Foster).

262 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

● Über Rhomben und riesige TürmeDie eben erwähnte Drehfläche, die gleichzeitig Schiebfläche ist, hat ihre An-wendungen.Abb. 7.56 links zeigt, wie Polyeder, die ausschließlich aus Rhomben mit fes-ter Seitenlänge (aber verschiedenen Innenwinkeln) aufgebaut sind, gegen eineDrehfläche mit einer Sinuslinie als Meridian konvergieren. Aneinandergren-zende entsprechende Rhombusseiten konvergieren gegen gegensinnig kongru-ente Schraublinien. Siehe dazu auch Anwendung S. 97. ◾

7.5 Minimalflächen

Die Wasseroberfläche näherteine Drehfläche mit mini-maler Oberfläche an:Die Kettenfläche.

Abb. 7.57 Oberflächenspannung trägt u.U. sogar eine Münze, notfalls auch mit größerer Dichte– die Münze muss nur klein genug sein!

Aufgrund der Oberflächenspannung hat jede Flüssigkeit oder elastische Flä-che (z.B. Gummihaut) das Bestreben, ihre Oberfläche zu verkleinern. So bil-det Quecksilber z.B. kleine runde Tröpfchen, wenn man es auf eine flach lie-gende Glasplatte gießt. Auch die Kugelform von Seifenblasen entsteht durchdie Oberflächenspannung: eine Kugel hat bei gegebenem Volumen die kleins-te mögliche Oberfläche (Abb. 7.57 rechts).Aufgrund der Oberflächenspannung kann eine kleine Münze (Abb. 7.57) aufWasser schwimmen, obwohl sie wegen ihrer höheren Dichte eigentlich sinkenmüsste.Abb. 7.58 zeigt einige Beispiele, welche Formen Seifenlauge annimmt, wennman ein Drahtgittergestell eintaucht. Unter Umständen ergeben sich durch-aus bekannte Flächen, etwa die Wendelfläche oder die Kettenfläche.Geöffnete Regenschirme stehen ebenso unter Spannung wie Zelte und Dächer.Seifenhäute, die durch Drahtschlingen begrenzt werden, können die verschie-densten Formen annehmen.

7.5 Minimalflächen 263

Kettenfläche

Wendelfläche

Scherksche Fläche

Abb. 7.58 Spezielle Minimalflächen entstehen, wenn Drahtgitter wie Würfel, eine Schraublinie,parallele Kreise aussehen, oder aber aus nur acht Kanten eines Würfels bestehen (rechts).

Abb. 7.59 Oberflächen unter Spannung in Theorie und Kunst: Links die berühmte „Schach-brett-Minimalfläche“ nach Scherk, rechts eine Installation von Maria Wambacher.

Die Hauptkrümmungen müssen in jedem Punkt der Fläche demBetrag nach gleich sein

Abgesehen von der Kugel, bei der die Krümmungen aller Normalschnitteübereinstimmen, lassen sich geometrisch die Häute mit minimaler Oberflä-che so charakterisieren, dass in jedem Flächenpunkt die Hauptkrümmungender Flächen (s.S. 206) dem Betrag nach gleich sind. Deshalb ist die DupinscheIndikatrix (Abb. 6.36) in jedem Flächenpunkt ein Paar gleichseitiger Hyper-beln. Die Summe der beiden Hauptkrümmungen heißt mittlere Krümmung.

Eine nicht-kugelförmige Minimalfläche hat überall mittlere Krümmung Null. IhreDupinsche Indikatrix ist in jedem Punkt ein paar gleichseitiger Hyperbeln.

Das ist für zwei uns bereits bekannte Flächen der Fall: die Kettenfläche(Abb. 6.74 rechts und Abb. 7.57 links) und die Wendelfläche (Abb. 7.11und Abb. 7.58 rechts). Abb. 7.59 links zeigt eine nach Scherk benannte Mi-nimalfläche in Grund- und Aufriss sowie einer allgemeinen Ansicht.

264 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

● Die HP-Fläche ist „fast“ eine MinimalflächeEin Test mit dem Computer zeigt, dass das die HP-Fläche in gewissen Be-reichen der sogenannten Schwarzschen Minimalfläche sehr nahe kommt. InAbb. 7.60 links sind diese Bereiche schwarz (bei sehr guter Annäherung) bzw.rot (bei immer noch guter Annäherung) eingezeichnet (in der Mitte ist derGrundriss zu sehen). Wie viel der Computer gänzlich schwarz einfärbt, hängterheblich vom angegebenen Toleranzbereich ab.

Abb. 7.60 Die HP-Fläche sieht der sog. Schwarzschen Minimalfläche sehr ähnlich, und ihre Ab-weichung vom „minimalen Zustand“ ist gering. Rechts ist ein Funktionsgraph zu sehen, der dieSumme der beiden Hauptkrümmungen als Funktionswert hat. Bei einer „echten Minimalfläche“müsste der Graph konstanten z-Wert Null haben.

Trotzdem kann man davon ausgehen, dass sich ein Zeltdach, das von einem„windschiefem Vierseit“ aufgespannt wird, rein optisch wenig von einer HP-Fläche (Abb. 7.60) unterscheidet. Abb. 7.60 rechts zeigt einen zugehörigenFunktionsgraphen, auf dem die mittlere Krümmung (die Summe der beidenHauptkrümmungen) den Höhenwert bildet. Bei einer Minimalfläche müsstedieser Graph konstanten z-Wert Null haben. ◾

Abb. 7.61 Minimalflächen können skaliert werden, ohne ihre nützlichen Eigenschaften zu verlieren.

● Dächer aus MinimalflächenMinimalflächen können auf zwei Arten charakterisiert werden: Physikalisch

7.5 Minimalflächen 265

(Gleichgewicht der Flächenkräfte) und geometrisch (entgegengesetzt gleichgroße Hauptkrümmungen auf der gesamten Fläche).Das ist der Grund, warum sie ihre nützlichen Eigenschaften auch behalten,wenn man sie zu riesigen Ausmaßen skaliert (Abb. 7.61 rechts zeigt das Olym-pische Stadium von München). Bei anderen Dachformen kann das rapidezunehmende Gewicht massive Probleme erzeugen. ◾

● Stabile Skulpturen aus leichtgewichtigen Modulen (Abb. 7.62)Minimalflächen können sehr nützlich sein, wenn es darum geht, stabile undleichte Skulpturen zu schaffen, wie das folgende Experiment zeigt2: Zunächstwurden vier „Attraktorpunkte“ gewählt, die eine Minimalfläche definieren.Diese wurde dann durch leichtgewichtige hohle Module angenähert. Die Geo-metrie der Fläche wurde dabei leicht verändert, um die auftretenden Muster(Abb. 7.62 links) besser zur Geltung zu bringen.

Abb. 7.62 Minimalfläche aus Modul-Polygonen (drei bis sechs Ecken)

Die Steifheit (bei gleichzeitiger Leichtgewichtigkeit) der abgebildeten orga-nisch wirkenden Skulptur war beeindruckend. Die Geometrie wurde durch einselbst entwickeltes Grasshopper plugin „Karamba“ (http://www.karamba3d.com/) getestet und verbessert. ◾

● Eine spezielle algebraische Fläche und „etwas Ähnliches“In Kapitel 13 werden wir sehen, dass wirklich exakte geometrische Musterund Flächen in der Natur eher selten auftreten. Vielmehr findet man oftmehr oder weniger gute Annäherungen an solche, wie Abb. 7.63 illustrierensoll (rechts ein berechnetes Bild und links etwas „ziemlich Vergleichbares“ inder Natur).

2www.springchallenge2012.wordpress.com (Bence Pap, Irina Bogdan, Andrei Gheorghe, TrevorPatt, Clemens Preisinger, Moritz Heimrath).

266 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Eine der einfachsten Minimalflächen, die Ennepersche Fläche, ist von neunterOrdnung. Sie ist als algebraisches Beispiel für Minimalflächen berühmt. Wennwir nur den „inneren Teil“ der Fläche betrachten (die Fläche ist nämlichtheoretisch unendlich groß), hat diese keine Selbstschnitte. Vergleichen wirrein optisch diesen Teil mit einer Braunalge, die in der nördlichen Adriahäufig ist. Niemand wird hier eine auffällige Ähnlichkeit abstreiten können.Offensichtlich tendieren solche Algen dazu, ihre Oberfläche zu minimieren.

Abb. 7.63 Die algebraische Ennepersche Fläche im Vergleich mit einer Braunalge ◾

● „Oberflächen-verkleinernde Flächen“Auch wenn es wenig Sinn macht, von der Oberfläche einer Schnecke zu spre-chen (sie bewegt sich und ändert ständig ihre Gestalt): In jeder neuen Lagetendiert die Fläche dazu, ihre Oberfläche zu verkleinern.

Abb. 7.64 Organisch wirkende Computer-generierte Flächen, die durch iterative Oberflächenver-kleinerung entstehen.

Wenn wir die Form einer Fläche ganz leicht und Schritt für Schritt so ver-ändern, dass die neue Fläche eine kleinere Oberfläche hat, wird die Flächeletztendlich die Form einer Minimalfläche annehmen. ◾

7.5 Minimalflächen 267

Verbiegen von Flächen ineinanderWir haben bis jetzt schon vielfach über den Abwickelvorgang gesprochen,also eine Ausbreitung einer Fläche in eine Ebene, ohne dass es dabei zuDehnungen oder Stauchungen kommt. Mathematisch ausgedrückt bedeutetdies, dass die Flächenmetrik erhalten bleibt, also Winkel und auch Strecken(gedätisch gemessen, s.S. 116).

Abb. 7.65 Abwickelbare Flächen (z.B. verbogene rechteckige oder kreisringförmige Papierstreifen)können in die Ebene ausgebreitet und von dort in jede andere abwickelbare Fläche verbogenwerden. Klaudia Kosma erzeugt damit bemerkenswerte Designer-Objekte aus Möbiusbändern.

In fast trivialer Weise ist das bei abwickelbaren Flächen der Fall. Diese lassensich ja in die Ebene ausbreiten bzw. umgekehrt aus ebenen Flächenstückenformen. Wir brauchen also nur eine solche Fläche in die Ebene verbiegenund dann in eine neue abwickelbare Fläche verbiegen. Einfache Beispieledafür finden Sie in Abb. 4.64 oder Abb. 5.6. Abb. 7.65 zeigt am Beispieldes Möbiusbandes, wie so etwas Künstler inspirieren kann. Jede Form derBänder ist eine Verbiegung aus Streifen der Ebene. Diese sind im Fall deroriginellen Uhren im Bild links keine Rechteckstreifen, sondern kreisförmigeBänder, die ganz zwanglos auf sehr originelle Art zusammengeführt werdenkönnen.

Doppelt gekrümmte Flächen kann man bekanntlich nicht abwickeln, aberman kann zwei solcher Flächen unter Umständen – unter extrem einschrän-kenden Bedingungen – ineinander verbiegen. Die Theorie dazu geht weit überden Rahmen dieses Buches hinaus, aber wir kennen trotzdem zwei Flächen,welche alle Bedingungen dafür erfüllen: Die Wendelfläche und die Ketten-fläche. Beide sind Minimalflächen, haben also dieselbe mittlere KrümmungNull. (Eines der Kriterien für die Verbiegbarkeit fordert, dass die Flächeneinander so zugeordnet werden können, dass entsprechende Punkte stets diegleiche mittlere Krümmung haben.)

268 7 Weitere bemerkenswerte Flächenklassen

Abb. 7.66 Die berühmte Mindingsche Biegung erlaubt es, Minimalflächen ineinander zu verbiegen,ohne dass die Flächenmetrik zerstört wird (d.h., es kommt zu keinen Dehnungen und Stauchungen).Verbiegt man die Kettenfläche in die Wendelfläche, ergibt das unendlich viele Minimalflächen mitderselben Flächenmetrik.

Erst auf den zweiten Blick passt folgendes Beispiel (Abb. 7.67) sehr gut indiesen Kontext: Gehäkelte Flächen lassen sich ganz zwanglos verbiegen, ohnedabei nennenswert ihre metrischen Eigenschaften zu zerstören.

Abb. 7.67 Biegsame Flächen: Lilian Boloney häkelt (!) komplizierte mathematische Flä-chen – im Bild die Boysche Fläche, die als Modell für die projektive Ebene die-nen kann. Das biegsame Material erlaubt durchaus das Verbiegen ohne nennenswer-te Änderung der Metrik. Die Künstlerin wurde von einer wissenschaftlichen Arbeit(http://vis.berkeley.edu/papers/methexpview/math_exploded_view_small.pdf) inspiriert.

8 Die unendliche Vielfaltder gekrümmten Flächen

Wir haben schon einige Klas-sen von Flächen kennen gelernt.Durch Variation der sogenanntenParameterdarstellung lassen sichnoch sehr viele weitere Flächen-klassen definieren. Im Zeitalterdes kreativen Designer- oder Ar-chitektenentwurfs am Computer-bildschirm musste aber nach Mög-lichkeiten gesucht werden, ganzallgemeine Flächen durch einfachzu kontrollierende geometrischeBedingungen zu erzeugen. SolcheFreiformflächen werden in diesemKapitel besprochen.

Die Theorie der Freiformflächen ist einige Jahrzehnte alt. Die schnellen Com-puter machen sie heute für jedermann, der am Bildschirm entwerfen will,interessant.Die zu bewältigenden Probleme sind: Wie findet man Flächen, die durchvorgegebene Raumpunkte gehen und dabei gewisse „Randbedingungen“ er-füllen? Wie kann man mit möglichst wenigen „Kontrollpunkten“ arbeiten undeinzelne dieser Punkte ändern, ohne dass sich sofort die Gestalt der gesamtenFläche mit ändert?Der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt, wie so oft, eine Dimensiontiefer. Man definiert ebene Freiformkurven, die gewisse Eigenschaften haben,und überträgt deren Eigenschaften in den Raum. So gelangt man über dieBézierkurven und B-Splinekurven zu den Bézierflächen und B-Splineflächen.

Überblick8.1 Mathematische Flächen und Freiformflächen . . . . . . . . . . . . . . . . 270

8.2 Interpolierende Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

8.3 Bézier- und B-Splinekurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

8.4 Bézier- und B-Splineflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

8.5 Flächendesign einmal anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

270 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

8.1 Mathematische Flächen und Freiformflächen

Abb. 8.1 Funktionsgraph mit „mathematischem Hintergrund“ (Simulation der Hitzeverteilungauf der Kerze Abb. 1.7). Die Schichtenlinien sind algebraische Kurven 4. Ordnung, die nur dannkorrekt dargestellt werden, wenn die Fläche wirklich exakt durch eine Gleichung beschrieben wird.

Viele wohl bekannte Flächen lassen sich durch mathematische Formeln be-schreiben. Dazu gehören praktisch alle Flächen, die wir bisher besprochenhaben, und natürlich noch viele mehr (Abb. 8.1 und Abb. 8.2 zeigen dreidavon).

Abb. 8.2 Flächen, die durch mathematische Formeln generiert wurden

Solche „mathematische Flächen“ besitzen einen oder mehrere formgebendeParameter, die eine gewisse Variation im Aussehen zulassen. Mit entsprechen-dem mathematischen Geschick können unter Umständen auch recht kompli-zierte Flächen generiert werden.Eine sehr elegante Sitzlandschaft von Paolo Piva ist in Abb. 8.3 abgebildet. Die Ideedes Künstlers war tatsächlich eine Einbeziehung der Mathematik in die Kunst.Die Fläche ist durch die auch für Nicht-Mathematiker faszinierende symmetrischeGleichung

z = c ⋅ (y sinx − x sin y) mit c ≈ 0,12, x, y ∈ [−π,π]

8.1 Mathematische Flächen und Freiformflächen 271

Abb. 8.3 Sitz- und Liegelandschaft als mathematisch definierter Funktionsgraph

festgelegt. Entlang der Koordinatenachsen liegen parabolische Punkte vor.

Verschiedenste Typen von FlächenMan kann sich Flächen generell als „Erzeugnis“ einer Raumkurve denken,die einer beliebigen Bewegung unterworfen wird und dabei auch ständig ihreForm ändern kann.Drehflächen entstehen z.B. durch Rotation einer unveränderlichen erzeugen-den Kurve. Verkleinert man diese Kurve proportional zum Drehwinkel auseinem Fixpunkt auf der Drehachse, entsteht eine Spiralfläche.

Addieren und Subtrahieren von OberflächenManche vermeintlich sehr komplizierte Objekte entstehen als Ergebnis vonsogenannten Booleschen Operationen : Körper können zueinander „addiert“,aber auch voneinander „subtrahiert“ werden. Für den Geometer entstehendadurch genau genommen aber keine neuen Flächen: Jedes noch so kleineBegrenzungsstück gehört einer der Ausgangsoberflächen an.

Abb. 8.4 Boolesche Operationen in Architektur und Kunst: „Baumhaus“ (Kubuswohnung inRotterdam, Piet Blom), bei dem ein auf eine Raumdiagonale gestellter Würfel auf ein sechsseitigesStützprisma aufgesetzt wird. Mitte: Addition und Subtraktion. Rechts ein Baumhaus der anderenArt: Erwin Wurm setzte ein Haus auf’s Museum für moderne Kunst in Wien – hier steckt eineklassische Boolesche Subtraktion dahinter. . .

Gefräste Flächen sind auch „Differenzflächen“Beim Fräsen hüllen alle möglichen Lagen des Fräsers einen Körper ein –die Summe aller Fräserlagen. Die ausgefrästen Flächenteile sind dann die

272 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Abb. 8.5 Boolesche Operationen, um die Initialen dreier großer Meister in der Projektion zuerhalten: Gödel, Escher, Bach. Das B wird auf den Kopf gestellt, das E um 90○ verdreht, beidewerden entsprechend längs der Koordinatenachsen verschoben, und schon ergibt die Schnittmengeden gewünschten Restkörper ([19]).

Abb. 8.6 Boolesche Operationen bei Kunstobjekten (Eduardo Chilliada)

Differenzflächen des Ausgangskörpers und dieses Hüllkörpers. Je komplizier-ter Bewegung und Gestalt des Fräsers sind, desto komplizierter ist auch dieHüllfläche. Abb. 8.11 bzw. Abb. 8.12 zeigen eine von Florian Gypser ent-worfene Fläche. Wenn man nur einige Zwischenlagen des bewegten Objektsbetrachtet (der Fachmann nennt das eine diskrete Schar), dann ergeben dieentsprechenden „Abdrücke“ durchaus ansprechende Formen, die im DesignVerwendung finden können.In der Praxis werden gekrümmte Formen oft gefräst. Jeder Fräsdurchgangerzeugt eine neue – oft recht komplizierte – Form (Abb. 8.9).

Abb. 8.7 Extreme Boolesche „Subtraktion“: In der Hochgeschwindigkeitsaufnahme sieht man, wieein Luftdruckgewehr-Geschoss einen Apfel von rechts durchdrungen hat. Das doppelkegelförmigeProjektil ist – eingekreist – relativ gut sichtbar. Rechts: Computergrafik.

8.1 Mathematische Flächen und Freiformflächen 273

Abb. 8.8 Einfache Fräser (zylinder- und kegelförmig)

Abb. 8.9 Flächen als Ergebnis eines Fräsvorgangs. . .

Wie bekommt man die Sache in den Griff?

Generell können beliebig geformte Flächen bis zu einem gewissen Grad durchTeile von Standardflächen angenähert werden. Wegen der limitierten Anzahlder formgebenden Parameter wird das Ergebnis i. Allg. aber nicht befriedi-gend sein.In Zukunft wollen wir unter einer Freiformfläche eine Fläche verstehen, de-ren Aussehen nahezu beliebig geändert werden kann, indem gewisse Parame-ter und erzeugende geometrische Elemente variiert werden. Mit Freiformflä-chen kann man natürlich auch mathematisch definierte Flächen optisch gutannähern. Freiformflächen haben große Bedeutung im industriellen Design

Abb. 8.10 . . . und eine Anwendung ganz anderer Art

274 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Abb. 8.11 Hüllfläche bzw. „Abdruck“ eines bewegten Objekts

Abb. 8.12 Abdruck einer „diskreten“ Schar

(Automobilindustrie, Schiff- und Flugzeugbau) und in der Modellierung undHerstellung interessanter Architekturen.

Die Flächentheorie hilft bei der EinteilungVom vorangegangenen Kapitel wissen wir: Es gibt lokal gesehen nur drei Ty-pen von Flächen – ob Freiformfläche oder mathematische Fläche: Jede nochso komplizierte Fläche ist in der Umgebung eines Punkts gleich gekrümmtwie ein elliptisches oder hyperbolisches Paraboloid bzw. im Grenzfall wie einparabolischer Zylinder oder eine Ebene.Ob Flächen mathematisch definiert oder „frei geformt“ wurden, spielt beiden bisherigen Überlegungen keine Rolle. Wir werden gleich sehen, dass Frei-formflächen natürlich auch irgendwie berechnet werden müssen, also durch(relativ aufwändige, weil „rekursive“) Formeln festzulegen sind. Durch diekompliziertere Definition kommen wesentlich mehr formgebende Parameterzum Tragen.

Abb. 8.13 Teilweise abwickelbare Oberflächen (Museum in Bilbao)

8.2 Interpolierende Flächen 275

8.2 Interpolierende Flächen

Eine nahe liegende Möglichkeit zur Definition von Freiformflächen bestehtdarin, einzelne Punkte der Fläche koordinatenmäßig zu erfassen und Zwi-schenpunkte zu interpolieren. Ist eine Fläche in Form eines Modells gegebenund soll diese computermäßig erfasst werden, kann man durch Digitalisieren(mit Tastgeräten, Lasergeräten oder auf fotografischer Basis) ein Gitternetzauf der Fläche aufbauen, um die Raumkoordinaten der Punkte zu erhalten.Um n + 1 Punkte, die in einer Ebene liegen, durch eine glatte Kurve zuverbinden, liegt die Idee nahe, durch die Punkte eine Parabel p mit n-terOrdnung zu legen.

Abb. 8.14 Polynomfunktion vs. kubischer Spline

Dieser Ansatz ist für Designer allerdings nicht brauchbar: Die Kurven neigen– insbesondere an den Rändern – zum Oszillieren (Abb. 8.14 links, Kurvep). Ein anderer Ansatz setzt die Kurve stückweise aus Parabeln 3. Ordnungzusammen, wobei die einzelnen Kurvenbögen „krümmungsstetig“ ineinanderübergehen (Kurve s in Abb. 8.14). Die zugehörigen Kurven heißen „kubischeSplines“.

Abb. 8.15 Die Wahl der Stützstellen kann entscheidend sein

Die Stützpunkte der Splines sollen möglichst gleich verteilt angenommenwerden (Abb. 8.15), sonst kommt es unter Umständen zu unerwarteten Er-gebnissen. Kurven durch vorgegebene Punkte können aber auch durch dienoch zu besprechenden NURBS beschrieben werden.Immerhin kann man mit interpolierenden Splines schon Flächen beschrei-ben, deren mathematische Gleichung nicht mehr angebbar ist. In Abb. 8.16wurden z.B. Querschnitte von Tierhörnern durch interpolierende Splines be-schrieben und dann mathematischen Transformationen (hier: einer Helispi-ralung) unterworfen.

276 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Abb. 8.16 Approximation von Tierhörnern mittels kubischer Splines

Direktes Modellieren am ComputerDesigner wollen natürlich mit allen Raffinessen direkt am Computer model-lieren und keine Formeln eingeben. Zu diesem Zweck wurde das Konzept derBézier- und B-Splineflächen entwickelt. Mit diesem Konzept können Frei-formflächen optimal gestaltet werden.Um das dahinter stehende Prinzip zu verstehen, wollen wir zunächst Bézier-bzw. B-Spline-Kurven in der Ebene erörtern, um dann zwanglos zu entspre-chenden Raumkurven und in weiterer Folge zu den Bézier- und B-Spline-Flächen zu kommen.

8.3 Bézier- und B-Splinekurven

BézierkurvenBézierkurven zählen zusammen mit den B-Splinekurven zu den wichtigstenmathematischen Repräsentationen von Kurven in der Computergrafik und imcomputer aided design (CAD). Sie wurden 1962 von P. Bézier bei Renaulteingeführt und werden durch ein sogenanntes Kontrollpolygon festgelegt. DieAnzahl der Seiten des Polygons heißt Grad der Kurve.

Abb. 8.17 Der Algorithmus von de Casteljau, Wendepunkt, Kegelschnitte

Die Konstruktionsvorschrift für einen Kurvenpunkt, der zum reellen Parame-ter t gehört – sie stammt bereits von P. de Casteljau (Citroen, 1959) – lautet:Teile alle n Seiten des Polygons im gleichen Verhältnis t ∶ (1−t) (in Abb. 8.17wurde links t = 0,5, daneben t = 0,75 gewählt). Die Verbindungsstrecken derTeilungspunkte ergeben wieder ein Polygon, allerdings hat sich die Anzahlder Seiten um 1 verringert. Den Vorgang wiederholt man für das neue Poly-

8.3 Bézier- und B-Splinekurven 277

gon und erhält ein Polygon mit n − 2 Seiten, usw. Nach n Schritten bestehtdas Polygon nur noch aus einem Punkt – dem Kurvenpunkt. Die zugehöri-ge geteilte Strecke ist Kurventangente. Diese Vorschrift liefert im Spezialfalln = 2 stets eine Parabel. Abb. 8.17 Mitte rechts zeigt eine Bézierkurve vier-ten Grades mit Wendepunkt, festgelegt durch ein vierseitiges Polygon. Ganzrechts ist – schwarz eingezeichnet – eine Bézierkurve 2. Grades, also einegewöhnliche Parabel, zu sehen.Aufgrund ihrer Konstruktionsvorschrift haben Bézierkurven sehr vorteilhaftegeometrische Eigenschaften: Sie liegen immer innerhalb der konvexen Hül-le des Kontrollpolygons, verlaufen durch die Randpunkte des Polygons undberühren dort das Polygon. Die Kurve oszilliert nicht unnötig, so dass sieeine beliebige Testgerade sicher nicht öfter als das Polygon schneidet. Wei-ter genügt es, bei Rotationen, Spiegelungen, Translationen, Skalierungen undParallelprojektionen, das Kontrollpolygon der Transformation zu unterwer-fen, weil die angegebene Konstruktion von Kurvenpunkten und Tangentenaffine Transformationen „verkraftet“. Die Kontrollpunkte gehen somit in dieKontrollpunkte der Bildkurve über.Der erwähnte Algorithmus von de Casteljau kann außer zur Berechnung bzw.Konstruktion von Punkten samt Tangenten auch zum Zerlegen einer Bézier-kurve an einer Stelle t ∈ [0,1] in zwei Teile (Bézierkurven vom selben Grad)verwendet werden (Abb. 8.18) und liefert auch den Schlüssel zur näherungs-weisen Berechnung aller Schnittpunkte zweier Bézierkurven oder einer Bé-zierkurve mit einer Geraden.

Abb. 8.18 Erhöhen des Grades, Zerlegen einer Bézierkurve

Bewegt man irgendeinen der Kontrollpunkte einer Bézierkurve, so ändertsich die Gestalt der gesamten Kurve (globaler Einfluss der Kontrollpunkte)!Dies ist ein Nachteil der Bézierkurven gegenüber den noch zu besprechendenB-Splinekurven. Analoges gilt dann auch für Bézier- bzw. B-Splineflächen.Weiters ist nachteilig, dass man gewisse häufige Kurventypen wie Ellipsenoder Hyperbeln (im Gegensatz zur Parabel) nicht exakt darstellen kann. Umdem Dilemma zu entkommen, wurden die Bézierkurven zu den sogenanntenrationalen Bézierkurven verallgemeinert.

Rationale BézierkurvenDie Kontrollpunkte werden dabei mit Gewichten belegt. Sind alle Gewichtegleich, liegt eine klassische („ganze“) Bézierkurve vor. Geometrisch gesehenkann man die Verallgemeinerung der ebenen Kurve durch Übergang in dienächsthöhere Dimension, also den Raum, interpretieren (Abb. 8.19):

278 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Wir denken uns die ebene Kurve in einer horizontalen Ebene in der Höhe 1und strecken die Punkte des ebenen Kontrollpolygons aus dem Ursprung mitdem jeweiligen Gewicht als Streckfaktor. Damit erhalten wir im allgemeinenFall ein nicht mehr ebenes Kontrollpolygon im Raum, durch das wir mit demAlgorithmus von de Casteljau eine räumliche Bézierkurve legen können. DerZentralriss dieser Kurve aus dem Ursprung in die horizontale Trägerebene derAusgangskurve soll die zugehörige rationale Bézierkurve sein. Damit könnennun unter anderem neben den Parabeln auch Ellipsenteile (im Spezialfallsogar Viertelkreise) und Hyperbelteile dargestellt werden (Abb. 8.17 rechts),die als Zentralrisse von Parabeln auftreten.

Abb. 8.19 Räumliche Deutung Abb. 8.20 Oben: Ganze, unten: rationale Bézierkurven

Für rationale Bézierkurven bleiben im Wesentlichen die Eigenschaften der ge-wöhnlichen Bézierkurven erhalten. Hinzu kommt noch, dass auch projektiveTransformationen das Wesen der Kurve unverändert lassen: Es genügt, dasKontrollpolygon der Transformation zu unterwerfen: Die vom transformier-ten Polygon erzeugte rationale Bézierkurve entspricht dann der projektivenTransformation der ursprünglichen Bézierkurve.

B-Splinekurven

Durch Zusammenstückeln von rationalen Bézierkurven (der Übergang kannkrümmungsstetig erfolgen, wenn der Grad mindestens 3 ist) ergeben sichsogenannte Béziersplines . Sie haben den Vorteil, dass das Verändern voneinzelnen Punkten der Kontrollpolygone keinen globalen Einfluss mehr aufdas Resultat hat. Als einziger Nachteil verbleibt, dass die Datenmengen fürdie Kontrollpolygone bald recht groß werden, weil Béziersplines sich nur „un-willig“ an beliebige – insbesondere konvexe – Formen anpassen (das heißt,man braucht i. Allg. viele Kontrollpunkte). Diesen Nachteil überwinden die1964 von J. Ferguson (bei Boeing) eingeführten B-Splinekurven, die sonstrecht ähnliche Eigenschaften wie Béziersplines haben.Für B-Splinekurven gibt es in Analogie zum de Casteljau Algorithmus densogenannten de Boor Algorithmus. Die Verwandtschaft zwischen Bézierkur-ven und B-Splinekurven geht so weit, dass sich jedes Kurvensegment in eine

8.4 Bézier- und B-Splineflächen 279

Bézierkurve umwandeln lässt. Der Grad der Kurve sagt aus, wie viele Kon-trollpunkte in der Umgebung eines Punkts für dessen Lage zuständig sind.Um diesen Einfluss zu quantifizieren, wird zusätzlich zum Kontrollpolygonein „Knotenvektor“ angegeben, der festlegt, wie stark der Einfluss der jeweili-gen Nachbarpunkte des Kontrollpolygons sein soll. Dieser Vektor muss mehrKomponenten haben als die Anzahl der Kontrollpunkte. Soll die Kurve durchdie Randpunkte des Kontrollpolygons gehen, müssen sich die Anfangs- undEndkomponenten des Knotenvektors entsprechend oft wiederholen (siehe fol-gendes Beispiel).

Rationale B-Splinekurven (NURBS)Gibt man zu allen Punkten des Kontrollpolygons zusätzlich wie bei denrationalen Bézierkurven Gewichte an, kommt man zu den rationalen B-Splinekurven. Man nennt sie auch NURBS=Non-Uniform Rational B-Splines– „non-uniform“ bedeutet, dass die Knoten nicht mit gleichen Abständen ver-teilt sein müssen. Der Einheitskreis lässt sich z.B. durch das Kontrollpolygon(1,0), (1,1), (-1,1), (-1,0), (-1,-1), (1,-1), (1,0), den Knotenvektor (0, 0, 0, ¼,½, ½, ¾, 1, 1, 1) und die Gewichte (1, ½, ½, 1, ½, ½, 1) darstellen. Aus der Kreis-darstellung lassen sich in weiterer Folge exakte Drehflächen konstruieren.NURBS erfüllen analoge Eigenschaften wie ganze B-Splinekurven: LokaleKontrolle, Konvexe-Hülle-Eigenschaft, falls alle Gewichte positiv sind, Stetig-keit (Krümmungsstetigkeit), Invarianz unter affinen und projektiven Trans-formationen. Es gibt wieder einen de Boor Algorithmus für NURBS, mit demKurvenpunkte berechnet werden können oder eine NURBS in zwei Teile zer-legt werden kann.

8.4 Bézier- und B-Splineflächen

Gibt man statt eines Kontrollpolygons ein Vierecksnetz (m ⋅ n Seiten) an,so lassen sich analog zu den Bézierkurven bzw. B-Splinekurven Bézierflä-chen und B-Splineflächen definieren: Sind Pij die Punkte des Netzes (i =0,⋯,m; j = 0,⋯, n), dann definieren die n + 1 Punkte mit festem i die Kon-trollpunkte einer Bézierkurve bzw. B-Splinekurve. Für jede dieser m+1 Kur-ven gibt es nach den Algorithmen von de Casteljau bzw. de Boor zu jedemParameter t eindeutig bestimmte Punkte, die wiederum als Kontrollpunktefür eine Bézierkurve bzw. B-Splinekurve verwendet werden können. Damithaben wir eine kontinuierliche Schar von Kurven auf der Fläche definiert.Analog erhält man eine ergänzende Schar von Kurven, wenn man den Indexi variiert und den Index j fest hält.Bézierflächen haben ähnlich günstige Modellier-Eigenschaften wie Bézierkur-ven: Die Fläche verläuft durch die Außeneckpunkte des Netzes und wird dortvon jenen Ebenen berührt, die von den entsprechenden Seiten des Vierecks-netzes aufgespannt werden. Die Fläche liegt in der konvexen Hülle des Netzes.

280 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Abb. 8.21 Bézierfläche Abb. 8.22 Teilung (Graderhöhung + lokale Veränderung)

Um eine Fläche affin zu transformieren, genügt es, das Netz zu transformie-ren. Rationale Bézierflächen (sie werden demnächst besprochen) sind sogarprojektiv invariant. Als Nachteil erweist sich wieder, dass sich bei Verände-rung eines einzigen Kontrollpunkts die gesamte Fläche verändert. Man kannsich helfen, indem man temporär den Grad der Fläche erhöht, die Fläche zer-teilt und nur die einzelnen Teile manipuliert. Sind beide Flächengrade m undn mindestens 3, dann kann man erreichen, dass sich einander die Flächenteilekrümmungsstetig berühren. Für den Designer ist Krümmungsstetigkeit vongroßer Bedeutung: Glänzende Flächen ohne diese Eigenschaft erzeugen sonst„Lichtkanten“ .Regelflächen und Zylinderflächen lassen sich als Bézierflächen leicht dar-stellen, indem einer der beiden Grade m oder n auf 1 reduziert wird. ImFall der Zylinder müssen die Verbindungsgeraden entsprechender Kontroll-punkte parallel sein. Paraboloide ergeben sich für (2,2)-Netze (aber nur dieSchiebflächen unter den (2,2)-Netzen sind Paraboloide). Gehen die Polygo-ne des Vierecksnetzes durch Schiebung auseinander hervor, dann entstehteine Schiebfläche. Mathematische Flächen können durch Bézierflächen ge-nau dann exakt dargestellt werden, wenn sie eine Parameterdarstellung ausPolynomfunktionen besitzen.

Verallgemeinerte BézierflächenVersieht man bei den Bézierflächen jeden Netzpunkt mit einem Gewicht,kommt man zu den rationalen Bézierflächen. Mit ihrer Hilfe kann eine größe-re Flächenklasse exakt dargestellt werden, nämlich solche Flächen, deren Pa-rameterdarstellung als rationale Funktion (Bruch von Polynomfunktionen)geschrieben werden kann. Dies deckt natürlich nur einen kleinen Teil allermöglichen Flächen ab, so dass man am besten mit Subnetzen arbeitet, dieunabhängig bearbeitet werden können.

Abb. 8.23 Ganze B-Splineflächen, offen und geschlossen

8.4 Bézier- und B-Splineflächen 281

B-Splineflächen können so wie B-Splinekurven lokal manipuliert werden, undauch sonst haben die Flächen ähnlich günstige Eigenschaften wie B-Spline-kurven. Abb. 8.23 zeigt offene und geschlossene Kontrollnetze und die zuge-hörigen Flächen.

Abb. 8.24 Rationale B-Splineflächen (NURBS), offen und geschlossen

Am flexibelsten sind die rationalen B-Splineflächen (NURBS-Flächen), dieneben den Kontrollpunkten auch zwei Knotenvektoren für die beiden Rich-tungen verarbeiten. Diese Flächen sind daher in allen einschlägigen CAD-Systemen bzw. deren Designer-Modulen implementiert.

Abb. 8.25 Eine nette Anwendung der NURBS (vgl. Abb. 2.30)

● Praktische Umsetzung

Wenn man nun am Computer eine Freiformfläche entworfen hat, beginnen i. Allg.die Probleme mit der praktischen Umsetzung. Prototypen von Freiformflächen kannman mit rapid prototyping relativ leicht erzeugen: Dreidimensionale „Drucker“ erzeu-gen dünne Querschnittsflächen aus Kunststoff, die dann zusammengeleimt werden.

Abb. 8.26 Eine praktische Umsetzung eines Entwurfs mittels NURBS

282 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Große Flächen fordern enorme Mittel. An der Universität für angewandte KunstWien wurde ein entsprechendes Patent (Sigrid Brell-Cokcan und Dumene Comploi)eingereicht, das es erlaubt, Biegemaschinen per Computer so zu steuern, dass einexaktes Drahtgittermodell der Fläche aus Stahl erzeugt wird (Abb. 8.26, EntwurfMario Gasser, Cornelia Faißt und Lis Ehses). ◾

● Nussschalen aus KunststoffEine interessante Idee von Marcus Bruckmann und Ursula Klein / schultes-wien besteht darin, kongruente kreisförmige Kunststofffolien miteinander zuverschweißen und mit Luft aufzublasen.

Abb. 8.27 Oberflächen unter Druck, abgeleitet aus den platonischen Körpern

Die entstehenden Gebilde (Abb. 8.27) haben platonische Körper als Grund-gerüste. Ihre Formen erinnern an die Schalen diverser brasilianischer Nüsse.Sie wurden mithilfe von NURBS realitätsnah modelliert.

Abb. 8.28 „Aufgeblasener“ Würfel bzw. Dodekaeder mittels NURBS◾

8.5 Flächendesign einmal anders 283

8.5 Flächendesign einmal anders

Ein Wechselspiel zwischen Kunst und GeometrieEine unorthodoxe Fragestellung der Keramikerin Silvia Siegl und deren über-raschende Lösung am Computer führte in weiterer Folge zu einer Serie vonProjekten.

Abb. 8.29 Die anfängliche Fragestellung. . .

Zunächst ging es nur darum, Keramik-Linsen, die mit zwei orthogonalenStäben gleicher Länge starr verbunden waren, in gewisse Muster zu biegen.Dies sollte durch Kugelgelenke in den Endpunkten der Stäbe möglich sein(Abb. 8.29). Die geometrische Analyse lief zunächst darauf hinaus, dass manhier versuchen musste, Quadrate mit den Eckpunkten in den Gelenken anzu-ordnen. In der Ebene ist das problemlos möglich, und aus der Ebene bewegtman sich durch Knicken des „Linsenteppichs“ längs der Quadratseiten. So einAbknicken lässt sich aber nur durchführen, wenn dabei mehrere Linsen ihrePosition ändern.

Abb. 8.30 . . . wurde zunächst von Franz Gruber am Computer gelöst.

Lassen wir in weiterer Folge die Linsen weg und materialisieren sie durchkleine magnetische Kügelchen, von denen vier gleich lange – ebenfalls ma-gnetisch gedachte – Stäbe ausgehen. Dieses bewegliche magnetische Netzlässt sich tatsächlich gut an die gängigen Formen anpassen. Zur Illustrationwurde in Abb. 8.31 unser Netz über zwei Kugeln geworfen.Damit hat man eine Möglichkeit gefunden, Freiformflächen durch „Magnet-netze“ anzunähern. Je vier Stäbe bilden dabei „windschiefe Rauten“, die man

284 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

Abb. 8.31 Netzwurf über eine Szene: Eine „Quadrangulierung“ der anderen Art. . .

mittels einer der beiden Diagonalen in zwei Dreiecke zerlegen kann. Die da-bei entstehende Triangulierung hat immerhin den großen Vorteil, dass dieDreiecke allesamt gleichschenklig und „halbwegs gleich groß“ sind.

Abb. 8.32 Belastungsproben in Theorie und Praxis. . .

So vorteilhaft die neuartige Triangulierung auch sein mag: Die Ränder gera-ten dabei völlig außer Kontrolle. Nun kann man sich überlegen, was passiert,wenn man z.B. die vier Eckpunkte eines rechteckigen Magnetnetzes in ihrerEndlage angibt.Die Lösung dieses Problems ist jetzt schon komplizierter, und es wird i. Allg.keine exakte Lösung geben. Das heißt, die Stäbe müssen – so wenig wie nurirgend möglich – gedehnt oder gestaucht werden. Abb. 8.32 links illustriertmittels Verfärbung ins Gelbliche bzw. Rötliche, wo bei praktischen Aufgabenmehr oder weniger starke Dehnungen auftreten.Insgesamt nahm das Projekt damit neue Dimensionen an und endete schließ-lich in einem Simulationsprogramm für eine Erzeugerfirma von magnetisch-geometrischem „Spielzeug“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Geomag), vondem im Buch einige Illustrationen zu sehen sind (z.B. Abb. 3.35).

8.5 Flächendesign einmal anders 285

Abb. 8.33 „Triangulation“ – Detail

Hier passt bis zu einem gewissen GradAbb. 8.33: In ihrer Arbeit: „Triangulati-on an einem Hund“ beschäftigt sich OonaPeyrer-Heimstätt philosophisch und geome-trisch mit der Frage, ob man alles triangu-lieren darf. . .Anmerkung vom Standpunkt der Geome-trie: Die Künstlerin verwendete ausschließ-lich gleichseitige Dreiecke (!) – dies funk-tioniert, wenn man es mit dem aneinanderHeften der Dreiecke nicht immer ganz ge-nau nimmt, nach demselben Prinzip wie beiden Keramiklinsen. Die exakte Lösung einerTriangulierung mit gleichseitigen Dreieckenführt theoretisch nämlich immer auf Teilesehr weniger einfacher Basiskörper, die ausgleichseitigen Dreiecken bestehen.

Architektur-Entwurf einmal andersIn der Architektur spielen, wie wir schon des Öfteren erwähnt haben, abwi-ckelbare Flächen eine enorme Bedeutung: Sie lassen sich ohne die manchmallästige Triangulierung bauen und verlieren dabei nichts von ihrer gekrümm-ten Schönheit. Beispiele dafür gibt es mittlerweile zuhauf. Abb. 8.34 zeigtnochmals zwei schöne Anwendungen.Die Frage ist, wie man am besten architektonische Formen entwirft, die ga-rantiert abwickelbar sind. Architekten haben dafür ihre eigenen Methoden:Unter anderem arbeiten sie mit verbiegbaren Streifen aus verschiedenen Ma-terialien, die sie in entsprechende Positionen krümmen (Abb. 8.35).

Abb. 8.34 Abwickelbare Fassaden haben eine anziehende Eleganz. Links: Santiago CalatravasOpernhaus in Teneriffa (Kegelteile), rechts: Frank O. Gehrys Neuer Zollhof in Düsseldorf

Wenn nun das Modell in eine fortgeschrittene Phase kommt, muss es insComputerprogramm transferiert werden. Nun beginnt gelegentlich der Kom-promiss: Die gängigen Programme unterstützen das Konstruieren mit solchenStreifen – bis dato – nicht. Was vorher abwickelbar war, wird jetzt mitun-

286 8 Die unendliche Vielfalt der gekrümmten Flächen

ter eine beliebige Freiformfläche. Am Computer merkt man optisch zunächstnicht allzu viel, wenn das Kunstwerk aber gebaut werden soll, ist es mit dereinfachen Herstellung wieder vorbei, und Fassaden müssen entweder wiedereinmal trianguliert oder sehr aufwändig doppelt gekrümmt hergestellt wer-den.

Abb. 8.35 Klassischer Entwurf mit Streifen. Links: Lars Spuybroek, Centre de Musique Pop,Nancy. Rechts: ein entsprechender Entwurf mit einem eigens entwickelten Computerprogramm.

An der Universität für angewandte Kunst wurde nun ein solches Programm-paket in Angriff genommen und entsprechend publiziert ([17]). Es ermöglicht,anstatt Flächen mit Kurven zu modellieren (Abb. 8.35 rechts). Diese werdenals Mittellinien von „Papierstreifen“ interpretiert, welche die rektifizierendenTorsen der Kurve sind. Die Kurven können wie gewöhnlich auf NURBS-Basiserstellt und manipuliert werden.Bei der praktischen Umsetzung ergeben sich natürlich rasch Probleme, dieunter Kontrolle zu bringen sind: Die Mittellinie darf nicht jede beliebige Formannehmen, weil die zugehörige Torse sonst Selbstschnitte hat. Geometrischkann man so etwas verhindern, indem man die Gratlinie der Torse berechnet.Wenn diese „zu nahe“ an die Mittellinie herankommt, darf der Designer indiesem Bereich keine weitere Verbiegung vornehmen. Dies ist einerseits eineEinschränkung im Design, anderseits aber die Garantie, dass der Entwurfin jeder Phase realitätsnah bleibt und nicht nachträglich wieder manipuliertwerden muss.

Abb. 8.36 Designen mit Streifen: Zusammen mit modifizierten Booleschen Operationen genügenoft wenige solcher Elemente, um interessante abwickelbare Formen zu entwickeln.

9 Fotografische Abbildung undindividuelle Wahrnehmung

Dieses Kapitel ist der Zentralpro-jektion gewidmet, die sowohl beimeinäugigen menschlichen Sehen alsauch bei der fotografischen Ab-bildung zum Tragen kommt. Dieeinfache Lochkamera realisiert ge-nau diese Projektion. Die Bildent-stehung im menschlichen Auge istweitaus komplizierter, weil die Bild-fläche nicht eben ist. Schon die Ma-ler der Renaissance brachten die„Perspektive“ auf einen hohen Stan-dard.

Von besonderer Bedeutung ist das Wissen um Fluchtpunkte und Flucht-spuren (z.B. den Horizont). Wir werden einige Techniken besprechen, mitdenen man relativ rasch zu schönen Ergebnissen in der Perspektive kom-men kann, obwohl der Schwierigkeitsgrad beim perspektivischen Zeichnendurchaus nicht niedrig ist. Wichtig ist, dass das „Durchschnittverfahren“ derPerspektive voll verstanden wird.Obwohl man heute kaum noch komplizierte Perspektiven zeichnet, sind theo-retische Grundkenntnisse erforderlich, um ebensolche Perspektiven (Fotogra-fien) „entzerren“ und räumlich richtig interpretieren zu können.Schlussendlich werden alternative Perspektiven besprochen: Bei ihnen wirdauf Zylinder oder doppelt gekrümmte Flächen projiziert, was auch beim na-türlichen Sehen der Fall ist. Entscheidend beim Erstellen von Perspektivenist, wo der Standpunkt eines zukünftigen Betrachters sein wird. Das Betrach-ten einer Perspektive ist nämlich eine erneute Zentralprojektion. Eine ver-nünftige Kombination dieser beiden Projektionen ist unbedingt anzustreben,um die richtige Wirkung zu erzielen.

Überblick9.1 Das menschliche Auge und die Lochkamera . . . . . . . . . . . . . . . . 288

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

9.3 Andere Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

9.4 Geometrie an der Wasseroberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

288 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

9.1 Das menschliche Auge und die Lochkamera

Über lange Zeit war man überzeugt, dass die perspektivischen Bilder, die eineLochkamera (und damit im Wesentlichen jede gewöhnliche Kamera oder auchder Konstrukteur) erzeugt, praktisch identisch sind mit jenem Bild, das wiruns – einäugig – von der dreidimensionalen Welt machen. Als „Beweis“ dientdabei der berühmte Versuch von Filippo Brunelleschi aus dem Jahre 1401(!):

Abb. 9.1 Die Iris und verschiedene „Blendenstufen“

Ein Beobachter schaut durch ein kleines Loch in einer Wand auf ein räumli-ches Objekt (damals war es das Baptisterium in Florenz). Dann wird diesesLoch kurz abgedeckt und zwischen Beobachter und Objekt eine Wand ein-geschoben, auf der eine Perspektive des Objekts aus der Lochposition aufge-tragen ist. Wenn das Loch wieder freigegeben wird, vermeint der Betrachternach wie vor, das räumliche Objekt zu sehen (Abb. 9.2).Brunelleschi machte es sogar einen Schritt ausgeklügelter: Die eingeschobeneWand war ein Spiegel, und in diesem erblickte man die auf der Rückseite derWand mit dem Loch aufgemalte Perspektive, was aber auf dasselbe hinausläuft.Tatsächlich ist es so, dass, wenn das Auge des Betrachters in eine genauvorgegebene Position dem Objekt gegenüber gezwungen wird, derselbe sub-jektive Eindruck vermittelt wird wie bei einer Zentralprojektion aus ebendieser Position. Wenn dieser Zwang nicht gegeben ist, wird selbst der einäu-gige Betrachter schon nach kurzer Zeit (selbst in einer Dunkelkammer undunter sonst idealen „Zauberei-Bedingungen“) durch Änderung seiner Positi-on merken, dass er ein zweidimensionales Bild vor sich hat, das aus anderenPositionen unrealistisch erscheint.

9.1 Das menschliche Auge und die Lochkamera 289

Abb. 9.2 Die geniale Idee von Brunelleschi – von Otmar Öhlinger interpretiert

Besonders sensibel sind wir bei Kugeln. In einer klassischen Perspektive (Fo-tografie) erscheint der Umriss einer Kugel in den meisten Fällen elliptisch (dierestlichen Kegelschnitte treten in der Praxis selten auf). Die Umrissellipse istumso exzentrischer, je weiter der Mittelpunkt der Kugel von der optischenAchse (dem Hauptsehstrahl) entfernt ist. Trotzdem: Wenn der Betrachter indie richtige Position gedrängt wird, wird er den Kugelumriss zweifelsfrei fürkreisförmig erklären. Kein Wunder: Der Projektionskegel der Ellipse durchsein Auge ist ein Drehkegel. Entfernt sich nun der Betrachter von der idea-len Position, dann wird aus dem Projektionskegel ein elliptischer Kegel, undschon wird der Betrachter erklären, dass „mit der Kugel etwas nicht stimme“.

Abb. 9.3 Fast kreisförmiger Umriss einer Kugelnur in der Nähe der Bildmitte!

Abb. 9.4 Schnitt durch den fast kugelförmigenAugapfel

Wenn wir eine Kugel betrachten, dann rücken wir unbewusst die Kugelmittein das Zentrum unseres Blickfeldes. Die optische Achse wird so die Verbin-dung des Auges mit der Kugelmitte. Dies geschieht entweder durch Verdrehendes Kopfes oder – bis zu einem gewissen Grad gleichwertig – mit einem Rollendes Augapfels. Nun erscheint der Umriss der Kugel tatsächlich kreisförmig.Aber wie bildet sich dieser Kreis in der Perspektive auf unserer Netzhaut ab?Nach den Gesetzen der Optik (und unser Glaskörper mit der eingebauten op-tischen Linse ist ein optisches Gerät) ist ein Drehkegel, dessen Achse ziemlichgenau mit der optischen Achse übereinstimmt, mit einer Kugel (der einiger-maßen kugelförmigen Netzhaut) zu schneiden. Das ergibt tatsächlich einen

290 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Kreis auf der gekrümmten Netzhaut. Jetzt müssen noch die Sehnerven dasGanze ins Hirn übertragen, und dort wird – aufgrund von Erfahrungswerten– aus dem gekrümmten Eindruck ein Raumobjekt reproduziert. Dabei wirdzusätzlich das Bild, welches das zweite Auge erzeugt, mit verarbeitet.

Abb. 9.5 Iris und Pupille, Krümmung der Hornhaut. Rechts: Seltsame Effekte durch „Bildhebung“.

Der Vorgang ist alles andere als einfach. Wie auch immer wir den Raumwahrnehmen, hilft folgendes Modell, vieles zu erklären: Wir messen eigentlichkeine Strecken, sondern Sehwinkel. Ein Kreis ist damit für uns keine Kurve,deren Punkte von einem gegebenen Punkt gleichen Abstand haben, sondernein Kreis ist eine Kurve, bei der die Sehstrahlen durch ihre Punkte mit deroptischen Achse einen konstanten Winkel, also einen Drehkegel, bilden. UndKurven, die auf demselben Drehkegel verlaufen, werden von uns ebenfallsspontan als Kreise bezeichnet – bis uns eine Änderung der Augposition einesBesseren belehrt.

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive

In diesem Abschnitt geht es um perspektivische Konstruktionen, die frühereine wesentliche Hilfe beim Erstellen von Perspektiven waren. Im Zeitalterder Computergrafiken, in dem das Konstruieren im Aussterben ist, gibt esgewichtige Gründe, den Hintergrund der Konstruktionen verstanden zu ha-ben. Ein erster Grund liegt sicherlich darin, dass die Kunst, perspektivischrichtige Skizzen zu machen, in Zukunft immer noch gefragt sein wird. Diesmag eher künstlerisch veranlagte Menschen betreffen. Ein zweiter Grund ist,dass aus dem Wissen über die Konstruktionen hoch aktuelle Fragen beant-

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 291

Abb. 9.6 In beiden Fällen ist der Hauptsehstrahl (die optische Achse) waagrecht, links sogar aufganz spezielle Weise, nämlich senkrecht zur hinteren Wand (frontale Perspektive).

Abb. 9.7 In beiden Fällen ist der Hauptsehstrahl nach oben gerichtet – links sogar senkrecht. Inbeiden Fällen wurde auch eine Symmetrie der Hauptrichtungen angestrebt (Dom zu Trier).

wortet werden können, die in den Bereich „Rekonstruktion“ hinein fallen –bis zum Verständnis eines 3D-Scanners!

Das DurchschnittverfahrenPerspektivische Abbildung ist eine Zentralprojektion. Punkte des Raumswerden abgebildet, indem sie mit einem Augpunkt zu Sehstrahlen verbun-den und diese mit der Bildebene geschnitten werden. Technische Gegenstän-de haben meistens paarweise orthogonale „Hauptrichtungen“. Wir wollen dieBildebene zunächst parallel zur lotrechten Richtung annehmen. Dies hat denVorteil, dass wir gewisse Vorgangsweisen leichter verstehen – eine nachträg-liche Verallgemeinerung bereitet keine Probleme.In Abb. 9.8 wurde ein Objekt schräg zur Bildebene π aufgestellt (sieheGrundriss). Die gesuchte Perspektive ist der Schnitt der Sehpyramide ausdem Augpunkt E mit π. Durch die spezielle Aufstellung (π ∥ π2) ist derAufriss der Schnittfigur bereits die gesuchte Perspektive. Der Aufriss von E

ist der Hauptpunkt H der Perspektive, der Abstand Eπ = EH ist die Distanzd. Der Kreis um H mit Radius d heißt Distanzkreis.• Horizont und Hauptfluchtpunkte

Die Grundebene γ liegt horizontal. Jeder Fernpunkt in γ hat ein Bild,das man den Fluchtpunkt nennt, auf der Fluchtspur von γ, dem Horizont

292 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

h, der bei dieser Aufstellung durch H geht. Insbesondere haben z.B. dieFernpunkte der beiden horizontalen Hauptrichtungen Fluchtpunkte F1,F2, die man durch Parallelverschieben der Richtungen durch den Aug-punkt erhält. Aufgrund der Konstruktion erkennt man (vgl. Abb. 1.38):

Abb. 9.8 Durchschnittverfahren

Fluchtpunkte F1 und F2 zu orthogonalen Richtungen liegen anti-invers zumDistanzkreis.

Der Distanzkreis sollte in keiner Perspektive fehlen. Alle Bildteile, die außerhalbdieses Kreises liegen, sind stark verzerrt und werden beim Betrachten des Bildesim Normalfall als „unnatürlich“ beurteilt – darüber werden wir noch ausführlichsprechen. „Klassische Perspektiven“ liegen am besten gut eingebettet im „halbenDistanzkreis“. Das bedeutet, dass der Sehkegel um die optische Achse, in demunsere Szene eingebettet ist, einen Öffnungswinkel von etwas mehr als 50° hat.

Verschiebt man die Bildebene parallel, dann wird die Perspektive nur vergrößertbzw. verkleinert. Verschiebt man hingegen das Objekt rechtwinklig zur Bilde-bene, ändert sich dessen Relativposition zum Augpunkt, und damit auch derperspektivische Eindruck. Bei Computerprogrammen, die Perspektiven interak-tiv am Bildschirm erzeugen, ist das Parallelverschieben der Bildebene das „Zoo-men“. Der Versuch, eine gewöhnliche Bildvergrößerung durch Herangehen an dasObjekt zu erzwingen, führt zu immer neuen (und immer extremer werdenden)Perspektiven.

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 293

• Spezielle und allgemeine Punkte

Besonders einfach erhalten wir Perspektiven jener Punkte, die in π liegen.Es sind die Aufrisse der Punkte. Die vordere Kante des Hauses (durchPunkt A) wurde deshalb im Beispiel aus zeichentechnischen Gründen inder Bildebene angenommen. Wir wollen nun einen allgemeinen Punkt P ,etwa am First des Daches, abbilden. Im Grundriss ist seine Projektion P c′

sofort gefunden. Um den Aufriss P c′′ (und damit die Perspektive P c) zufinden, verlängern wir den First bis zum Punkt B in der Bildebene. SeinDurchstoßpunkt B mit der Bildebene liegt in der unverzerrten Firsthöhe.Damit kann das Bild des Firsts eingetragen werden (BF1). P c liegt amOrdner. Wir sehen also, dass Punkte am besten durch spezielle Geraden„angegittert“ werden, wobei gilt:

Geraden sind durch Spurpunkt und Fluchtpunkt festgelegt.

Wir hätten P auch an einer sogenannten Tiefengerade rechtwinklig zur Bildebeneangittern können. Diese fluchten im Hauptpunkt H. P c liegt also auch auf P ′′H.

• Spuren und Fluchtspuren

Weil das mit den Geraden so gut geklappt hat, versuchen wir uns an denEbenen. Die horizontale Basisebene γ hat eine Spur g in π, die als Grund-linie bezeichnet wird. Die Fluchtspur von γ ist der Horizont h. Betrachtenwir nun die durch die linke Hauswand definierte erstprojizierende Ebeneε. Sie besitzt eine lotrechte Spur e und eine dazu parallele Fluchtspurecu durch F2. Auf dieser Fluchtspur liegen alle Fluchtpunkte (Bilder vonFernpunkten) von ε. Die paarweise parallelen schrägen Dachkanten habenim Bild daher Fluchtpunkte auf ecu (vgl. auch Abb. 9.14).

Abb. 9.9 Sonnenaufgang und Monduntergang

● Schattenkonstruktion in PerspektiveIn der Perspektive ist für einen Laien nicht viel Unterschied zwischen einerParallelbeleuchtung und einer Zentralbeleuchtung zu erkennen. Sonne und

294 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Mond sind Punkte (eigentlich kleine Kreisscheiben) am Firmament, von de-nen Lichtstrahlen ausgehen. Mithilfe vertikaler „Lichtebenen“ kann man denSchatten eines Punkts P ermitteln, wenn sein Grundriss bekannt ist.

Abb. 9.10 Der „Sonnenpunkt“ und das gar nicht parallel anmutende Sonnenlicht

Die Zusatzbedingung, dass der Grundriss eines Punkts bekannt sein muss, ist beiAnwendungen in der Architektur meist erfüllt. Prinzipiell gilt: Man muss von einemRaumpunkt zwei ebene Risse kennen, sonst ist der Punkt nicht eindeutig definiert.

Abb. 9.11 Gegenlicht: Links Parallel-, rechts Zentralbeleuchtung (Blitzlicht)

Abb. 9.12 Sonnenpunkt und Sonnenfußpunkt in Theorie und Praxis

Insbesondere ist natürlich auch die Lichtquelle erst „fixiert“, wenn man ihren Grund-riss kennt. Ist die Lichtquelle die Sonne, dann liegt ihr Grundriss – der auch einFernpunkt ist – auf einer Lotrechten durch das Bild Lc

u der Sonne und auf demHorizont. L′cu heißt Sonnenfußpunkt. Wenn die Sonne über dem Horizont zu sehenist, liegt der Sonnenfußpunkt natürlich unter Lc

u, und wir haben Gegenlicht.

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 295

Bei Rückenlicht ist die Sonne nicht im Bild zu sehen. Geometrisch gesehen kannsie aber – wie jeder andere Punkt auch – trotzdem abgebildet werden und ihr(theoretisches) Bild liegt unter dem Horizont. Dies ist für den Anfänger oft rechtungewohnt. Sowohl in Abb. 9.13 als auch in Abb. 9.14 steht die Sonne im Rückendes Betrachters.Bei Seitenlicht fällt das Licht parallel zur Bildebene ein. In diesem Spezialfall sindsowohl der Sonnenpunkt als auch der Sonnenfußpunkt Fernpunkte. Alle Konstruk-tionen, die im Folgenden angegeben werden, lassen sich dann genauso durchführen,indem man ständig parallel verschiebt.

Abb. 9.13 Lichtebenen. . . Abb. 9.14 . . . und Dachebenen

In Abb. 9.13 wird der Schatten von P auf die Basisebene ermittelt, indemder Punkt mit dem Sonnenpunkt verbunden wird und dieser Lichtstrahl mitseinem Grundriss – der Verbindung des Sonnenfußpunkts mit P ′ – geschnit-ten wird. Die horizontale Gerade durch P ist parallel zur Basisebene, ihrSchatten ist daher parallel zu dieser und hat denselben Fluchtpunkt wie dieGerade.Die Spur der Lichtebene λ durch P in der horizontalen Basisebene ist durchP ′ und den Sonnenfußpunkt L′cu bestimmt. Die Fluchtspur lcu der Lichtebe-ne durch eine vertikale Gerade verbindet Sonnenpunkt und Sonnenfußpunkt.In Abb. 9.14 wird der Schatten einer Stange PP ′ auf eine schräge Dache-bene ermittelt. Zu diesem Zweck wird die Lichtebene λ mit dem Gebäudegeschnitten. Der schräge Anteil des Schattens ist Teil dieser Schnittfigur. ZurKontrolle kann man auch die Fluchtspur der Lichtebene mit der Fluchtspurder schrägen Dachfläche schneiden.Wenn die Lichtquelle nicht die Sonne ist, dann ändert sich nicht viel an der Kon-struktion. Einzig der Fußpunkt der Lichtquelle liegt nicht mehr am Horizont.

● Schatten bei Seitenlicht und allgemeiner Perspektive (Abb. 9.15)Allgemeine Perspektiven, also Zentralprojektionen mit nicht lotrechter Bild-ebene, sind generell schwieriger zu konstruieren. Im Bild verlaufen nämlichlotrechte Kanten jetzt durch einen dritten Hauptfluchtpunkt F3, und mankann Höhen nicht mehr bequem durch Übertragen von Teilverhältnissen auf-

296 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

tragen. Man kann sich helfen, indem man beim Durchschnittverfahren dieBildebene nach wie vor lotrecht wählt und wichtige Punkte des Objekts ge-kippt in Grund- und Aufriss einzeichnet – dies erfordert einen zusätzlichenSeitenriss (eine genaue Beschreibung dazu findet man auf der Webseite zumBuch).

Abb. 9.15 Schatten bei Seitenlicht und gekippter Bildebene definieren wir sinnvollerweise so, dassdie Schatten von lotrechten Kanten auf die Grundebene parallel zur Bildebene und damit im Bildparallel sein sollen. Die Lichtstrahlen selbst sind im Bild nicht parallel (Fluchtpunkt Lc

u).

In diesem Beispiel soll es aber primär um die Ermittlung des Schlagschat-tens bei Seitenlicht gehen. Sei P ein Raumpunkt mit Grundriss P ′. In derPerspektive haben wir dann die Lotrechte P cP ′

c, die den HauptfluchtpunktF3 besitzt. Wir definieren Seitenlicht sinnvollerweise wie folgt: Das Licht sollso einfallen, dass parallele Lotrechte im Bild parallele Schatten auf die waag-rechte Grundebene werfen (Abb. 9.15 links). Also ist der SonnenfußpunktL′u

c dann der Fluchtpunkt der waagrechten Richtung. Die Lichtstrahlen kön-nen nun nicht, wie man es vom Spezialfall mit lotrechter Bildebene kennt,parallel zur Bildebene sein. Der Sonnenpunkt Lc

u liegt „lotrecht“ über demSonnenfußpunkt, weshalb der Ordner L′u

cLu

c durch F3 verlaufen muss undsomit waagrecht ist. Jeder Punkt auf dieser Waagrechten kann als Sonnen-punkt dienen. Der Rest der Konstruktion ist reines Linieren: Das Bild desSchattens Ps auf die Grundebene findet man im Schnitt der Geraden P cLc

u

und P ′cL′u

c. ◾

Das Durchschnittverfahren ermöglicht uns prinzipiell die Konstruktion belie-biger Szenen. Zusammen mit den gerade erwähnten Schattenkonstruktionenkönnten wir uns eigentlich schon zufrieden geben. Computer rechnen per-spektivische Bilder tatsächlich so aus. In der Praxis ist es jedoch mühsam,sich immer Grund- und Aufriss eines Objekts „herrichten“ zu müssen, zumales in vielen Fällen auch leichter geht. Mehr dazu finden Sie im Abschnittüber das perspektivische Skizzieren ab S. 456.

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 297

MesspunkteDie folgende Methode braucht man, um Fotografien zu entzerren. Gegebensei die Fotografie einer Gebäudefassade oder die Flugaufnahme einer ebenenLandschaft. Gesucht sind die Abmessungen der jeweiligen Figuren.Wir zäumen das Pferd zunächst von hinten auf. Wir wollen ein ebenes Po-lygon in einer lotrechten Ebene ε in die Perspektive eintragen (Abb. 9.16).Wenn die Ebene nicht zufällig parallel zur Bildebene liegt, wird das Polygonim Bild verzerrt sein. Räumlich gesehen ergibt sich das Bildpolygon, indemwir die „Sehpyramide“ durch das Polygon mit der Bildebene schneiden. Diebeiden ebenen Schnitte der Pyramide sind zueinander kollinear.

Abb. 9.16 Paralleldrehen wird zum „Einmessen“

In der Zeichnung kann man mit einem Trick arbeiten, der ebenfalls auf dieVervollständigung einer Kollineation hinaus läuft, allerdings nicht auf diegerade beschriebene. Sei e die Spur der Trägerebene ε. Dann denken wir unsε um e in die Bildebene gedreht. Dabei beschreiben alle Punkte der EbeneDrehkreise. Die Drehung kann aber auch durch eine Parallelprojektion inRichtung der Drehsehnen ersetzt werden. Das Projektionszentrum ist einFernpunkt Du. Im Raum sind das Polygon in ε und das in der Bildebeneliegende gedrehte Polygon zueinander affin (Perspektivitätsachse e, RichtungDu der Perspektivität).Diese Zuordnung kann in der Zeichnung nachvollzogen werden. Aus einerräumlichen Skizze erkennt man, dass dem Fernpunkt Du ein FluchtpunktDc

u = Mε auf dem Horizont im Abstand F2E entspricht. Zeichentechnischerhält man den MesspunktMε, indem man E in umgeklappter Lage um F2

dreht. Die parallelen Drehsehnen fluchten im Bild alle durch diesen Punkt.Aus der Zuordnung zwischen Raumpolygon und gedrehtem Polygon wird eineebene perspektive Kollineation. Kennt man ein einziges Paar zugeordneterPunkte, kann man alle anderen Punkte durch wenige Linien vervollständigen.

Abb. 9.17 illustriert den häufigen Fall, dass die Trägerebene des Polygons diehorizontale Grundebene γ ist. Der Messpunkt Mγ dieser Ebene ergibt sichplanimetrisch einfach durch Auftragen der Distanz d = EH vom Hauptpunkt.Die Drehachse (=Kollineationsachse) ist die Grundlinie g.

298 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.17 Abbildung einer lotrechten Strecke und zugehörige Kollineation

Grundriss und gedrehter Grundriss sind durch die parallelen Drehsehnen per-spektiv affin aufeinander bezogen. Daher ist der Zentralriss einer Figur in derGrundebene perspektiv kollinear zum parallelgedrehten Grundriss (Kollinea-tionszentrum Mγ , Kollineationsachse g).Der Zentralriss P c eines nicht in der Grundebene liegenden Punkts P mit der Hö-he z liegt über dem Zentralriss P ′

c seines Grundrisses. Betrachten wir nun jenenPunkt P0, der über dem gedrehten Grundriss P ′0 im Abstand z liegt (Abb. 9.17).Dieser Punkt ergibt sich auch, wenn man die Drehsehne durch P mit der Bilde-bene π schneidet. P0 liegt somit – was keineswegs trivial ist – ebenfalls auf einemKollineationsstrahl durch Mγ . Planimetrisch kann man P0 als Militärriss von P in-terpretieren (Verkürzungsverhältnis 1 ∶ 1). Militärriss und Perspektive hängen damiteinfach zusammen.

● Rekonstruktion aus einem FotoWenn auf einem Originalfoto das Bild eines Rechtecks zu sehen ist, kann mandie wahre Gestalt jeder Figur in der Rechtecksebene rekonstruieren.

Abb. 9.18 Mehr oder weniger stark verzerrte ebene Figuren (Originalfotos)

Ziel ist es, den Messpunkt der Ebene zu finden, denn mit ihm kann die Gestaltjeder Figur der Ebene – wenn auch ohne Maßstab – gefunden werden.Bei Originalfotos (das sind nicht zugeschnittene Fotos wie in Abb. 9.18) kannman sich darauf verlassen, dass der Hauptpunkt der Diagonalenschnittpunktist. Kennt man nun das Bild eines Rechtecks, dann hat man zwei Hauptflucht-

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 299

punkte F1 und F2 gefunden. Mittels des Thaleskreises über F1F2 kann manden Distanzkreis rekonstruieren, auf dem der Messpunkt der Ebene liegt. ◾

● Rekonstruktion eines Quaders bei gegebenem Foto

Abb. 9.19 Kennt man das Bild eines Quaders, ist im allgemeinen Fall (drei Hauptfluchtpunkte)die Rekonstruktion der Raumsituation möglich.

Häufig ist auf einem Foto, bei dem der Horizont h nicht durch den Haupt-punkt geht, wo also drei Hauptfluchtpunkte F1, F2, F3 mit h = F1F2 vorliegen,das Bild eines Quaders zu sehen (Abb. 9.19). Der Hauptpunkt (die Normal-projektion des Projektionszentrums C) ist dann der Höhenschnittpunkt desBildspurdreiecks F1F2F3. C selbst liegt im Schnitt der drei Thaleskugeln überje zwei Hauptfluchtpunkten. Der Messpunkt der Grundebene findet sich imSchnitt des Thaleskreises über F1F2 und der Höhe durch F3. ◾

● AnamorphosenHans Holbein der Jüngere malte im 16. Jhdt. sein berühmtes Bild „Die Ge-sandten“. Ein Schleier am Boden hat – von einem extremen Standpunkt ausgesehen – die Form eines Totenkopfs. Wenn man eine Figur nur unter ganzbestimmten extremen Ansichten (z.B. auch in krummen Spiegeln, vgl. An-wendung S. 182) erkennen kann, spricht man von einer Anamorphose.

300 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.20 Makabres Detail im berühmten Bild von Hans Holbein d. J.

Man kann so eine Anamorphose über einen veränderten Messpunkt in einePerspektive „hinein pflanzen“. Im konkreten Fall ist der Totenkopf dadurchrelativ gut getarnt, dass er erst nach Drehung um etwa 45° bei Ansicht vonschräg unten auffällig wird. Das Bild ist allerdings so aufgestellt, dass manden Kopf vom Stiegenaufgang sieht (Abb. 9.20 rechts). ◾

Abb. 9.21 Anamorphosen: „30-er Beschränkung“. Die Straßenaufschrift rechts ist eigentlich kei-ne „reinrassige“ Anamorphose: Man hat nämlich sehr wohl den Eindruck einer perspektivischenVerzerrung.

Abb. 9.21 (Stefan Wirnsperger) illustriert, dass viele Verkehrszeichen auf der Fahr-bahn Anamorphosen sind. Durch den extrem flachen Betrachterwinkel müssen Buch-staben und Ziffern, Pfeile und dergleichen stark perspektivisch verzerrt aufgetragenwerden. Ähnliche Überlegungen gelten auch für große Werbeflächen auf Hochhäu-sern, bei denen die Betrachter steil aufwärts blicken müssen.

● Bewusste Verzerrung in der ComputergrafikIn der Computergrafik werden sehr oft Perspektiven gezeichnet. Eine derelementaren Aufgaben eines entsprechenden Computerprogramms bestehtim sogenannten Clipping : Teile der Szene, die hinter dem Betrachter liegenoder zu nahe an die Verschwindungsebene (parallel zur Bildebene durch dasAuge) heran kommen, werden weggeschnitten. Dies kann geschehen, indemmit der Sehpyramide geschnitten wird.Eine häufig verwendete (weil schnellere) Methode besteht darin, die Punkteder Szene einer räumlichen Kollineation zu unterwerfen, die den Augpunktzum Fernpunkt des Hauptsehstrahls macht. Dadurch wird die Sehpyramide

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 301

Abb. 9.22 Zwei verschiedene Objekte (Grund- und Aufriss) mit identischem Kreuzriss

zu einem Koordinatenquader, und das Clippen kann mit extrem effizientenAlgorithmen geschehen.Abb. 9.22 zeigt links ein kollinear transformiertes Objekt in Grund- und Auf-riss. Die Ansicht von links entspricht nun der Perspektive. Nun könnte manmeinen, es genüge, einfach über den Bildpunkten den Abstand von der Bil-debene aufzutragen (so geschehen in Abb. 9.22 Mitte). Diese Transformationdes Objekts ist aber nicht linear (wie die Kollineation). Das Objekt wirddementsprechend „verbogen“, was die Algorithmen unnötig kompliziert. ◾

Das Bild eines KreisesWenn die ebene Figur ein Kreis ist, ist das entsprechende Bild ein Kegel-schnitt. Denn wenn wir den Kreis aus dem Augpunkt E projizieren, erhaltenwir einen schiefen Kreiskegel (quadratischen Kegel). Im Schnitt mit der Bil-debene erhalten wir damit einen Kegelschnitt. Dabei gilt mit der Definitionvon S. 45 (Abb. 9.24):

Abb. 9.23 Ellipsen und Hyperbeln als Kreisbilder

Das perspektive Bild eines Kreises ist eine Ellipse, Hyperbel oder Parabel, jenachdem, ob der Kreis die Verschwindungsebene nicht schneidet, schneidet oderberührt.

Bleiben wir zunächst beim ellipsenförmigen Kreisbild. Denken wir uns eindem Kreis berührend umschriebenes Quadrat, von dem zwei Seiten parallel

302 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

γ

π

πv ∥ πE

h

p

e

g = π ∩ γ

gv = πv ∩ γ

Augpunkt E, Bildebene π, Grundebene γVerschwindungsebene πv ∥ π durch EGelber Kreis e schneidet πv nicht ⇒ Bildellipse ec

Roter Kreis p berührt πv ⇒ Bildparabel pc

Blauer Kreis h schneidet πv ⇒ Bildhyperbel hc

pcechc

Abb. 9.24 Die Lage des Kreises zur Verschwindungsebene πv entscheidet über den Typ desperspektiven Bildes eines Kreises. Siehe dazu den Spezialfall mit lotrechter Bildebene (Abb. 3.56).

Abb. 9.25 Kegelschnitte als Bilder von Kreisen

zur Bildebene sind. In seinem Diagonalenschnittpunkt findet sich der Mit-telpunkt des Kreises. Das Quadrat bildet sich als Trapez ab (Geraden, dieparallel zur Bildebene liegen, haben parallele Bilder). Die Schnittpunkte derDiagonalen des Trapezes liefern jenen Punkt, der dem Mittelpunkt des Krei-ses entspricht, also den Schnittpunkt der Bilder aller Kreisdurchmesser. Eshandelt sich dabei jedoch nicht um den Mittelpunkt der Bildellipse, wie manauch in Abb. 9.24 (gelber Kreis) gut erkennen kann.Liegt der Kreis in einer Ebene parallel zur Bildebene, bildet er sich als Kreis ab.Am 10-Euro-Schein ist eine Brücke perspektivisch abgebildet, die perspektivischunverzerrte Kreisbögen trägt.

Kreisdarstellung in der Antike

Üblicherweise wurde angenommen, dass realistische und korrekte Perspek-tiven mit geometrischem Inhalt mit den Malern der Renaissance aufkamen.

9.2 Verschiedene Techniken der Perspektive 303

Abb. 9.26 Zwei mehr als 3200 Jahre alte Reliefe (Abu Simbel). Im Wesentlichen liegen Frontal-ansichten mit „integrierten Seitenrissen“ vor. Man beachte das 6-speichige Rad des Streitwagens(links), das unverzerrt als Kreis erscheint.

So verwendeten die alten Ägypter „nur“ Frontalansichten und integriertenSeitenrisse in die Bilder (Abb. 9.26).

Abb. 9.27 Ein 2300 Jahre altes Grabgemälde (Vergina, Zentral-Makedonien). Es handelt sich umeine realistische und geometrisch korrekte Perspektive: Man beachte das näher liegende Rad samtSpeichen!

Wir haben mittlerweile mehrere Belege, dass diese Annahme nicht zur Gänzezutrifft. Eines der besten Gegenbeispiele ist ein Gemälde im erst vor Kur-zem entdeckten Grab Philipps des Dritten, dem Nachfolger Alexanders desGroßen (Abb. 9.271). Nicht nur das Gemälde an sich ist beeindruckend: DieRäder des Streitwagens sind beinahe so gezeichnet, als ob ihre Bilder kon-struiert worden wären. Rechts wurde eine vom Computer berechnete Per-spektive der vierspeichigen Wagenräder über das Bild gelegt. Insbesonderedas im Bild größer erscheinende Rad ist praktisch identisch mit der exaktenPerspektive (das andere Rad passt, wenn man penibel ist, nicht ganz da-zu, was aber der Leistung des Künstlers nicht den geringsten Abbruch tut).Die vier Speichen können sogar als „konjugierte Durchmesser“ der Bildellipseinterpretiert werden (sie sind im Raum zueinander senkrecht und die Tan-genten in den Endpunkten des einen Durchmessers sind daher parallel zumanderen Durchmesser).

1http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Painting_vergina.jpg

304 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

9.3 Andere Perspektiven

Optische Täuschungen

Abb. 9.28 Malerei an Wänden in Pompeji: Perspektiven erzeugen die Illusion von zusätzlichvorhandenem Raum.

Optische Täuschungen scheinen schon sehr alt zu sein. Abb. 9.28 zeigt zweiWandmalereien aus Pompeji (die alte Römerstadt wurde unter vulkanischerAsche begraben, als der Vesuv im Jahr 79 ausbrach). Man kann immer nochgut erkennen, dass Künstler Säulen und andere architektonische Objekte aufdie Wände gemalt haben, um die Räume optisch zu vergrößern. Auch dasist ein weiteres Beispiel dafür, dass gewisse Kenntnisse über die Regeln derPerspektive lange vor der Renaissance vorhanden waren.

Abb. 9.29 Reliefperspektive I

In der Bühnenbildgestaltung gibt es den Begriff Reliefperspektive. Dabei gehtes darum, dem Zuseher einen großen Raum vorzutäuschen, der in Wirklich-keit nie auf der Bühne Platz hätte. Abb. 9.29 zeigt eine Säulenhalle, die –von vorn betrachtet – durchaus realistisch aussieht. Man kann sich schonvorstellen, dass in dieser Halle ein dramatischer Mord an Cäsar oder Ähnli-

9.3 Andere Perspektiven 305

ches passiert. Ein Zuseher in den weniger teuren Rängen wird allerdings dasGefühl bekommen, dass hier rechte Winkel doch keine rechten Winkel sind.

Abb. 9.30 Reliefperspektive II

Abb. 9.30 soll anhand von einfachen geometrischen Objekten (quadratischePrismen und Pyramiden, Kugel und Kegel) zeigen, wie sehr unsere Vorstel-lung ein Oval noch als Kugel akzeptiert oder schließlich den eindeutigenSchluss zulässt, dass hier gemogelt wird.

● Die Gaußsche Kollineation: Virtuelle 3D-BilderÄhnlich zu der erwähnten Reliefperspektive gibt es eine Kollineation in derOptik (Abb. 9.31). Bei Brechung an einer konvexen Linse kommen die Bre-chungsgesetze zum Tragen.Lichtstrahlen h durch das Linsenzentrum C werden nicht gebrochen (h = h∗)und Lichtstrahlen s parallel zur optischen Achse werden im Brennpunkt F ∗

hinter der Linse gebündelt. Die Brechung s→ s∗ geschieht geometrisch in derHauptebene γ ∋ C orthogonal zur Achse. Ein Raumpunkt P = s∩h entsprichteinem (virtuellen) Raumpunkt P ∗ = s∗ ∩ h∗.

virtueller Raumhinter der Linse

Realer Raumvor der Linse

Abb. 9.31 Eine Kollineation im Raum

Nach Gauß verdient diese (umkehrbare) Beziehung P ↔ P ∗ den NamenKollineation, weil sie linear ist, da heißt, Geraden g gehen dabei in Geradeng∗ über (und umgekehrt).Beweis:Wir betrachten g als Schnitt einer sie enthaltenden Ebene ε1 parallel zur Achse undihrer Verbindungsebene ε2 = gC mit dem Zentrum. Die erste Ebene wird in eineEbene ε∗

1durch F ∗ und die Schnittgerade ε1 ∩ γ transformiert, während ε2 = ε∗

2

unverändert bleibt. Daher ist g∗ die Schnittgerade der beiden Ebenen. ◾

306 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Ebenen ϕ ∥ γ werden in Ebenen ϕ∗ ∥ γ transformiert. Das ist in der Foto-grafie wichtig. Deshalb werden wir auf die Gaußsche Kollineation und ihreKonsequenzen in unserem geometrischen Beitrag zur Fotografie zurückkom-men, und dann auch einiges besser verstehen (Anhang B). ◾

● Zwei unterschiedliche Reihungen

Abb. 9.32 Echte und Pseudo-Perspektiven

Abb. 9.32 zeigt zwei Anordnungen von Buddha-Statuen. Links sind alle Figu-ren gleich groß. Man kann sich in ihrer Umgebung frei bewegen. Die Statuenrechts wurden in einer Höhle aufgereiht. Man sieht die Figuren nur aus einerPosition beim Höhleneingang. Die Figuren werden nach hinten immer klei-ner, was durch zusätzliche Lichteffekte kaum merklich ist. Dadurch erscheintdie Höhle tiefer als sie ist. ◾

● Scharrbilder im Wüstensand

Die präkolumbianische Nazca-Kultur (300 v. Chr. bis 600 n. Chr.) in den südlichenperuanischen Küstentälern verwendet stilisierte Tiermotive auf Gefäßen und Sticke-reien. Am berühmtesten sind aber die in den absolut trockenen Boden gescharrtenüberdimensionalen Tierbilder von oft hunderten Metern Ausmaßen. Die Bilder sindnur vom Flugzeug aus sichtbar (Abb. 9.33 rechts) und erscheinen aus gewissenWinkeln perfekt symmetrisch – eine Meisterleistung, die zu wilden Spekulationenverleitet. Manche behaupten, die Nazcas hätten Heißluftballone gekannt.Auffällig ist, dass die riesigen Tierfiguren von oben betrachtet nicht symmetrisch er-scheinen, sondern bereits perspektivisch verzerrt, fast wie auf einem Foto von schrägoben (oder schräg unten, wie in Abb. 9.33 links). Dadurch erscheinen sie aus demFlugzeug aus gewissen Positionen paradoxerweise symmetrisch!Ohne Anspruch auf den absoluten Wahrheitsgehalt zu erheben: Vom Standpunktder projektiven Geometrie könnte es wie folgt gewesen sein:Jemand – meinetwegen ein Oberpriester – steht mit der Zeichnung eines symme-trischen Tiermotivs auf einem hölzernen Turm (Spitze Z, Grundriss Z ′, Abb. 9.34links) von sagen wir h = 15 Metern Höhe und dirigiert seine Mitarbeiter mit mittle-ren Steinklötzen so herum, dass die abgelegten Steine aus seiner Sicht symmetrischerscheinen. Die Mitarbeiter tummeln sich dabei nicht unbedingt in der Nähe desTurms, sondern sinnvollerweise in einer etwas größeren Entfernung – sonst müsstedie Person am Turm einen „Panoramablick“ haben.

9.3 Andere Perspektiven 307

Abb. 9.33 Im Prinzip liegen ebene Figuren vor

Auf diese Weise erscheint der steinerne Umriss des Tiermotivs aus der Turmspitze– einer gewissen Schrägposition aus mittlerer Höhe – symmetrisch, während er vonoben betrachtet perspektivisch verzerrt ist. Nun kommt noch der Vorgang der Ver-größerung: Von Z0 = Z ′ ausgehend spanne man ein Seil zu einem der vielen Steine P

des Umrisses und trage die Seillänge PZ0 mehrfach in der Verlängerung (z.B. k = 3

Mal wie in Abb. 9.34 oder auch öfter) auf. Das geschieht zu zweit: Eine Personim Zentrum dirigiert die Person mit dem Seilende. Dadurch bleibt der Strahl PZ0

problemlos geradlinig. Am Ende der vergrößerten Strecke wird die Stelle P ∗ miteinem Steinbrocken markiert.

Abb. 9.34 So könnte es gewesen sein. . .

Auf diese Weise hat man in vergleichsweise kurzer Zeit einen riesigen Umriss desMotivs konstruiert. Dieser erscheint im Grundriss perspektivisch verzerrt und ausder mitvergrößerten Turmspitze (Höhe k ⋅h Meter, in unserem Fall 3 ⋅15 = 45 Meter)symmetrisch!Man überlegt sich leicht, dass das Vergrößerungszentrum Z0 nicht unbedingt derGrundriss Z ′ der Turmspitze sein muss. Im allgemeinen Fall ist dann der Punkt,aus dem das Bild symmetrisch erscheint, nicht genau über der Turmspitze, sondernin der k-fachen Verlängerung der Strecke Z0Z.Eine Anmerkung, die die Plausibilität obiger Überlegungen bekräftigen soll: Natür-lich könnte man auch ein kleines Motiv, das nur wenige Meter Durchmesser hat,mit der „Seilmethode“ vergrößern. Abgesehen davon, dass wegen des großen Faktorsdie Sache nicht so genau würde: Warum sollten die Nazcas perspektivisch verzerrte

308 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

und nicht symmetrische Gebilde riesengroß machen? Ihre Urbilder (Kolibris, Spin-nen und andere) sind symmetrisch! ◾

● Barocke TäuschungenIm 17. Jhdt. war es große Mode, Decken so mit Gemälden zu versehen, dassein Beobachter in der Mitte des Raums beim Blick hinauf die Illusion hat,der Raum sei wesentlich höher als in Wirklichkeit.

Abb. 9.35 Pozzo bei der Arbeit

Um ein ebenes Gemälde korrekt zu bemalen, musste eine Perspektive auf dieEbene (z.B. die Decke des Raums) aufgemalt werden, die dem Anblick einesweit überhöhten Raums „mit allem Drum und Dran“ (Wolken, Säulen, usw.)aus der gewählten Position entsprach.

Abb. 9.36 Andrea Pozzos Deckengemälde und seine Projektion in eine horizontale Deckenebene

Ein wahrer Meister dieses Genre war Andrea Pozzo. Er bemalte auch ton-nenförmige Gewölbe völlig korrekt. Dazu ließ er sich einen Trick einfallen(Abb. 9.35): Er zog eine ebene „Hilfsdecke“ ein, die aus einem Quadratnetzvon gespannten Fäden bestand. Diesen Raster projizierte er auf das krumme

9.3 Andere Perspektiven 309

Gewölbe, indem er zu nächtlicher Stunde eine brennende Kerze an die Beob-achterposition stellte. Die Schatten der Fäden am Gewölbe zog er nach undhatte ein „Bezugsnetz“ am Gewölbe, in das er die vorbereitete Perspektiveinterpolierte. (Die Illustrationen stammen von Stefan Wirnsperger.)Die Umkehrung des Vorgangs wäre, auf der zylindrischen Decke ein Netz zubetrachten, das von den Erzeugenden des Deckenzylinders und den Halbkrei-sen rechtwinklig dazu gebildet wird. Projiziert man dieses krumme Netz indie virtuell eingespannte Deckenebene, erhält man ein Netz aus parallelenGeraden und Hyperbeln. Letztere ergeben sich als Schnittkurven der Ebenemit den Projektionskegeln der Kreise, welche schiefe Kreiskegel sind. Um ausdem Projektionszentrum denselben Eindruck eines gekrümmten Gemäldeswie in Abb. 9.36 links zu sehen, könnte man auch ein verzerrtes Gemälde wiein Abb. 9.36 rechts auf einer ebenen Decke betrachten. ◾

● Dynamic Sphere – die Illusion einer KugelWer möchte nicht unter einer Kuppel, an der sich Pflanzen emporranken(Abb. 9.37), in einer Couch sitzen und entspannt das Ambiente genießen?Was aber, wenn in der Realität ein relativ niedriger Raum mit Flachdeckezur Verfügung steht? Ein optische Täuschung kann abhelfen . . .

Abb. 9.37 Eine halbkugelförmige Kuppel mit emporrankenden Pflanzen?

Lösung :Ruth Schnell hatte sich ebendas vorgenommen. Der schon vorhandene 250 m2

große Raum (Abb. 9.38 zeigt das Computermodell, erstellt von Franz Gruber)wurde so mit extrem dünner Folie (23 Karat Blattgold, Fläche vergoldet ca.100 m2, graue Farbe.) beklebt, dass – zumindest beim Eintritt in den Raum– die perfekte Illusion stattfindet: Man sieht dann tatsächlich eine Szene wiein Abb. 9.37. In Abb. 9.38 sieht man, wie der Zuschnitt der Folie (Abb. 9.39)anzubringen war.Die extrem verzerrte Projektion wurde mit großer Genauigkeit mittels Com-puter berechnet, indem eine virtuelle Raumsituation aus einem vorgegebenen

310 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.38 Die Situation im Raum – inklusive des notwendigen verzerrten Musters.

Abb. 9.39 So sieht der Zuschnitt aus! Rechts: Vergrößertes Detail.

Zentrum unter sehr schrägem Winkel auf die flache Decke projiziert wurde.Abb. 9.39 rechts zeigt ein Detail des Zuschnitts.

Abb. 9.40 So sieht die Realität aus: Perfekte Illusion beim Eintreten (links, Mitte), dynamischePflanzen-Texturen beim Herumgehen.

Wie sieht das Ganze nun in der Praxis aus (The Ritz-Carlton in Wien,Abb. 9.40)? Die Illusion ist tatsächlich perfekt, sobald man den Raum be-tritt. Einmal drinnen, hat man beim Herumgehen das Gefühl, von einer Artdynamischer Pflanzen-Textur umgeben zu sein. ◾

9.3 Andere Perspektiven 311

● Wir messen nur Winkel!Die folgende Idee stammt von Franz Gruber: Stellen wir uns vor, wir sitzenin einem Vortragssaal und genießen die von einem Beamer oder Diaprojektoran die Wand projizierten Bilder. Prinzipiell ist es immer gut, nicht zu sehrseitlich zu sitzen, sondern möglichst in der Nähe des Projektionsapparats(Abb. 9.41), weil wir dann die Bilder so sehen, wie sie aufgenommen wurden.

Abb. 9.41 Eine Diaprojektion von zwei verschiedenen Standpunkten gesehen. . .

Nun erlaubt sich jemand einen schlechten Scherz und beginnt, Papierschnitzelvon der Decke in den Lichtkegel rieseln zu lassen. Zuseher in den seitlichenRängen sehen nun praktisch gar nichts mehr. Zuseher ganz in der Nähe desProjektors hingegen merken fast nichts!

Abb. 9.42 . . . wird plötzlich von einem Papierschnitzelregen gestört

Hier passiert eine perfekte Illusion: Die Papierschnitzel werden auch vom Pro-jektor bestrahlt. Auf jedem einzelnen Schnitzel entsteht ein perspektivischmehr oder weniger extrem verzerrtes Bild eines Teils des Originalbildes. Zu-dem entsteht ein Schlagschatten des Schnitzels auf der Projektionswand. Ex-akt aus dem Linsenzentrum betrachtet ist all dies nicht zu sehen. Hier könnennur Winkel gemessen werden. Worauf projiziert wird, spielt eigentlich keineRolle. ◾

● Sternzeichen. . . (Abb. 9.43)Um den Polarstern zu finden, sucht man sich am Nachthimmel den markanten

312 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

großen Wagen. Auf der etwa fünffachen Verlängerung der vordersten Sterne desSternbilds findet man dann den Polarstern.

Abb. 9.43 Das markante Sternbild des großen Wagens. . .

Wie jedoch die räumliche Konstellation der Sterne aussieht, kann mit dem Augeniemand feststellen. Die Sterne könnten unterschiedlich hell und in verschiedenstenPositionen auf den Sehstrahlen liegen. Aufgrund der riesigen Distanzen merken wirnicht einmal einen Unterschied im Sternbild, wenn wir die Sterne im Abstand voneinem halben Jahr (und dadurch aus einer 300 Millionen km entfernten Position)betrachten. ◾

● Die Spinne auf der Kugel. . .

Wie kann man feststellen, was eine Spinne „interessiert“ bzw. wohin sie flüchtenwill? Man setzt sie auf eine extrem leicht bewegliche Kugeloberfläche und bewegtdie Kugel computergesteuert immer genau so, dass sich die Spinne beim Laufen „aufder Stelle bewegt“. Jetzt der geometrische Part: Dem Tierchen soll via Projektionauf einen Drehzylinder eine Umwelt vorgegaukelt werden, die sich synchron mit derFortbewegungsrichtung (bzw. auch Geschwindigkeit) der Spinne ändert. Was mussbei dieser Projektion beachtet werden?

Abb. 9.44 Links: Verschiedene computerberechnete Projektionen auf das Innere eines Drehzy-linders. Rechts: Die Spinne (bzw. jeder Betrachter an dieser Position) sieht in den gekrümmtenFeldern quadratische „Versteck-Eingänge“ verschiedener Größe.

9.3 Andere Perspektiven 313

Abb. 9.45 Augen einer Wolfsspinne (Tarantel). Man erkennt deutlich die relativ gut ausgebildetenacht Linsenaugen, die hauptsächlich nach vorne ausgerichtet sind und für Spinnen, die ja oft demTastsinn mehr vertrauen, bemerkenswert leistungsfähig sind. Das Blau in den Augen ist eine Inter-ferenzfarbe, die sich bei wiederholter Spiegelung und Brechung bei der mehrlagigen reflektierendenSchicht (Tapetum lucidum) ergibt.

Lösung :Die entsprechende Apparatur (Abb. 9.14) wurde auf der Universität Wien (Depart-ment für Neurobiologie) entwickelt2. Die Projektion wird durch vier Projektorenbewerkstelligt, die aus Platzgründen außerhalb des Zylinders positioniert sind. Vonden nahezu punktförmigen Lichtquellen gehen – bedingt durch den Bildrand – recht-eckige Lichtpyramiden aus. Schneidet man die Seitenflächen der Pyramiden mitdem Drehzylinder, erhält man Ellipsen. Das „rechteckige“ belichtete Feld am Zylin-der hat also elliptische Ränder. Angrenzende belichtete Felder überlappen einander(Abb. 9.14 links), was – zusätzlich erschwerend – bei der Berechnung der Bilderberücksichtigt werden muss.Der Spinne sollen nun im Wesentlichen mehrere in einer Ebene liegende Quadrat-rasterfelder gezeigt werden. Die Position E der Spinnenaugen (eine Spinne hat im-merhin acht Linsenaugen, Abb. 9.45) ist mehr oder weniger konstant. Projiziertman die Senkrechten des Rasters auf den Zylinder, bleiben die Bilder geradlinigund senkrecht. Die Waagrechten des Rasters bilden mit E Projektionsebenen, dieden Zylinder nach Ellipsen schneiden. Quadrate des Rasters, die weiter entfernt sind,werden verkleinert abgebildet, das heißt, die Sehwinkel α bzw. β (Abb. 9.14 rechts)zu den vertikalen – aber auch zu den horizontalen – Quadratseiten ändern sich.Will die Spinne nun zum am nächsten erscheinenden schwarzen Quadrat (=Ver-steck) laufen, wird sie automatisch das für sie am größten erscheinende Quadratansteuern.Die engmaschigeren Raster, die im Bild zu sehen sind, stammen von – natürlichvirtuellen – weiter entfernten ebenen Quadratrastern.Die zylindrischen Bilder müssen noch auf die Projektionsebenen der Projektorenrückgerechnet werden. Die elliptischen Ränder werden auf elliptischen Kegeln durchdas Lichtzentrum auf das zu projizierende Bild rückgeführt, sind also am zu proji-zierenden Bild ebenfalls Ellipsen. Dabei kommt es zu Doppelbelichtungen, die man

2FWF-Projekt (Projektleiter Axel Schmid) gemeinsam mit dem VR VIS (Anton Fuhrmann).

314 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.46 Ein scheinbar hyperbelförmiger Umriss einer Kugel. Das Foto entstand fast zeitgleichmit dem Foto in der Einleitung. Dort befand sich die Springspinne tatsächlich auf einem kugel-förmigen Metallknauf. Beim vorliegenden Foto allerdings hat die Spinne Position gewechselt undbefindet sich auf einem gekrümmten Rohr.

dadurch „wegretuschiert“, dass man die zugehörigen Bildpunkte (Pixel) entspre-chend dunkler macht. Die Lösung der restlichen Probleme (Steuerung der Kugel)und das „Feintuning“ waren natürlich eine zusätzliche Herausforderung. . . ◾

Abb. 9.47 Zugeschnittenes Fischaugen-Bild. Der Horizont lag im Originalfoto über der Bildmitteund ist deswegen nach unten gekrümmt, aber keinesfalls eine Hyperbel.

● Hyperbelförmiger Umriss einer Kugel

Wie muss die Lage der Kamera sein, damit beim Fotografieren der Umriss einerKugel hyperbelförmig wird?

Lösung :Betrachtet man eine Kugel, visiert man, wann immer das möglich ist, automatischden Mittelpunkt, sodass der Kugelumriss ein Kreis ist. Beim „irgendwie Fotografie-ren“ einer Kugel erhält man fast immer einen elliptischen Umriss, auch wenn manschon ganz nahe an der Kugel ist. Nur in Extremfällen ergibt sich ein Ast einer Hy-perbel, nämlich wenn die Kugel die Verschwindungsebene schneidet. Diese Ebene istorthogonal zur optischen Achse, geht aber durch das Zentrum des Linsensystems,ist dadurch näherungsweise f Millimeter vor der hinteren Kamerawand, wobei fdie Brennweite der Linse ist (s.S. 471).

9.3 Andere Perspektiven 315

Abb. 9.48 Man muss schon sehr „tangential“ eine Kugel fotografieren, damit der Umriss hy-perbelförmig ist. Hier wurde ein „Mondaufgang“ über dem Ozean aus einem Satelliten simuliert.Die Erdkugel ist groß genug, die Verschwindungsebene der Kamera zu schneiden. In beide Bilder(rechts eine Ultraweitwinkel-Aufnahme) wurden der zweite Ast der Hyperbel und die Asymptoteneingezeichnet.

Mit einem Fischaugen-Objektiv fotografiert (Abb. 9.47) ist die Erdoberfläche immergekrümmt, außer man visiert exakt einen Punkt am Horizont an. Das Ergebnis istaber nie eine Hyperbel.Abb. 9.46 zeigt – wieder mit einem „eye catcher“ – einen hyperbelähnlichen Umrissjener Oberfläche, auf der sich die winzige Springspinne befindet. Diesmal handeltes sich bei der Fläche aber nicht um eine Kugel, sondern um zwei zylindrischeRohre, die durch einen torusförmigen Rohrkrümmer verbunden sind. Der Umrissbesteht daher aus zwei geradlinigen Anteilen und einem krummen Anteil, der keinKegelschnitt ist. ◾

● „Entschärfung“ unerwünscht extremer PerspektivenWir wissen bereits, dass es eigentlich egal ist, auf welche Fläche wir projizie-ren, solange der Betrachter des Bildes gezwungen ist, die „richtige“ Positionbeim Betrachten einzunehmen. Unter Umständen ist es daher auch notwen-dig, extreme Perspektiven anzufertigen.

Abb. 9.49 Extreme Perspektiven

Wenn ein Fotograf in einem kleinen Zimmer einen möglichst großen Teil desZimmers ablichten soll, bleibt ihm fast keine andere Wahl, als ein extre-mes Weitwinkelobjektiv zu verwenden. Das Ergebnis könnte dann so wie inAbb. 9.49 links aussehen. Wird eine solche Fotografie an die Wand projiziertund ein Beobachter in dieselbe Relativposition gezwungen wie der Fotografzum Zeitpunkt der Aufnahme, ist der optische Eindruck realistisch.

316 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Eine vergleichbare Problematik haben wir auch bei Außenaufnahmen, wennwir aus kurzer Distanz größere Objekte ganz am Bild haben wollen (Abb. 9.49rechts). Auch hier ist eine extreme Perspektive notwendig. In einer Vorfüh-rung, bei welcher ein Zuseher knapp vor der Leinwand sitzt, wird diesem dasBild „normal verzerrt“ vorkommen. Zuseher in größerer Entfernung werdendie unnatürliche Bildwirkung beklagen.

Abbildung auf die Kugel

Die Frage ist, ob es einen Kompromiss gibt, der es erlaubt, „alles ins Bildzu bekommen“ und gleichzeitig aus relativ größerer Entfernung immer nocheinen normalen Bildeindruck zu haben. Die Antwort lautet Ja und Neingleichzeitig.Wir müssen die „Ausreißer“ an den Bildrändern ins Bild hinein zwängen,indem wir die Bildfläche krümmen. Damit ist es mit der Linearität (Gera-dentreue) vorbei! Beim menschlichen Auge wird allerdings ohnehin auf einekugelförmige Bildfläche projiziert. Es liegt also die Idee nahe, auf eine Kugelzu projizieren. Aus Gründen der Einfachheit wollen wir aus dem Mittel-punkt der kugelförmig gekrümmten Fläche projizieren. Dies entspricht zwarnicht der Projektion in unserem Augapfel, aber es stimmt recht gut mit dem„Zusammenstückeln“ vieler kleiner Einzelbilder beim „Scannen“ des Raumsüberein. Dabei bewegt sich der Augapfel ständig um seinen Mittelpunkt. Dieentstehenden kleinen Einzelbilder werden vom Gehirn zu einem Gesamtbildkombiniert.Haben wir nun den Raum zentral aus dem Kugelmittelpunkt auf eine Kugel-fläche projiziert, kommt als nächstes die Frage, wie wir dieses Bild speichernbzw. unseren Zusehern zeigen. Beides ist vielleicht technisch machbar: DieFotozellen der elektronischen Chips könnten sicherlich auch kugelförmig an-geordnet sein, und es lassen sich sicher auch näherungsweise kugelförmiggekrümmte Leinwände herstellen. Jeder kann sich vorstellen, wie teuer soeine Realisierung wäre.

Abb. 9.50 Stereografische Projektionen

Es gibt, wie wir schon des Öfteren bemerkt haben, keine Möglichkeit, die Oberflächeeiner Kugel verzerrungsfrei in die Ebene zu transformieren. Aber es gibt – neben

9.3 Andere Perspektiven 317

unzähligen anderen Verfahren mit Vor- und Nachteilen – zwei Methoden, die sichrecht gut für unsere Zwecke eignen.Die eine Methode ist die stereografische Projektion der Kugelfläche (Mittelpunkt M)aus einem Kugelpunkt Z auf eine Ebene rechtwinklig zum Radius MZ. Eine solcheProjektion hat den großen Vorteil, dass Kugelumrisse kreisförmig abgebildet werden(Abb. 9.51 links). Der Projektionskegel um die Kugel ist nämlich ein Drehkegel mitScheitel M , der die Kugel nach einem Kreis schneidet. Weil die stereografische Pro-jektion kreistreu ist, sind die Kugelumrisse auch nach der Projektion Kreise. GeradeKanten im Raum werden zunächst auf Kreisbögen auf der Kugel und in weitererFolge auf Kreisbögen abgebildet. Abb. 9.50 illustriert, wie extreme Perspektivendurch die beschriebene Methode „entschärft“ werden.

Abb. 9.51 Extreme Ansichten von Kugeln

Die andere Methode wurde um 1900 von Guido Hauck propagiert: Sie bedient sichder schon erwähnten Zylinderprojektion der Kugel, bei welcher die Kugelkoordi-naten (geografische Länge bzw. Breite) als ebene Koordinaten verwendet werden.Abb. 9.51 rechts zeigt, dass Kugelumrisse dabei zu unregelmäßigen Ovalen verzerrtwerden.

Abb. 9.52 Haucksche Perspektiven

Bei waagrechter optischer Achse (Abb. 9.52 links) erweist sich die Methode vonHauck als sehr gut zur Transformation extremer Perspektiven geeignet: LotrechteKanten bleiben nämlich auch im Bild lotrecht und geradlinig. Alle anderen Geradenbilden sich gekrümmt ab (keine Kreisbögen!). Bei allgemeinen Ansichten von Ob-jekten können die Bildkurven von Kanten sogar Wendepunkte aufweisen (Abb. 9.52rechts). ◾

318 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

● Die Geometrie des Fischauges

Abb. 9.53 Was sieht ein Fisch?

Die gerade beschriebenen Methoden zur Entschärfung extremer Perspekti-ven finden hauptsächlich in der Computergrafik Anwendung. Es gibt abereine sehr praxis-orientierte Möglichkeit, um dieses Problem zu meistern: DieVerwendung eines Fischaugen-Objektivs.Die Bezeichnung erscheint verständlich, wenn man Abb. 9.54 betrachtet:Wenn man aus dem Wasser hinaus sieht, kann man bei glatter Wassero-berfläche alles erkennen, was sich über der Oberfläche befindet. Das Bild derAußenwelt zentriert sich in einem Kreis, dem sog. Snellius-Fenster (Snell’swindow). Objekte, die sich nur knapp über der Wasseroberfläche befinden,bilden sich verkleinert und abgeplattet am Rand des Kreises ab.

Abb. 9.54 So sieht man aus dem Wasser (Snellius-Fenster)

Diese Geometrie an der Wasseroberfläche wird im nächsten Abschnitt bespro-chen. Abb. 9.55 zeigt eine Ausnahmeerscheinung im Tierreich: den Vierau-genfisch. Seine Augen sind zweigeteilt, wodurch er gleichzeitig unverzerrtunter und über Wasser sehen kann.Fischaugenlinsen werden bei Türspionen benutzt. Außen befindliche Gegen-stände werden im Bild nach innen gedrückt. Dieses Prinzip wird in der Fo-tografie mit dem Fischaugen-Objektiv umgesetzt. Gewöhnliche fotografischeLinsen sind erstens vergleichsweise flach und zweitens symmetrisch bezüglich

9.3 Andere Perspektiven 319

Abb. 9.55 Ein ganz seltsames Fischauge

einer Ebene. Nicht so das Fischaugen-Objektiv. Es ist einseitig stark sphä-risch gekrümmt. Es erfasst auch stark „exzentrische Punkte“, also Punkte,deren Verbindung zum Linsenzentrum mit der optischen Achse einen großenWinkel (bis zu 90°) einschließt. Für die zugehörigen Lichtstrahlen verrin-gert sich zudem der Einfallswinkel zur Flächennormalen, und die Brechungfällt deshalb geringer aus als bei einer flachen Linse. Durch die Neigungder Linsennormale zur optischen Achse werden die Bildpunkte exzentrischerRaumpunkte zudem ins Bild gedrückt.

Abb. 9.56 Links: Kreisförmiges Ornament, rechts: Konzentrische Regenbögen

Kreise werden i. Allg. als Ovale abgebildet, die keine Ellipsen sind. Kreise,deren Achsen mit der optischen Achse identisch sind, bleiben jedoch Kreise,weil sowohl die Kreise als auch die Linse rotationssymmetrisch bezüglich derAchse sind.Abb. 9.56 soll dies illustrieren. Im Bild links wurde ein kreisförmiges Orna-ment „in Knöchelhöhe“ fotografiert. Im Bild rechts sind bei genauem Hinse-hen zwei (!) Regenbögen zu sehen. Wenn die Sonne schon sehr tief am Himmelsteht, wird die Achse des Regenbogens (oder besser der beiden Regenbögen)fast waagrecht sein. Der primäre bzw. sekundäre Regenbogen [16] erscheinensomit fast kreisförmig.Geraden werden i. Allg. stark gekrümmt abgebildet. Dafür bleiben Winkel,die sie einschließen, von der extremen Verzerrung verschont, welche gewöhn-liche Perspektiven bewirken (Abb. 9.49). ◾

320 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Geraden g, welche die optische Achse schneiden, haben ihre Bilder in je-ner projizierenden Ebene, die durch g und die optische Achse festgelegt ist.Im Bild gilt daher: Je näher eine Gerade dem Linsenzentrum kommt, de-sto weniger wird sie verzerrt. In der Praxis sollte man dies beachten, wennman Szenen mit ausgeprägtem Horizont fotografiert (Abb. 9.57 links). Wegender Rotationssymmetrie der Linse funktioniert das Ganze übrigens auch fürnicht-horizontale Geraden (Abb. 9.58).Abb. 9.57 Mitte zeigt, dass man mit diesem Wissen Fischaugen-Fotografienganz bewusst ändern kann: Eine relativ kleine Verschiebung des Hauptpunktsbewirkt, dass die Planken der Terrasse einmal im vorderen Bereich starkgekrümmt sind, das andere Mal strahlenförmig angeordnet erscheinen.Faszinierend an Fischaugen-Aufnahmen ist die fast unbegrenzte Schärfen-tiefe: Sonnenblume bzw. Malvenblüte berührten bei der Aufnahme beinahedie Linse. Auch diese Eigenschaft ist geometrisch erklärbar: Je kleiner dieBrennweite, desto relativ weiter (in Brennweiten gemessen) sind die Objek-te entfernt – und von weit entfernten Objekten wissen wir schon, dass ihreräumlichen Bildpunkte nur wenig von der lichtempfindlichen Schicht entferntsind.

Abb. 9.57 Diagonalen bleiben geradlinig (I)

Jede gewöhnliche Fotografie (Punkte P c) kann in ein Fischaugenbild (Punk-te P f ) umgerechnet werden, und umgekehrt kann jedes Fischaugenbild ineine gewöhnliche Perspektive transformiert werden. Zugehörige Punkte P c

und P f liegen auf Radialstrahlen durch den Hauptpunkt H. Die AbständeHP c und HP f stehen zueinander in einer mathematischen Beziehung, dienicht vom Polarwinkel des Radialstrahls abhängt. Man kann mit dem Bre-chungsgesetz exemplarisch einige „Stützpunkte“ der Zuordnung berechnenund weitere Zwischenpunkte mittels Interpolation finden.Zum Abschluss wollen wir noch einmal die Vorteile und Nachteile des Fisch-augen-Objektivs abwägen.Der große Nachteil besteht darin, dass Geraden in der Regel „verbogen“ wer-den. Nach einem halben Jahrtausend „klassischer Perspektive“ ist das sehrungewohnt für unser Auge. Andererseits müssen wir fair sein: Das Fischauge

9.3 Andere Perspektiven 321

Abb. 9.58 Diagonalen bleiben geradlinig (II)

muss mit einem Ultra-Weitwinkel Objektiv verglichen werden. Und Bildermit solchen Objektiven sind ebenfalls sehr ungewöhnlich.Der erwähnte Nachteil ist bei gezieltem Einsatz des Objektivs abschwächbar:Geraden, die durch den Hauptpunkt laufen, bilden sich als gerade Linien ab,und Kreise parallel zur Bildebene bleiben kreisförmig.Der Vorteil ist, dass man aus extremen Blickwinkeln Szenen abbilden kann,die normalerweise „unfotografierbar“ sind. Abb. 9.59 rechts soll das illustrie-ren: Ein Cockpit so zu fotografieren, bleibt einzig einem Fischaugenobjektivvorbehalten. Dabei sieht das Bild nicht einmal extrem unnatürlich aus: ImCockpit dominieren nämlich nicht lange Geraden, und auch der menschlicheKopf wird bei solchen Fotografien nicht extrem verzerrt. Die affine Streckungdes kreisförmigen Bildes zu einer Ellipse fördert im konkreten Fall die „Land-schaftswirkung“ der Aufnahme.

Abb. 9.59 Alles ist möglich. . .

Abb. 9.59 links demonstriert einen weiteren Vorteil: Die Zehen im Bild er-scheinen nur deshalb so groß, weil sie nur zwei Zentimeter vor der Linse waren– sonst wirkt das Fischauge am Rand verkleinernd, was die extreme Vergrö-ßerung durch die Nähe wohltuend ausgleicht. Was aber im konkreten Bildstark auffällt, ist die enorme Schärfentiefe des Objektivs. Dies hängt mit dersehr kleinen Brennweite zusammen [16].

322 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

9.4 Geometrie an der Wasseroberfläche

Wir wollen uns in diesem Abschnitt mit physikalischen und optischen Beson-derheiten an der Übergangsfläche zwischen Luft und dem optisch dichterenWasser befassen. Insbesondere sind dies die Spiegelung an der Oberseite undUnterseite der Trennebene, sowie die Brechung zum Lot bzw. vom Lot, jenachdem, in welchem Medium man sich befindet. Die Brechung zum Lot er-folgt im optisch dichteren Medium. Kennt man einen Punkt des Lichtstrahlsund einen Punkt des gebrochenen Lichtstrahls, so führt die Berechnung desKnickpunkts auf eine algebraische Gleichung vierter Ordnung. Ihre Lösungist im Kontext immer eindeutig. Eine Ebene kann durch die Wasseroberflä-che niemals projizierend gesehen werden. Weiter gilt, dass man, auch wennman aus mehreren Positionen ins Wasser fotografiert, ein darin befindlichesObjekt i. Allg. nicht beliebig genau rekonstruieren kann.

Angepasste Augen

Abb. 9.60 Angepasste Augen

Wasser ist unser Lebenselixier. Fast alle Menschen lieben das Wasser, so wie vieleunserer Verwandten unter den Säugetieren (Abb. 9.60 links bzw. rechts). Tiere, dieständig das Medium wechseln, haben oft speziell dafür ausgebildete (zweigeteilte)Augen, wie der 5 mm lange Taumelkäfer in Abb. 9.60 Mitte oder der Vieraugenfischin Abb. 9.55.

Abb. 9.61 Gefahr von unten und von oben

Die Robbe (Abb. 9.60 rechts) kann die Brennweite ihrer Augenlinse mittels Mus-kelkontraktion ändern, ist aber an Land eher kurzsichtig (vgl. dazu AnwendungS. 329). Manche Reptilien schieben zum selben Zweck unter Wasser ein durchsich-

9.4 Geometrie an der Wasseroberfläche 323

tiges Augenlid vor. Krustentiere haben stielförmige Facettenaugen, mit denen sieoffensichtlich auch außer Wasser recht gut sehen.Kleine Tiere können auf der Wasseroberfläche laufen, ohne einzusinken, wie dieräuberischen Wasserläufer in Abb. 9.61 rechts oder die Wolfsspinne samt Eierkokon(sie ist keine Wasserspinne!) in Abb. 9.62 Mitte. Andere Tiere wie die Wasserwanzenin Abb. 9.61 links bewegen sich auf der Unterseite der Wasseroberfläche fort.

Abb. 9.62 Die Oberflächenspannung trägt vieles, aber nur wenn es klein ist

Dass kleine Lebewesen nicht sofort im Wasser eintauchen, hat damit zu tun, dasssie wie alle kleinen Objekte von sich aus eine vergleichsweise viel größere Ober-fläche bzw. Auftrittsfläche haben als große (ist ein Objekt k mal so klein wie einähnliches, dann ist seine Oberfläche im Verhältnis zum Gewicht k mal so groß wiebeim anderen Objekt. Diesen für die Natur bedeutungsschweren Satz kann man amBeispiel eines Würfels leicht überprüfen). Deshalb geht auch ein hinreichend klei-nes Geldstück (Abb. 9.62 links) bei idealen Verhältnissen unter Umständen nichtunter. Bei größeren Lebewesen ist der Druck auf die Oberfläche stets größer als derGegendruck durch die Oberflächenspannung.

Spiegelung an der OberflächeWasser reflektiert flach eintretende Lichtstrahlen (Abb. 9.63) fast vollstän-dig. Ebenso treten unter Wasser Totalreflexionen auf (Abb. 9.65). Wir wer-den aber bald sehen, dass dies nur bis zu einem wohldefinierten Grenz-Einfallswinkel so ist.

Abb. 9.63 Perfekter Spiegel von oben (flacher Blickwinkel)

Die Totalreflexionen in Abb. 9.67 zeigen die Fliesen auf der senkrechten Wandbzw. dem Boden des Basins, das Bild rechts zeigt die Reflexion beider Flie-senarten, das abrupte Ende der Totalreflexion ab dem Grenzwinkel.

324 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.64 Partielle Spiegelung (steilerer Blickwinkel)

Abb. 9.65 Perfekter Spiegel von unten

Das BrechungsgesetzDie Lichtgeschwindigkeit beträgt nur im Vakuum 300000 Kilometer pro Se-kunde. In Luft ist die Geschwindigkeit zwar nur geringfügig kleiner, in Wasserbeträgt sie allerdings nur noch knapp 75 Prozent der Maximalgeschwindig-keit. Das Verhältnis n der Geschwindigkeiten heißt Brechungsindex. Er istbei gewöhnlichem Licht beim Übergang in Wasser etwa 4 ∶ 3, wobei die ver-schiedenen Lichtanteile (die Regenbogenfarben) leicht unterschiedliche Indi-zes haben.

Abb. 9.66 Die Wellenfront zur Erklärung des Brechungsgesetzes

Mit der Wellenstruktur des Lichts lässt sich die Knickung des Lichtstrahlsplausibel erklären (die Wellenfront kippt beim Auftreffen auf die Trenn-schicht). Aus Abb. 9.66 kann man das Brechungsgesetz von Snellius un-mittelbar ablesen:

BC1

AC2

= v1

v2= n⇒ BC1

AB= n ⋅ AC2

AB⇒ sinα1 ∶ sinα2 = n

9.4 Geometrie an der Wasseroberfläche 325

Wir befinden uns nun unter Wasser und wollen den Grenzwinkel der Totalre-flexion berechnen. Jetzt müssen wir mit dem Kehrwert des Brechungsindexrechnen. Offensichtlich hat die Gleichung von Snellius nicht immer reelle Lö-sungen für den Austrittswinkel. Ab dem Grenzfall

sinβ = 1/n = 3/4⇒ β ≈ 48○

tritt Totalreflexion auf. Dann wirkt die Wasseroberfläche wie ein perfekterSpiegel. Weil der Grenzwinkel für die verschiedenen Wellenlängen des Lichtsleicht unterschiedlich ausfällt, tritt an der Grenze ein Regenbogeneffekt auf(Abb. 9.54 und Abb. 9.67).

Abb. 9.67 Bildhebung von oben bzw. unten. Rechts: Snellius-Fenster (Snell’s window)

Die Frage, wer wen in Abb. 9.53 links sieht, ist gar nicht so trivial zu beant-worten. Fisch A sieht Fisch C direkt und als Spiegelbild, Fisch B nur direkt,seine Rückenflosse allerdings auch als Spiegelung außerhalb des Spurkreisesdes Kegels Γ mit dem kritischen Öffnungswinkel 2 ⋅ β. Der Kegel Γ kann vonA aus gesehen als Grenzkegel bezeichnet werden.

Bildhebung

Auch beim Blick ins Wasser treten durch die sogenannte Bildhebung verwir-rende Dinge auf. Je flacher der Sehstrahl, desto mehr wird der Bildpunktgehoben. Abb. 9.67 links zeigt dies ganz extrem. Das obere (und eigentlichnicht vorhandene) Krokodil ist flach gedrückter als das untere – das übrigensauch nicht genau dort ist, wo man es sieht. . .

Abb. 9.68 Bildhebung beim Schwimmbecken

326 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.68 zeigt ein Becken mit konstanter Tiefe. Man hat stets den Eindruck,sich über der tiefsten Stelle zu befinden. Wenn man sich genügend knapp überder Oberfläche befindet, kommt es zu extremen Verzerrungen.

● Projizierende Flächen

Abb. 9.69 Kann eine Ebene durch Brechung projizierend gemacht werden?

Abb. 9.69 links und insbesondere auch Abb. 9.69 rechts legen die Frage nahe, ob esmöglich ist, Ebenen durch die Wasserfläche projizierend sehen zu können. Abb. 9.69Mitte illustriert, dass sich die Punkte einer Ebene stets auf ein (i. Allg. nicht konve-xes) Polygon verteilen. Einzig jene Ebenen, welche die Normale auf die Wasserebenedurch den Augpunkt enthalten, erscheinen als Geraden.

Abb. 9.70 „Knicken“ einer Ebene zu einer Regelfläche

Abb. 9.70 zeigt links zwei Regelflächen, die vom Augpunkt aus projizierend erschei-nen. Sie werden von jenen Geraden gebildet, welche dem Strahlbüschel durch dieGerade in der Trennebene nach der Brechung entsprechen. Algebraisch gesehen ge-hören die symmetrischen Flächenteile dazu. In [1] wurde gezeigt, dass die vom Aug-punkt E ausgehenden Sehstrahlen nach der Brechung der Normalenkongruenz einesDrehellipsoids bzw. Drehhyperboloids angehören (Abb. 9.70 rechts). Die Brenn-flächen der Kongruenz entstehen durch Rotation der entsprechenden Brennlinien(Diakaustiken).

● Mit zwei Augen unter Wasser rekonstruieren?

Abb. 9.71 links oben zeigt, wie man – zumindest in Ebenen, welche normal zurOberfläche stehen und beide Augpunkte enthalten – einen Raumpunkt S an einerwohl definierten anderen Position zu sehen glaubt.Lässt man in einem Grenzübergang die beiden Augpunkte gegeneinander rücken(Abb. 9.71 links unten), so rückt der Schnittpunkt der gebrochenen Strahlen ge-gen einen Punkt auf der Brennlinie, der dementsprechend nicht auf einer Normalendurch S auf die Wasseroberfläche liegt. Wandert S in konstanter Wassertiefe, soergibt sich eine Ortskurve, die zwischen den beiden Augen (und im Grenzfall unterdem Auge) die tiefste Stelle besitzt. Dies erklärt, warum man bei einem Schwimm-becken mit konstanter Tiefe stets glaubt, über der tiefsten Stelle zu sein (Abb. 9.68).

9.4 Geometrie an der Wasseroberfläche 327

Abb. 9.71 Rekonstruktion eines Objekts unter Wasser. . .

Der im Wasser befindliche Punkt S liegt i. Allg. natürlich nicht in der Hauptnor-malebene durch die beiden Augpunkte. Nach dem Brechungsgesetz liegen die ge-brochenen Lichtstrahlen in Normalebenen zur Wasseroberfläche, schneiden einanderalso auf der Normalen m durch S. Andererseits treffen die gebrochenen Strahlen m

in verschiedenen Punkten (außer die Augpunkte haben von m gleichen Abstand).Folglich können einander die verlängerten Sehstrahlen durch die Knickpunkte nichtschneiden. Man kann somit selbst bei mehreren Fotografien den Raumpunkt S nichtexakt rekonstruieren. Der Fehler wird umso größer, je weiter S von der Hauptnor-malebene entfernt liegt. ◾

Eingetaucht

Abb. 9.72 Die Grenzschicht und die Welt darunter

Wenn man wie in Abb. 9.72 mit einer Kamera ins Wasser eintaucht, treten zu-nächst besonders extreme Verzerrungen auf, die sich schlagartig lösen, wenndie Kamera ganz eingetaucht ist. Dann hat man es wieder mit gewöhnlichenPerspektiven zu tun. Allerdings erscheinen die Objekte mit dem Faktor 4/3vergrößert. Dies hat zur Folge, dass man die Masse von Gegenständen unterWasser gewaltig überschätzt (die Masse nimmt mit der dritten Potenz desMaßstabs zu, Abb. 9.73).● Brechung an krummen (kugelförmigen) TrennschichtenAls Beispiel für Spiegelung und Brechung an krummen Wasseroberflächen solldie Entstehung eines Regenbogens genannt werden (Abb. 9.74). Der primäreBogen entsteht innerhalb der nach einem Regenguss in der Atmosphäre be-findlichen kugelförmigen Wassertröpfchen durch Brechung zum Lot, einmali-ge Totalreflexion und abschließende Brechung vom Lot (Abb. 9.74 Mitte). DieTotalreflexion an der Rückwand der Tröpfchen tritt nur für Lichtstrahlen auf,welche die Tröpfchen in flachem Winkel treffen. Bei einem Austrittswinkel

328 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

Abb. 9.73 Gleichzeitiges Sehen über und unter Wasser

von zirka 42° ergibt sich dabei maximale Auffächerung in die Spektralfarben.Blau wird am stärksten gebrochen, Rot am wenigsten. Dadurch erscheint Rotam Außenrand.

Abb. 9.74 Entstehung eines Regenbogens

Der Regenbogen ist eigentlich kein Kreis, sondern ein für den Betrachterprojizierender Drehkegel mit einem halben Öffnungswinkel von etwa 42°. Sogesehen kann man unter Umständen bei Sonnenuntergang auf einer nassenStraße hinter einem Fahrzeug, das feinen Sprühregen erzeugt, unter einemWinkel von 42° zur Schattenrichtung in den Fuß des Regenbogens hineinfah-ren.

Abb. 9.75 Tägliche Illusion

Ein Teil des in den Wassertröpfchen herumschwirrenden Lichts wird erst nach zwei-maliger Spiegelung austreten und bei 51° einen schwach sichtbaren sekundären Re-genbogen bilden, bei dem Rot am Innenrand liegt (Abb. 9.74 links).

9.4 Andere Perspektiven 329

Die verschiedenen Brechungsindizes der Spektralfarben führen bei flachem Sonnen-einfallswinkel zu einer Auffächerung des Lichts. Die energiereicheren Anteile (blau,grün) werden von der Atmosphäre so stark gestreut, dass sie den Betrachter nichtmehr erreichen. Weil der Lichtstrahl gekrümmt ist, sieht man die rote Sonne nochmehrere Minuten am Horizont, wenn sie eigentlich schon untergegangen sein müsste(Abb. 9.75).

Abb. 9.76 Luftspiegelung

Auch Luftspiegelungen wie in Abb. 9.76 sind Folge von kontinuierlicher Lichtbre-chung. Die bodennahen heißen Luftschichten über der Wüste oder Asphaltstraßesind optisch dünner, so dass Lichtstrahlen, die von Objekten ausgehen und eigent-lich im Boden landen sollten, wegen der Brechung vom Lot den Betrachter aufeinem Umweg erreichen. Dieser sieht dann in der Verlängerung der Kurventangenteein vermeintliches Spiegelbild.

● Das optische System unserer AugenDas menschliche Auge ist ein hoch interessantes optisches Gerät. Lichtstrah-len werden zunächst an der Hornhaut gebrochen, gelangen in den „flüssigenBereich“ des Kammerwassers, müssen noch die innere Linse passieren undbelichten dann die Netzhaut. Vorweg: Von Scharfstellen ist nur innerhalbeiner sehr geringen Abweichung von der optischen Achse die Rede. Einengrößeren Sehkegel erfassen wir nur durch „Scannen“ (Rollen der Augen).

Abb. 9.77 Fokussieren und Akkomodieren mit der Linse

Der schwedische Augenarzt Allvar Gullstrand bekam 1911 den Nobelpreisfür Physiologie oder Medizin für sein genaues Modell der optischen Regelnder Bildentstehung im Auge, mit dem heute noch gerechnet wird. Er gab

330 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

für alle beteiligten Medien Krümmungsradien und Brechungsindizes an. Wieschon in Anwendung S. 222 erwähnt, wird der Lichtstrahl zunächst weitausam meisten an der Hornhaut gebrochen.Abb. 9.77 links zeigt eine Computersimulation, bei der alle Normwerte einge-stellt sind. Lichtstrahlen parallel zur Achse werden in mehreren Schritten ge-nau auf die Netzhaut fokussiert. Ein Punkt auf der Achse nahe der Hornhautbildet sich zunächst extrem unscharf ab (Bild Mitte). Beim Akkommodierenwerden über Muskeln die Krümmungsradien der Linse verändert. Solch kur-ze Abstände wie in der Simulation im Bild rechts schaffen nur Kinder oderstark kurzsichtige Personen. ◾

● Wie sehen eigentlich Insekten?Um dreidimensional sehen zu können – also Tiefenwerte abschätzen zu kön-nen – braucht man nach den Regeln der Geometrie i. Allg. zwei verschiedeneBilder einer Raumsituation.Nun wird gelegentlich vermutet, dass das gleichzeitige Sehen mit zwei Augenund anschließende Kombinieren der Bilder eine außergewöhnliche Gehirn-leistung erfordert, die man einem Insekt nicht zutrauen kann. Der logischeSchluss ist somit: Insekten können nicht dreidimensional sehen.

Abb. 9.78 Fix eingebaute Insektenaugen liefern gekrümmte Perspektiven

Das menschliche Sehen kann mit dem Sehen durch ein Facettenauge nur peri-pher verglichen werden. Der Augapfel “höherer Tiere” bewegt sich sphärisch,d.h., er rotiert wie ein Kugelgelenk. Wenn wir Menschen einen nicht allzuweit entfernten Punkt anvisieren, dann zielen die optischen Achsen der bei-den Augen durch diesen Punkt. Aus dem Winkel, den die sich schneidendenAchsen bilden, “berechnen” wir den Abstand des Punkts.Ein Insektenauge ist “fix eingebaut”. Ein Punkt im gemeinsamen Sehfeld derFacettenaugen wird von je genau einer Facette (Ommatidie) des linken bzw.rechten Auges gesehen (Abb. 9.80). Wenn aber ein Punkt von der Facette x

des linken Auges und von der Facette y des rechten Auges gesehen wird, dann

9.4 Andere Perspektiven 331

Abb. 9.79 Ausgezeichnet entwickelte Augen zum dreidimensionalen Sehen

ist seine Raumposition eindeutig („hardwaremäßig“) definiert! Da braucht eskein Winkelmessen und Entfernungs-Rückrechnen!

Abb. 9.80 Die optischen Achsen der Ommatidien schneiden einander in fixen Punkten.

Wenn ein Insekt links und rechts z.B. je 1000 Facetten (Ommatidien) besitztund von diesen je 200 in ein gemeinsames Sehfeld zielen, dann gibt es tausen-de solcher Fixpositionen, die dem Insekt zur Verfügung stehen, ohne dass es“nachdenken” muss. So wie es aufgrund der vordefinierten Gelenke und desstarren Chitin-Panzers einige tausende unterschiedliche Beinpositionen gibt,über die das Insekt sicher auch nicht “nachdenkt”.

Abb. 9.81 Nicht nur Insekten können Entfernungen gut abschätzen

Springspinnen (Abb. 9.79 rechts) haben mehrere Augenpaare. Sie können ausge-zeichnet und sogar farbig sehen. Natürlich ist für so ein kleines Tier nur ein Ent-fernungsbereich von wenigen Zentimetern relevant. Abb. 9.81 links zeigt, wie einReptil seine Beute exakt anvisiert. Das Insekt nimmt den Fressfeind wahrscheinlich

332 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

nicht wahr, weil sich dieser nicht bewegt. Im Bild rechts sieht man die ausgezeichne-ten Augen eines Flughunds (der übrigens keine Insekten frisst), welche dieser zumManövrieren in den Baumkronen gut brauchen kann. ◾

Die Natur hat Augen auf dutzenfache Art erfunden und wieder erfunden ([14]).Offensichtlich bieten gute Augen vielen Lebewesen einen enormen Vorteil in derEvolution. Allein die Tatsache, dass die Insekten seit mehreren hundert MillionenJahren Komplexaugen besitzen, zeigt, dass diese sicherlich einen beachtlichen Fort-schritt in der Evolution dieser Tiere darstellen. Vom Standpunkt der Physik könnteman vielleicht anmerken, dass Insektenaugen wegen der nicht vorhandenen Linsen„verschwenderisch“ mit dem Licht umgehen: Hier werden kaum Lichtstrahlen gebün-delt, wie dies bei Augen mit Linsen der Fall ist. Das folgende Beispiel zeigt, dass essogar noch einfacher geht.

● Eigentlich genügt eine Lochkamera!Sehen in seiner einfachsten Form ist eigentlich weniger kompliziert als manmeinen möchte. Schon die ersten Versuche in der Fotografie zeigten, dasseigentlich eine lichtdichte Schachtel (Abb. 9.82, linke Schachtel) genügt, in dersich auf der einen Seite ein kleines Loch, auf der gegenüberliegenden Flächeeine lichtempfindliche Schicht befindet, um die Außenwelt abzubilden. Manbraucht nur sehr viel Helligkeit (am besten einen Blitz), damit die Schichtauch ausreichend belichtet wird.

Abb. 9.82 Das einfache geometrische Prinzip hinter der Lochkamera: Die Lichtstrahlen treten indie dunkle Schachtel ein und belichten die Rückwand. Wenn wir nun einen unter 45○ geneigtenSpiegel einsetzen, wird das Bild auf die Deckwand umgelenkt.

Wenn wir einen Spiegel in die (Abb. 9.82, rechte Schachtel) einbauen, könnenwir das erzeugte Bild umlenken und es so auf Wachspapier am Deckel derSchachtel sichtbar machen (dazu müssen wir die Schachtel und unseren Kopfunter ein dunkles Tuch stecken).Nun kann man wie Marianne Kampel, Christoph Mandl und Markus Jagers-berger folgenden Versuch machen: Die „Schachtel“ kann ein quaderförmiges,

9.4 Andere Perspektiven 333

Abb. 9.83 Links: Das Prinzip der „Camera obscura“. Rechts: Das lichtdichte Zelt.

Abb. 9.84 Kaum zu glauben: So sieht’s im Inneren des Zelts aus, wenn man den Augen lange genugZeit gibt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nahezu gestochen scharfe Bilder der Außenwelt,sogar über die Quaderecken verteilt.

absolut lichtdichtes Zelt mit einem sehr kleinen Loch sein. Steht man inso einem Zelt und haben sich die Augen an die vermeintliche Dunkelheit ge-wöhnt, erkennt man zum großen Erstaunen die Projektion der Außenwelt aufdie Wände und den Boden des Zelts. Das kann man natürlich „beweisen“, in-dem man die Situation fotografiert und dabei eine sehr lange Belichtungszeitwählt (Abb. 9.84). ◾

● Der kleine Schritt zu einer echten KameraDie Lochkamera hat den Nachteil, dass nur wenig Licht in das System ein-

Abb. 9.85 Wenn wir das Eingangsloch vergrößern, kann mehr Licht eintreten, aber wir braucheneine Konvexlinse.

treten kann. Vergrößern wir das Loch, wird das Bild sofort unscharf. Wir

334 9 Fotografische Abbildung und individuelle Wahrnehmung

müssen dann eine konvexe Sammellinse einbauen, damit das Licht gebün-delt wird. (Abb. 9.85 links). Dazu muss die Brennweite der Linse so gewähltwerden, dass interessante Punkte im Raum mittels eines Lichtkegels auf derRückseite der Schachtel gebündelt werden, was wieder zu einem scharfen undvor allem viel helleren Bild führt. Bemerkenswerterweise kann dieser Kegeldurch einen 45○-Spiegel perfekt umgelenkt werden, wodurch wir ein hellesund scharfes Bild auf unserem Wachspapier bekommen (Abb. 9.85 rechts).

Abb. 9.86 Öffnen und Schließen der Linsenöffnung . . .

So hat auch die Natur die verschiedenen Augen entwickelt: Die Sehöffnungwurde mit einer lichtbrechenden Linse verschlossen (Abb. 9.86). Die „Fein-einstellung“ konnte mit Hilfe einer zusätzlich eingebauten Linse, die z.B.durch Muskeln kontrahiert werden und dadurch die Brennweite geringfügigändern kann. (Abb. 9.77). Das Hintereinanderschalten mehrerer Linsen wiebei hochwertigen Objektiven (Abb. 9.87)dürfte eine menschliche Erfindungsein.

Abb. 9.87 Wenn man mehrere Linsen zusammenschaltet, wird es deutlich komplizierter.◾

10 Alles bewegt sich: Kinematik

Das „Paradies der Geometer“ istdie Bewegungslehre oder Kinema-tik. Hier kommen die Gesetze undErkenntnisse der Geometrie zurGeltung und helfen, schwierige Pro-bleme in den Griff zu bekommen.Manche Grundregeln der Kinema-tik erscheinen dann verblüffend ein-fach. Es geht im Wesentlichen dar-um, bei bewegten Mechanismengeometrische, aber auch physika-lische Aussagen treffen zu kön-nen. Dabei interessieren uns Punkt-bahnen und Hüllkurven (Hüllflä-chen). Zusätzlich sind aber auchGeschwindigkeits- und Beschleuni-gungsverhältnisse von Interesse.

In der Ebene dreht sich jedes noch so kompliziert bewegte System in jedemAugenblick um einen genau bestimmbaren Momentanpol, der auch ein Fern-punkt sein kann. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf Bahntangenten undMomentangeschwindigkeiten ziehen. Auch Hüllkurven von bewegten Kur-ven lassen sich dabei erfassen. Mit gewissen Zusatzinformationen sind auchKrümmungsverhältnisse und Momentanbeschleunigungen unter Kontrolle.Die wichtigsten Getriebearten werden kategorisiert und untersucht. Eine zen-trale Rolle spielen die Koppelgetriebe. Unter ihnen befinden sich die Ge-lenkparallelogramme bzw. Antiparallelogramme. Mit ihrer Hilfe können vieletechnische Anforderungen gemeistert werden.Ebenso häufig tritt die Ellipsenbewegung auf, deren Verallgemeinerung dieTrochoidenbewegung ist. Letztere spielt in der Verzahnungstheorie eine Rolle.

Überblick10.1 Der Pol, um den sich alles dreht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

10.2 Verschiedene Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

10.3 Ellipsenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

10.4 Trochoidenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

336 10 Alles bewegt sich: Kinematik

10.1 Der Pol, um den sich alles dreht

Zwei Punkte werden zwangläufig bewegtWenn sich ein Objekt nur auf genau vorgeschriebene Art und Weise bewegenkann, nennt man dies einen Zwanglauf. Denken wir uns ein Dreieck ABC

in der Ebene (z.B. unser Geodreieck). Wenn wir A längs einer vorgegebe-nen Kurve a bewegen und B dabei längs einer ebenfalls vorgegebenen Kurveb mitbewegt wird, bleibt für C (und jeden anderen Punkt des „Dreiecks-Systems“) keine Wahl: Er wird zwangsläufig längs einer Bahnkurve c wan-dern, die bereits eindeutig bestimmt ist.

● Zweipunktführung beim FahrradDas Fahrrad in Abb. 10.1 fährt auf einem gewellten Untergrund. Intuitivist klar, dass Punkte am Fahrradgestell, z.B. der Auflagepunkt des Sattels,„keine Wahl haben“.

Abb. 10.1 Zweipunktführung

Das Fahrrad bewegt sich genauso, wenn seine Räder nicht rollen, sondern ent-lang des Untergrunds verschoben werden. Damit kennt man von den Berühr-punkten des Vorder- und Hinterrads die Bahnkurve, und die Bewegung istfestgelegt.Der Radfahrer selbst ist mit dem Fahrrad nicht starr verbunden, wie das Bild zeigt.Für ihn gilt die Regel also nur bedingt – kleine Abweichungen von der theoreti-schen Bahn ergeben sich allein schon durch die Tretbewegung und auch durch dasAbfedern der Stöße. ◾

Zwei Bahnnormalen genügenIm ersten Kapitel (Abb. 1.7) haben wir gezeigt: Je zwei (gleichsinnig kongru-ente) Lagen A1B1C1 und A2B2C2 unseres Dreiecks ABC können durch eineeindeutig festgelegte Drehung ineinander übergeführt werden. Das Drehzen-trum P12 ergibt sich im Schnitt der Mittelsenkrechten von A1A2 und B1B2.Die dritte Mittelsenkrechte C1C2 geht automatisch durch P12.

10.1 Der Pol, um den sich alles dreht 337

Nun betrachten wir eine Art „Stroboskop-Aufnahme“ innerhalb sehr kurz-er Zeit. Die beiden Dreieckslagen werden dann fast identisch sein. Dennochfunktioniert die Konstruktion des Schnittpunkts der Mittelsenkrechten des-wegen nicht anders. Es sind jene von zwei Punkten A1 und A2 auf einer Kur-ve a bzw. von B1 und B2 auf einer Kurve b aufzusuchen. A1A2 bzw. B1B2

sind also Sehnen der vorgegebenen Kurven a und b. Mit dieser Erkenntniskönnen wir einen Grenzübergang vollziehen: Wenn die Zeitspanne für dieStroboskop-Aufnahme „unendlich kurz“ wird, konvergieren die Sehnen von a

und b gegen die Tangenten der Kurven. Aus den Mittelsenkrechten werdensomit die Kurvennormalen in A und B. Ihr Schnitt liefert einen eindeutigbestimmten Momentan-Drehmittelpunkt – den Momentanpol P . Alle ande-ren Grenzlagen der Mittelsenkrechten (=Bahnnormalen) gehen automatischdurch P .Egal wie kompliziert wir unser Geodreieck bewegen: Wenn wir dabei dieBahnkurven a und b zweier Punkte A und B markieren, können wir späterdie Bewegung nachvollziehen, indem wir A auf a und B auf b bewegen. Dahergilt immer der folgende fundamentale

Bahnnormalensatz: Bei jeder ebenen Bewegung verlaufen in jedem Augenblick

alle Bahnnormalen durch einen Punkt – den Momentanpol. Bei Translationen istdieser Punkt ein Fernpunkt.

Abb. 10.2 Zwanglauf: Zweipunktführung(A ∈ a, B ∈ b)

Abb. 10.3 In welche Richtung bewegt sich derSattel?

● Zweipunktführung beim Fahrrad (Fortsetzung):Man konstruiere die Bahntangente des Sattel-Auflagepunkts C in Abb. 10.3.

Lösung :Die Bahnnormalen der Berührpunkte der Reifen sind durch die Form derFahrbahn bekannt. Alle Bahnnormalen gehen durch ihren Schnittpunkt, den

338 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Momentanpol P . Die Bahntangente tC von C steht somit rechtwinklig zuPC.Bewegt sich das Fahrrad auf einem ebenen Untergrund, liegt eine reine Translationvor, bei der alle Bahntangenten parallel sind. Der Momentanpol ist der Fernpunktder Normalenrichtung. ◾

MomentangeschwindigkeitBei Drehungen sind die Geschwindigkeitsverhältnisse sehr einfach: Das Dreh-zentrum hat Geschwindigkeit Null, alle anderen Punkte bewegen sich umsoschneller, je weiter sie vom Zentrum entfernt sind – der Betrag der Geschwin-digkeit nimmt proportional mit dem Abstand vom Drehzentrum zu.

HüllkurvenWenn wir zwei Bahnnormalen einer beliebigen zwangläufigen Bewegung ken-nen, können wir für jeden Punkt die entsprechende Bahntangente bestimmen.Damit ist es aber nicht genug, denn es gilt weiter:

Wird bei einem Zwanglauf eine Kurve c mitbewegt, dann sind die Normalenfuß-punkte aus dem Momentanpol auf c Punkte der Hüllkurve von c.

Beweis:Punkte der Hüllkurve erhält man, wenn man zwei unmittelbar aufeinander folgendeLagen von c zum Schnitt bringt. Wir wollen zeigen, dass diese Schnittpunkte genaudie Normalenfußpunkte Ti sind: Diese Punkte haben – wie alle anderen Punkteauch – Bahntangenten, die auf der Verbindung mit dem Momentanpol P normalstehen. Nach Definition eines Normalenfußpunkts berührt diese Bahntangente aberdie Kurve c. Das heißt, die Punkte Ti sind jene Punkte, die sich im Moment entlangvon c bewegen. Eine „Nachbarlage“ von c schneidet somit c in den Punkten Ti. ◾

Abb. 10.4 Astroide und Parallelkurve als Hüllkurven einer Geraden

Als einfachster Fall ist die mitgenommene Kurve c eine Gerade. Auf ihrgibt es dann genau einen Normalenfußpunkt aus dem Pol. Abb. 10.4 (links)illustriert, dass eine uns schon bekannte Kurve – die Astroide – entsteht,

10.1 Der Pol, um den sich alles dreht 339

wenn die Gerade c so geführt wird, dass ein fester Punkt X auf der x-Achseund ein weiterer fester Punkt Y auf der y-Achse geführt wird.In Abb. 10.4 rechts wird nun eine zweite Gerade c mitgenommen, die einenkonstanten Parallelabstand d zu c hat. Sie hüllt eine Parallelkurve zur er-wähnten Astroide ein, die ebenso punkt- und tangentenweise ermittelt wer-den kann.Geradenhüllbahnen haben sehr häufig Spitzen. Jene der Astroide kommendann zustande, wenn der Momentanpol auf der Geraden liegt, was im Laufder Bewegung vorkommen kann. Zum selben Zeitpunkt treten dann auchSpitzen der Parallelkurven auf.

Abb. 10.5 Punktbahn und Geradenhüllbahn bei einer Zykloidenbewegung

Im Gegensatz dazu ist es schon sehr speziell, wenn ein Punkt im Lauf derBewegung ausgerechnet mit dem Momentanpol zusammen fällt. Ein sehranschauliches Beispiel dazu ist das Rollen eines Rades auf einer Geraden(Abb. 10.5). Die Bewegung heißt daher Zykloidenbewegung. Jeder Punkt amRadumfang wird im Laufe der Bewegung auf der Geraden zu liegen kom-men, und seine Bahnkurve hat dort eine Spitze. Eine Radspeiche, also einDurchmesser des Kreises, hüllt interessanterweise eine dazu ähnliche (halb sogroße) Zykloide ein.Der Momentanpol bei der Radrollung ist der Berührpunkt des Rades mit derfixen Geraden. Denn dieser Punkt hat offensichtlich die Momentangeschwin-digkeit Null. Er liegt auf der Bahnnormalen des Kreismittelpunkts, dessenBahn eine zur horizontalen Auflage parallele Gerade ist.

Abb. 10.6 Hüllbahn einer allgemeinen Geraden

Die Hüllbahn einer allgemeinen Geraden bei der Zykloidenbewegung ist wie-der eine Parallelkurve zu einer Zykloide (Abb. 10.6): Man braucht nur dieGerade um einen konstanten Schiebvektor in den Kreismittelpunkt zu ver-schieben.

340 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.7 Hüllbahn eines speziellen Kreises

Wenn wir statt einer Geraden einen Kreis im bewegten Rad-System mitneh-men, erhalten wir zwei Äste der Hüllkurve, die von den jeweils zwei möglichenKreisnormalen durch den Momentanpol herrühren (Abb. 10.7). Betrachtenwir zunächst den Spezialfall, dass der Kreismittelpunkt M am Rand des rol-lenden Kreises liegt. Dann gibt es Positionen, wo M „aufpunktet“ und zumMomentanpol wird. In diesem Fall ist jeder Punkt des mitbewegten KreisesNormalenfußpunkt aus P . Genau genommen gehören also diese Kreislagenzur Hüllkurve dazu.In Abb. 10.8 ist der Kreismittelpunkt kein Punkt am Rand des rollendenRades mehr (links befindet er sich innerhalb, rechts außerhalb des Rades).Die beiden letzten Figuren gestatten eine interessante räumliche Deutung:Interpretieren wir die einzelnen Lagen des mitbewegten Kreises als Normal-risse von Kugeln (Abb. 10.8 Mitte), dann erkennen wir den Normalriss einerSchraubrohrfläche, deren Ganghöhe zunächst genau vorgegeben ist. Wendenwir auf die Bahnlinie des Mittelpunkts eine orthogonale Affinität in Rich-tung der Bahngeraden des Mittelpunkts an, dann kann auch die Ganghöhebeliebig variieren.

Abb. 10.8 Hüllbahn allgemeiner Kreise und räumliche Interpretation

Der Normalumriss einer Schraubrohrfläche setzt sich daher aus Parallelkurven zueiner affin verzerrten Radlinie zusammen.Die Zykloide taucht bei diversen Anwendungen immer wieder auf. So erkannte Jo-hann Bernoulli (1696), dass sie jene Verbindungskurve zweier in verschiedener Höhegelegenen Punkten A und B ist, längs der die Zeit minimal wird, die ein Teilchenunter dem Einfluss der Schwerkraft bei Vernachlässigung der Reibung braucht, um

10.1 Der Pol, um den sich alles dreht 341

Abb. 10.9 Brachistochrone Abb. 10.10 Zykloidenpendel

von A nach B zu gelangen. Die Kurve wird in diesem Zusammenhang Brachisto-chrone genannt.Ein Pendel, das wie in Abb. 10.10 an einer Zykloide schwingt, kann als exaktesharmonisches Pendel verwendet werden. Die Schwingungsfrequenz ist unabhängigvon der Amplitude. Die Zykloide nennt man in diesem Zusammenhang auch Tau-tochrone. Bereits Huygens konstruierte eine Pendeluhr, die auf dieser Eigenschaftdes Zykloidenpendels beruht. Dazu benutzte er die Tatsache, dass die Evolute derZykloide selber wieder eine Zykloide ist. Allerdings war der Fehler aufgrund derReibung größer als die Genauigkeitssteigerung aufgrund der Isochronie der Schwin-gung.

Abb. 10.11 Hüllkurven von Geraden

Hüllkurven treten bei Reflexionen häufig auf und erzeugen dann hübsche Muster. InAbb. 10.11 sieht man die Spiegelung einer CD im LCD-Schirm des Laptops. Die El-lipsen rund um das Zentrum der Reflexion stammen von den kreisförmigen Rändernder CD. Die gespitzte Brennlinie im Zentrum hingegen stammt nur indirekt vonder Reflexion. Es handelt sich – ähnlich wie bei den Newton-Ringen in AnwendungS. 171 – um Interferenzerscheinungen, was man dadurch überprüfen kann, dass mandurch teilweises Abdecken der Scheibe die Kurve immer noch, wenn auch wenigerdeutlich, sieht.Wo steckt bei Reflexionen eine „Bewegung“ drinnen? Nun, alles ist nur eine Frage derInterpretation. Man kann sagen: „Wandert ein Lichtstrahl entlang einer Kurve. . . “.In welchem Zeitraum dieses „Wandern“ geschieht, ist unerheblich. Es kann durchausmit Lichtgeschwindigkeit passieren. . .

RelativbewegungOft erweist es sich als günstig, sich als Beobachter einer Bewegung anzupas-sen. Wenn wir z.B. die Bahn der Sonne am Firmament verstehen wollen, istes günstig, zwischen dem „System Erde“ ins „System Sonne“ zu wechseln.Auch das Sonnensystem ist nicht fix: Es bewegt sich mit großer Geschwin-

342 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.12 Relativbewegung: Der Bagger verschiebt sich mit seiner eigenen Schaufel

digkeit von der Position des Urknalls weg und rotiert um das Zentrum derMilchstraße.

Abb. 10.13 Relativbewegung: Nicht das Werkzeug, sondern das Werkstück bewegt sich

So gesehen ist jede Bewegung relativ. Wir können ein Holzstück festhaltenund rundherum ausmeißeln (so arbeiten Bildhauer), oder aber das Holz aufeiner Drehmaschine einspannen und rotieren lassen, um es dann mit einemDrehmeißel wie in Abb. 10.13 zu bearbeiten.Wir werden noch einige Beispiele für Relativbewegungen kennen lernen (z.B.Anwendung S. 357).

10.2 Verschiedene Mechanismen

Reich’ mir deine Hand. . .

Abb. 10.14 Simulation des Öffnens und Schließens der Hand

10.2 Verschiedene Mechanismen 343

Wenn Ihnen jemand die Hand gibt, ist das sicherlich ein vielschichtiger Prozess. Dasmeiste davon spielt sich jedoch im Gehirn ab, und zwar sowohl bei der Steuerungder gebenden Hand als bei den Eindrücken durch den „Empfänger“. Wenn Sie vonder Holzhand in Abb. 10.14 begrüßt werden, haben Sie ein erstaunlich realistischesGefühl (es ist allerdings eine linke Hand, was mit unserem Androiden im kommen-den Beispiel zu tun hat). Dabei ist der Mechanismus so einfach, wie er nur seinkann: Man zieht ein wenig an einem Bündel von Schnüren, die ihrerseits die leichtgekrümmten Finger an den unteren Gliedern heranziehen.Die Drehwinkel der einzelnen Finger sind leicht unterschiedlich, was man durchden Abstand des Ansatzpunkts des Strangs regulieren kann. Der Daumen drehtsich um eine „eigene“ Achse, was das subjektiv wichtige Gefühl des Umschließenserzeugt. Mit einer solchen Hand können sie bereits problemlos Dinge wie etwa eineSchachfigur aufgreifen und an anderer Stelle wieder positionieren.Notfalls kann man noch ein zusätzliches Glied an jedem Finger beweglich gestalten,also auch um ein Schaniergelenk drehen. Dann hat man bereits einen sog. Zweischlag(Abb. 10.15) konstruiert:

Der Zweischlag

Abb. 10.15 Zweischlag: Man kann jeden Punkt C innerhalb eines Kreises bzw. Kreisrings um A

erreichen. Rechts: Pfeffermühle, bei der sich die Arme in eine Richtung beliebig drehen lassen.

Ein Stab AB mit der Länge r dreht sich um seinen festen Endpunkt A,während ein zweiter Stab BC mit der Länge s um den Endpunkt B rotiert.Damit kann man innerhalb eines Kreises mit dem Radius r + s um A jedenPunkt erreichen, wenn s größer als r ist (sonst ist es ein Kreisring mit deminneren Radius r − s): Die Lage von B ergibt sich im Schnitt der Kreise umA mit Radius r bzw. um C mit Radius s – damit gibt es bei Angabe von A

und C sogar zwei Lösungen.

● Der schachspielende AndroidDas späte 17. Jhdt. und beginnende 18. Jhdt. waren das Zeitalter der „An-droiden“, menschenähnlicher Puppen, die durch mechanisches Innenleben zubemerkenswerten Leistungen fähig schienen. So entwickelte Kempelen einen„schachspielenden Türken“ (Abb. 10.16), der in der Lage zu sein schien,Schach zu spielen.Viele Zeitgenossen zerbrachen sich den Kopf, wie dies wohl möglich war.Tatsächlich war eine kleine Person im Kasten versteckt, die es irgendwiegeschafft hat, Information vom auf dem Kasten liegenden Schachbrett zu

344 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.16 Schachspielender Türke und historische Erklärungsversuche

erhalten und durch einen ausgeklügelten Mechanismus die linke Hand derMarionette so zu steuern, dass sie beliebige Schachfiguren aufgreifen undverschieben konnte.

Abb. 10.17 Links: Der Zweischlag bezieht sich auf den Grundriss von Ober- und Unterarm.Rechts: Mögliches kinematisches Modell für den schachspielenden Androiden (nach Racknitz ).

Das Geheimnis wurde nie gelüftet. Ein Erklärungsversuch von Racknitz wur-de an der Universität für angewandte Kunst Wien in einer Computersimu-lation und anschließenden mechanischen Umsetzung verifiziert (Abb. 10.17)und für tauglich befunden. Unter anderem wurde die Hand in Abb. 10.14 ausHolz hergestellt. Ohne näher auf den Mechanismus einzugehen: Das Kern-stück war ein Zweischlag, der von Ober- und Unterarm gebildet wurde. ◾

● Die Gelenke der GliedertiereBei den Gliedertieren (zu denen Insekten, Spinnen, aber auch Krebse usw.zählen) sind Mechanismen wie der Zweischlag oder Verallgemeinerungen da-von bis zur Perfektion ausgereift. Die komplizierten Bewegungen von Beinenund Zangen werden von „Mikroprozessoren“ gesteuert, die nicht einmal imGehirn sitzen, sondern direkt an den Gelenken.

10.2 Verschiedene Mechanismen 345

Abb. 10.18 Jede Menge Zweischläge und deren Verallgemeinerungen

Abb. 10.19 So etwas wie ein Zweischlag: Man beobachte die Mundwerkzeuge (inklusive derZunge) der schwarzen Holzbiene.

Nicht mehr ganz so trivial wie bei den Gliedmaßen – und erst am Foto genauererkennbar: Die Biene in Abb. 10.19 klappt eine Art „Zusatzschnabel“ aus, inder die Zunge untergebracht ist, die dann in der Malvenblüte die hinterstenWinkel erreicht. ◾

● Leonardos Kräne

Abb. 10.20 Drei Entwürfe Leonardo da Vincis

Kräne sind uns mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden. Vor 500Jahren waren die Entwürfe des Genies aus der Toskana alles Andere als„Stand der Dinge“. Zur Schulung des Vorstellungsvermögens drehe man geis-

346 10 Alles bewegt sich: Kinematik

tig an den verschiedenen Rädern und stelle sich vor, in welche Richtung dieLasten gehievt werden. ◾

Das Gelenkparallelogramm

Abb. 10.21 Beim Gelenkparallelogramm ist jede Bahnkurve ein Kreis.

Abb. 10.22 Gelenkparallelogramm bei Briefwaage und Designerlampe

Abb. 10.23 Gelenkparallelogramme bei einem tragbaren Stativ (Robert Eder)

Hält man bei einem Parallelogramm ABCD eine Seite (z.B. AB) fest undlässt die parallele Seite (CD) kreisen, spricht man von einem Gelenkparal-lelogramm. Jeder Punkt, der mit CD verbunden ist, beschreibt dann einenBahnkreis, der kongruent zu den Bahnkreisen von C und D ist. Gelenkparal-lelogramme treten selbst im Alltag häufig auf, etwa bei Schreibtischlampenoder auch bei der schon antiken Briefwaage (Abb. 10.22).

10.2 Verschiedene Mechanismen 347

Durch Kombination mehrerer Gelenkparallelogramme kann man Parallelver-schiebungen in alle Richtungen ermöglichen (man denke an die guten altenZeichenmaschinen in Konstruktionsbüros). In Abb. 10.23 ist eine raffinierteVariante zu sehen, mit der man schwere Kameras beim Gehen gut parallelzum Boden halten kann.

Abb. 10.24 So genial wie einfach: Wie man aus einer Schachtel ein Rednerpult macht (nachChristian Bezdeka): Dahinter steckt eine Nürnberger Schere. Das Pult kann in der Endlage nochgekippt werden.

Abb. 10.25 Scheren. . . Abb. 10.26 . . . in Theorie und Praxis

● Nürnberger SchereHäufig zu sehen ist die sogenannte Nürnberger Schere (Abb. 10.25), bei derebenfalls Parallelogramme aneinander gereiht sind. Sie kann als verstellbareHalterung bei Lampen, Sonnendächern oder aber wie in Abb. 10.26 zumHöhenverstellen von Plattformen dienen. ◾

AntiparallelogrammeWenn man ein Gelenkparallelogramm in die Strecklage dreht, kann man esauf zwei verschiedene Arten weiterbewegen: Entweder wie vorhin als Par-allelogramm oder aber als Antiparallelogramm, bei dem gegenüberliegendeSeiten i. Allg. nicht parallel sind. In Abb. 10.28 ist so ein Gelenk LABM

zu sehen. A bewegt sich auf einem Kreis um L und B auf einem Kreis umM . Die beiden längeren Seiten sind somit Bahnnormalen und ihr Schnittist der Momentanpol P . Die Summe der Abstände LP und MP = AP ist

348 10 Alles bewegt sich: Kinematik

konstant (= LA), weswegen P im Lauf der Bewegung eine Ellipse mit denBrennpunkten L und M durchläuft. Aus Symmetriegründen gibt es in jedemAugenblick eine bezüglich der Ellipsentangente in P symmetrische Ellipsemit den Brennpunkten A und B, die dem bewegten System angehört.

Abb. 10.27 Praxis und. . . Abb. 10.28 . . . Theorie des Antiparallelogramms

Es muss nicht immer eine gleichförmige Drehung sein. . .Das Gelenk-Antiparallelogramm hat eine interessante Anwendung: Die Pol-kurven sind kongruente Ellipsen, die aufeinander rollen. Versieht man dieseEllipsen mit Zahnflanken, kann man – wie in Abb. 10.29 – diese Rollungrealisieren.

Abb. 10.29 Ellipsenförmige Zahnräder

Hält man nun nicht die Hauptachse der Rastellipse fest, sondern nur jeweilseinen Brennpunkt der beiden Ellipsen, kann man z.B. eine gleichförmige Dre-hung um den einen Brennpunkt in eine periodisch ungleichförmige Drehungum den anderen Brennpunkt erreichen. Umgekehrt ist es natürlich unter Um-ständen möglich, gewisse ungleichförmige Drehungen zumindest zu mindern(im Idealfall sogar auszugleichen).Eine sehr originelle Methode, zwei elliptische Zahnräder anzutreiben, zeigt Abb. 10.30:Die beiden Räder befinden sich in einem mit Öl gefüllten drehzylindrischen Gefäß –begrenzt durch zylindrische Scheiben – und wandern von der Schwerkraft getriebennach unten.Diese Spielerei zu beobachten wirkt beruhigender als jede Sanduhr – wobei gewisseÄhnlichkeiten vorhanden sind: Wenn das Getriebe auf den Boden abgesunken ist,kann man den Zylinder umdrehen, und alles beginnt wieder von vorn. Man beachteauch die Luftblase, die sich unter dem rechten Zahnrad eingeschlichen hat.

10.2 Verschiedene Mechanismen 349

Abb. 10.30 Elliptische Zahnräder wandern nach unten

Abb. 10.31 Antike Zahnräder? Auseinander gefallene Säulen!

Die Schubkurbel

Abb. 10.32 Schubkurbelantrieb Abb. 10.33 Schubkurbel beim Otto-Motor

Bewegt man einen Punkt A auf einem Kreis a um einen festen Punkt L, undeinen mit A starr verbundenen Punkt B entlang einer Geraden b (Abb. 10.33),dann spricht man von einer Schubkurbel. Abb. 10.32 zeigt den Schubkurbel-Antrieb bei einer Werkbank, Abb. 10.33 jenen beim Otto-Motor (siehe auchAbb. 10.34 rechts oben).

● Sägewerk von Leonardo da VinciTypisch für da Vincis Begabung war, dass er die Dinge theoretisch bis insDetail durchdenken konnte, ohne dass die Ideen unbedingt verwirklicht wur-den. Sein Sägewerk ist in fast unveränderter Form (Abb. 10.34 links) heutenoch in Betrieb. Dahinter steckt im Wesentlichen ein Schubkurbelantrieb(Abb. 10.35), der durch Wasser angetrieben wird.

350 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.34 Sägewerk nach Leonardo da Vinci mit bemerkenswerten Detaillösungen

Abb. 10.35 Der Antrieb ist durchaus mit dem beim Kolbenmotor vergleichbar

Die Plattform, auf der das zu sägende Holz an das auf- und ablaufende Säge-blatt herangezogen wird, wird durch einen subtilen Mechanismus gesteuert:Eine Stange s, die mit einer Achse a starr verbunden ist, wird über eineÖse gezwungen, mit der Pleuelstange mitzuschwingen. Ebenfalls fest mit derAchse a verbunden ist eine Stange t, an der ein Haken h befestigt ist, derbeim Zurückschwingen in einem Zahnritzel einhakt, beim Vorschwingen überdie Spitzen der dreieckigen Zähne gleiten und so das Zahnrad etappenweiseweiter drehen kann. Letzteres zieht die Plattform über eine Welle heran. ◾

Allgemeine Gelenkvierecke

Abb. 10.36 Bahnkurven bei Gelenkvierecken

10.2 Verschiedene Mechanismen 351

Unter einem Gelenkviereck versteht man einen aus vier Stäben gebildetenMechanismus. Je nach Länge der Stäbe gibt es eine Unzahl von Variationen– und dementsprechend viele Anwendungen. Seien LMAB wieder die Ge-lenke des Vierecks (Abb. 10.36). Hält man die Punkte L und M fest, nenntman die Bewegung des mit dem Stab AB verbundenen Systems eine Koppel-bewegung und die Bahnkurven Koppelkurven. Die Bahnen der Punkte A undB sind Kreise um L und M . Die zugehörigen Bahnnormalen sind die Kur-beln (oder Schwingen) LA und MB. Im Schnitt der Bahnnormalen findetman den Momentanpol P . Jeder Punkt C des Koppelsystems bewegt sichaugenblicklich rechtwinklig zum zugehörigen Polstrahl PC.

● Die Vorderreifen müssen ungleich gedreht werden!Was passiert, wenn wir das Lenkrad eines Autos drehen? Zunächst wird dieDrehung über ein Kardangelenk auf eine waagrechte Achse und dann mit-tels einer Zahnstange (Abb. 10.37) in eine Translation umgewandelt. Damitwird ein Gelenktrapez angetrieben, welches die Vorderräder dreht – und zwarausgeklügelt!

Abb. 10.37 Unterschiedliche Drehung der Vorderräder. Jeder Reifen hat eine andere Momentan-geschwindigkeit (proportional zum Abstand vom Momentanpol).

Wir wollen dem Ganzen im wahrsten Sinne des Wortes „auf die Spur ge-hen“: Um eine optimale Führung des Fahrzeugs zu gewährleisten, müssendie Bahnnormalen aller vier Berührstellen der Reifen mit der Straße durcheinen Punkt, den Momentanpol gehen. Je zwei Räder sind auf einer Achsemontiert, also müssen alle Räder normal zur Verbindungsgeraden mit demAchsenschnittpunkt P stehen. So etwas kann man mit einem Gelenkviereckerreichen. ◾

Neben den speziellen Gelenkvierecken sind auch deren allgemeine Formenweit verbreitet (Abb. 10.38). Der Vorteil ist immer derselbe: Die Geräte sindleicht herzustellen, einfach in der Bedienung und können sehr robust ausge-führt sein.Dem Formenreichtum der Bahnkurven sind so gut wie keine Grenzen gesetzt.Das Problem besteht eigentlich nur darin, die richtigen Stablängen für dasjeweilige Problem zu finden.Zu diesem Zweck gibt es einen eigenen „Getriebeatlas“, in dem über 6000 (!)wesentlich verschiedene Getriebe angeführt sind.

352 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.38 Zange mit Gelenkviereck und Fi-xiermechanismus

Abb. 10.39 Designerlampe mit „versteckten“Gelenkvierecken (Alexander Gufler)

Wenn man ein geeignetes Gelenkviereck für ein anstehendes Problem ge-funden hat, kann es allerdings sein, dass man die oft sehr unterschiedlichenBahngeschwindigkeiten eines Systempunkts irgendwie ausgleichen muss. Oftbewegt sich ein Punkt an einer kritischen Stelle sehr schnell und erreicht annicht relevanten Stellen fast eine Totlage (kommt nahezu zum Stillstand).Hier muss man versuchen, den Antrieb des Gelenks flexibel zu gestalten.Abb. 10.38 und Abb. 10.39 sollen als Beispiele für Gelenkvierecke dienen.

Abb. 10.40 Vierstabgetriebe mit angenäherter Geradführung (Ölpumpe)

Abb. 10.40 und Abb. 10.41 zeigen zwei spezielle und sehr nützliche Vierstab-getriebe. Rot eingezeichnet sieht man ein Hilfs-Vierstabgetriebe, das durchDrehung angetrieben werden kann. Man beachte, dass in Abb. 10.41 derPunkt C∗ nicht direkt mit dem Getriebe verbunden ist. Die Bahnkurve vonC∗ ist kongruent zu jener von C, und die Tangente t∗ ∋ C∗ ist immer paral-lel zur entsprechenden Tangente in C. Die angenäherte Geradführung ist inbeiden Fällen von großer Bedeutung.

10.2 Verschiedene Mechanismen 353

Abb. 10.41 Vierstabgetriebe mit angenäherter Geradführung (Ladekran)

● Zuckerdose und GelenkviereckDie in Abb. 10.42 abgebildete Zuckerdose hat ein klassisches, aber gar nichtso leicht erkennbares, ebenes Gelenkviereck implementiert.Betrachten wir die drei Punkte M , A und B. Sie legen die vertikale Symme-trieebene des Gelenks fest. Nun denken wir uns den vierten Punkt L in dieserEbene (er liegt in der Mitte der gedachten – und im Foto fast projizierenden– waagrechten Achse des Mechanismus). Damit ist ein Gelenkviereck LMAB

definiert.

Abb. 10.42 Im zweiten Bild von links ist eingezeichnet, welche Punkte fest bleiben (L und M)und welche kreisförmige Bahnen haben: A und B – und damit auch D.

Um die Bedingung erfüllen zu können, dass der Deckel in der gestreckten La-ge (links) schließt, wird ein – wiederum nur gedachtes – starres Dreieck MBD

mitbewegt. Die Strecke BD ist dabei durch den (projizierenden) kreisförmi-gen Deckel materialisiert. Auch die Strecke AB ist aus ästhetischen Gründennicht geradlinig, sondern geschwungen materialisiert. Die Designer der Bie-dermeierzeit haben sich offensichtlich mit Gelenkvierecken beschäftigt. ◾

354 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Wenn die Arme ihre Länge ändern könnenBisher hatten wir es mit Mechanismen zu tun, die durch starre Armlängenausgezeichnet sind. Das hat den Vorteil, dass solche Gelenke mitunter großenBelastungen standhalten.

● Ein Gelenkviereck mit einer Variablen

Abb. 10.43 Hammerwerk nach Leonardo da Vinci

Nach dem Beispiel mit den Roboterarmen erscheint der Mechanismus desHammerwerks von Leonardo da Vinci besonders interessant. Die Simulationin Abb. 10.43 zeigt, wie ein Hammer durch Rotation einer Welle mit daraufbefindlicher Spirale angetrieben wird.Dabei handelt es sich in jeder Lage um ein Viereck (A∗, A, B, B∗) mit dreikonstanten Stablängen und einer variablen (BB∗). Dafür kann der Winkel∠AA∗B konstant bleiben. ◾

● Die Stewart-Gough-PlattformMithilfe der Robotik ist es mittlerweile möglich, jede beliebige Bewegung

Abb. 10.44 Dreieckige Plattform ABC, die von drei Roboterarmen mit den Fixpunkten L, Mund N mit variabler Länge gesteuert wird. Links oben: „Nullposition“. Rechts: Gewisse Dreiecks-positionen sind „gefährlich“, weil dort die Roboterbewegung unbestimmt ist.

der Ebene durch drei Arme variabler Länge zu steuern (Abb. 10.44). Dabeigibt es trotz aller Technik aber immer noch „unsichere Positionen“, wie inden beiden Lagen rechts. ◾

10.3 Ellipsenbewegung 355

10.3 Ellipsenbewegung

Wird ein Stab fester Länge so geführt, dass seine Endpunkte U und V aufGeraden u und v geführt werden, spricht man von einer Ellipsenbewegung.

Abb. 10.45 Drei miteinander verwandte Erzeugungen einer Ellipse

In Abb. 10.45 ist so eine Bewegung zu sehen. Die beiden Führungsgeradenu und v bilden in diesem Fall einen rechten Winkel. Wir untersuchen dieBahnkurve eines beliebigen Zwischenpunkts C mit V C = a, UC = b. Sei inF = u∩v der Ursprung eines kartesischen Koordinatensystems und ϕ der Nei-gungswinkel des Stabs. Dann hat C die Koordinaten x = b cosϕ, y = a sinϕ.Das ist die Parameterdarstellung einer Ellipse mit den halben Achsenlängena und b. Der Mittelpunkt R der Strecke UV (a = b) beschreibt sogar einenKreis.

● PapierstreifenkonstruktionDie klassische Definition der Ellipsenbewegung lässt sich praktisch mittelszweier rechtwinklig schneidender Führungsschienen umsetzen, wobei der Me-chanismus nur teilweise anwendbar ist: Die Bewegung ist ruckig und in denStrecklagen undefiniert. Deshalb hat sich dieser „Ellipsenzirkel“ kaum durch-gesetzt.

Abb. 10.46 Ellipsenbewegung und umgekehrte Papierstreifenkonstruktion

Die eigentliche Bedeutung des Mechanismus besteht darin, dass man damitleicht die sogenannte umgekehrte Papierstreifenkonstruktion einsieht: Wennman von einer Ellipse die Hauptscheitel (Distanz 2a) und einen allgemeinenPunkt P kennt, braucht man nur die halbe Hauptachse a von P auf der

356 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Nebenachse (der Streckensymmetrale der Hauptscheitel) abschlagen (was aufzwei Arten möglich ist), um V zu erhalten. Die Verbindungsgerade von P

mit V liefert U und damit b. ◾

Den Momentanpol P der Bewegung erhalten wir, wenn wir die achsenparalle-len Bahnnormalen in U und V schneiden. P ist immer doppelt so weit wie R

vom Ursprung entfernt, liegt also auf einem Kreis um F mit Radius UV = a+bund ebenso auf einem Kreis um R mit halbem Radius (Abb. 10.45 Mitte).Man könnte die Bewegung des Stabs UV also auch erzwingen, indem manden Thaleskreis über UV in einem doppelt so großen Kreis rollen lässt. Diebeiden Kreise heißen nach ihrem Entdecker Geronimo Cardano (1501-1576)Kardankreise.Die Kardankreise rollen aufeinander, ohne zu gleiten. Jeder beliebige Punktauf dem kleinen Kreis wird einmal zum Momentanpol, der Punkt V z.B. imPunkt V0 auf der y-Achse (Abb. 10.45 Mitte), wenn sich R um einen Winkelψ gedreht hat. Nach der Abwandlung des Peripheriewinkelsatzes (S. 6) hatsich V auf dem halb so großen Kreis um den Winkel 2 ⋅ ψ weiter bewegt. Essind somit immer gleich lange Bogenstücke P V auf dem kleinen und P V0 aufdem großen Kreis einander zugeordnet, was eine Rollung erfordert.

● Ellipsen durch Inradrollung (Abb. 10.47)Das Rollen des kleineren Kardankreises im doppelt so großen zweiten Kreis

Abb. 10.47 Praktische Realisierung der Inradrollung

lässt sich durch ein Hohlrad praktisch umsetzen. ◾

● Ellipsenfräse (Abb. 10.48, Abb. 10.49)

Abb. 10.48 Aufradrollung statt Inradrollung, Realisierung des Polstrahls. . .

10.3 Ellipsenbewegung 357

Die Inradrollung mit dem Radienverhältnis (kleines Rad um R mit Radius 1 rollt ingroßem Rad mit Radius 2) kann durch eine viel leichter zu realisierende Aufradrol-lung ersetzt werden, wenn man ein beliebiges Hilfszahnrad (Mitte H) einschiebt,das die Drehrichtung des Außenrads umdreht. Wichtig ist nur, dass der Radius desgroßen Rades doppelt so groß ist wie jener des kleinen Rades um R. Für den Pol Pgilt nach wie vor FP = 2RP .

Abb. 10.49 . . . und eine praktische Anwendung

Wenn wir die Mitten der Räder fest halten, beschreibt ein Punkt C auf einemDurchmesser des Rades um R natürlich einen Kreis um R, wenn man sich auf dasfeste System bezieht. Relativ zum rotierenden großen Kreis aber beschreibt C eineEllipse. Die zugehörige Tangente an die Ellipse steht rechtwinklig zum Polstrahl CP .Ein beliebig großer Kreis durch C um einen Punkt D auf dem Polstrahl berührt alsoständig die Ellipse. Wilhelm Fuhs hat nun einen Mechanismus (Abb. 10.48, 10.49)entworfen, der den Polstrahl realisiert. Auf dem Polstrahl dreht sich ein zylindrischerFräser um eine lotrechte Achse durch D. Eine auf dem großen Rad montierte Plattewird dabei exakt elliptisch ausgefräst. ◾

● Ovalwerk von LeonardoLeonardo da Vinci löste das Problem mit dem Ellipsenfräsen auf seine eigeneWeise und erfand das sogenannte Ovalwerk. Dabei handelt es sich um einschönes Beispiel für eine Relativbewegung (Umkehrbewegung):

Abb. 10.50 Ovalwerk zum Ellipsenfräsen

Der Drehmeißel bleibt fest. Der „Drehtisch“ besteht aus zwei Platten (grün und rot).Die rote Platte dreht sich um ihr Zentrum P , die grüne Platte dreht sich auf derroten mit, wird aber gleichzeitig so verschoben, dass zwei mitgeführte (blau einge-zeichnete) Schienen stets einen festen (ebenfalls blauen) Kreis durch P berühren.

358 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Dadurch wandert der Mittelpunkt der grünen Platte auf einem Thaleskreis mit halbso großem Radius wie der blaue Kreis. Wir interpretieren nun diesen Thaleskreisund den doppelt so großen Kreis als Kardankreispaar. Die grüne Platte, die mitdem kleinen Kardankreis fest verbunden ist, beschreibt dann gegenüber dem fes-ten blauen Kreis eine Ellipsenbewegung: Jeder Punkt des grünen Tisches hat alsogegenüber dem festen System eine Ellipse als Bahnkurve. Wir brauchen nur noch„irgendwo“ einen Drehmeißel postieren, das aus einem mit der grünen Platte festverbundenen Rohmaterial eine Ellipse ausschneidet. ◾

● Ellipsen durch SchubkurbelgetriebeAbb. 10.45 rechts zeigt eine dritte Möglichkeit, die Ellipsenbewegung zu er-zwingen, nämlich mit einer speziellen Schubkurbel: Rotiert die Kurbel FR

um F und nimmt dabei die gleich lange Koppel RU so mit, dass U auf derGeraden u geschoben wird, dann beschreibt ein Punkt C auf der Koppel eineEllipse.

Abb. 10.51 Praktische Realisierung des Schubkurbelgetriebes

Abb. 10.51 zeigt eine praktische Realisierung der Idee. Die Kurbel wird übereiner Tischfläche betätigt. Die Längen von Kurbel bzw. Koppel sowie derAbstand zum Stift sind verstellbar. ◾

● Ellipsenzirkel nach Hoecken (Abb. 10.52)Beim abgebildeten Mechanismus werden zwei (gelbe) Stangen so geführt,dass sich ihre Endpunkte auf Kreisen mit verstellbaren Radien a und b be-wegen. Nach Drehung um den Winkel ϕ hat der Kreuzungspunkt die Koor-dinaten (a ⋅ cosϕ, b ⋅ sinϕ), liegt also auf einer Ellipse.

Abb. 10.52 Ellipsenzirkel nach Hoecken

10.3 Ellipsenbewegung 359

Die mathematische Erklärung ist hier einfacher als die geometrische. Das liegt daran,dass der Kreuzungspunkt der Stangen kinematisch nicht so einfach zu erfassen ist.

● Noch ein Ellipsenzirkel. . .Ein schöner (und in diesem Rahmen letzter) Ellipsenzirkel ist in Abb. 10.53zu sehen. Er realisiert die klassische Zweipunktführung, allerdings entdecktman das erst beim zweiten Hinsehen.

Abb. 10.53 Ellipsenzirkel mit „versteckter“ Geradführung

Eine große (rote) Kreisscheibe wird in einem rechteckigen Rahmen parallelgeführt. Damit wandert ihr Mittelpunkt auf der Mittensymmetrale der kür-zeren Seiten des Rahmens. Eine kleinere (blaue) Kreisscheibe wird analogso geführt, dass ihr Mittelpunkt auf der Mittensymmetrale der längeren Sei-ten des Rahmens wandert. Der Abstand der Kreismittelpunkte ist über eineSchlitzführung verstellbar, zusätzlich lässt sich der Abstand des Zeichenstiftsvariieren. ◾

Die allgemeine EllipsenbewegungBisher waren die Führungsgeraden bei der Ellipsenbewegung immer zuein-ander rechtwinklig. Es gilt jedoch allgemein:

Wird ein Stab fester Länge so geführt, dass seine Endpunkte U und V auf beliebigschneidenden Geraden u und v geführt werden, so beschreibt jeder Punkt, dermit dem Stab fest verbunden ist, eine Ellipse.

Beweis:Der Schnittpunkt F = u ∩ v ist Mittelpunkt der Bahnkurve. Der Kreis q durch U ,V und F (Mittelpunkt R) kann als Peripheriekreis über der Strecke UV gedeutetwerden, weil der Winkel ∠UFV konstant ist (vgl. Abb. 1.6). Der Radius von q istdamit konstant. Der Momentanpol P ergibt sich im Schnitt der Bahnnormalen inU und V und liegt nach dem Satz von Thales auch auf q, und zwar gegenüber vonF . Somit ist FP konstant, und P wandert auf einem Kreis p um F . Das Radienver-hältnis der Kreise p und q ist 2 ∶ 1. Die Kreise p und q sind daher die Kardankreiseeiner Ellipsenbewegung.Betrachten wir nun die elliptische Bahn eines Punkts C, der mit UV fest verbundenist. Der Durchmesser CR von q schneidet q in den Punkten X, Y . Diese Punkte

360 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.54 Allgemeine Ellipsenbewegung

beschreiben „unendlich dünne“ Ellipsen durch F , also Strecken. Nach dem Satzvon Thales bilden die Geraden FX und FY einen rechten Winkel. Die vorliegendeBewegung wird daher auch erzwungen, wenn der Stab XY fester Länge auf zweirechtwinklig schneidenden Geraden geführt wird. Diese sind daher die Achsen derBahnellipse von C. ◾

Der Punkt C könnte z.B. durch seine Abstände von U und V angegeben sein. DasDreieck UV C kann dann auf zwei Arten an UV angelegt werden. Dabei erhaltenwir zwei völlig unterschiedliche Ergebnisse (Abb. 10.54 links bzw. rechts).

Abb. 10.55 Umwälzung im Dreieck

● Umwälzung im Dreieck bzw. Pentagramm

Abb. 10.55 zeigt, wie ein durch Kreisbögen berandetes Quadrat bzw. „Zweieck“ ineinem gleichseitigen Dreieck umgewendet werden kann. Die Kreisbögen haben ihrenMittelpunkt am gegenüberliegenden Bogen.

Abb. 10.56 Rollung im Pentagramm

Beim Umwälzen wechseln einander drei verschiedene Ellipsenbewegungen ab. Be-sonders beim Zweieck sieht man – vom vielen Umwälzen – Spuren im Metall. Es

10.4 Trochoidenbewegung 361

sind die ellipsenförmigen Bahnkurven der Ecken. Abb. 10.56 zeigt die Umwälzungeines dreiblättrigen Gleichdicks in einem Pentagramm. ◾

Abb. 10.57 Rollen eines Gleichdicks innerhalb eines Parallelstreifens

Abb. 10.57 illustriert, wie ein Gleichdick in einem Parallelstreifen umgewälztwerden kann, ja sogar rollen kann. Die Bahnkurven der Ecken sind teilwei-se geradlinig, teilweise gespitzte Radlinien. Die Bahn des Mittelpunkts istsinusförmig.

10.4 Trochoidenbewegung

Wie wir gesehen haben, kann die Ellipsenbewegung durch Kreisrollung er-zwungen werden. Dabei ist es wichtig, dass die beiden Kardankreise das Ra-dienverhältnis 2 ∶ 1 haben. Es liegt der Gedanke nahe, das Verhältnis derKreisradien zu verändern.

Abb. 10.58 Gärtner scheinen schon immer einen Hang zur Geometrie gehabt zu haben: Dasabgebildete Rosenbeet in Schönbrunn ist ein schönes Beispiel dafür (vgl. Abb. 10.59 rechts).

Rollt ein Kreis von beliebigem Radius in einem festen Kreis, dann beschreibt jedermit dem rollenden Kreis verbundene Punkt eine Inradlinie (Hypotrochoide).

Abb. 10.59 zeigt diese Verallgemeinerung mit den Radienverhältnissen 2 ∶ 1,3 ∶ 2 und 5 ∶ 1. Dort, wo die rollenden Kreise einander berühren, befindet sichder Momentanpol mit der Momentangeschwindigkeit Null. Durch ihn gehtdie zugehörige Bahnnormale der Bahnkurve eines Punkts.

362 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.59 Inradrollung als Verallgemeinerung der Ellipsenbewegung

Abb. 10.60 Inradrollung oder Aufradrollung?

Wenn der Radius des rollenden Kreises den Radius des fixen Kreises über-steigt, umschließt der Rollkreis den Fixkreis, und die Berührung findet vonaußen statt (dieser Fall wird gelegentlich Peritrochoide genannt). Abb. 10.60illustriert diesen Fall für drei verschiedene Radienverhältnisse. Ob die Bahn-kurven einzelner Punkte gespitzt, gestreckt oder verschlungen sind, hängtdavon ab, ob der Punkt am Rollkreis, innerhalb des Rollkreises oder außer-halb des Rollkreises liegt.

Abb. 10.61 Aufradrollung zu verschiedenen Radienverhältnissen

Eine weitere Verallgemeinerung besteht darin, den bewegten Kreis defini-tiv auf dem Fixkreis rollen zu lassen. Abb. 10.61 zeigt die entsprechendenBahnkurven für dieselben Radienverhältnisse wie vorhin.

Rollt ein Kreis von beliebigem Radius auf einem festen Kreis, dann beschreibtjeder mit dem rollenden Kreis verbundene Punkt eine Aufradlinie (Epitrochoide).

10.4 Trochoidenbewegung 363

Trochoiden kommen in der Geometrie häufig vor. Wenn die Radienverhältnisse ra-tional sind, sind die Kurven rational algebraisch und geschlossen. Neben der Ellipse(Ordnung 2) ist z.B. die Pascal -Schnecke (Ordnung 4) zu nennen, die oft genug alsOrtskurve (Abb. 1.21) oder Normalriss einer Raumkurve (Abb. 11.4 rechts) auftritt.

● WankelmotorEine klassische Anwendung von Trochoiden in der Technik findet sich beimWankelmotor. Der Schnitt des Kolbenraums (Abb. 10.62) ist eine Aufradli-nie, die gleich dreimal von den Eckpunkten des mitgeführten gleichseitigenDreiecks überstrichen wird.

Abb. 10.62 Wankelmotor

Die Hüllkurven der Dreiecksseiten passen ohne Schwierigkeit in den Kolben-raum. Um eine höhere Verdichtung zu erreichen, wird das Kernstück so sehrverdickt, dass die Hüllkurve gerade noch im Kolbenraum Platz hat. ◾

● Planetenbewegung

Abb. 10.63 Relativbewegung eines inneren Planeten auf der Himmelskugel

Ursprünglich hieß die Trochoidenbewegung Planetenbewegung. In der Astro-nomie hat man es nämlich bei der Beobachtung der Bahnkurven unsererNachbarplaneten mit Kurven zu tun, die annähernd Trochoiden sind: Wirselbst drehen uns, wie der beobachtete Planet, um die Sonne. Dadurch kommtes zur Überlagerung von zwei Drehungen.Abb. 10.64 illustriert, wie die Planeten in wenig abweichenden Ebenen, aberungleichen Winkelgeschwindigkeiten, um die Sonne kreisen. Wenn wir jedenTag jenen Punkt auf der Himmelskugel markieren, an dem so ein Planet umeine feste Uhrzeit zu sehen ist, dann werden wir feststellen, dass der Punktim Wesentlichen auf einem Großkreis – dem Himmelsäquator – hin- und her

364 10 Alles bewegt sich: Kinematik

wandert. Wenn die Bahnebene des Planeten zusätzlich zur Bahnebene derErde geneigt ist (bei Merkur etwa 7°), dann weicht der Planet vom Himmel-säquator ab.

Abb. 10.64 Relativbewegung der inneren Planeten

In Abb. 10.63 wurde die Bahn des Merkur simuliert, allerdings wurde ei-ne dreifache Neigung der Merkurbahn angenommen, um den Eindruck zuverstärken. Wir sehen also: Irgendwie hat die Sache schon mit einer Tro-choidenbewegung zu tun, aber ganz exakt sicher nicht. ◾

● Planetenräder: Jede Menge DrehmomentEin Schraubendreher wird mit Strom aus einer unscheinbaren 3,6-Volt-Batterieangetrieben (Abb. 10.65). Ein kleiner Elektromotor mit ca. 3500 Umdre-hungen pro Minute treibt indirekt die Klinge an. Die Übersetzung mittelsZahnrädern ist zu analysieren.

Abb. 10.65 Ganz links: Ein Schraubendreher wird von einer einzigen Batterie angetrieben. Mitte:Die erste Stufe (dahinter kommt eine zweite). Rechts: Das Ganze als Modell „zum Angreifen“.

Lösung :Die Welle des Motors des Elektromotors treibt ein kleines Zahnrad mit nursechs Zähnen an (Abb. 10.65 Mitte). Dieses „Sonnenrad” treibt drei gleichsei-tig angeordnete „Planetenräder” an, deren Zähnezahl 19 nicht wesentlich ist,

10.4 Trochoidenbewegung 365

sondern „sich ergibt”. Die Planetenräder sind so dimensioniert, dass sie miteinem fixen Außenrad mit 48 Zähnen im Eingriff sind. Dadurch bewegen sichdie Mittelpunkte der Planetenräder mit einem Achtel (6 : 48) der Winkelge-schwindigkeit der Antriebswelle. Die Mittelpunkte der Planetenräder bildenein starres gleichseitiges Dreieck. Auf dessen Rückseite ist in einer zweitenStufe ein weiteres 6-zahniges Sonnenrad angebracht. Dieses treibt neuerlichdrei Planetenräder an (Übersetzung ebenfalls 6 : 48). Das Verbindungsdrei-eck der Planetenräder der zweiten Schicht ist schließlich mit der Achse desSchraubendrehers verbunden. 8 ⋅ 8 = 64 Umdrehungen des Elektromotors be-wirken also eine Umdrehung der Schraube (etwa 3500/64 = 55 Umdrehungenpro Minute). Dementsprechend groß ist das Drehmoment M , denn für diekonstante Leistung P des Motors gilt: P =M ⋅ω (ω ist die Winkelgeschwindig-keit). Planetengetriebe haben sehr viele Anwendungen in der Technik, etwaim Getriebebau, bei Seilwinden und bei der Nabenschaltung beim Fahrrad.Dabei kommt eine Variante zum Tragen, die besondere Erwähnung verdient:Fixiert man die Achsen der Planetenräder und macht das Außenrad drehbar(Modellfoto Deutsches Museum München), so dreht sich dieses entsprechendlangsamer als die Antriebswelle. ◾

● Ein origineller Klappsessel

Abb. 10.66 Erzwungene Rollung bei einem Klappsessel

Wir haben des Öfteren von „Rollen ohne zu Gleiten“ gesprochen, wenn zwei Kreiseaufeinander rollen. Man kann diese Bewegung wie in Abb. 10.66 durch ein Bandkonstanter Länge erzwingen. Das Ergebnis ist der originelle Klappsessel von ThomasEhrenfried. ◾

Radlinien (Trochoiden) höherer StufeMan kann die Trochoidenbewegung verallgemeinern, indem man um den End-punkt des zweiten rotierenden Stabs einen dritten Stab mit frei wählbarerWinkelgeschwindigkeit kreisen lässt. Dies ergibt Radlinien dritter Stufe. Nunhat man bedeutend mehr Freiheitsgrade und kann eine Vielzahl neuer Kur-ven erzeugen. Abb. 10.67 zeigt aus der unendlichen Vielfalt drei Radliniendritter Stufe, die mit gleich langen Stäben erzeugt wurden. Sogar bei denWinkelgeschwindigkeiten wurde nur die mittlere geändert.

366 10 Alles bewegt sich: Kinematik

Abb. 10.67 Radlinien dritter Stufe mit den Stablängen 2, 2, 1

Rotieren allgemein k Stäbe, dann spricht man von einer Radlinie k-ter Stufe. Die(ebenen) Radlinien dritter Stufe in Abb. 10.67 sind in einer Normalprojektion ab-gebildet. Es lässt sich zeigen, dass eine solche Projektion wiederum eine Radliniehöherer Stufe ist. Generell kann man sagen, dass man fast alle Kurven durch Rad-linien höherer Stufe beliebig genau annähern kann.

Abb. 10.68 Zusammenhang mit den Fourier -Entwicklungen

Ohne näher darauf einzugehen, soll Abb. 10.68 illustrieren, wie man – durch bloßesHeranziehen der y-Werte einer Radlinie höherer Stufe – Fourier -Entwicklungen si-mulieren kann. Mit solchen Entwicklungen kann man auch jeden Funktionsgraphenbeliebig genau annähern.

„Zweieinhalb-dimensionale“ Kinematik: Kugellager

Bevor wir zur Kinematik im Raum wechseln, betrachten wir ein Kugellager nachden Entwürfen Leonardo da Vincis: Das Lager dient zur möglichst kontrolliertenDrehung schwerer Lasten.

Abb. 10.69 Leonardos Kugellager: Kugeln wechseln mit Ringflächen ab

Hier rollen Kugeln und treiben sich gegenseitig an. Zwischen die Kugeln sind Torus-Teile (Ringflächen) eingeschoben. Die Anzahl der Elemente und die Radien könnennatürlich variieren. . .

11 Bewegung im Raum

Die Kinematik in der Ebene istdie Grundlage für die Bewegungs-geometrie auf der Kugel. So ge-sehen ist sphärische Kinematikähnlich wie die ebene Kinema-tik zu betreiben. Alles dreht sichdort um Geraden durch die Ku-gelmitte. Wesentlich schwierigerwird die Angelegenheit bei reinenRaumbewegungen. In diesem Ka-pitel sollen beide Arten anhandvon einzelnen Beispielen vorge-stellt werden.

Zwei allgemeine Lagen eines räumlichen kartesischen Koordinatensystemskönnen nur mehr durch eine Schraubung ineinander übergeführt werden.In der Kinematik geht es häufig darum, Drehungen von einer Achse auf eineandere zu übertragen. Sind die Achsen parallel, liegt ein zweidimensionalesProblem vor. Schneiden einander die Achsen, haben wir es mit Geometrieauf der Kugel zu tun. Sind die Achsen windschief (wie im Bild oben), ist dasProblem „echt dreidimensional“.Neben so manchen Anwendungen in der Technik soll die Bewegung der Erdeum die Sonne genauer beleuchtet werden. Hier überlagern einander zwei Dre-hungen mit windschiefen Achsen. Noch dazu sind die beiden Drehungen nurnäherungsweise proportional, was die Sache zusätzlich verkompliziert. Zu-nächst vereinfachen wir die Dinge und beantworten näherungsweise wichtigeFragen der Sonnenstandstheorie, wie etwa, wann die Sonne aufgeht, welchenHöhenwinkel sie erreicht, welche Position sie am Firmament bei gegebenemDatum bzw. gegebener Uhrzeit einnimmt. Immerhin bekommen wir die Sa-che so weit in den Griff, dass wir zuletzt auch die sogenannte Zeitgleichungberücksichtigen und damit minutengenaue Sonnenuhren analysieren können.

Überblick11.1 Bewegung auf der Kugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

11.2 Allgemeine Raumbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

11.3 Wo steht die Sonne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

11.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für die mittlere Zeit . . . . . . . . . 392

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

368 11 Bewegung im Raum

11.1 Bewegung auf der Kugel

Wenn sich ein System um eine Achse r dreht, und diese Achse gleichzeitig sobewegt wird, dass ein Punkt M auf ihr fest bleibt (in Abb. 11.1 wird r umeine sie schneidende feste Achse f gedreht), liegt eine sphärische Bewegungvor. Die Bahnkurve c jedes Punkts P des bewegten Systems liegt nämlichauf einer Kugel.

Abb. 11.1 Überlagerung zweier Drehungen um schneidende Achsen

Um dies einzusehen, betrachten wir den Normalenfußpunkt N von P auf r.Sowohl PN als auch MN bleiben im Verlauf der Bewegung konstant.

Abb. 11.2 Mixer (samt Hüllfläche): Überlagerung von Drehungen um schneidende Achsen. Rechts:Etwas durchaus Vergleichbares – man fühlt sich nachher auch ziemlich durchmischt. . .

Beim Mixer in Abb. 11.2 sind weniger die Bahnkurven als viel mehr die Hüllfläche,die der rotierende gekrümmte Stab überstreicht, von Interesse.

Wir beschränken uns auf sphärische Bewegungen, bei denen zwei Drehungenum schneidende Achsen r und f (Schnittpunkt M) überlagert werden. Danngilt ohne Beweis: Man kann die überlagerten Drehungen in jedem Augenblickdurch eine einzige Drehung ersetzen. Die neue Momentanachse p liegt in dervon r und f aufgespannten Ebene und geht durch M (Abb. 11.4 Mitte).Wenn die überlagerten Drehungen proportional sind, wird die Momentanach-se mit der festen Achse einen konstanten Winkel bilden, also auf einem Dreh-kegel Δf mit Spitze M liegen. Auch im bewegten System wird der Winkelzwischen p und r fest bleiben und p daher einen Drehkegel Δr überstreichen,

11.1 Bewegung auf der Kugel 369

der Δf stets berührt. Man kann zeigen, dass die beiden Kegel aufeinanderrollen, ohne zu gleiten. Die Bahnkurven einzelner Punkte nennt man sphäri-sche Radlinien.

Abb. 11.3 Kegelräder

Abb. 11.4 Kegelrollung samt Bahnkurven

Abb. 11.4 zeigt eine recht spezielle Kegelrollung: Die Achsen r und f schnei-den einander rechtwinklig, und beide Kegel haben gleichen Öffnungswinkel.

● DrehkreuzEin Beispiel für eine sehr einfache sphärische Bewegung ist das Drehkreuz(Abb. 11.5). Die Endpunkte der drei Stäbe laufen auf einer Kugel mit festemRadius – der Stablänge. Die Bewegung selbst ist allerdings eine reine Drehungum eine feste (schräge) Achse. Die Endpunkte der Stäbe haben denselbenBahnkreis! ◾

370 11 Bewegung im Raum

Abb. 11.5 Drehkreuz in Bewegung (Drehung um eine allgemein liegende Achse)

Die sphärische Bewegung kann auch als Relativbewegung auftreten, wie manim folgenden Beispiel sieht.

● Die KardanwelleMit einem Kardangelenk kann man Drehungen von einer Achse f auf einezweite, sie schneidende Achse r übertragen. Abb. 11.6 zeigt, wie dies über einDrehkreuz geschieht, welches über halbkreisförmige Gabeln an einer Achsemit f , an der anderen mit r verbunden ist.

Abb. 11.6 Kardanwelle (ungleichförmige Übertragung)

Die Übertragung der Drehung ist allerdings nicht gleichförmig. Das bewirktbei gleichförmigem Antrieb ein „Eiern“ der Abtriebsachse, das bei größeremAchsenwinkel γ sehr störend sein kann. Durch Kombination von zwei Kar-danwellen (Abb. 11.6 rechts) heben sich die Fehler wieder auf. ◾

Die gleichförmige Übertragung einer Drehung auf eine Drehung um einerechtwinklig schneidende Achse ist ein in der Technik oft auftretendes Pro-blem. Im einfachsten Fall kann man es lösen, indem man zwei gummibe-schichtete kongruente Drehkegel mit Öffnungswinkel 90○ wie in Abb. 11.4aufeinander rollen lässt. Wenn größere Kräfte im Spiel sind, muss man Zahn-flanken verwenden. Abb. 11.3 zeigt eine mögliche Lösung der Aufgabe. In derPraxis werden allerdings Schneckenräder wie in Abb. 7.28 verwendet.

● Ein ausgeklügeltes KugelgelenkWenn die Achsen f und r einen variablen Winkel bilden, und man keinKardangelenk verwenden kann, weil die Drehung proportional übertragenwerden muss, kann man das in Abb. 11.7 abgebildete und von HellmuthStachel genau untersuchte Kugelgelenk verwenden.

11.1 Bewegung auf der Kugel 371

Abb. 11.7 Ein effizientes Kugelgelenk, das verschiedene Kegelräder ersetzt

Details unter http://www.geometrie.tuwien.ac.at/stachel/dres.pdf◾

● „Hexenschaukel“ (Abb. 11.8, siehe auch Abb. 5.72)Ein (roter) Kreis rotiere um eine vertikale Achse. In ihm horizontal aufgehängtbefinde sich ein zweiter (blauer) Kreis, der sich seinerseits proportional um diesehorizontale Achse dreht. Im zweiten Kreis senkrecht zur horizontalen Drehachseaufgehängt befinde sich ein dritter (schwarzer) Kreis. Er drehe sich ebenfalls pro-portional um diese dritte Drehachse. Welche Bahnkurven beschreiben Punkte aufden Kreisen?

Abb. 11.8 Zusammengesetzte Drehungen um schneidende Achsen sind immer sphärisch. DasGebilde rechts ist allerdings leicht exzentrisch und hat keine konstanten Übersetzungsverhältnisse.

Die erste Drehung erzeugt natürlich Bahnkreise. In weiterer Folge erzeugen zusam-mengesetzte Drehungen um einander in einem Punkt schneidende Achsen sphärischeBewegungen. Die Bahnkurven verlaufen also auf konzentrischen Kugeln. Sind dieDrehwinkel proportional, treten wie im Fall der Kegelrollung (Abb. 11.4) sphäri-sche Radlinien auf, deren Grundrisse ebene Radlinien zweiter bzw. dritter Stufe sind(S. 365). Abb. 11.8 links illustriert die Bewegung für drei gleiche Winkelgeschwin-digkeiten. In Abb. 11.8 Mitte ist der entsprechende Grundriss zu sehen.Rechts zu sehen ist eine Variante von Maria Walcher, die allerdings leicht exzen-trisch und daher trotz aller Kugeln keine exakte sphärische Bewegung ist. Weilkein Antrieb vorhanden ist (die äußere Kugel ist wie eine Marionette aufgehängtund kann dementsprechend bewegt werden), sind die Winkelgeschwindigkeiten nichtproportional. Walcher war von der Bewegung des Augapfels inspiriert. ◾

372 11 Bewegung im Raum

Abb. 11.9 Links: Sphärisch gelagerter „Kompass“ auf einem Schnellboot. Rechts: Ebenfalls einesphärische Bewegung – mit entsprechenden Querbeschleunigungen.

Konstruieren auf der Kugel

Wir leben auf einer Kugel, und auch wenn wir optisch den Unterschied nichtmerken: Wir konstruieren auch auf einer Kugel. Unsere ebene Kinematik istsomit streng genommen „ein bisschen sphärisch“. Was passiert, wenn wir ge-wisse Dinge wirklich auf einer Kugel ablaufen lassen? Einfache Beispiele sinddie Gärtnerkonstruktion einer Ellipse (Abb. 1.27) bzw. deren Konstruktionnach de la Hire (Abb. 3.55).

Abb. 11.10 Sphärischer Kegelschnitt: Manche ebene Konstruktionen lassen sich gut auf der Kugelnachvollziehen. Links: Gärtnerkonstruktion, rechts: Konstruktion von de la Hire.

Das Ergebnis ist eine „sphärische Ellipse“ oder besser gesagt ein „sphärischerKegelschnitt“, weil sich herausstellt, dass es keinen Sinn macht, auf der Kugelzwischen Ellipse und Hyperbel zu unterscheiden (zu erkennen in Abb. 11.11links). Die sphärische Parabel, definiert als Ort aller Punkte, welche von ei-ner gegebenen „Gerade“ (=Großkreis) und einem festen Punkt gleichen Ab-stand haben (was dann so ähnlich aussieht wie in Abb. 11.11 Mitte links,wo allerdings ein Kleinkreis berührt wird), macht da keine Ausnahme: Allesphärischen Kegelschnitte sind als Durchdringungskurven von quadratischenKegeln mit einer Kugel um den Scheitel interpretierbar (Genaueres unterwww.uni-ak.ac.at/geom/geom/harald-tranacher.pdf.)

11.2 Allgemeine Raumbewegungen 373

Abb. 11.11 Sphärische Kegelschnitte sind Durchdringungskurven von quadratischen Kegeln miteiner Kugel um den Scheitel. Man kann nicht zwischen verschiedenen Typen unterscheiden.

11.2 Allgemeine Raumbewegungen

Bewegt sich ein System irgendwie im Raum, werden die Sachverhalte na-turgemäß schwerer vorstellbar. Immerhin gilt der Hauptsatz der räumlichenKinematik (ein Beweis ist in [16] zu finden), der besagt, dass sich jede noch sokomplizierte Raumbewegung in jedem Augenblick durch eine infinitesimaleSchraubung um eine wohlbestimmte Momentanachse annähern lässt.

Abb. 11.12 Eine Kugel mit variablem Radius

Um eine sehr interessante und anspruchsvolle „Spielerei“ handelt es sich bei Abb. 11.12,einer „Kugel mit variablem Radius“. Durch ein ausgeklügeltes Gelenksystem ist dasObjekt beweglich, und zwar so, dass alle Punkte auf Radialstrahlen durch das Zen-trum der Umkugel wandern.

Zwei Drehungen um windschiefe AchsenWerden Drehungen um windschiefe Achsen überlagert, kann man schon einigeAussagen über Bahnkurven und Hüllflächen treffen.Sind die Drehungen sogar proportional, vereinfacht sich das Problem weiter.Beim einschaligen Drehhyperboloid haben wir schon angedeutet: Eine Dre-hung um eine Achse kann mithilfe zweier Hypoidräder in eine proportionaleDrehung um eine andere Achse übertragen werden (Abb. 6.29).

● Liebevoller Aufwand im Kleinen. . .Abb. 11.14 zeigt das komplizierte Innenleben eines sehr funktionstüchtigenBleistiftspitzers. Die Achse, auf welcher der Bleistift zentriert ist, bleibt fest:Der Bleistift dreht sich also – im Gegensatz zu den meisten einfacheren Spit-

374 11 Bewegung im Raum

Abb. 11.13 Überlagerung von Drehungen um windschiefe Achsen

Abb. 11.14 Das Innere eines sehr effizienten Bleistiftspitzers: Ein zylindrischer Fräser dreht sichum eine windschiefe Achse.

zern – nicht! Dafür wird ein zylindrischer Fräser mit windschiefer Achse sichselbst drehend um den Bleistift herum bewegt. Eine Kurbel dreht zunächstden zylindrischen Fräser, indem zwei Punkte der Achse mitgeführt werden.Auf dem Fräser sind Zahnflanken montiert, die über ein fix montiertes hohlesZahnrad eine relativ schnelle Eigenrotation des Fräsers erzwingen. ◾

● „Wie durch Zahnräder gesteuert“Was im obigen Beispiel im kleinen Maßstab passiert, kommt im riesigen Maß-stab in der Natur vor: Die Erde rotiert um eine Achse fester Richtung, wäh-rend sie sich um die Sonne dreht. Die Achse letzterer Drehung ist windschiefzur Erdachse. Für einen Beobachter im All ist die Bewegung der Erde ver-gleichbar mit der Bewegung des Fräsers um den Bleistift. Raumkinematikvom Feinsten! (Für besonders Interessierte: Die Sonne selbst hat eine Eigen-drehung, und ihr Mittelpunkt durchläuft selbst eine ellipsenförmige Bahn umden gemeinsamen Schwerpunkt des Planetensystems.)

Die Bewegung der Erde wird natürlich nicht durch Zahnräder erzwungen,sondern ist im Wesentlichen eine ständige Reaktion auf Anziehungs- undFliehkräfte. Die Gravitation spielt im Weltall eine tragende Rolle, was schondamit anfängt, dass es aufgrund der Eigengravitation nur kugelförmige Fest-körper mit mehr als 500 km Durchmesser im Weltall gibt. ◾

11.2 Allgemeine Raumbewegungen 375

● Die Stewart-Gough-Plattform im RaumIm Raum ist es mithilfe der Robotik möglich, jede beliebige Bewegung derEbene durch sechs Arme variabler Länge zu steuern (Abb. 11.15). Die Ge-lenke der Arme liegen auf einem regelmäßigen dreiseitigen Prisma.

Abb. 11.15 Dreieckige Plattform ABC, die von sechs Roboterarmen mit den Fixpunkten L, Mund N bzw. L∗, M∗ und N∗ mit variabler Länge gesteuert wird. Links: „Nullposition“. Mitte:Das Dreieck wurde waagrecht verschoben. Eine Drehung um die eingezeichnete Achse um denSchwerpunkt ist problemlos möglich. Rechts: Diesmal wurde das Dreieck gekippt. Die momentaneDrehachse ist eingezeichnet (Bilder: Georg Nawratil).

Abb. 11.16 „3D-Schüttelmaschine“ im Vergnügungspark mit Armen konstanter Länge und Ro-boterarmen veränderlicher Länge zur präzisen und sicheren Steuerung.

Solche Plattformen finden z.B. bei Flugsimulatoren Anwendung. Abb. 11.16zeigt etwas Vergleichbares in einem Vergnügungspark, wo die „Plattform“ eineSitzbankreihe ist, in der man sich gegen Entgelt übel werden lassen kann. ◾

● Nicht starre VerbindungenEinem ähnlichen Zweck wie die „3D-Schüttelmaschine“ dient die Anlage inAbb. 11.17 rechts. Bei gleichförmiger Drehung stellt sich rasch ein Gleichge-wicht zwischen Flieh- und Schwerkraft ein. Physikalisch interessant sind diePhasen der Beschleunigung bzw. Verzögerung, bei denen die Massenträgheitzu berücksichtigen ist.Wieder einmal war es unser Universalist aus der Renaissance, der sich sol-che Dinge schon recht genau überlegt hat (unter der Computersimulation inAbb. 11.17 links sieht man seine diesbezüglichen Skizzen durchschimmern).Als weiteres Beispiel für die ungeheure Vorstellungskraft Leonardos sei sein

376 11 Bewegung im Raum

Abb. 11.17 Schwungrad nach Leonardo da Vinci und eine moderne Anwendung im großen Stil.Bei gleichförmiger Rotation sind die Bahnkurven sämtlicher Punkte natürlich Kreise. Beim Ab-bremsen oder Beschleunigen kommen räumliche Spiralen zustande, die sich näherungsweise aufeinem Torus befinden.

Entwurf für eine Flugmaschine vorgestellt (Abb. 11.18 links), die rein geo-metrisch absolut korrekt und wohl dem Fledermausflug angenähert war.

Abb. 11.18 Fliegen à la Leonardo da Vinci : Dieses Modell funktioniert theoretisch, es lässt sichmit den Methoden der Computergeometrie animieren und überprüfen. Der einzige Schwachpunktist der Mensch, der bei den angegebenen Hebeln wohl keine Chance hätte, den Antrieb in Schwungzu halten, um die Flügel auf und ab zu bewegen. Fledermäuse und Vögel können mit Muskelkraftfliegen, weil ihre Körper viel kleiner sind und daher ihre relative Muskelkraft automatisch größerist ([16] bzw. S. 434). ◾

11.3 Wo steht die Sonne?

Wir wollen in diesem Abschnitt die relative Position der Sonne im Lauf desKalenderjahres bzw. im Laufe eines Sonnentages mittels der Methoden derGeometrie beleuchten. Durch verschiedene Vereinfachungen bekommen wirdas doch recht komplizierte Problem relativ leicht in den Griff, und wir kön-nen Fragen, die nicht nur im Alltag, sondern auch in der Architektur einewichtige Rolle spielen, mit ausreichender Genauigkeit beantworten:

• Wann und wo geht die Sonne auf bzw. unter?

• Von wo kommt das Sonnenlicht an einem speziellen Tag zu einer bestimm-ten Zeit?

11.3 Wo steht die Sonne? 377

• Wie kann man bei Sonnenschein mittels einer Armbanduhr exakt die Him-melsrichtungen bestimmen?

• Wann steht die Sonne genau im Westen?

Es stellt sich heraus, dass die erste und die letzte Frage völlig gleichwertigzu behandeln sind. Für mathematisch Versierte werden die Ergebnisse nähe-rungsweise durch Formeln beschrieben. Die Güte der Näherung wurde mittelsastronomischer Tabellen überprüft.

Die Sonne geht nicht im Osten auf und nicht im Westen unter?Die Sonne geht bekanntlich nur an zwei Tagen des Jahres genau im Westenunter. Im Winterhalbjahr verschwindet sie – zumindest in unseren Breiten– irgendwo zwischen Südwesten und Westen, im Sommerhalbjahr zwischenWesten und Nordwesten.Ein Wohnzimmer sei genau nach Norden ausgerichtet. Zu welcher Jahreszeitund wie viele Minuten oder gar Stunden kann man trotzdem mit Morgen-bzw. Abendsonne im Zimmer rechnen? Diese Aufgabe führt auf genau die-selbe Frage. Die naive Annahme, die Sonne stehe exakt um 18h „wahrerSonnenzeit“ im Westen – also in Wien etwa um 19h Mitteleuropäischer Som-merzeit – erweist sich als falsch. Also wollen wir der Frage mit den Mittelnder Darstellenden Geometrie auf den Grund gehen.

Zunächst die FaktenDie Erde umrundet bekanntlich innerhalb eines Jahres (365,24 Tage) dieSonne und dreht sich dabei kontinuierlich um eine Achse mit fester Richtung,die etwa zum Polarstern zeigt. Die Zeit für eine volle Umdrehung beträgtetwas weniger als 24 Stunden, nämlich etwa 23h56m. Weitere 4m werdenbenötigt, um die Rotation der Erde um die Sonne („Revolution“) wett zumachen.Die Bahnkurve der Erde ist eine nahezu kreisförmige Ellipse. Für die großeHalbachse a und die lineare Exzentrizität e der Ellipse gilt die Beziehunge ≈ a/60. Die Normale der Ekliptik (Trägerebene der Ellipse) schließt mit derErdachse den konstanten Winkel ε = 23,44○ ein. Aufgrund der Präzessions-bewegung (Kreiselbewegung) der Erde ändert sich dieser Wert im Laufe derJahre (Jahrzehnte) geringfügig. In älteren Büchern findet man daher nochden Wert 23,50○.Die idealisierte Erdoberfläche wird gut durch eine Kugel angenähert. DieAbplattung an den Polen beträgt nur etwa 1/300 des Erdradius. Ein Punktauf der Erdoberfläche ist durch seine geografische Länge λ bzw. Breite ϕ

eindeutig bestimmt (Wien z.B. durch λ = 16,3○, ϕ = 48,2○).

Nun vereinfachen wir vieles. . .Um den Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung zu mindern, verwenden wirfolgende Vereinfachungen, welche – wie wir noch sehen werden – durchausvertretbar sind:

378 11 Bewegung im Raum

1. Zeitangaben betreffen i. Allg. die wahre Sonnenzeit. Diese ist so definiert,dass die Sonne exakt um 12h Mittag ihren Kulminationspunkt (höchsterPunkt ihrer scheinbaren Bahn auf der Himmelskugel) erreicht. Die Zeit-differenz zwischen zwei Kulminationszeiten schwankt ständig und beträgtnicht exakt 24 Stunden. Folglich müsste man die Uhren täglich verstellen,um die Sonne exakt um 12h kulminieren zu sehen. Die täglichen Feh-ler summieren sich auf, wodurch im Lauf der Wochen Abweichungen vonetwa ±15 Minuten zustandekommen. Dies ist auf das zweite KeplerscheGesetz, die Flächenregel, zurückzuführen: Der Radialstrahl von der Sonnezur Erde überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.

Abb. 11.19 Von links nach rechts immer unschärfer werdende Schatten – die Sonne ist nichtpunktförmig

2. Die Erdbahn wird durch einen Kreis angenähert (die maximale Abwei-chung von der Bahnellipse liegt unter 1,5% des Kreisdurchmessers).

3. Die Sonnenstrahlen sind wegen der großen Entfernung der Sonne parallel.Dadurch rechnet man im Näherungsmodell mit dem Sonnenmittelpunkt.Man bedenke allerdings, dass die Sonne trotz ihrer Entfernung (≈ 150 Mio.km) wegen Ihres enormen Durchmessers (≈ 1,4 Mio. km) am Firmamentunter einem Sehwinkel von ≈ 0,5○ erscheint.

4. Rechnet man jeden Monat mit 30 Tagen (360 Tage im Jahr), so dreht sichdie Erde täglich um ca. 1○ um die Sonne. Auch dieser Wert ändert sichnach dem zweiten Keplerschen Gesetz ständig, wenn auch geringfügig. DieErde hat im Nordwinter eine größere Winkelgeschwindigkeit als im Som-mer. Dadurch ist auch das Winterhalbjahr auf der nördlichen Halbkugel6 Tage kürzer als das Sommerhalbjahr! Für Betrachtungen, die nur einenTag dauern, wird diese relativ kleine Ortsveränderung vernachlässigt.

Beim Vergleich mit den tatsächlichen Werten (ohne die zahlreichen Verein-fachungen) zeigt sich, dass für unsere Breiten (ϕ < 52○) kein Wert mehr als4 Minuten abweicht (meist aber nicht mehr als 2 Minuten). Bei einer durch-schnittlichen Tageslänge von 12h = 720m ist dies ein vernachlässigbarer maxi-maler Fehler von etwa 0,5%, und das, obwohl wir zahlreiche Vereinfachungengetroffen haben!

11.3 Wo steht die Sonne? 379

Zwei wichtige HilfssätzeEs gilt nun für den Beobachter auf der Erde folgender erster Hilfssatz:

Der nördliche Himmelspol (≈ Polarstern) ist in Nordrichtung unter dem Höhen-winkel ϕ zu finden.

a

c

Sonne

Vh

NZ

ϕ

S

N . . . nördl. Himmelspol

V . . . Frühlingsbeginn

c . . . Himmelsäquator

Z . . . Zenit

h . . . Horizont

Abb. 11.20 Die Achse durch die Himmelspole ist zur Erdachse a parallel und hat den Breitengradϕ als Höhenwinkel.

Wir sagen in Zukunft öfter etwas schlampig „Polarstern“ und meinen den nördli-chen Himmelspol, also jenen Punkt am Firmament, der die Richtung der Erdachseangibt. Genau an dieser Stelle ist kein markanter Stern zu sehen, aber relativ nahedran (0,9○) schon. Dieser Stern, der α Ursae minoris (Hauptstern des kleinen Bä-ren), ist derzeit Polarstern. Durch die Präzessionsbewegung der Erde ändert sichallerdings die Richtung der Erdachse und damit der Himmelspol ständig, und in einpaar hundert Jahren wird ein anderer Stern die Funktion des heutigen Polarsternsübernehmen. Die alten Ägypter sprachen von mehreren Circumpolarsternen. Diesewaren auch zur Zeit der großen Pyramiden, also vor 4500 Jahren, in Nordrichtungunter dem Höhenwinkel ϕ zu finden.Beweis:Die Normalprojektion der Erdachse a auf die horizontale Grundebene γ – also dieKugeltangentialebene im Beobachterstandpunkt B – weist nämlich zum geografi-schen Nordpol. Die Neigung der Achse stimmt mit der geografischen Breite ϕ desBeobachters überein (Abb. 11.22). ◾

380 11 Bewegung im Raum

an ⊥ π1

c

S

Sonne

V

π1

N

E

N . . . nördl. HimmelspolV . . . Frühlingsbeginnc . . . HimmelsäquatorE . . . Pol von π1

Abb. 11.21 Um Steinzeit-Geometrie beurteilen zu können, muss die Präzessionsbewegung derErde berücksichtigt werden.

Abb. 11.22 Zum Polarstern, um den sich alles dreht (rechts: Kepler)

Der Hilfssatz ist auch im Alltagsleben durchaus nützlich. Schließlich drehtsich für uns das gesamte Weltall um die Achse durch den Polarstern. AlleSterne, auch unsere Sonne, beschreiben Kreise um diese Achse.

Wegen der vernachlässigten – weil sehr geringen – täglichen Relativbewegungder Erde um die Sonne bleibt heliozentrisch gesehen die Lichtstrahlrichtungs während eines Tages unverändert. Geozentrisch gesehen erhält man damiteinen zweiten Hilfssatz:

Die Lichtstrahlrichtung s dreht sich innerhalb eines Tages nahezu gleichmäßig umdie Erdachse a und überstreicht dabei einen Drehkegel Σ mit der Achse a. Derhalbe Öffnungswinkel σ dieses Drehkegels ist unabhängig von der geografischenLage und variiert je nach Datum im Intervall 90○ − ε ≤ σ ≤ 90○ + ε (ε = 23,44○).

11.3 Wo steht die Sonne? 381

Abb. 11.23 Die „Sonnen-Drehkegel“ in nördlicheren Breiten

In der Astronomie ist meist vom Komplementärwinkel von σ die Rede, welcher„Sonnendeklination“ genannt wird. Der Wert von σ ändert sich natürlich geringfügiginnerhalb von 24 Stunden, aber nie mehr als 0,4○ (in der Nähe der Tag-Nacht-Gleichen).Abb. 11.23 illustriert die Änderung des Drehkegels zu den verschiedenenJahreszeiten (links Sommer, Mitte Tag-Nacht-Gleiche, rechts Winter). DieÖffnung des Kegels ist wie gesagt von der geografischen Breite ϕ unabhängig.Die Neigung der Kegelachse (geografische Breite ϕ) hingegen beeinflusst dentatsächlichen Einfallswinkel der Sonnenstrahlen entscheidend.Innerhalb der Wendekreise (ϕ = ±23,44○) steht die Sonne zu Mittag periodenweise imNorden bzw. im Süden. In diesem Bereich steht sie zu Mittag genau dann senkrecht(im Zenit), wenn σ = 90○ −ϕ ist.Zum Zeitpunkt der Tag-Nacht-Gleichen ist σ = 90○, und der Drehkegel „entartet“ ineine Normalebene zur Achse a. An diesem Tag wandert der Schatten eines Punktsauf der horizontalen Basisebene auf einer Geraden. An allen anderen Tagen wandertder Schattenpunkt auf einem Kegelschnitt. Außer in der Umgebung der Pole istdieser Kegelschnitt immer eine Hyperbel.Besonders übersichtlich ist die Situation am Nordpol bzw. Südpol, wo die Sonne imLaufe eines Tages einfach um die lotrechte Kegelachse rotiert, also 24 Stunden langunter demselben Höhenwinkel (maximal ε) zu sehen ist. Im Winter (Nordwinterbzw. Südwinter) ist die Sonne dann natürlich nie zu sehen.

● Der Ort aller möglichen SonnenpositionenDie Sonne nimmt im Lauf des Jahres zwar viele verschiedene Positionen amHimmel ein, doch die Gesamtheit all dieser Positionen macht nur einen Teildesselben aus. Wenn man sich alle Drehkegel mit dem halben Öffnungswin-kel σ mit einer riesigen Kugel um den Beobachter geschnitten denkt, erhältman lauter Kugelkreise, die eine Kugelschicht bilden. Diese Schicht ist sym-metrisch bezüglich der Normalebene durch die Richtung zum Polarstern.Alle Teile der Schicht über der Basisebene (der Kugeltangentialebene im Be-obachterstandpunkt) gehören zu Positionen über dem Horizont. Aus Abb. 11.24kann also eine Menge Information über Tageslängen heraus gelesen werden(siehe auch Abb. 11.44).Abb. 11.24 zeigt die Kugelschicht am Äquator bzw. am nördlichen Polarkreis. Manerkennt sofort, dass am Äquator alle Tage 12 Stunden lang sind. Auch am Äquatorsteht die Sonne nur zweimal im Jahr im Zenit.

382 11 Bewegung im Raum

Abb. 11.24 Ort aller Sonnenpositionen am Äquator und beim nördlichen Polarkreis

Am nördlichen Polarkreis erkennt man, dass die Kugelschicht die Basisebene zwei-mal berührt, und zwar um den 21. Juni – dem einzigen 24-Stunden-Tag – undum den 21. Dezember – der einzigen Polarnacht. Abb. 11.28 zeigt übrigens einTageslängen-Diagramm.

● Ermittlung des Winkels zwischen Erdachse und SonnenstrahlenWie wir gesehen haben, ist die Größe des datumspezifischen Winkels σ wich-tig. Wir wollen ihn konstruktiv, auf ein halbes Grad genau, ermitteln.

Abb. 11.25 Ermittlung von σ Abb. 11.26 Die Hauptlagen der Erde

Denken wir uns den Bahnkreis k der Erde E in der Grundrissebene π1 unddie Erdachse a parallel zur Aufrissebene π2. Die „Nullposition“ der Licht-strahlrichtung sei bei Frühlingsbeginn (um den 21. März) erreicht und zweit-projizierend.Zu jedem bestimmten Datum – also etwa zum 21. Mai – gibt es einen be-stimmten Öffnungswinkel des Drehkegels Σ. Dieses Datum sei α Tage nachFrühlingsbeginn – im konkreten Beispiel sind es 60 Tage. Die Erde E befindetsich dann etwa α○ nach der Nullposition.Wir rechnen der Einfachheit halber alle Monate mit 30 Tagen und treffen damitzwei Fliegen auf einen Schlag: Erstens erhalten wir dadurch 360 Tage im Jahr –so dass jedem Tag ein Grad entspricht – und zweitens werden die Tage im Sinn

11.3 Wo steht die Sonne? 383

der Keplerschen Flächenregel „gewichtet“. Unser vermeintlich willkürlicher Kalender(Februar nur 28 Tage, Juli und August je 31 Tage) gleicht nämlich die Unterschiedezwischen Winter- und Sommerhalbjahr einigermaßen aus.Der gesuchte halbe Öffnungswinkel σ des Drehkegels Σ ergibt sich nun dar-stellend geometrisch durch Paralleldrehen der Lichtstrahlrichtung s = ES umdie Erdachse a, bis eine aufrissparallele Lage erreicht ist: Die Drehachse istFrontalgerade, so dass der Drehkreis von S zweitprojizierend ist. Die wahreLänge r der Strecke ES ist aus dem Grundriss bekannt (⇒ E○

′′S○′′ = E○

′S○′ =

r).Verglichen mit dem exakten Wert von σ am 20. Mai ist der Fehler etwa ein ViertelGrad. Das wollen wir gerne hinnehmen. Der Fehler übersteigt im Laufe des Jahresnie ein halbes Grad, bleibt aber meist deutlich darunter.

● Sonnenaufgang und SonnenuntergangNun wollen wir die Tageslänge bzw. Sonnenaufgang und Sonnenuntergangfür unser gewähltes Datum an einem Ort mit der geografischen Breite ϕ

(z.B. ϕ = 48,2○) bestimmen. Abb. 11.27 zeigt, wie dies in einfachster Aufstel-lung geschehen kann: Die Achse a des Drehkegels Σ wird lotrecht angenom-men. Die Schichtenkreise von Σ erscheinen dann im Grundriss unverzerrt.Die horizontale Grundebene γ schließt mit a den Winkel ϕ ein. Sie schnei-det aus einem beliebigen Schichtenkreis (etwa jenem mit dem Radius voneiner Längeneinheit) zwei Punkte S1 und S2 aus, die dem Sonnenaufgangbzw. Sonnenuntergang entsprechen. Die zugehörigen Kreisbögen lassen sichals Tageslänge bzw. Nachtlänge interpretieren. Durch Eintragen eines 24-stündigen „Zifferblatts“ auf dem „Einheitskreis“ lassen sich die zu S1 und S2

gehörigen Zeitpunkte direkt ablesen.

Abb. 11.27 Sonnenaufgang Abb. 11.28 Tageslängen auf der Erde

Die Tageslänge ist in den diversen Tabellen stets um etwa 15 Minuten länger angege-ben als der theoretische Wert. Sonnenaufgang bzw. Sonnenuntergang sind nämlichso definiert, dass sie dem subjektiven Empfinden des Beobachters entsprechen. Da-her geht die Sonne bereits auf, wenn die ersten Sonnenstrahlen – und nicht derSonnenmittelpunkt – die Horizontebene erreichen. Analoges gilt für den Sonnenun-tergang.

384 11 Bewegung im Raum

Die Sonnenstrahlen werden beim Übergang vom Vakuum des Weltalls in die optischimmer dichter werdende Atmosphäre zum Lot gebrochen, so dass man die Sonne(immer röter werdend, weil die nicht-roten Anteile an der Atmosphäre wesentlichstärker gestreut werden) noch am Horizont sehen kann, obwohl sie theoretisch schonuntergegangen sein müsste.

● Unter welchem Höhenwinkel kulminiert die Sonne?

Abb. 11.29 Wie hoch schafft es die Sonne am 21. Dezember? Die Winkelmessung links ist übrigenseine recht einfache Methode, um eigene Überlegungen rasch zu verifizieren.

Aus Abb. 11.27 sieht man unmittelbar:

Die Sonne erscheint zu Mittag unter dem maximalen Höhenwinkel 180○ −ϕ−σ.

Dieser Winkel nimmt um den 21. Dezember sein Minimum an. An diesemTag schafft die Sonne am 50. Breitengrad nur einen Höhenwinkel von 180○ −50○ − (90○ + 23,44○) ≈ 16,5○ (Abb. 11.29). Am nördlichen Polarkreis (ϕ =90○ − 23,44○ ≈ 66,5○) berührt sie an diesem Tag nur den Horizont.Am nördlichen Polarkreis klettert die Sonne zur Sommersonnenwende immerhinbis zu einem Höhenwinkel von 2ε ≈ 47○. Wenn man bedenkt, dass die Sonne andiesem Tag nie untergeht, kann man sich vorstellen, dass gewaltige Mengen anSonnenenergie zugeführt werden. Rein theoretisch (wolkenfreier Himmel) übersteigtdiese Energie jene, die am selben Tag am Äquator zugeführt wird! Noch dazu müssen– vor allem auf der Südhalbkugel – unvorstellbare Mengen an Packeis aufgetautwerden.

Der Lichteinfall zu einem vorgegebenen ZeitpunktMit dem bisherigen Wissen ist es nun nur noch ein kleiner Schritt, die Licht-einfallsrichtung zu jeder beliebigen Zeit eines vorgegebenen Datums zu be-stimmen. Diesmal zeichnen wir den Kegel Σ(a; σ) nicht in spezieller Auf-stellung (a ⊥ π1), sondern der Polarsternrichtung angepasst (die Nordrich-tung für den Beobachter sei die y-Richtung unseres Koordinatensystems).Abb. 11.30 zeigt, wie mittels eines Seitenrisses die Situation von Abb. 11.27wiederhergestellt werden kann. In diesem Riss kann auf dem Zifferblatt die

11.3 Wo steht die Sonne? 385

vorgegebene Zeit (Hilfspunkt H ′′′ auf dem Lichtstrahl s′′′) eingetragen undnach den Regeln der Darstellenden Geometrie in den Aufriss bzw. Grundrissübertragen werden (→H ′′ ∈ s′′ bzw. H ′ ∈ s′).

Abb. 11.30 Gegeben sind geogra-fische Breite, Datum und Uhrzeit:Wie fällt das Licht ein?

Abb. 11.31 Dieses Foto wurde am Morgen des 21. De-zember am nördlichen Wendekreis aufgenommen. Wie spätwar es? Wo stand dort die Sonne um Mitternacht?

Die Fragen zu Abb. 11.31 können wir nun bereits beantworten: Am Foto erkenntman, dass gerade Sonnenaufgang war. Die geografische Breite des nördlichen Wen-dekreises ist ϕ = 23,5○. Am 21. Dezember ist auf der nördlichen Halbkugel σ =90○+23,5○. Eine Konstruktion gemäß Abb. 11.27 ergibt dann knapp 7 Uhr morgensfür den Sonnenaufgang. Die Konstruktion gemäß Abb. 11.30 für die Mitternachtzeigt, dass zu diesem Zeitpunkt die Sonne genau im Nadir stand – dem Gegenstückzum Zenit. Am südlichen Wendekreis steht an diesem Tag die Sonne zu Mittag imZenit (σ = 90○ − 23,5○).Aufgrund der Konstruktion erkennt man nebenbei: Die Sonne steht genau im Wes-ten (bzw. Osten), wenn der y-Wert des Hilfspunkts H verschwindet (in der Zeich-nung mit W beschriftet).Denken wir uns nun den Kegel Σ um −90○ um die x-Achse gedreht, so dass er zurgeografischen Breite ϕ − 90○ „gehört“, so übernimmt der mitgedrehte Punkt W fürden neuen Kegel die Rolle jenes Punkts S2, der den Zeitpunkt des Sonnenuntergangsmarkiert. Es gilt also:

Die Sonne steht am Breitenkreis mit der geografischen Breite ϕ genau dann im Ostenbzw. Westen, wenn sie am „komplementären Breitenkreis“ ϕ−90○ der anderen Erdhälfteauf- bzw. untergeht (sofern sie Letzteres überhaupt tut).

● Wo ist Süden?

Abb. 11.30 lässt sich auf eine interessante Art deuten. Interpretieren wir das 24-stündige Zifferblatt als Uhr, so erkennt man: Der Stundenzeiger dieser Uhr (zuge-hörig zum Zentriwinkel ω) ist die Normalprojektion der Lichtstrahlrichtung auf dasZifferblatt, wenn die 12h-Markierung (Zentriwinkel 0○) zur Normalprojektion derSüdrichtung zeigt.Denkt man sich auf der Uhr nun das übliche 12-stündige Zifferblatt, dann ist aufdiesem der Zentriwinkel ω von der aktuellen Uhrzeit zur 12-Uhr Markierung doppeltso groß wie auf dem 24-stündigen Zifferblatt in Abb. 11.30 (ω = 2ω). Die Südrichtung

386 11 Bewegung im Raum

wird somit durch jenen Zeitpunkt markiert, welcher genau zwischen der aktuellenZeit und 12 Uhr liegt.Damit lässt sich bei Sonnenschein mittels jeder analogen Armbanduhr die Südrich-tung wie folgt bestimmen:Vorerst geht man nach folgender weithin bekannten „Pfadfinderregel“ vor: Mandenkt sich jenen Zeitpunkt S markiert, der zwischen dem momentanen Zeitpunktund dem Kulminationspunkt der Sonne (also 12 Uhr bzw. 13 Uhr bei Sommerzeit)liegt. Es muss zudem auch die geografische Länge berücksichtigt werden: Pro Län-gengrad verschiebt sich der Kulminationspunkt um 4 Minuten, so dass etwa amNullmeridian in Frankreich oder Spanien 60 Minuten zu addieren sind! Nicht zuvergessen ist weiter die durch die Flächenregel bedingte Abweichung des Kulmi-nationspunkts von 12 Uhr (Zeitgleichung), die mit bis zu ±15 Minuten zu Bucheschlägt.Nun dreht man die abgenommene Armbanduhr so lange, bis der Stundenzeigerin Sonnenrichtung zeigt. Der Zeiger zum markierten Zeitpunkt weist dann relativgenau nach Süden.Zur exakteren Bestimmung der Südrichtung muss jetzt noch die Uhr verkantet wer-den: Man stellt sich so auf, dass man zum provisorisch ermittelten Süden blickt undder Stundenzeiger zur Zeit S ebenfalls dorthin gerichtet ist. Nun verkantet man dasZifferblatt zum Körper hin um 90○ − ϕ (in unseren Breiten etwa 42○) und wieder-holt den Vorgang. Durch das Aufkanten ergibt sich natürlich eine leicht modifizierteSüdrichtung. Der Fehler ohne Nachkorrektur durch Aufkanten ist umso größer, jefrüher am Morgen bzw. später am Abend wir die Pfadfinderregel anwenden bzw. jeweiter südlich wir uns befinden. So müsste etwa nach dieser Regel die Sonne immerum 18 Uhr im Westen stehen! ◾

● Ein kleines und vielseitiges Schmuckstück am Hals

Abb. 11.32 Ein kleines und vielseitiges Schmuckstück. Es kann ähnlich wie bei der Pfadfinderregelbenützt werden, um die Südrichtung zu bestimmen (wenn man die Uhrzeit weiß) oder die Uhrzeitbestimmen (wenn man weiß, wo Süden ist).

Im Wesentlichen besteht das Schmuckstück in Abb. 11.32 aus einer lichtbre-chenden Halbkugel auf einer 24-Stunden-Skala. Sagen wir, wir wissen, wiespät es ist. Jetzt versuchen wir, die Sonnenstrahlen auf der entsprechenden

11.3 Wo steht die Sonne? 387

Markierung der Zeitskala zu fokussieren (dabei muss das „Gerät“ meist ge-kippt werden). Dann zeigt der Buchstabe „S“ bereits in die Südrichtung.Wenn man umgekehrt weiß, wo Süden ist, aber die Uhrzeit nicht weiß: Mandrehe sich nach Süden und versuche wiederum auf der Zeitskala zu fokus-sieren (dabei muss das Gerät wieder gekippt werden). Dort kann die wahreSonnenzeit abgelesen werden. In Abb. 11.32 zeigt der Brennpunkt, dass es 8

Uhr morgens wahre Zeit ist. Bei Sommerzeit ist natürlich eine Stunde dazu-zuzählen . . . ◾

Eine konstante und eine veränderliche WinkelgeschwindigkeitAlle unsere bisherigen Überlegungen haben sich auf die wahre Sonnenzeitbezogen, die so definiert ist, dass die Sonne um 12 Uhr Mittag ihren Höchst-stand erreicht. Nun ist aber die Bahn der Erde um die Sonne eine Ellipseund daraus resultierend die Winkelgeschwindigkeit der Erde auf ihrem Wegum die Sonne nicht konstant. Hingegen verändert sich die Winkelgeschwin-digkeit bei der Drehung um die eigene Achse nicht: Die Zeitspanne für einevolle Umdrehung um die Erdachse beträgt etwa 23 Stunden und 56 Minuten.

Die ZeitgleichungIn den restlichen vier Minuten, die auf 24 Stunden fehlen, rotiert die Erdeum ein weiteres Grad, wodurch der nächste Sonnenhöchststand nicht genauzur selben Zeit wie am Vortag stattfindet – die Erde hat sich in diesen 24Stunden um etwa ein Grad um die Sonne gedreht. Allerdings eben nur unge-fähr, und weil dieser Winkel sich ununterbrochen leicht ändert, werden unterUmständen täglich ein paar Sekunden Fehler addiert oder subtrahiert, bis eszu Abweichungen in der Größenordnung von ±15 Minuten kommt.Eine genaue Berechnung dieses Vorgangs ist recht aufwändig, weil es keine exak-ten Formeln dafür gibt, sondern man ständig die von Kepler aufgestellte nicht-algebraische Zeitgleichung näherungsweise lösen muss [16].

● DetektivspieleWenn wir ein Foto von einem bekannten Objekt, etwa einem Gebäude, voruns liegen haben, auf dem wegen der Schatten die Lichtrichtung erkennbarist, können wir jetzt Datum und Uhrzeit ermitteln. Das Datum ist allerdings– wie wir gleich sehen werden – zweideutig. Voraussetzung ist, dass wir dieNordrichtung und die geografische Breite unserer Szene kennen.Wir brauchen eigentlich nur die Konstruktion des Lichtstrahls bei gegebenemDatum und gegebener Uhrzeit „von hinten aufrollen“ (Abb. 11.33):Sei s der Lichtstrahl, der in Grund- und Aufriss gegeben ist. Dann betrach-ten wir jene erstprojizierende Ebene, in der die Erdachse a liegt (sie zeigtnach Norden). In einem Seitenriss erscheint dann die geografische Breite ϕ

unverzerrt (Hilfspunkt H ∈ s→H ′′′ ∈ s′′′ → a′′′ ∋ O′′′).Drehen wir in einem zweiten Schritt den Lichtstrahl s um a parallel (H ′′′ →H0 ∈ s0). Dazu klappen wir den projizierenden Drehkreis von H um, so dassdessen Achse a (in einem vierten Riss) projizierend erscheint. Jetzt haben wir

388 11 Bewegung im Raum

zwei Fliegen auf einen Schlag: Im dritten Riss den datums-charakteristischenWinkel σ, aus dem wir durch Umkehrung der Konstruktion von σ das Datumgewinnen.Im vierten Riss sehen wir den Drehwinkel ω unverzerrt, der uns Auskunftüber die Uhrzeit gibt (15○ entsprechen einer Stunde). Aus der Angabe lässtsich erkennen, ob die Sonne noch eher im Osten ist oder nicht. Dementspre-chend ist die Zeitdifferenz von 12 Uhr zu subtrahieren oder zu addieren.

Abb. 11.33 σ (Datum) und ω (Uhrzeit) bei bekannter Lichtrichtung s

Im konkreten Beispiel wurde der 53. Breitengrad gewählt, auf dem z.B. Berlinliegt. Die Konstruktion ergibt σ ≈ 77○, ω ≈ 53○.α ermittelt man mit Abb. 11.25: Man zeichnet dort im Aufriss einen Drehke-gel mit Achsenrichtung zum Polarstern, halbem Öffnungswinkel σ und Basis-kreisradius r; diesen passt man so ein, dass die Kegelspitze E am Bahnkreisk liegt und der Basiskreis des Kegels die Sonne S enthält. Der Grundriss vonE führt zu α (α ≈ 34○).Die Situation spielt sich dann entweder 34 Tage nach Frühlingsbeginn (25.April) oder 34 Tage vor Herbstbeginn (19. August) ab. Dem Winkel ω ent-sprechen etwa 3,5 Stunden. Damit ist die wahre Sonnenzeit 15 ∶ 30. Zu beidenmöglichen Daten haben wir in Mitteleuropa Sommerzeit. Damit ist eine Stun-de dazu zu rechnen. Auch die Abweichung vom 15. Längengrad, auf den diemitteleuropäische Zeit bezogen ist, schlägt unter Umständen zu Buche. Berlinliegt etwa 1,5○ westlich vom Referenzkreis, was eine weitere Verspätung von6 Minuten nach sich zieht. Eine vielleicht zufällig mitfotografierte öffentlicheUhr würde also etwa 16 ∶ 36 anzeigen. Aus der Kleidung mitfotografierterLeute könnte man vielleicht auch auf die Jahreszeit schließen: Laufen vielePersonen in Sommerkleidern herum, wird es wohl der 19. August gewesensein. . . ◾

Die Bahn des Mondes am FirmamentDas Wechselspiel zwischen Sonne und Mond hat alle Kulturen seit jeher fasziniert.Der Mond bewegt sich wie alle Planeten im Wesentlichen in derselben Bahnebe-

11.3 Allgemeine Raumbewegungen 389

ne wie die Erde, wenn auch mit periodischen Schwankungen von ±5,2○ bei einerPeriodendauer von 18,2 Jahren.Es ist verlockend, daraus den Schluss zu ziehen, dass sich die Mondbahn – wie auchdie Planetenbahnen – im Wesentlichen mit der Bahn der Sonne deckt. Das stimmtwohl so halbwegs während der Tag-Nacht-Gleichen bzw. bei dünner Mondsichel,aber es ist auffällig, dass der Vollmond im Winter viel größere Höhenwinkel erreichtals die Sonne.Wann immer man mit Astronomen über die Mondbahn spricht, lächeln diese ver-schmitzt und nicht selten hört man, dass das Ganze eben nicht so einfach sei undman viel und genau berechnen müsse. Wir wollen die Sache trotzdem qualitativ undgeometrisch lösen.

Abb. 11.34 Wenn die Tage bzw. Nächte am Längsten sind, weicht die Bahn des Vollmondesbeträchtlich von der Bahn der Sonne ab. Der Vollmond steht zu Winterbeginn sehr hoch.

Betrachten wir Abb. 11.34 links: Es herrscht Nordwinter – die Südhalbkugel istdeutlich mehr beschienen – und Neumond. Von der Erde aus ist nur die dunkle Seitedes Mondes zu sehen. In den kommenden 24 Stunden rotiert die Erde um ihre Achse,während der Mond nahezu auf derselben Stelle bleibt – er braucht ja 4 Wochen,um die Erde zu umrunden. Relativ von der Erde aus gesehen überstreichen dieSonnenstrahlen und deren Reflexe vom Mond ein- und denselben halben Drehkegel.Der Neumond heftet sich also tatsächlich an die Bahn der Sonne (vgl. Abb. 11.22links).Ganz anders die Situation bei Vollmond (Abb. 11.34 rechts): Der Mond steht jetztder Sonne gegenüber, und der von den reflektierten Strahlen überstrichene Halb-kegel ist sozusagen die Verlängerung des Sonnenkegels. Im Lauf der Eigenrotationder Erde kommt der Vollmond nun im Wesentlichen so hoch, wie es die Sonne zuSommerbeginn schafft. Dies erklärt, warum in langen, klaren Winternächten derVollmond von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang eine nicht zu unterschätzendeLichtquelle ist.

Gemäß dem Satz über den Sonnenhöchststand S. 384 ist die Sonne am 50. Breiten-kreis unter dem maximalen Höhenwinkel 90○−50○+23,45○ ≈ 63,5○ zu sehen. Kommtjetzt noch – wie im Winter 2005/06 – die maximale Abweichung der Mondbahndazu, sind wir bei fast 69○ gelandet. Ein solcher Höhenwinkel wird subjektiv schonfast als „senkrecht“ empfunden. Tagsüber hingegen wandert die Sonne auf maximal90○ − 50○ − 23,45○ ≈ 16,5○.

An den Polen ist im Winter die Sonne ein halbes Jahr nicht zu sehen. Alle paarWochen taucht aber der Mond – als Halbmond – auf und erreicht als Vollmond

390 11 Bewegung im Raum

einen Höhenwinkel von bis zu 23,45○ – nämlich dann, wenn der Vollmond genau aufden 21. Juni bzw. 21. Dezember fällt.

Nach den bisherigen Überlegungen ist es nun klar, dass die Bahnen von Merkurund Venus am Firmament in jeder Phase einigermaßen in der Nähe der Bahn derSonne sein werden (siehe dazu auch [16]): Beide Planeten sind ja deutlich näher ander Sonne als die Erde und damit geometrisch wie der Mond in den Tagen um denNeumond zu behandeln. Mars und Jupiter hingegen können wie der Mond in denTagen um den Vollmond „die Seite wechseln“ und dementsprechend in ihrer Bahnam Firmament deutlich von der Sonnenbahn abweichen.

● Was ist auf der Südhalbkugel anders?

Bewohner der nördlichen Halbkugel bevorzugen unbewusst bei geometrischen Aus-sagen die Nordhalbkugel. So drehen sich die Sterne, wenn man zum Polarsternblickt, gegen den Uhrzeigersinn, die Sonne, wenn man nach Süden blickt, im Uhr-zeigersinn. Was ändert sich auf der südlichen Halbkugel?

Abb. 11.35 Das Kreuz des Südens dreht sich im Uhrzeigersinn um den südlichen Himmelspol(dort ist leider kein Stern mit dem freien Auge auszumachen). Gelb eingezeichnet ist, wie manden südlichen Himmelspol findet. Die beiden Aufnahmen wurden einigermaßen (aber nicht exakt)vom gleichen Standpunkt aus gemacht.

Ein Reisender sollte sich, wenn er auf der südlichen Halbkugel ankommt, nach Mög-lichkeit in einen Park setzen und verifizieren, dass die Schatten tatsächlich in dieandere Richtung wandern. Die Sonne geht immer noch in östlicher Richtung auf undin westlicher unter. Allerdings steht der Betrachter – relativ zur Situation zuhauseauf der nördlichen Halbkugel – „auf dem Kopf“. Damit scheint sich der Umlaufsinnder Sonne umgedreht zu haben. Im Raum gibt es eigentlich gar keinen Umlaufsinneiner Drehung, weil es davon abhängt, in welcher Richtung man auf die Drehachseschaut. Auf der südlichen Halbkugel dreht sich also der Umlaufsinn um, und die

11.3 Allgemeine Raumbewegungen 391

Sonne wandert gegen den Uhrzeigersinn über den Horizont, wenn wir uns intuitiv innördliche Richtung wenden, um sie zu beobachten. Blicken wir hingegen des Näch-tens nach Süden, dann drehen sich die Sterne im Uhrzeigersinn um einen fiktivenPunkt, den südlichen Himmelspol.Abb. 11.35 zeigt den Nachthimmel am Kap der guten Hoffnung (Südafrika). Inden beiden Aufnahmen mit etwas weniger als 7 Stunden Abstand hat sich dieseKonstellation etwa 100○ im Uhrzeigersinn gedreht (≈ 15○ pro Stunde). Im Gegensatzzur nördlichen Hemisphäre, wo wir einen Polarstern (Nordstern) ziemlich genaubeim nördlichen Himmelspol finden, sehen wir auf der südlichen Halbkugel mitfreiem Auge keinen Stern.Auf der Nordhalbkugel sieht man meist den großen Wagen (großen Bär) und „ar-beitet sich dann zum Polarstern vor“. Auf der südlichen Halbkugel zieht man dasKreuz des Südens (auch Crux ) heran. Es ist so populär, dass es Teil nicht wenigerFlaggen von Staaten der Südhalbkugel ist (z.B. Brasilien, Australien, Neuseeland,Papua Neuguinea). Hat man die Konstellation ausgemacht, geht man vor, wie diesin Abb. 11.35 mit gelben Linien eingezeichnet ist (Verlängerung der Achse des Del-toids um das 4,2-fache). ◾

● Mehrfache Umkreisung der Antarktis

Obwohl das Beispiel nicht unbedingt zur Sonnenstandstheorie passt, gehört es zu-mindest zum Thema Südhalbkugel (und bis zu einem gewissen Grad ist es auch einBeispiel für sphärische Bewegungen):

Abb. 11.36 Antarktische Zirkumpolarströmung: Links verständlich dargestellt, rechts nur mehrvon sehr wenigen Fachleuten wirklich verstehbar.

Auf Landkarten wie Abb. 11.36 rechts („Plattkarte“) erscheint die Antarktis völ-lig verzerrt. Dort so etwas wie die thermohaline Zirkulation, welche die Antarktismehrfach umkreist, einzuzeichnen, ist eigentlich nicht zielführend, obwohl es im-mer wieder gemacht wird. Eine Möglichkeit, die Sache verständlich darzustellen,bestünde darin, eine stereografische Projektion aus dem Nordpol anzuwenden, oderzumindest einen „Grundriss“ (also eine Ansicht von oben, wenn man auf der Süd-halbkugel steht) darzustellen. Tatsache ist, dass diese globale Strömung zur Gänzeauf einer Kugel verläuft, sodass man eigentlich ein interaktiv verdrehbares Kugel-modell braucht, um sich alles wirklich gut vorstellen zu können! ◾

392 11 Bewegung im Raum

11.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für diemittlere Zeit

In diesem Abschnitt werden Sonnenuhren zum Ablesen der mittleren Zeitvorgestellt. Zwei Typen arbeiten mit Schatten von krummen Flächen auf Ab-leseskalen. Eine weitere Sonnenuhr leistet die Aufgabe mithilfe eines raffinier-ten Mechanismus. Es handelt sich um die Uhren von Oliver und Bernhardt ,dazu eine Variation von Riegler , die Idee zu einer Uhr von Hofmann und dieUhr von Pilkington und Gibbs . Alle Uhren berücksichtigen die Zeitgleichungund sind bei sorgfältiger Ausfertigung in ausreichender Größe minutengenau.Die Berechnung der Zeiger und des erwähnten Mechanismus wird beschrie-ben.

Wahre und mittlere Zeit

Sonnenuhren waren früher wichtige Zeitmesser, und auch heute noch übensie eine große Faszination aus. Ihre Geschichte reicht ins Altertum zurück.Man teilte damals an jedem Tag die Zeitspanne zwischen Auf- und Untergangder Sonne mithilfe von Sonnenuhren in zwölf angenähert gleiche Teile. Dazuwurde der Sonnenstand durch den Schatten eines Stabendes, mitunter auchmithilfe einer Lochblende, auf eine Fläche mit einem Netz von Datums- undStundenlinien abgebildet (Abb. 11.37). Eine Stunde war also eine variable,jahreszeitabhängige Zeitspanne. Man spricht heute von Temporalstunden.In der modernen Stundenteilung wird der Zeitraum zwischen zwei aufeinan-der folgenden Meridiandurchgängen der Sonne in 24 gleiche Teile geteilt. DerMeridian eines Beobachtungsortes ist, wird von den Polen abgesehen, derGroßkreis der Himmelskugel durch den Zenit, den Nord- und den Südpunktdes Horizonts; der Mittelpunkt der Himmelskugel kann im Beobachtungsortangenommen werden, ihr Radius ist „unvorstellbar groß“. Wie noch gezeigtwird, variieren diese Tageslängen im Lauf des Jahres – das ist die wahreOrtszeit. Heute wird die mittlere Zeit, ein gleichförmiges Zeitmaß, verwen-det. Am genauesten wird sie mit Atomuhren gemessen. Im Einklang mitdem Umlauf der Erde um die Sonne wird die Sekunde mittlerer Zeit über diePeriodendauer des 133Cs-Lichts definiert.

Abb. 11.37 Antike Uhr Abb. 11.38 Turmuhr

11.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für die mittlere Zeit 393

Zunächst wurde neben der wahren Ortszeit eines Standorts die mittlere Orts-zeit betrachtet. Bereits das Eisenbahnwesen verlangte die Einführung von Zo-nenzeiten, mittleren Zeiten für größere Gebiete. So ist die MitteleuropäischeZeit die mittlere Ortszeit für Standorte 15° östl. Länge. Unsere Sommerzeitentspricht der Osteuropäischen Zeit (30° östl. Länge).Sonnenuhren – wahre Analoguhren – messen die wahre Zeit. Wir sprechenvom wahren Mittag, wenn die Sonne genau im Süden steht. An vier Ta-gen im Jahr stimmen wahre und mittlere Zeit überein (Mitte April, AnfangJuni, Anfang September und Ende Dezember). Der mittlere Mittag weichtvom wahren Mittag im Laufe des Jahres um die Zeitgleichung ab, die nochbesprochen wird, was bis zu 16 Minuten betragen kann.

Einfache SonnenuhrenVon einem Standort auf der Erde aus betrachtet scheint sich der Himmelum einen Himmelspol zu drehen. Auf der nördlichen Himmelskugel befindetsich dort derzeit im Abstand von weniger als einem Grad der Polarstern.Die Achse der scheinbaren Drehung des Firmaments um unseren Standortweist auf den Himmelspol. Sie liegt in einer vertikalen Nord-Süd-Ebene undist unter dem Winkel der jeweiligen geografischen Breite ϕ gegen die Hori-zontale geneigt. Die Achsen vieler Sonnenuhren (Abb. 11.38) weisen in dieseRichtung.

Abb. 11.39 Datumslinien. . . Abb. 11.40 . . . und Stundenlinien

Die Spurkurve des von den Sonnenstrahlen durch einen Punkt im Laufe ei-nes Tags überstrichenen Drehkegels (mit halbem Öffnungswinkel σ) in einerwaagrechten Ebene ist ein Kegelschnitt, in nicht-polaren Gegenden immer ei-ne Hyperbel, zu den Tag-Nacht-Gleichen eine Gerade (Abb. 11.39). DerartigeSpurkurven heißen Datumslinien.Wollen wir eine einfache Sonnenuhr konstruieren, müssen wir für die vollenStunden ein Ebenenbüschel mit Ebenen von 15° zu 15° durch eine zur Him-melsachse parallele Gerade mit der Trägerfläche eines Zifferblatts schneiden(Abb. 11.40). Die Schnittlinien sind die Stundenlinien: Die Erde dreht sichin 24 Stunden um 360°.Besondere Sonnenuhren sind äquatoriale Uhren, entweder mit ebenen, äqua-torparallelen Zifferblättern oder mit drehzylindrischen Zifferblättern und zurHimmelsachse parallelen Erzeugenden. In beiden Fällen sind die Stundenli-nien gleichmäßig verteilt.

394 11 Bewegung im Raum

Die ZeitgleichungDie Bewegung der Erde um die Sonne ist kompliziert. Um eine minuten-genaue Sonnenuhr zustande zu bringen, muss man entweder mit Tabellenarbeiten, oder besser mit einer Computersimulation. Die Präzessionsbewe-gung der Erde (die Rotation der Achse im Lauf von rund 26000 Jahren)und die Nutation (kleine Störungen der Präzessionsbewegung) spielen beiSonnenuhren keine Rolle.Abb. 11.41 ist eine „karikierte Darstellung“ der Stellungen der Erde zu denTag-Nacht-Gleichen und den Sonnenwenden. An der großen Kugel ist diePräzessionsbewegung veranschaulicht (die Erdachse überstreicht den Manteleines Drehkegels).

Abb. 11.41 Präzessionsbewegung Abb. 11.42 Kepler -Gleichung

Um nun eine Computersimulation zuwege zu bringen, müssen wir die Sachemit ein wenig physikalischem Vorwissen geometrisch durchschauen. Die blo-ße Anwendung der Keplerschen Regeln ist zwar möglich, aber nicht einfachzu implementieren: Die Bahnellipse der Erde muss nach der Zeit parametri-siert werden, was die fortgesetzte Lösung der transzendenten Keplergleichungerfordert. Diese Gleichung lautet mit den Bezeichnungen von Abb. 11.42

f(α) = α − ε ⋅ sinα − t = 0 mit ε = √1 − (b/a)2,wobei ε diesmal die numerische Exzentrizität der Ellipse ist. Besser kommtman mit dem Drehimpulserhaltungssatz zurecht, aus dem die KeplerschenGesetze zwangläufig folgen.Man bekommt differentialgeometrisch die Bahnkurve mit ihren physikali-schen Eigenschaften aus der Kenntnis der Anfangsgeschwindigkeit und derzugehörigen Bewegungsrichtung. Der Drehimpuls wird bezüglich jener Achsedurch die Sonne berechnet, welche auf die Bahnebene der Erde rechtwinkligsteht.Die Erde bewegt sich nach dem Drehimpulserhaltungssatz auf einer ellipti-schen Umlaufbahn um die Sonne (erstes Keplersches Gesetz). Die numeri-sche Exzentrizität der Bahnellipse ist recht klein (ε=0,017). Nach demselbenPrinzip muss die Erde dabei ständig ihre Bahngeschwindigkeit bzw. Win-kelgeschwindigkeit um die Sonne ändern. Bei Verkleinerung des Abstandszur Sonne nimmt die Winkelgeschwindigkeit quadratisch mit dem Verkleine-rungsfaktor zu (zweites Keplersches Gesetz: Gleiche Zeiten – gleiche Flächen).

11.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für die mittlere Zeit 395

1. Die „physikalische“ KomponenteWährend sich die Erde ungleichförmig um die Sonne bewegt, dreht sie sichmit konstanter Winkelgeschwindigkeit um die eigene Achse. Deshalb gibt esjeden Tag gibt eine kleine Abweichung, bis die Sonne wieder im Süden steht.Diese liefert einen ersten Beitrag zur Zeitgleichung – der täglichen Differenz„wahre minus mittlere Ortszeit“.

2. Die „geometrische“ Komponente :Die Zeitgleichung hat aber noch eine erheblichere Komponente, die durch dieNeigung der Erdachse zustande kommt. Die Drehung um die Sonne und dieEigendrehung haben windschiefe Drehachsen. Beide Drehungen kann mansich also nicht in einer gemeinsamen Ebene vorstellen! Ein kreisrundes äqua-torparalleles Zifferblatt mit einer regelmäßigen Stundenteilung bildet sich beiNormalprojektion auf die Bahnebene der Erde leicht elliptisch verzerrt ab.Der Zeigerschatten auf dem Zifferblatt der Uhr kreist also in dieser Normal-projektion nicht mit konstanter Winkelgeschwindigkeit!Nehmen wir der Einfachheit halber an, die Erde drehe sich mit konstanterWinkelgeschwindigkeit von 1° pro Tag um die Sonne. Dann müsste jedenTag auf der elliptisch verzerrten Stundenskala ein Winkel von 1° nachgeholtwerden, um dieselbe Relativposition der Sonne zu erreichen. Der Umlauf desSchattens auf der kreisförmigen Uhr wäre dann nicht gleichförmig!

3. „Äquinoktiallinie“ und BahnellipseZu den beiden Äquinoktien (Tag-Nacht-Gleichen) geht die Eigenschatten-grenze der Erde durch die beiden Pole. Die Sonnenstrahlen treffen die Erdach-se im rechten Winkel. Die Verbindungsgerade der beiden entsprechendenStellen der Erdbahn, die Äquinoktiallinie, schließt einen Winkel mit derHauptachse der Bahnellipse ein, der sich zufolge der Präzessionsbewegungund der Periheldrehung (Drehung der Ellipsenscheitel) langsam ändert, in-nerhalb Menschengedenkens aber kaum. Der Winkel beeinflusst ebenfalls dieWerte der Zeitgleichung, wenn auch nicht gravierend.

Abb. 11.43 Die Achterschleife der Zeitgleichung

In Abb. 11.43 wurde für die Daten der Erde die Zeitgleichung berechnet.Jeder Position der Sonne zum mittleren Mittag entspricht ein Punkt der

396 11 Bewegung im Raum

Achterschleife. Beträgt der Winkel zwischen der Äquinoktiallinie und derHauptachse der Bahnellipse 90°, ist die Achterschleife axial symmetrisch.Abb. 11.43 zeigt auch die Eigenschattengrenzen der Erde.

Abb. 11.44 Achterschleifen auf der Himmelskugel

Abb. 11.44 zeigt ein Bild der Himmelskugel, auf welche die Gestirne projiziertgedacht werden. Eingetragen sind die Ebene des Horizonts für 48° nördlicherBreite (Wien), der Zenit Z, die Himmelsachse, die Ebene des Ortsmeridians,der Himmelsäquator (Doppellinie) und die beiden Wendekreise. Weiters sinddie achterförmigen sphärischen Kurven für die vollen Stunden mittlerer Orts-zeit zu sehen. Sie entstehen durch Drehung der Stundenlinie für den mittlerenMittag um Vielfache von 15°.Bemerkung : Die Computersimulation erlaubt für jeden denkbaren Ort ei-nes Planetenystems und beliebige numerische Exzentrizitäten und Achsen-neigungen Zeitgleichungen zu berechnen. Es ergeben sich die verschiedens-ten Schleifenformen, die auch symmetrisch sein können und nicht notwendigeinen Doppelpunkt besitzen.

Die Bernhardt-Uhr

Abb. 11.45 Die Entstehung des krummen Zeigers

Betrachtet man alle jene 365 Sonnenstrahlen, die einen festen Punkt der Erde imLaufe eines Jahres täglich zum mittleren Mittag treffen, dann liegen diese auf ei-nem Kegel, der auf der Himmelskugel besagte Achterschleife der Zeitgleichung alsLeitkurve hat („Achterkegel“).

11.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für die mittlere Zeit 397

Betrachten wir nun einen Kreis in einer äquatorparallelen Ebene (Abb. 11.45). SeineAchse geht durch den Himmelspol. Wir markieren nun 24 Punkte auf dem Kreis imAbstand von je 15° und beschriften die Punkte mit 0, 1, . . . , 23, 24=0. Durch denPunkt 12 werden zunächst Strahlen zur Achterschleife auf der Himmelskugel für denmittleren Mittag gelegt. Damit dieser Kegel nicht von der Kreisachse geschnittenwird, wird der Punkt 12 aus der tiefsten Lage etwas gegen Osten gedreht (dieRichtungen zur Achterschleife bleiben dabei erhalten).Im Lauf des Tages dreht sich ein Lichtstrahl, der dem Achterkegel durch 12 ange-hört, gleichmäßig um die Kreisachse und hüllt dabei i. Allg. ein Drehhyperboloid ein(Rolf Wieland : Äquatoriale Sonnenuhren mit automatischem Zeitausgleich. Rund-schr. 26 und 27 d. Arbeitsgr. Sonnenuhren im Österr. Astron. Verein 2003/04). Dievom rotierenden Achterkegel (oder aber auch von allen Hyperboloiden) eingehüllteDrehfläche kann dann als krummflächiger Zeiger einer Sonnenuhr für die mittlereZeit dienen. Die Drehfläche ist Brennfläche jener Strahlkongruenz, die von allenden Kreis treffenden Lichtstrahlen gebildet wird. Der Kreis selbst ist Brennlinie derKongruenz.Alle Lichtstrahlen, die genau zum mittleren Mittag den krummen Zeiger berührenund den Kreis treffen, gehen nach Konstruktion durch den Punkt 12. Die Zeitglei-chung ist damit berücksichtigt. Damit statt der Ortszeit eine Zonenzeit auf der Son-nenuhr abgelesen werden kann, wird die kreisförmige Stundenskala um den Winkelgedreht, um den sich die geografischen Längen des Standorts und des Zonenmeridi-ans unterscheiden.Die beschriebene Idee stammt von Oliver (1892) und wurde von Bernhardt um1964 verbessert. Das Problem, dass die auftretende Hülldrehfläche aus zwei Mäntelnbesteht, weil sie von einem Achterkegel erzeugt wird, wird an dieser Uhr mit zweiverschiedenen Drehflächen gelöst, die zu den Sonnenwenden gewechselt werden. Dieeine Fläche dient das eine Halbjahr, die zweite das andere Halbjahr als Zeiger.Kritisch sind die Randbereiche der Drehflächen zu den Sonnenwenden, weil dieeinhüllenden Hyperboloide einander überdecken. Um die Sonnenwenden ist die Zeitnicht minutengenau abzulesen.

Abb. 11.46 Riegler-Uhr. . .

Riegler hat die Idee von Oliver (Bernhardt) variiert, indem er beide Mäntel derDrehfläche fest mit der Platte der beiden Zifferblätter verbindet (Abb. 11.46 links).Der äußere Mantel ist als Gitter ausgebildet, der innere als geschlossene Fläche. Jenachdem, in welchem Halbjahr man abliest (jedes Halbjahr geht von Sonnenwendezu Sonnenwende), wird man den Schatten des Innenteils bzw. Außenteils der Flächezur Zeitbestimmung heranziehen (Abb. 11.46 rechts). Überdies zeigt der Schattender Zifferblattscheibe auf dem Gitter des äußeren Mantels das jeweilige Datum an.

398 11 Bewegung im Raum

Zykloidenuhr für die mittlere ZeitÜber Internet erreichte uns aus den U.S.A. die Frage, ob es einen Sonnenuhrzeigergibt, dessen Schatten auf einem zur Himmelsachse parallelen ebenen Zifferblatt mitgeraden Stundenlinien die mittlere Zeit anzeigt. Werden auf einer solchen EbeneDatumslinien und achterförmige Stundenlinien eingetragen, so können mittlere Zei-ten etwa mithilfe einer Lochblende abgelesen werden. Das war aber nicht im Sinndes Fragestellers.Eine schöne Sonnenuhr zur Anzeige der wahren Zeit beschreibt Fred Sawyer (TheCycloid Polar Sundial. Compendium, North American Sundial Society, Volume 5,No. 4, pp. 21-24, 1998): Rollt in einer Ebene ein Kreis auf einer Geraden, so hülltein Durchmesser des Kreises eine gemeine Zykloide ein (Abb. 11.47).Ein Zylinder mit zur Himmelsachse parallelen Erzeugenden, die einen Bogen einergemeinen Zykloide in einer äquatorparallelen Ebene treffen, kann daher als Zei-ger für die wahre Zeit dienen, wenn die Stundenskala auf der Scheiteltangente desZykloidenbogens liegt.

Abb. 11.47 Durchmesser. . . Abb. 11.48 . . . von Zykloiden und die Konsequenzen

Die Uhr kann so aufgestellt werden, dass die Scheiteltangente von Osten nach Wes-ten gerichtet ist. Die wahre Ortszeit von 6 Uhr bis 12 Uhr ist dann auf einer Halbtan-gente, die von 12 Uhr bis 6 Uhr abends auf der anderen abzulesen (Abb. 11.48). DieStundenpunkte sind von Stunde zu Stunde in gleichen Abständen voneinander ange-ordnet. So kann die Sonnenuhr durch eine einfache Verschiebung der Stundenskalaauf ihrer Trägergeraden für die wahre Ortszeit eines Zonenmeridians eingerichtetwerden.

Abb. 11.49 Entstehung und Aussehen. . . Abb. 11.50 . . . nach Hofmann

Nun wird einer der beiden Sonnenstrahlenkegel, wie sie für die Bernhardt-Uhr be-trachtet wurden, wie folgt geführt: Seine Spitze wird entlang der Stundenskala derZykloidenuhr bewegt, seine Erzeugenden für die Zeitgleichung Null berühren denMantel des Zykloidenzylinders, und der Strahl der Tag-Nacht-Gleiche behält dieDeklination 0°.

11.4 Über minutengenaue Sonnenuhren für die mittlere Zeit 399

Es ergibt sich eine Hüllfläche (Abb. 11.49, Abb. 11.50), die als Zeiger für die mittlereZeit verwendet werden kann. Selbstschnitte treten sowohl in den Bereichen um dieSonnenwenden als auch in der Nähe der Zykloidenspitzen auf. Gute Anzeigen sindab 7 Uhr und bis 17 Uhr mittlerer Ortszeit zu erwarten. Der dazwischen liegendeBereich des Zeigers braucht nicht für eine Anzeige ausgebildet zu werden. Hierkönnen Zeiger und Zifferblatt miteinander verbunden werden.Verschiebungen der Stundenskala ermöglichen ein Ablesen von Zonenzeiten, insbe-sondere der Sommerzeit. Wie bei der Bernhardt-Uhr gibt es zwei Zeigerflächen, diejeweils zu den Sonnenwenden zu tauschen sind.Die Berechnung dieser Sonnenuhr erfolgte mittels der Software Open Geometry. Inregelmäßigen Intervallen wurden die Charakteristiken der Fläche berechnet, indemzwei benachbarte Achterkegel – etwa im Abstand von einer Minute – geschnittenwurden. Damit war die Fläche durch eine Schar von Charakteristiken festgelegt. DieVerbindungsfläche von je zwei benachbarten Charakteristiken wurde interpoliert.Die Sonnenuhr ist optisch beeindruckend, ihr Bauplan kann aber nur als Antwortauf die eingangs gestellte Frage angesehen werden. Eine Herstellung wäre sehr teuer,mittlere Zeiten werden auf anderen Sonnenuhren besser angezeigt.

Die Pilkington-Gibbs-UhrEinen anderen Ansatz eines minutengenauen Heliochronometers verfolgten 1906Pilkington und Gibbs, Gibbs als Erfinder, Pilkington als Hersteller. Sie statteteneine schwenkbare Kreisscheibe so aus, dass sie in Gegenden außerhalb der durch dieWendekreise begrenzten Rossbreiten nach dem Einnorden sofort äquatorparallelgedreht werden kann (Abb. 11.51). In Äquatornähe muss die Trägerhalbkugel aneiner Schrägen angebracht werden.Die Kreisscheibe C (grau), die als Zifferblatt einer 24-Stunden-Uhr fungiert, ist insich verdrehbar (Abb. 11.52). An ihr ist ein Aufsatz A mit einem (roten) Ablese-strich fix montiert. Ein zweiter Aufsatz B (gelb) ist beweglich montiert: Er kanneingeschränkt auf einem Kreisbogen (realisiert durch eine Schlitzführung in derScheibe) bewegt werden, dessen Mitte die Normalprojektion des Ablesestrichs Aauf die Kreisscheibe ist (vgl. Explosionszeichnung Abb. 11.53 sowie Abb. 11.54).Durch zwei kleine Bohrungen im Aufsatz B können Lichtstrahlen den Ablesestrichtreffen. Die Aufsätze sind so dimensioniert, dass zu jeder Jahreszeit zumindest durcheine der beiden Bohrungen Licht auf den Ablesestrich fallen kann.

Abb. 11.51 Anpassen der geografischen Breite. . .

Die Uhr wird auf ihrem Standort eingenordet und seiner geografischen Breite ϕ

angepasst. Nun lautet die sehr einfache Bedienungsanleitung wie folgt: Man stelle

400 11 Bewegung im Raum

Abb. 11.52 . . . und der Uhrzeit

zunächst mit einem kleinen (grünen) Rad D das aktuelle Datum ein (Abb. 11.52Mitte, z.B. 4. Nov.) und verdrehe dann die Kreisscheibe, bis einer der Lichtstrahlenden Ablesestrich trifft (Abb. 11.52 rechts). Jetzt kann auf der Stundenskala dieexakte Zeit abgelesen werden (im konkreten Fall 09:44 – ohne Zeitgleichung wärees 10:00).Lägen die beiden Aufsätze immer genau diametral, dann bliebe die Zeitgleichungunberücksichtigt. Hat man die Kreisscheibe so weit gedreht, dass das einfallendeLicht den Ablesestrich trifft, dann könnte man die Zeit schon einigermaßen genauablesen: Jeder Stunde Abweichung vom wahren Mittag entspricht eine Verdrehungder Scheibe um 15°.Um nun die Zeitgleichung einzubeziehen, muss Aufsatz B mit den beiden Löchern –abhängig vom Datum – zusätzlich geringfügig verdreht werden. Das geschieht – undgeschah im obigen Beispiel – mithilfe einer exzentrischen Drehscheibe im Innerender Halbkugel. Die beiden Aufsätze sind durch eine Stange (Gerade) miteinanderverbunden. Die Stange wird von einer Feder an die exzentrische Scheibe gedrückt.Verdreht man diese Scheibe, dann presst sie die Stange in die eine oder andereRichtung (Abb. 11.54).

Abb. 11.53 Explosionszeichnung Abb. 11.54 Das exzentrische Datumsrad

Die Dimensionierung der Scheibe muss so vorgenommen werden, dass der Verdre-hungswinkel und die erforderliche Position mit dem zugehörigen Datum überein-stimmen. Dies geschah früher nach Tabellen, heute kann man die Scheibe mit demComputer berechnen (Abb. 11.54). Das Profil ergibt sich bei unendlich dünner Stan-ge als Einhüllende einer Geradenschar, das tatsächliche Profil ist eine Parallelkurvedazu.

12 Die Vielfalt der Füllmuster

Parkettierungen sind lückenlo-se und überlappungsfreie Bede-ckungen der Ebene mit entspre-chend geformten Platten oder Ka-cheln. Die einfachsten Formensind Dreiecke und Vierecke. Die-se können regelmäßig oder unre-gelmäßig sein. Doch bereits beimFünfeck gibt es Probleme, dennmit einem regelmäßigen Fünfecklässt sich die Ebene nicht mehrlückenlos überdecken.

Das liegt daran, dass eine Grundbedingung verletzt ist: jedem Scheitelpunkttreffen k viele n-Ecke zusammen, das heißt, die Winkelsumme im n-Eck istn ⋅ 360○/k. Andererseits hat jedes n-Eck eine Winkelsumme von (n− 2) ⋅ 180○(Beweis induktiv durch Zerlegung des n-Ecks in Dreiecke). Gleichsetzen er-gibt die Bedingung 1/n + 1/k = 1/2.Für das regelmäßige Fünfeck ist das nicht möglich, da es keine natürlicheZahl k gibt, so dass diese Bedingung erfüllt ist. Dennoch gibt es viele Mög-lichkeiten, die Ebene mit unregelmäßigen Fünfecken zu überdecken.Das regelmäßige Sechseck erlaubt wieder eine Parkettierung, wie man beimBienenwabenmuster sehen kann. Doch damit hat man schon alle regelmäßi-gen n-Ecke erfasst, mit denen Parkettierungen gelingen.Es gibt Parkettierungen mit nur einer Grundform (einsteinig oder monohe-dral) oder solche mit mehreren verschiedenen Grundformen (n-steinig odern-hedral). Doch die wichtigste Unterscheidung ist die, ob eine Parkettierungperiodisch oder nicht-periodisch ist. Periodisch nennt man eine Überdeckunggenau dann, wenn es eine Translation der Ebene gibt, die das Muster in sichüberführt.

Überblick12.1 Periodische Parkettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

12.2 Nicht-periodische Parkettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

12.3 Nichteuklidische Parkettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

402 12 Die Vielfalt der Füllmuster

12.1 Periodische Parkettierungen

Regelmäßige n-Ecke als Grundbausteine

Jeder von uns kennt das Bienenwabenmuster (Abb. 12.1), das auf regelmäßi-gen Sechsecken aufbaut. Da jedes solche Sechseck in kongruente gleichseitigeDreiecke zerlegt werden kann, funktioniert die Parkettierung auch mit gleich-seitigen Dreiecken.

Abb. 12.1 Klassische Parkettierung mit Sechsecken (Wespen und Bienen)

Trivialerweise kann man auch mit regelmäßigen Vierecken (also Quadraten)den Boden pflastern. Andere Parkettierungen mit regelmäßigen n-Ecken sindallerdings nicht möglich. Die Natur zeigt sich in so einem Fall – wie so oft –großzügig und pragmatisch (Abb. 12.2). Im linken Bild erscheinen die läng-lichen Platten auf der Unterseite des Halses der Klapperschlange stark ver-kürzt und fallen beim ebenen Parkett im Foto kaum aus dem Rahmen.

Abb. 12.2 Links: Zumindest auf der Oberseite liegt eine Parkettierung mit Sechsecken vor. Rechts:Auf der Unterseite erkennt man „Modifikationen“.

Von solchen Bildern inspiriert kann man natürlich gleich auf die Idee kom-men, Parkette als Projektionen von Raumgebilden zu sehen. Als Folge derSoftware-Entwicklung für Geomag (http://en.wikipedia.org/wiki/Geomag)lassen sich interaktiv – basierend auf magnetischer Abstoßung – Gebilde er-zeugen, die z.B. sehr wohl aus regelmäßigen Fünfecken bestehen, aber mitun-

12.1 Periodische Parkettierungen 403

ter „rautenförmig“ auseinander klaffen – sonst wäre das Ergebnis zwangsläufigimmer ein Pentagondodekaeder (Abb. 12.3).

Abb. 12.3 Links und rechts: Wir erstellen ebene „halbregelmäßige“ Gebilde, die im Wesentlichenaus regelmäßigen Fünfecken bestehen, aber teilweise auseinander klaffen. Mitte: Durch „Verbie-gung“ ergeben sich dadurch Parkettierungen von Oberflächen. Die linke – nicht symmetrische –Parkettierung von Franz Gruber scheint unbekannt zu sein, die rechte stammt von niemand Ge-ringerem als Albrecht Dürer.

● Von der Haihaut zu strömungsangepasster ArchitekturDie Anordnung von Facetten bei Fisch- und Reptilienhäuten hat für die Tieredurchaus praktische Bedeutung. Untersuchungen der Haihaut haben gezeigt,dass das Wasser beim Überstreichen der Haut kleine Wirbel erzeugt, die inSumme eine außergewöhnliche Windschlüpfrigkeit erzeugen.

Abb. 12.4 Analyse und architektonische Umsetzung der Parkettierung einer Haihaut. Die Wir-belbildung wird bewusst zur Ventilation eingesetzt.

Im Studio Hadid kamen Mario Gasser, Peter Schamberger und SebastianGallnbrunner auf die Idee, diese Erkenntnisse auch architektonisch zu nutzen(Österr. BauPreis 2005). ◾

● Parkettierung mit Gemälden

Eine interessante „zweieinhalb-dimensionale“ Parkettierung mit Quadraten stammtvon R. Lettner: Er interpretiert quadratische Gemälde als Funktionsgraphen und er-richtet so nicht nur künstliche, sondern sogar „künstlerische Landschaften“ (Abb. 12.5).Durch die Farbe erhält das Parkett tatsächlich eine zusätzliche Dimension. JedemPunkt der Ebene ist ein Farbwert (Rot-Grün-Blau) zugeordnet, der irgendwie in eineHöhenkote umgerechnet werden kann. Durch geschicktes Einfärben des zugehörigen

404 12 Die Vielfalt der Füllmuster

Abb. 12.5 Parkettierung mit Quadraten

Raumpunkts kann man interessante – zunächst oft gar nicht beabsichtigte – Effekteerreichen. ◾

● Abwandlung der Seiten des GrundbausteinsSo trivial das Parkettieren mit Quadraten oder Rechtecken zunächst erschei-nen mag, lässt es sich doch durch Veränderung der Randkurven abwandeln.Abb. 12.7 zeigt, wie beim florentinischen Muster die Seiten der Quadratedurch bezüglich des Mittelpunkts der Quadratseite zentrisch ähnliche Lini-enzüge ersetzt werden. ◾

Abb. 12.6 Einfache Parkettierungen Abb. 12.7 Parkettierung mit Quadraten

Unregelmäßige Polygone als GrundbausteineMit jedem Dreieck kann die Ebene parkettiert werden: Ist ein beliebigesDreieck gegeben, so entsteht durch Spiegelung an einem Seitenmittelpunktein Parallelogramm. Aus solchen Parallelogrammen können Streifen gebildetwerden. Die Streifen nebeneinander gelegt füllen die Ebene aus.

Parkettierung mit einem beliebigen n-EckMan spiegle ein beliebiges Viereck an einer Seitenmitte und stelle abwech-selnd Viereck und Spiegelviereck nebeneinander (Abb. 12.6). Es entsteht einStreifen. Mehrere solche Streifen lassen sich nahtlos nebeneinander anordnen(am besten einsehbar durch farbige Kennzeichnung der Innenwinkel des Vier-ecks). Die Methode funktioniert auch für nicht-konvexe Vierecke (Abb. 12.6links unten).

12.1 Periodische Parkettierungen 405

Abb. 12.8 Nicht triviale Parkettierungen mit Rhomben, Rechtecken und Parallelogrammen

Abb. 12.9 Rautenmuster mit 3D-Effekt (vgl. Abb. 2.16)

Spezialfall: Raute aus zwei gleichseitigen Dreiecken. Aus ihr entstehen schöneMuster, die wie gestapelte Würfel aussehen können (z.B. in der Basilica diSanta Prassede in Rom).● Parkettierung mit einem beliebigen Fünfeck

Abb. 12.10 Parkettierung mit konvexen. . . Abb. 12.11 . . . und nichtkonvexen Fünfecken

Bis heute sind 14 Typen konvexer Fünfecke bekannt, die die Ebene parkettie-ren. Sie wurden im Zeitraum 1918 bis 1985 gefunden. Es ist nicht bewiesen,ob damit alle Varianten mit einem konvexen Fünfeck erfasst sind.Eine andere Art der Klassifizierung unregelmäßiger Fünfecke, die eine Parket-tierung zulassen, lässt die Seitenlänge konstant (konvexe und konkave Fünf-ecke). Abb. 12.11 zeigt eine von W. Jank stammende Anleitungsvorschriftzum Verpacken von Schischuhen im Kofferraum.● Parkettierung mit beliebigem SechseckBis heute sind drei Typen von unregelmäßigen konvexen Sechsecken bekannt,die eine Parkettierung zulassen. Abb. 12.15 zeigt eine Pflasterungsvorschrift,die zu unregelmäßigen konvexen Sechsecken führt.

SymmetriegruppenKonvexe n-Ecke mit n ≥ 7 sind für eine Parkettierung mit einer Grundformnicht möglich (ein Beweis findet sich in Istvan Reimann: Parkette, geome-

406 12 Die Vielfalt der Füllmuster

Abb. 12.12 Nicht mehr trivial und doch einfach Abb. 12.13 Quadrat und Zwölfeck als Basis

Abb. 12.14 Sophie’s Parkettierung Abb. 12.15 Unregelmäßige Sechsecke

trisch betrachtet, in „Mathematisches Mosaik“, Köln 1977).

Monohedrale Parkettierungen lassen sich auch topologisch klassifizieren: Beimerzeugenden Polygon werden für alle Eckpunkte die anliegenden Kanten ge-zählt. Das ergäbe z.B. beim Schachbrettmuster die Zahlenfolge (4,4,4,4). Esergeben sich 11 topologische Klassen, die sogenannten Laves-Parkette (F.Laves, 1931).Wenn man monohedrale Parkettierungen nach ihren Symmetrieeigenschaftenklassifiziert, erhält man 17 Symmetrieklassen. Die Bewegungen (Transforma-tionen) der Ebene bilden die sogenannte Euklidische Gruppe. Sie besteht ausden Elementen Identität, Drehung um einen Punkt, Verschiebung, Spiegelungan einer Achse, Gleitspiegelung an einer Achse (= Spiegelung + Verschiebungparallel zur Spiegelungsachse). Einer gegebenen monohedralen Parkettierungkann man ihre Symmetriegruppe S zuordnen, das heißt, jene Transformatio-nen der Ebene, die das Muster invariant lassen (S soll dabei Verschiebungenverschieden von der Identität in mindestens zwei verschiedene Richtungenenthalten). Alle monohedralen Muster fallen auf diese Weise in 17 verschie-dene Symmetriegruppen hinein!

Periodische Parkettierungen mit mehreren Grundformen

Abb. 12.16 Archimedische Parkettierung

12.2 Nicht-periodische Parkettierungen 407

Sind alle verwendeten Grundformen regelmäßig, so spricht man von einersemiregulären oder archimedischen Parkettierung . Davon gibt es genau achtverschiedene: Quadrat und gleichseitiges Dreieck (zwei Varianten), Quadratund regelmäßiges Achteck, regelmäßiges Sechseck und gleichseitiges Drei-eck (zwei Varianten), regelmäßiges Sechseck und gleichseitiges Dreieck undQuadrat (Abb. 12.16), regelmäßiges Zwölfeck und Quadrat und regelmäßigesSechseck sowie regelmäßiges Zwölfeck und gleichseitiges Dreieck.

Abb. 12.17 Parkettierung beim Fichtenzapfen bzw. Korallenfisch

Abb. 12.18 Parkettierung krummer Flächen im Tierreich (I)

Abb. 12.19 Parkettierung krummer Flächen im Tierreich (II)

Es gibt Parkettierungen mit verschiedenen konvexen 7-Ecken (Steinhaus 1999,p. 77; Gardner 1984, pp. 248-249).

408 12 Die Vielfalt der Füllmuster

Abb. 12.20 Parkettierung krummer Flächen im Tierreich (III)

Abb. 12.21 Parkettierung von Früchten (Philodendron) und Rinden

12.2 Nicht-periodische Parkettierungen

Es werden zwei Arten nicht-periodischer Parkettierungen unterschieden: Ape-riodische Parkettierungen, bei denen die Grundformen sich sowohl für peri-odische als auch für nicht-periodische Parkettierungen eignen, und quasiperi-odische Parkettierungen, deren Grundformen sich (unter Beachtung gewisserRegeln) ausschließlich für nicht-periodische Parkettierungen eignen.

Selbstähnliche aperiodische ParkettierungenWenn sich mehrere Exemplare einer Grundform so zusammenfügen lassen,dass eine vergrößerte Version ihrer selbst entsteht, spricht man von Inflation.Umgekehrt lässt sich dann die größere Form in kleinere gleich aussehendeFormen zerlegen, was man Deflation nennt. Das Muster wiederholt sich dannauf verschiedenen Größenskalen, was man als Selbstähnlichkeit oder Skalen-invarianz bezeichnet.Beispiele dafür sind das chair tiling (Abb. 12.22) oder das Sphinx-Muster(Abb. 12.23). Aus einer einzigen Ausgangsfigur wird das Muster durch fort-gesetzte Deflation aufgebaut. Der Grund für die Aperiodizität des Sphinx-Musters liegt darin, dass die große Form aus gespiegelten und ungespiegeltenkleinen Formen zusammengesetzt wird.

Zentrale aperiodische ParkettierungenGewisse Grundfiguren lassen sich radial oder spiralförmig um ein Zentrumherum anordnen. Die resultierende Parkettierung ist nicht-periodisch. Eineinfaches Beispiel ist ein gleichschenkliges Dreieck mit einem Winkel von 30○

an der Spitze. Dieses wird 12 Mal mit seiner Spitze um ein Zentrum gelegt undlässt sich radial weiterbauen. Schneidet man dieses Muster in zwei Hälften

12.2 Nicht-periodische Parkettierungen 409

Abb. 12.22 Chair tiling

Abb. 12.23 Sphinx-Muster

und verschiebt diese um einen oder mehrere Schritte, so entsteht dadurch einespiralig angeordnete aperiodische Parkettierung aus gleichschenkligen Drei-ecken. Die Schenkel des Dreiecks lassen sich durch kongruente Polygonzügeersetzen. Dadurch erhält man unendlich viele zentrale Parkettierungen.

Quasiperiodische ParkettierungenJede periodische Parkettierung besitzt immer eine Basis aus endlich vielenGrundelementen, aus denen sie sich aufbauen lässt. Haben quasiperiodischeParkettierungen auch eine Basis?Es wurde 1966 bewiesen (Robert Berger), dass es endliche Mengen vonGrundelementen gibt, welche die euklidische Ebene nur nicht-periodisch par-kettieren können. Berger machte sich also auf die Suche und fand zunächsteine Erzeugendenmenge von 20426 Elementen für eine quasiperiodische Par-kettierung. Diese Zahl wurde in den folgenden Jahren deutlich nach untengedrückt, und schließlich fand Roger Penrose 1973 eine quasiperiodische Par-kettierung, die von nur zwei Elementen erzeugt wird.Eines dieser Erzeugendenpaare ist wegen seiner besonderen Formschönheitals Drachen und Pfeil bekannt geworden. Ein anderes Erzeugendenpaar sindzwei Rhomben mit gleichen Seitenlängen. Der dünne Rhombus hat Innen-

410 12 Die Vielfalt der Füllmuster

winkel 36○ und 144○, der dicke Rhombus Innenwinkel 72○ und 108○. Parket-tierungen solcher Art nennt man Penrose-Muster.

Abb. 12.24 Penrose-Muster

Das Geheimnis der Penrose-Erzeugendenpaare liegt im Goldenen Schnitt.Drachen und Pfeil werden erzeugt aus einem Rhombus mit den Winkeln 72○

und 108○, indem die Hauptdiagonale im Verhältnis Φ ∶ 1, Φ ∶= (1 + √5)/2,geteilt wird und der Teilungspunkt mit den stumpfen Ecken verbunden wird.Alle Seiten von Drachen und Pfeil haben dann die Länge Φ oder 1. Wennman entsprechende Kanten der beiden Formen durch je zwei Kreisbögen mitden Radien 1/Φ (orange) und 1 (gelb) beim Drachen und den Radien 1/Φ(gelb) und 1/Φ2 (orange) beim Pfeil verbindet (Abb. 12.25), so muss folgendeRegel beim Bau einer quasiperiodischen Parkettierung eingehalten werden:aneinander grenzende Kanten müssen Kreisbögen derselben Farbe verbinden.

Abb. 12.25 Inflationsdrachen

Penrose-Muster können auch durch Deflation bzw. Inflation erzeugt werden(Abb. 12.24, Abb. 12.25, Abb. 12.26): Ein Drachen deflatiert zu zwei kleinenDrachen und einem kleinen Pfeil: 1D → 2D+1P . Ein Pfeil deflatiert zu einemkleinen Drachen und einem kleinen Pfeil: 1P → 1D + 1P . (Die Umkehrungder beiden Zuordnungen ist die Inflation). In Matrixschreibweise:

( D

P) →M ∗ ( D

P), wobei M = ( 2,1

1,1)

Es ist dann Mn = ( f2n+1, f2nf2n, f2n−1

), wobei fn die n-te Fibonaccizahl ist.

Startet man nun mit einem Drachen und deflatiert diesen n Mal, also

( 1

0) →Mn ⋅ ( 1

0) = (f2n+1, f2n), so konvergiert das Verhältnis der Anzahl

Drachen zur Anzahl Pfeile gegen Φ. Dieses Verhältnis ist also bei totaler

12.2 Nicht-periodische Parkettierungen 411

Überdeckung der Ebene irrational. Für periodische Muster ist das unmög-lich, woraus die Quasiperiodizität der Penrose-Muster folgt.

Abb. 12.26 Inflationsrhomben

Es lässt sich zeigen, dass es überabzählbar viele aus Drachen und Pfeil er-zeugte Penrose-Muster gibt! Das gilt für alle Penrose-Muster. Dennoch habensie folgende bizarre Eigenschaft: Alle Muster sind lokal isomorph: jede Um-gebung eines Musters ist in jedem anderen Muster irgendwo enthalten, undzwar unendlich oft!Wie weit sind nun die Kopien einer endlichen Umgebung eines Penrose-Musters voneinander entfernt? Auch dazu gibt es ein überraschendes Er-gebnis: nimmt man eine kreisförmige Umgebung mit dem Durchmesser d,dann ist der Abstand vom Rand der Umgebung zur nächsten exakten Kopienie weiter entfernt als d ⋅Φ3/2 ∼ 2,12 ⋅ d.Eine Verbindung zur Physik: Bis 1984 waren nur zwei Zustandsformen fes-ter Materie bekannt: amorphe Festkörper und periodisch geordnete Kristalle.Im selben Jahr wurde aber von Dan Shechtman und Kollegen eine quasipe-riodische Kristallformation in einer Aluminium-Mangan-Legierung entdeckt!Bis heute sind mittlerweile mehrere hundert solcher Legierungen bekannt,so dass sich diese dritte Zustandsform fester Materie unter der BezeichnungQuasikristall etabliert hat. Das oben beschriebene Penrose-Muster kann alsModell für „zweidimensionale“ Quasikristalle verwendet werden, indem mansich den Kristall durch periodisch geschichtete Penrose-Ebenen vorstellt.

Die große Überraschung bei der Shechtman-Entdeckung bestand darin, dassman bis zu diesem Zeitpunkt unter einem Kristall einen Festkörper verstand,der aus einer sich periodisch wiederholenden identischen Einheitszelle aufge-baut ist. Diese Vorstellung erwies sich als zu eng. Nun verlangte man von ei-nem Kristall nicht mehr nur die von der Periodizität herrührende Eigenschafteiner 2-, 3-, 4- oder 6-zähligen Rotationssymmetrie, sondern das Vorhanden-sein eines diskreten Beugungsdiagramms (Röntgenspektrum) mit scharfenReflexen. Dieses kann nun z.B. auch 5-fache Rotationssymmetrie haben, wiesie in den Penrosemustern vorkommt.

412 12 Die Vielfalt der Füllmuster

Es gibt noch viele weitere Parkettierungen, mit denen sich quasiperiodischeStrukturen aufbauen lassen (z.B. Ammann-Grid, Oktagon-Muster, etc.). Mitdiesen Mustern lassen sich reale Festkörper modellieren, so dass man zu ver-stehen sucht, warum die Atome sich gerade in diesen Kristallsymmetriengruppieren, um eine stabile Verbindung einzugehen.

12.3 Nichteuklidische Parkettierungen

Es gibt mehrere Modelle der hyperbolischen Ebene, z.B. die PoincaréscheKreisscheibe und die Poincarésche Halbebene. Wir wählen hier das Modellder Kreisscheibe. Es hat den Vorteil gegenüber anderen Modellen, dass Win-kel in der gewohnten Weise (euklidisch) gemessen werden können. Jedochist die Metrik eine völlig andere: zum Kreisrand hin werden die Abstän-de immer größer. Der Kreisrand selber ist die Menge aller unendlich fernenPunkte (Horizont). Die Scheibe entsteht durch stereografische Projektion desKugelmodells der hyperbolischen Ebene (Abb. 1.55).Axiomatisch unterscheidet sich die hyperbolische Ebene von der euklidischendadurch, dass es zu einer Geraden durch einen Punkt, der nicht auf ihr liegt,unendliche viele Parallelen gibt. Eine andere Charakterisierung ist die Eigen-schaft, dass ein Dreieck eine Winkelsumme von weniger als 180○ hat.Die Geraden (kürzeste Verbindungen zwischen zwei Punkten) sind im Kreis-scheibenmodell Kreise, die den Horizont rechtwinklig schneiden. Kreise se-hen aus wie Kreise, jedoch ist der Kreismittelpunkt i. Allg. nicht in der(euklidischen) Kreismitte. Gleichseitige Polygone (begrenzt durch Orthogo-nalkreisbögen) erscheinen nicht gleichseitig, sondern werden durch Hin-und-Her-Schieben im Poincarékreis verzerrt.

Abb. 12.27 Hyperbolische Parkettierungen von Jos Leys (www.josleys.com/creatures38.htm)

Welche Parkettierungen mit regelmäßigen n-Ecken sind nun möglich?Im Gegensatz zur euklidischen Ebene ist die Winkelsumme eines n-Ecks nichtgleich, sondern kleiner als (n−2) ⋅180○. Ist k die Anzahl der an einem Schei-telpunkt anliegenden n-Ecke, so muss für eine reguläre Parkettierung mitn-Ecken also gelten: n ⋅ 360/k < (n − 2) ⋅ 180 oder 1/n + 1/k < 1/2. Das istfür alle n ≥ 3 mit geeignetem k erfüllt, also gibt es unendliche viele reguläre

12.3 Nichteuklidische Parkettierungen 413

Parkettierungen der hyperbolischen Ebene.Für jedes regelmäßige n-Eck gibt es ein minimales k:(n, kmin) = (3,7), (4,5), (5,4), (6,4), (7,3), (n,3) für alle n > 7.

Abb. 12.28 Hyperbolische Parkettierung mit einem Schwertfisch von Johannes Wallner

Abb. 12.27 und Abb. 12.28 zeigen schöne Parkettierungen der hyperbolischenEbene. Das Motiv in Abb. 12.28 wird durch Bézierkurven definiert.

Wie sieht es auf der Kugel aus?Erinnern wir uns zurück, dass eine Pflasterung der Kugel in gewissen Spezi-alfällen möglich war – im Wesentlichen ging es um die Platonischen Körper,Anwendung S. 114.

● Vom Dodekaeder zu einer originellen und leicht herstellbaren LampeAbb. 12.29 zeigt ein erstaunliches Patent (wahrscheinlich aus dem asiati-schen Raum – leider ist der Patentinhaber nicht bekannt), die sich so einePflasterung zum Vorbild nahm.

Abb. 12.29 Die Parkettierung der Kugel liefert eine ästhetische Lampe.

Um die Sache zu durchschauen, müssen wir abstrahieren. Betrachten wir zu-nächst den regelmäßigen Dodekaeder. Zerteilen wir wie in Abb. 12.30 linksdie Seitenflächen in jeweils fünf gleichseitige Dreiecke. Je zwei über eine Do-

414 12 Die Vielfalt der Füllmuster

dekaederkante verbundene Dreiecke bilden eine „windschiefe Raute“, die sichleicht herstellen lässt. Aus den 5 × 12 = 60 gleichseitigen Dreiecken werdendamit 60/2 = 30 kongruente Rauten. Nun noch eine gehörige Portion Fanta-sie, wie man die Rauten zusammensteckbar macht (Abb. 12.29 Mitte), undschon sind wir fertig.

Abb. 12.30 Vom Dodekaeder zu einer Pflasterung mit Dreiecken und „windschiefen Rauten“. Inweiterer Folge liefert es Patente für einen neuartigen Fußball oder eben eine originelle Lampe. ◾

● Räumliche PuzzlesAuch die Spieleindustrie hat sich bereits geometrische Überlegungen zunutzegemacht und Puzzle-Spiele entwickelt, die Kugeln erzeugen. Im Wesen einesPuzzles liegt, dass sich die Bausteine zwar sehr ähneln, nicht aber kongruentsind. Man nehme eine Triangulierung der Kugel, etwa wie in AnwendungS. 114, fasse zwei Dreiecke zu windschiefen Vierecken zusammen und bauedarauf ein Puzzle auf.

Abb. 12.31 Die Parkettierung der Kugel mit lauter fast kongruenten Puzzlesteinen ist natürlicheine besondere Herausforderung.

Um den Steinchenlegern die Sache zu erleichtern, liefert der Hersteller ein Zylinder-modell des Ergebnisses mit, das abgewickelt aus einem Rechteckstreifen plus Basis-und Deckkreis besteht (in Abb. 12.31 rechts zu erkennen). ◾

13 Die Natur der Geometrie unddie Geometrie der Natur

Das Wortspiel in der Überschriftsoll Anlass dafür sein, einen Zu-sammenhang zwischen Natur undGeometrie herzustellen. Es ist of-fensichtlich und natürlich allge-mein bekannt, dass viele von derGeometrie beschriebenen Flächenoder Körper in der Natur wiederzu finden sind – sowohl im Ma-krokosmos als auch im Mikrokos-mos. Die Frage ist: Ist deswegendie Geometrie von der Natur „ab-geschaut“ oder gab es eine Ent-wicklung der Geometrie, die zu-fällige Parallelitäten mit den Er-gebnissen der Evolution hat?

Die Geometrie hilft uns zu verstehen, warum z.B. die platonischen Körper„nahe liegend“ sind – und dass es, wenn man gewisse Voraussetzungen stellt(z.B. Regelmäßigkeit oder Symmetrie), eigentlich keine anderen Möglichkei-ten gibt. Die Natur fordert Regelmäßigkeit oder Symmetrie meist dann, wennes um Gleichgewicht von Kräften oder optimale Verpackung geht. Die Evo-lution hilft ihr, die optimalen Formen wie von selbst zu finden.Die alten Griechen Plato und Archimedes haben vor mehr als zweitausendJahren sicher nicht gewusst, dass im Molekularbereich „ihre“ Körper eine zen-trale Stellung einnehmen. Pythagoras hingegen hat Musik nach Proportionendefiniert, so dass es kein Wunder ist, dass sich musikalische Regeln beeindru-ckend schön geometrisch darstellen lassen. Hier ist die Frage erlaubt, ob dieMusik, die Pythagoras definiert hat, „natürliche Wurzeln“ hat.

Überblick13.1 Die geometrischen Grundformen in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . 416

13.2 Evolution und Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

13.3 Planetenbahnen und Fischschwärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

13.4 Skalenverhalten in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

13.5 Musikalische Harmonie mit den Augen der Geometrie . . . . . . . . . . 438

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

416 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Stanislaw Ulam [29] bezeichnet die Mathematik als einen in sich abgeschlosse-nen Mikrokosmos, der jedoch die starke Fähigkeit zur Widerspiegelung undModellierung beliebiger Prozesse des Denkens und wahrscheinlich der ge-samten Wissenschaft überhaupt besitzt. Dies trifft wohl auch bis zu einemgewissen Grad auf die Geometrie zu.

13.1 Die geometrischen Grundformen in der Natur

Wir haben es eigentlich schon durchgehend in diesem Buch gesehen: In derNatur finden sich zahlreiche geometrische Grundformen wieder. Manchmalliegen sie erstaunlich klar vor, wie etwa bei den Schneckenhäusern, manchmalsind sie scheinbar ein bisschen „daneben gegangen“. Auch wenn wir natürlichnicht auf alles sofort eine Antwort parat haben: Wir wollen versuchen, derSache auf den Grund zu gehen.

Symmetrie

Abb. 13.1 Fühler eines Schmetterlings, einer Mücke und eines Käfers (alles Männchen)

Symmetrie ist in der Natur ein wesentliches Gestaltungselement. Biologensprechen von bilateraler Symmetrie, wenn die regelmäßige Anordnung derTeile eines Organismus symmetrisch bezüglich einer Mittelebene ist (Abb. 13.1).

Abb. 13.2 Links: Radiale Symmetrie, rechts: Nur vermeintlich radial!

Bei Anordnung entsprechender Teile um eine Achse spricht man von Radi-alsymmetrie (Abb. 13.2). Man kann das Tierreich auf diese Weise sogar in

13.1 Die geometrischen Grundformen in der Natur 417

Radiata (Quallen, Seesterne, Radiolarien, usw.) bzw. Bilateria (alle anderenTierklassen) einteilen.Im Pflanzenreich ist bei den Blüten die Radialsymmetrie (Abb. 13.23) häu-figer als die bilaterale Symmetrie (Abb. 13.3).

Abb. 13.3 Einfache Symmetrie im Pflanzenreich

Abb. 13.4 zeigt, wie eine tropische Radnetzspinne eine bilateral symmetri-sche Pflanze imitiert, um Insekten anzulocken (links: Obersicht, rechts Un-tersicht).

Abb. 13.4 Einfache Symmetrie im Tierreich

Kreise als Abstands- und BahnkurvenWir haben es schon einmal erwähnt: Die natürlichste und einfachste Kurveder Natur ist nicht die Gerade (sie kommt tatsächlich praktisch an Lebewesenkaum vor), sondern der Kreis. Das beginnt schon bei der Ausbreitung vonWellen.Wenn wir ohne Kompass und alte Beduinentricks durch die Wüste marschie-ren, wandern wir im Kreis. Ein Grund dafür ist, dass unsere linke Schritt-länge niemals auf mehrere Kommastellen mit der rechten Schrittlänge über-einstimmt. Ein anderer Grund ist, dass wir nicht in der Lage sind, die Ände-rung des Sonnenstands so einzubeziehen, dass sich keine Fehler einschleichen(Ameisen und Bienen können das, wie man mit interessanten Versuchen be-wiesen hat).

418 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Wenn eine Wespe ein kreisrundes Loch aus einem Blatt (auch dem Schinken-blatt am Frühstückstisch) schneidet (Abb. 13.5), setzt sie ihre Beißwerkzeugein konstantem Winkel an. Exakt formuliert steht das Schneidewerkzeug stetsrechtwinklig zu einem Strahlbüschel durch den Kreismittelpunkt. Der Kreisist nämlich Orthogonaltrajektorie dieses Strahlbüschels.

Abb. 13.5 Das Delikt und die „Übeltäterin“. . .

Die Wespe orientiert sich allerdings nicht an diesem nur theoretisch vor-handenen Geradenbüschel. Sie schneidet in das Blatt wiederholt kurze Stre-cken konstanter Länge ein, die mit der momentanen Fortschreitrichtung einenWinkel von etwas weniger als 90○ bilden, bis sie am Ausgangspunkt anlangt.Dadurch hat sie eigentlich keinen Kreis, sondern ein regelmäßiges Polygonmit vielen Ecken ausgeschnitten, das von einem Kreis kaum noch zu unter-scheiden ist.Sowohl bei der Wüstenwanderung als auch beim Loch-Ausschneiden ent-steht der Kreis aus einer Kombination von Fortbewegung und „Anstellwin-kel“. Kreise sind aber auch Abstandskurven: Alle Punkte haben vom Zentrumgleiche Distanz.

Abb. 13.6 Der „Festungsbau“ einer winzigen Krabbe im Gezeitenbereich

Dementsprechend entstehen wahrscheinlich die wunderbaren ringförmigenBauten der kleinen Strandkrabben (Abb. 13.6), indem das Tierchen den aus-gebaggerten Sand (der seine Nahrung enthält) zu Kügelchen rollt und diese

13.1 Die geometrischen Grundformen in der Natur 419

eine gewisse Anzahl von Schritten vom Zentrum weg bewegt. Ist ein Ringfertig, kommt ein konzentrischer Ring an die Reihe. Die nächste Flut ebnetalles wieder ein. . .Wenn Pflanzen wie etwa die Kreisflechte auf einer Fläche (der Oberfläche ei-nes Steins) wachsen wollen, liegt es nahe, dass sie an der äußeren Begrenzung„zulegen“. Geschieht dies gleichmäßig, entstehen automatisch kreisähnlicheUmrisse (Abb. 13.7).

Abb. 13.7 Lineares Wachstum

Die Geschwindigkeit des Wachstums spielt bei dieser geometrischen Überle-gung keine Rolle. Ob die Flechte einmal ein paar Jahre Pause macht oderkontinuierlich wächst: Der Laie wird’s nicht sofort erkennen. Bei Baumstäm-men wissen wir das Wachstum aber auch zeitlich zu deuten: Der Baum legtimmer neue Schichten um seinen zentralen Stamm (Abb. 13.7). Am Quer-schnitt kann man – aufgrund der Färbung bzw. des Härtegrads – durchauserkennen, dass dieses Wachstum zwar periodisch, aber im Lauf des Jahresnicht gleichmäßig erfolgt. Bei Tropenhölzern sind die Jahresringe nicht sostark ausgeprägt: Das Wachstum erfolgt gleichmäßiger als in den kühlerenBreiten.Obwohl das Dickenwachstum der Bäume einigermaßen linear vor sich geht,spielt dies wiederum für die Form des Querschnitts keine Rolle.

Kugeln und andere konvexe Grundformen

Den Kreisen der Ebene entsprechen die Kugeln im Raum. Wenn es das Trä-germedium erlaubt, breiten sich Wellen oder Impulse immer kugelförmig aus.Auch Objekte der Natur (belebt oder unbelebt) werden zunächst fast immerkugelförmig auseinander streben. Nach einer Wachstumsphase tritt dann al-lerdings meist eine Änderung der Strategie ein. Die Gründe dafür sind viel-fältig. Ein Grund liegt in folgendem Sachverhalt:Die Oberfläche der Kugel nimmt bei Vergrößerung quadratisch mit dem Ku-gelradius zu. Deswegen nehmen z.B. Schallstärke oder Helligkeit mit demQuadrat der Entfernung ab. Das von der Kugeloberfläche umschlossene Vo-lumen nimmt hingegen mit der dritten Potenz des Radius zu. Hat die Kugeldoppelten Ausgangsradius erreicht, hat ihr Volumen (bzw. Gewicht) bereits

420 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

das Achtfache der Ausgangskugel erreicht, ihre Oberfläche hingegen erst dasVierfache.

Minimalpakete bzw. Maximalpakete

Abb. 13.8 Wassertropfen mit Halbkugelform

Die Wassertröpfchen in Abb. 13.8 werden von der Oberflächenspannung desWassers (Kohäsion) zur Kugelbildung gezwungen – entgegen den Regeln derSchwerkraft. Damit ein solches Kügelchen aber nicht am Blatt abrollt, musses eine möglichst große Berührungsfläche mit dem Blatt geben – im Idealfalleinen Großkreis der Kugel. Dort kann die Adhäsion die treibende Kompo-nente der Schwerkraft ausgleichen.Dieses subtile Gleichgewicht funktioniert nach dem oben Gesagten nur biszu einer gewissen Größe. Irgendwann sind entweder die Kohäsion oder dieAdhäsion zu klein, um mit der zunehmenden Masse „fertig zu werden“.

Möglichst viel Nahrung für die Kleinen. . .

Abb. 13.9 Ovale Insekteneier (eiförmige Drehellipsoide)

Die Geometrie von Insekteneiern oder Vogeleiern erscheint in einem inter-essanten geometrischen Licht. Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Vogeleier sind– wie wir alle vom Frühstücksei wissen – weder kugelförmig noch Ellipsoide.

13.1 Die geometrischen Grundformen in der Natur 421

Wahrscheinlich sind auch die Insekteneier in Abb. 13.9 nicht hundertprozen-tig perfekte geometrische Flächen, aber rein optisch kommen sie Kugeln undDrehellipsoiden sicher näher.

Abb. 13.10 Ameisen lieben ihre Blattläuse

Der „süße“ Marienkäfer in Abb. 13.9 links hat interessanterweise auch fast die Ge-stalt eines halben Ellipsoids. Der Grund dafür liegt allerdings darin, dass ihn dieseForm optimal vor erzürnten Ameisen schützt – diese verteidigen „ihre“ Blattlaus-herden, von denen sie Zuckersaft ernten. Die Blattläuse sind die Lieblingsspeise desMarienkäfers und seiner Larven. . .

Nur nicht wegrollen. . .

In jedem Fall hat die Form der Eier das Ziel, möglichst viel Nahrung fürden Nachwuchs auf kleinstem Raum unterbringen zu können. Beim Vogeleikommt allerdings dazu, dass es stark dazu tendiert, aus dem Nest zu rollen– Insekteneier sind hingegen meist angeklebt.

Abb. 13.11 „Laborversuch“: Ein Ei wird am Holzboden gerollt („Kurzstrecke“)

Um den Effekt zu vermindern, weicht die Natur der Kugelform aus. Nichtumsonst spricht man von „Herum-Eiern“ (sowohl bei Raumbewegungen, alsauch – zumindest in der Umgangssprache – bei wankelmütigem bzw. unent-schlossenem Verhalten).Abb. 13.11 zeigt Bilder eines Versuchs, bei dem das Rollverhalten eines rohenHühnereies getestet wird, wenn es einen Drehimpuls erhält. Dabei sieht mandeutlich, dass das Ei in eine ihm eigene Schlenker-Bewegung gerät, die ein

422 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

zu weites Wegrollen verhindern kann (was allerdings auch mit seinem Inhaltzu tun hat).

Ausrollen bzw. Abwickeln

Abb. 13.12 Die verschiedenen Entwicklungsstadien beim Entstehen einer Blüte I

Wir haben schon gesehen, dass abwickelbare Flächen in der Technik einegroße Rolle spielen: Sie sind einfach herzustellen. Wenn die Natur Blätterbzw. Blüten „herstellt“, so werden diese meist ausgerollt – geometrisch gese-hen also abgewickelt.

Abb. 13.13 Die verschiedenen Entwicklungsstadien beim Entstehen einer Blüte II

Der Ausrollvorgang geschieht oft während eines längeren Zeitraums. Zwi-schendurch kann das Blatt teilweise aushärten und vorher noch geringfü-gig seine Struktur ändern. Das Ergebnis ist also nicht mehr zwingend eineabwickelbare Fläche. Die verschiedenen Entwicklungsstadien der Blüten inAbb. 13.12 bzw. 13.13 zeigen dies recht gut.

13.2 Evolution und Geometrie

Wir haben vorhin die Geometrie der Vogeleier angeschnitten. Woher „wissen“die Vögel, dass nicht-kugelförmige Eier für ihre Nachkommenschaft bessersind (kugelförmige rollen weg und gehen zu Grunde)? Natürlich: Wenn einVogel kugelförmige Eier legt, dann wird er bald merken, dass die Sache doch

13.2 Evolution und Geometrie 423

Abb. 13.14 Links: Querschnitt eines getrockneten Weidenasts, rechts: Korallenstock

Abb. 13.15 Lineares Wachstum

nicht so optimal war, und wenn er es könnte: Beim nächsten Versuch würdeer die Dinger ein bisschen anders produzieren.Er kann es zwar nicht als Individuum, aber – auf lange Sicht gesehen – kannes seine Art. Das System der Evolution ist so genial wie einfach, wie wir gleichsehen werden. Man verzeihe, dass ich hier etwas aushole, aber es ist unbe-dingt notwendig, und es ist für das Verständnis des Folgenden wichtig. Bio-logen mögen nachsehen, dass ich mich so einfach wie möglich auszudrückenversuche, aber da diese Erkenntnis noch nicht wirklich in unser Denken ein-

Abb. 13.16 Röhrenwürmer und Mufflon

424 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Abb. 13.17 Links: Geometrisches Bauwerk eines Insekts, rechts: Harztropfen

Abb. 13.18 Parkettierung

gedrungen ist (sie wurde erst vor 150 Jahren gemacht und seither – bis indie Gegenwart – angefeindet), kann ein solcher Versuch nicht schaden.

Mutation

An erster Stelle steht das Prinzip der „ungenauen Kopie“ (Mutation): DieNatur produziert niemals ausschließlich identische Nachkommenschaft. Dashängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es gar nicht so einfach ist, immerund immer wieder den selben komplizierten genetischen Code absolut fehler-frei „wieder aufzusagen“ (man stelle sich vor, 250 Kommastellen der Zahl πzu wiederholen), zumal auch die äußeren Umstände nie völlig identisch sind.Aber auch unter völlig gleichen Laborbedingungen würde sich irgendwannein Fehler einschleichen.Vögel haben vielleicht irgendwann tatsächlich mit kugelförmigen Eiern „an-gefangen“. Wenn dem so war, dann sind sehr viele von diesen Eiern davongerollt und zu Grunde gegangen. So etwas kann man aber ausgleichen, in-dem man eben mehr Eier produziert – was wieder Substanz kostet. Durch das

13.2 Evolution und Geometrie 425

Abb. 13.19 Exponentielles Wachstum bei Gehäuse von Schnecken, eines Nautilus. . .

Abb. 13.20 . . . und Muscheln

Prinzip der ungenauen Kopie werden einige Vögel ovale und weniger sym-metrische Eier produziert haben. Aus ihren Eiern entstanden mit höhererWahrscheinlichkeit erwachsene Nachkommen.

Vererbung

Nun klinkt ein zweites Prinzip der Natur ein: Die Nachkommen erben inhohem Maße die Eigenschaften der Eltern. Wenn also mehr Eltern „wenigersymmetrischen Ursprung“ haben, ist schon in der nächsten Generation dienicht-perfekte Symmetrie im Vormarsch. Nach nicht allzu vielen Generatio-nen haben sich – ganz sanft – jene Individuen einer Art durchgesetzt, die„klassische Vogeleier“ und keine Kugeln produzieren.

Abb. 13.21 Spinnennetz

426 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Die Summe zählt

Nun möchte man meinen, das ginge mit allem und jedem so, und schon nachein paar Generationen ist für alles und jedes die perfekte – in unserem Fallgeometrische – Lösung gefunden. Dem steht aber ein drittes Prinzip der Na-tur entgegen: Es wird sich die in Summe am besten angepasste Lösung durch-setzen. Wenn manche Vögel einer Art zwar weiter kugelförmige Eier legen,aber durch eine zufällige Mutation dafür etwas besser fliegen können, kannsich auf lange Sicht „besser fliegen zu können“ als größerer Vorteil erweisenals „nicht kugelförmige Eier zu legen“.Vielleicht geschieht es, dass die mittlerweile besser fliegenden Individuenzufällig auch unsymmetrischere Eier bekommen. Dann wären zwei Fliegenauf einen Schlag geschafft. Allerdings ist es durchaus wahrscheinlich, dassgleichzeitig andere „Besserflieger“ durch Mutation mit einem neuen Trickaufwarten, der das Manko des kugelförmigen Eies noch besser wettmacht.Wie auch immer: Im Fall des Vogeleies scheint der Vorteil sehr groß gewesenzu sein, denn alle Vögel legen mehr oder weniger unsymmetrische Eier. . .

Phyllotaxis oder: So kann man sich täuschen

Was beim Vogelei so einfach erscheint, bedarf in anderen Fällen eines ständi-gen Hinterfragens. Ein typisches Beispiel dafür ist die Anordnung der Sonnen-blumenkerne, bekannt unter der Bezeichnung Phyllotaxis. Über diese Formwurde schon viel geschrieben und theoretisiert – und doch ist die Lösung desProblems so genial und einfach wie die Evolution.

Ein voreiliger Schluss

Zunächst ganz kurz zu den Theorien: Wer lang genug eine Sonnenblume an-sieht, entdeckt unweigerlich Spiralen im Muster. Es sind sogar zwei gegensin-nige Scharen von Spiralen zu erkennen. Durch Abzählen findet man heraus,dass die Anzahl der Spiralen einer Schar immer sogenannte Fibonacci -Zahlensind (mehr darüber in [16]). Mit diesen berühmten Zahlen eng verknüpft istder goldene Schnitt , aber auch exponentielles Wachstum (wenn ich eine Zahlimmer und immer wieder mit der selben Zahl multipliziere, erhalte ich ei-ne geometrische Folge, die – in einem Koordinatensystem veranschaulicht –eine Exponentialkurve liefert). Schon kommen wir aus dem Staunen nichtmehr heraus: Sonnenblumen „kennen“ den goldenen Schnitt und wachsen –im Gegensatz zu den meisten Pflanzen – exponentiell.

Eine ganz andere Erklärung

Nun zur hoch wahrscheinlichen Lösung (zu behaupten, die Lösung gefundenzu haben, ist bei solchen Sachverhalten immer vermessen):Eine Sonnenblume vermehrt sich über ihre Samen. Diese werden meist vonVögeln herausgepickt und dadurch verbreitet, dass diese gelegentlich ein paarKörner verlieren. Eines ist klar: Je mehr Körner, desto größer die Wahrschein-lichkeit, sich auf lange Sicht als Art durchzusetzen.

13.2 Evolution und Geometrie 427

Denken wir uns eine Pflanzenart (eine Vorgängerin der heutigen Sonnenblu-me), die im Lauf der Evolution folgende Wachstums-Strategie eingeschlagenhat (weil sie sich als Vorteil erwiesen hat): „Erzeuge deine Samenkörner,indem du zunächst in Zentrumsnähe ein Korn erzeugst, und jedes weitereKorn so anordnest, dass du die Richtung genügend weit verdrehst und auchein bisschen vom Zentrum wegrückst“.Damit das Ganze auch quantifizierbar ist: Der Verdrehungswinkel soll kon-stant sein, und das Hinausrücken zunächst auch. Das ist eine Strategie, diees sicher bis zu einer gewissen Grenze erlaubt, immer neue Samenkörner an-zulegen. Die Grenze besteht darin, dass irgendwann der neue Samen keinenPlatz mehr findet, weil an seinem Platz schon ein anderer Samen steckt.

Abb. 13.22 Verschiedene Varianten der „Hinaus-Wandergeschwindigkeit“

Unter den unendlich vielen Möglichkeiten, den Winkel und das hinaus Wan-dern zu wählen, wird es sicher eine beste geben, und die Evolution wird sie– wie beim Vogelei besprochen – über viele Generationen finden: Durch Mu-tation wird der Winkel jedes Mal ein bisschen abgeändert, und jene Blumen,die den besseren Winkel erwischt haben, haben auch mehr Samen, um sichfortzupflanzen. Sie werden „ihren“ Winkel an die Nachkommen vererben, unddiese werden ihn weiter „verbessern“.Das Ergebnis ist schon recht beeindruckend: Es kommen schon „fast“ moderneSonnenblumen heraus (Abb. 13.22 links). Im Zentrum ist es ein bisschen eng– dort müssen die Samen kleiner sein als am Rand. Aber es passen sehr vieleSamen in die Blüte. Wir erkennen auch die schon erwähnten Spiralen – ganzohne exponentielles Wachstum! Der Drehwinkel ist ein seltsamer Winkel, derden ganzen Winkel von 360○ im goldenen Schnitt teilt.Die Bilder in Abb. 13.22 Mitte und rechts zeigen noch mögliche Varianten,wenn die Blume beim Hinausschieben der Kerne die Geschwindigkeit linearbzw. prozentuell zum Vorgänger-Abstand verringert. Doch das ist nur noch„Kosmetik“. Durch „Ausweichen“ auf eine Kugelform kann die Samendichtenoch gesteigert werden, wie Abb. 13.23 illustriert.Vom Gänseblümchen bis zur meterhohen Sonnenblume schwirrt somit indirekt ein„goldener Winkel“ herum, der schon viel zur Zahlenmystik beigetragen hat. Das istkeineswegs abwertend gemeint: Auch diese Überlegungen haben durchaus mathe-matische Berechtigung. In [16] wird gezeigt, dass es sich beim goldenen Schnitt um

428 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Abb. 13.23 Optimierung durch Ausweichen auf die Kugel

die „irrationalste aller Zahlen“ handelt:

Φ = 1 + 1

1 + 1

1+1

1+1

1+⋯

≈ 1,6180339887

Diese Irrationalität „braucht“ die Blume, um den Drehstreck-Vorgang möglichst oftauf das Samenkorn anwenden zu können.

● Nicht immer ist die Entwicklung so zwingend

Abb. 13.24 Wenn man den „goldenen Winkel“ um Zehntelgrade ändert. . .

Wenn man den goldenen Winkel nur ein ganz klein wenig ändert, erhält man Figurenwie in Abb. 13.24 rechts. Solche Figuren kennt man irgend woher auch schon. DieBlüte in Abb. 13.24 links erinnert stark daran. Lassen wir’s dabei bewenden, ohneHypothesen aufzustellen: In der Geometrie sieht bald einmal etwas spiralenförmigaus, und es gibt viele verschiedene Formen von Spiralen, die ganz unterschiedlichdefiniert sind, sich aber – lokal gesehen – recht ähnlich sind. Die Spiralenform inAbb. 13.24 links ist sicher nicht so zwingend entstanden wie das Füllmuster derBlüte.Ebenfalls mit Vorsicht zu interpretieren sind die Wirbelbildungen bei der Entste-hung von Tiefdruckgebieten. Hier kommen doch mehrere Parameter zum Einsatz.Der Drehimpulserhaltungssatz spielt sicher eine zentrale Rolle, aber da gibt es nochQuerbeschleunigungen, die mit der Nord-Süd-Ausdehnung des Wirbels zu tun ha-ben (unterschiedliche Bahngeschwindigkeiten je nach geografischer Breite!), groß-räumige Druckgefälle und noch einiges mehr. Immerhin muss man den heutigenMeteorologen attestieren, dass sie, was solche Großwetterlagen anbelangt, schonausgezeichnete Voraussagen über mehrere Tage machen können.

13.3 Planetenbahnen und Fischschwärme 429

Abb. 13.25 Momentanaufnahmen bei der Bildung eines Tiefdruckwirbels

13.3 Planetenbahnen und Fischschwärme

Sehr wohl zwingend können Formen von Galaxien entstehen: Das Weltall istim Großen gesehen extrem stark von relativ wenigen Gesetzen dominiert,insbesondere vom Gravitationsgesetz und dem Trägheitsgesetz.

Abb. 13.26 Galaktische Spiralen samt ihren Trägerdrehflächen

Denken wir hypothetisch an eine Galaxie wie unsere Milchstraße, die zunächstdurch Verdichtung interstellarer Masse entsteht und dabei nach dem Drehim-pulserhaltungssatz aus irgendwelchen Gründen einen Drehimpuls (konstanteWinkelgeschwindigkeit) erhält.Das Zentrum dieses Systems wird sich aufgrund der Gravitation immer mehrverdichten (etwa ein schwarzes Loch bilden, das unaufhörlich Masse „an-saugt“). Dadurch werden die Sternenhaufen und Nebel der Galaxie erstenszum Zentrum wandern und zweitens ihre Winkelgeschwindigkeit erhöhen.

Abb. 13.27 Kosmische Katastrophe (verheerender Einschlag). . .

Je nachdem, welche Parameter man einsetzt: Man wird immer eine Galaxiefinden, die einer Momentaufnahme der zugehörigen Simulation ähnelt. Und

430 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

diese Simulation wird immer Spiralen enthalten, auf denen Sternenhaufenliegen.

Abb. 13.28 . . . und anschließende Konsolidierung (Mond)

Unser Mond ist bekanntlich entstanden, indem vor 4,5 Milliarden Jahren unsergerade entstandener Glutball Erde von einem riesigen anderen Brocken getroffenwurde. Glutbrocken erfüllten die Umgebung der Erde. Alle hatten den Drehim-puls der Erde. Beim anschließenden „Wiedereinfangen“ der Einzelteile folgten diesegalaktischen Spiralen und landeten recht bald auf einer Kreisbahn um die Erde.Aufgrund des bald eintretenden Platzmangels kam es zu immer mehr Kollisionenund damit zur Bildung eines Mondes.

Abb. 13.29 Eine Explosionswolke einer Supernova zieht an der Sonne vorbei. . .

Vielleicht „nur“ hundert Millionen Jahre vorher waren immer wieder Reste einerSupernova an unserer damals noch jungen Sonne vorbei gerast. Die Sonne schafftees, einen Teil der Reste einzufangen. Die physikalischen Gesetze taten das ihre, undschon bald drängelten sich die Supernova-Reste (nicht selten hauptsächlich Metall)auf elliptischen Bahnen, die in der Sonne einen Brennpunkt hatten. Durch Kolli-sionen konzentrierte sich die Masse immer mehr, bis ein Planet geboren war. UnserAsteroidengürtel ist wahrscheinlich nichts anderes als ein noch nicht konsolidiertesSupernova-Geschenk. . .

Abb. 13.30 . . . und „spendiert“ einen Planeten

Nun könnte man auf dem Standpunkt stehen, dass all dies nur marginal mitGeometrie zu tun hat, und dass man solche Spekulationen lieber den Phy-sikern überlassen sollte. Man kann es aber auch als ein schönes Beispiel sehen,wie verschiedene Disziplinen einander unterstützen können (ohne Compu-tersimulation sähe die Sache zudem nicht so spektakulär aus, und als Laiemüsste man es den theoretischen Physikern glauben oder auch nicht, wennsie ihre Differentialgleichungen auflösen).

13.3 Planetenbahnen und Fischschwärme 431

Abb. 13.31 „Spiral-Rasensprenger“

Wesentlich näher der Erde ist folgende Fragestellung: Wenn ein Rasenspren-ger rotiert, indem der Rückstoß der durch Düsen austretenden Strahlen aus-genützt wird, entstehen Spiralen, die den galaktischen ähneln: Wenn sichdas Wasser von der Drehachse entfernt, wird seine Winkelgeschwindigkeitnach dem Drehimpulserhaltungssatz quadratisch mit dem Abstand abneh-men. Hier kommen noch andere Komponenten wie Luftwiderstand und na-türlich die Schwerkraft dazu, aber so genau wollen wir es hier nicht wissen,zumal auch der Zufall eine gewisse Rolle spielt.Bleiben wir beim Wasser, diesmal jedoch unter einem anderen Gesichtspunkt:Gar nicht so weit weg von den vermeintlich chaotischen Entwicklungen imWeltall ist zum Beispiel die Simulation eines Fischschwarms. Diesmal ver-wenden wir Ergebnisse aus der Biologie. Kleinere Fische haben nicht selten– so wie viele Vögel – ein ausgeprägtes Schwarmverhalten.

Abb. 13.32 Drohende Gefahr und Flucht

Interessanterweise gibt es dabei keinen Anführer, der bestimmt, was alsnächstes zu geschehen hat. Die ganze Choreografie ist vielmehr das Produktvieler Einzelreaktionen. Ein Fisch im Schwarm will eigentlich nur in einerrelativ nahen Distanz zu seinen Nachbarn bleiben (etwa eine Körperlänge).Auf der Nahrungssuche bewegen sich die Individuen tendenziell gemächlichdort hin, wo es mehr zu fressen gibt.Taucht nun ein Raubfisch auf, werden die Individuen in dessen Nähe ver-ständlicherweise vom Ort der Gefahr fliehen. Ihre Nachbarn haben die Gefahrwomöglich gar nicht erkannt, aber sie wollen – nach einer kurzen Reaktions-zeit – sofort ihren davon fliehenden Nachbarn nacheilen. Insgesamt wird eine

432 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Abb. 13.33 Zurück zum Schwarm . . . und gleich wieder weg!

Kettenreaktion (Schockwelle) ausgelöst, die Individuen erfassen kann, dieweit weg von der Gefahr sind.Ist nun die Gefahr vorüber, suchen die am schnellsten Entflohenen wiederden Anschluss an den Schwarm. Nach einer gewissen Zeit – womöglich biszum nächsten Angriff – kehrt wieder „Ordnung“ ein.Das ganze Chaos ist von einigen wenigen Parametern bestimmt, die der For-menvielfalt des Schwarms kaum Grenzen setzen.

Abb. 13.34 Kunst und Natur

● Künstlerische Inspiration durch Geometrie in der NaturEin sehr interessanter avantgardistischer Architekturentwurf von AndreasKrainer („Der Kaiser und die Königin“, Abb. 13.34) erinnert nicht zufälligfrappant an die Gestalt von Quallen, verfolgt er doch konsequent einen geo-metrischen Aufbau, ganz ähnlich, wie es in der Natur auch immer wiedervorkommt:Dem gesamten Entwurf liegt eine einzige Raumkurve zu Grunde. Sie defi-niert sowohl die Position von Balken und Trägern, als auch die Form derHülle. Balken und Träger im herkömmlichen Sinn existieren nicht mehr, derÜbergang zwischen den beiden ist fließend. Durch Vervielfältigung und An-ordnung der erzeugenden Kurve zu einem bestimmten Muster (z.B. einemSechseck, an dessen Eckpunkten und in dessen Zentrum je eine Kopie po-sitioniert ist), entsteht ein radiales System, welches einen Turm definiert.Jeder Turm steht zum nächsten Turm in der selben Beziehung wie ein Stütz-Balken-Element zum nächsten. Es entsteht dadurch eine Wiederholung des

13.4 Skalenverhalten in der Natur 433

selben Anordnungsprinzips in einem größeren Maßstab. Jede Veränderungder erzeugenden Raumkurve ändert den gesamten Entwurf, wodurch eineungeahnte Gestaltungsvielfalt möglich ist. ◾

● Organische Architektur

Abb. 13.35 Hängekuppel, Kreuzrippengewölbe, Tonnengewölbe

Ein geometrisch interessanter Entwurf stammt von Matthäus Wasshuber.Ausgehend von klassischen Gewölbeformen (Abb. 13.35), die ihrerseits derNatur abgeschaut sind, verknüpfte er seine kuppelartigen Module nach demVorbildern aus dem Pflanzenreich (Abb. 13.36).

Abb. 13.36 Inspiration durch Pflanzenformen

Nach längerem Experimentieren kam er dann unter anderem zu den in Abb. 13.37gezeigten Entwürfen, die Formschönheit mit Tragfähigkeit verbinden.

Abb. 13.37 Neue architektonische Gebilde ◾

434 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

13.4 Skalenverhalten in der Natur

Lebewesen kann man bis zu einem gewissen Grad auch auf einem neutralenFoto (ohne Hintergrund und andere Objekte in der Umgebung) „ansehen“,wie groß sie sein müssen: Ein Elefant hat nämlich deshalb dicke Beine, weiler sonst sein Eigengewicht nicht tragen könnte (Abb. 13.38). Auch der Tigerbraucht als größtes Landraubtier große Muskelquerschnitte (sprichwörtlichist die Tigerpranke).

Abb. 13.38 Größter Pflanzenfresser bzw. Fleischfresser an Land: Proportional gesehen brauchenbeide Tiere große Muskelquerschnitte.

Bei Reduzierung der Größenverhältnisse um zwei Zehnerpotenzen kommenwir zu den Insekten und anderen Gliedertieren (Abb. 13.39). Ihre Muskel-querschnitte brauchen nur wesentlich geringer sein: Das Gewicht hat nämlichmit der dritten Potenz zum Skalenfaktor abgenommen, die Muskelkraft abernur mit dem Quadrat des Querschnitts ([16]).Interessanterweise verwenden sowohl der Tiger als auch die Wespe – so wieviele andere Tiere auch – ein Streifenmuster. Der eine zwecks optimaler Tar-nung, die andere als Warnsignal an Fressfeinde, dass das Tier sehr wehrhaftist. Hier kommen also vergleichbare geometrische Muster zu unterschiedli-chem Einsatz.

Abb. 13.39 Großer Pflanzenfresser bzw. Fleischfresser im Makro-Bereich: Proportional gesehenbrauchen beide Tiere viel kleinere Muskelquerschnitte.

13.4 Skalenverhalten in der Natur 435

Über die Tatsache, dass in Abb. 13.40 zwischen der Giraffe und dem See-pferdchen eine verblüffende Ähnlichkeit zu existieren scheint, kann man wohllänger diskutieren. Man könnte es aber auch so sehen: Geometrisch gesehengibt es eben nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, Volumina undFunktionalitäten welcher Art auch immer „unterzubringen“. Bei der großenVielzahl der Lebewesen wird man daher irgendwann einmal fast zwangsläufigÄhnlichkeiten antreffen. Ansonsten hat eine Giraffe mit einem Seepferdchenwohl reichlich wenig zu tun, und physikalisch unterliegen beide Tierartengänzlich unterschiedlichen Bedingungen.

Abb. 13.40 Die geometrische Ähnlichkeit – inklusive Mähne bzw. Flosse am Rücken – ist da, vielmehr wohl nicht. . .

Geometrische Ähnlichkeiten verführen zu dem Schluss, dass vergleichbare Bil-dungsgesetze dahinter stecken. Das kann, muss aber nicht so sein. Mathematischund physikalisch ist sehr wohl zu beachten, dass die Dinge im Großen keineswegsso sein müssen wie im Kleinen.

Abb. 13.41 Skalenverhalten: Bei einer solchen Gesteinsformation kann man nur bedingt auf dieGröße schließen. Deshalb wirkt auch das linke Bild wie die Fütterung einer großen Echse.

Bei anorganischen Objekten ist das Skalenverhalten geringer ausgeprägt: Sowie in Abb. 13.41 spielt es für einen verwitterten Felsen keine große Rolle,ob er mehrere Meter oder mehrere Zentimeter groß ist.

436 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

Abb. 13.42 Eiskristalle – mäßig vergrößert

Das fraktale Aussehen – also die „zerfranste Silhouette“, die sich immer wiederzu wiederholen scheint – tritt sowohl im Großen wie im Kleinen auf. Es istfestgestellt worden, dass man aufgrund der Fotografie einer Wolke eigentlichso gut wie gar nicht feststellen kann, wie groß dieselbe ist.

Abb. 13.43 Gletscher und „verschraubte“ Eiskristalle

Wenn wir Abb. 13.42 und Abb. 13.43 miteinander vergleichen, so erkennenwir, dass gefrorenes Wasser eigentlich in jeder Größenordnung zur Bildungvon fraktalen Umrissen neigt, denen durchaus eine gewisse Ästhetik anhaftet.Kein Wunder also, dass solche und vergleichbare Formen die Künstler immerwieder zu neuartigen Kreationen anregt (Abb. 13.44).

Abb. 13.44 Kunst und Natur: Zaha Hadid: Ice-Storm

13.4 Skalenverhalten in der Natur 437

Natürlich geht es in der modernen Architektur auch um das Erzeugen anspre-chender Formen, die sehr oft der Formenvielfalt der Natur entnommen sind.Im Idealfall liegt aber eine Kombination mit sinnvoller Umsetzung gewisserErkenntnisse vor. Abb. 13.45 zeigt die ästhetische Umsetzung des „Haihaut-Prinzips“ (Anwendung S. 403) in der Gesamtgestalt eines architektonischenObjekts – in diesem Fall liegen die Gestalten einzelner Schuppen der Haihautvor, die durchaus strömungstechnisch vorteilhaft sind, was durch realistischeSimulationen verifiziert wurde.

Abb. 13.45 Noch einmal Studio Hadid: Die Schuppen der Haihaut als dahinter stehendes Prinzip,das sich im Detail (Anwendung S. 403) wie im Gesamtbauwerk manifestiert und neben bemerkens-

werter Ästhetik strömungstechnische Vorteile – im Großen wie im Kleinen – bringen soll.

Beim Architekturentwurf für das Centre for Digital and Media Technology inLos Angeles von Martin Zangerl wird aus einem Prototypen eines räumlichenKnotens (einer Minimalfläche) durch Variation aus einem voluminösen Zu-stand ein „knochiger“, offener (Abb. 13.46 links unten) abgeleitet. Das allesgeschieht im Kleinen wie im Großen (links oben, rechts), sodass Gebäude-teile mit komplett geschlossener Hülle und solche von hoher Durchlässigkeitentstehen.

Abb. 13.46 Von voluminösen Museumsräumen zu offenen Büroräumen.

438 13 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

13.5 Musikalische Harmonie mit den Augen derGeometrie

Es gibt zahlreiche mathematisch-geometrische Bezüge in der Musik. Wirwollen hier nur drei Beispiele anführen. Sie sind – wie Teile des Textes –dem Buch Lexikon der Harmonielehre von Reinhard Amon, Verlag Doblin-ger/Metzler - März 2005, entnommen (2006 mit dem deutschen Musikediti-onspreis ausgezeichnet, http://personal.mdw.ac.at/amon). In [16] ist einAnhang dem Thema Musik gewidmet. Die Bilder wurden mit dem Program-miersystem Open Geometry erstellt.Diejenigen Leser, die nicht über entsprechendes musikalisches Wissen verfü-gen, mögen einfach die mathematische Ausgewogenheit der Musik genießen,die sich geometrisch schön verdeutlichen lässt.

● Darstellung des Tonsystems auf einem TorusDer Torus wird in 12 Scheiben geschnitten (Abb. 13.47). Auf jeder Scheibebefinden sich 12 Plätze (sie sind der Übersicht halber nur einmal gezeich-net), die entweder als chromatisch-enharmonische Plätze des Tonsystems als12 Dur- bzw. Molltonarten oder als enharmonisch verwechselte Töne inter-pretiert werden können.

Abb. 13.47 Darstellung des Tonsystems auf einem Torus

Der Torus wird in 12 Windungen von einer Rotoide umlaufen, die die Schei-ben in jedem Punkt schneidet und 12 enharmonisch schließende Quintenzirkelbildet. ◾

● Das „Tonartennetz“Abb. 13.48 veranschaulicht in einem Netz aus kongruenten Kreisen einenQuintenzirkel mit allen Tönen und Akkorden für die jeweilige Tonart, zu-gleich den Zirkel der Paralleltonarten sowie sämtliche S-T-D-Bezugsfelder

13.5 Musikalische Harmonie mit den Augen der Geometrie 439

(Subdominant-Tonika-Dominant).

Abb. 13.48 Tonartennetz in der Ebene

Der enharmonische Schluss ist mit Abb. 13.49 versucht. Geometrisch handeltes sich dabei um die Aufwicklung von Abb. 13.48 auf einen Drehzylinder.Auch eine Transformation auf einen Torus oder eine Kugel ist möglich. ◾

Abb. 13.49 Geschlossenes Tonartennetz Abb. 13.50 Tonsystem

● Dreidimensionaler QuintenzirkelAbb. 13.50 zeigt den Versuch einer Verknüpfung von geschlossenem Quin-tenzirkel der gleichstufig temperierten Stimmung (rote Fläche) mit der nachoben und unten offenen unendlichen „Quintenspirale“ (geometrisch exakthandelt es sich um eine Schraublinie). Auf der Mittelebene (rot) liegen die

Stammtöne und darüber in Spiralen ansteigend der - und -Bereich (hell-

beige, creme); darunter in Spiralen absteigend der - und -Bereich (dunkel-rot). Auf den senkrechten grünen Linien liegen enharmonisch austauschbare(verwechselbare) Töne. Die Verbindungsgeraden zugeordneter Töne bildenzwei schiefe geschlossene Schraubregelflächen (vgl. Abb. 7.25). ◾

440 Die Natur der Geometrie und die Geometrie der Natur

● Tonalitätszentren

Abb. 13.51 Tonsystem mit Säulen. Rechts: Neues Tonalitätszentrum

Abb. 13.51 zeigt beispielhaft die C-Dur Tonalität. Die Säulen im innerenKreis stellen die leitereigenen Dreiklänge dar. Im äußeren Kreis stehen aufden entsprechenden chromatischen Tönen die typischen Klänge der erweiter-ten C-Dur Tonalität (Des-Dur als Verselbständigter Neapolitaner, B-Dur alsDoppelsubdominante, f-Moll als vermollte Subdominante, D-Dur als Dop-peldominante, c-Moll als Variantklang der Tonika und H-Dur als Dominanteder Dominantparallele e-Moll).Jeder durch eine Säule oder Kugel repräsentierte Klang oder Ton kann selbstwieder Tonalitätszentrum werden (Abb. 13.51 rechts). Dies geschieht im Falleeiner Ausweichung oder Modulation. ◾

● Spiegelkrebsfugen

Abb. 13.52 Fuge von J.S. Bach, die man vorwärts und rückwärts spielen kann, aber auch, wennman die Noten an der mittleren Linie spiegelt. Nach einem einmaligen Umlauf haben sich dieNoten umgedreht. Die Melodie passt trotzdem harmonisch zum ersten Durchlauf und kann sogargleichzeitig gespielt werden.

Abb. 13.52 zeigt ein mit der institutseigenen Software von Franz Gruberentworfenes Möbiusband, das mittels einer Textur mit einer „Laufschrift“versehen wurde, die eigentlich eine Fuge von J.S. Bach ist. Die zugehörigeAnimation des Bandes finden Sie auf der Webseite zum Buch. ◾

A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Dieser Anhang ist für Personen ge-dacht, die wie ich der Meinungsind, dass – bei aller Qualitätder heutigen Computerzeichnungenund „Renderings“ – die geometrischkorrekte Freihandzeichnung immernoch von fundamentaler Bedeu-tung für geometrische Kommunika-tion ist. Ich gehe sogar noch einenSchritt weiter: Eben weil die per-fekten Computerzeichnungen schon„Stand der Dinge“ sind, wird das ge-niale Freihandzeichnen immer mehrzu einer extravaganten und beein-druckenden Fähigkeit.

Der Anhang ist so gestaltet, dass man ihn schon vor dem genauen Durch-arbeiten des Buchs durchgehen kann. Wir werden zwar gelegentlich auf denvorangegangenen Inhalt verweisen, doch der Kurs ist auch ohne diese Verwei-se in sich abgeschlossen. Dies soll auch „geometrischen Laien“ ermöglichen,in kurzer Zeit Zeichnungen anzufertigen, die qualitativ korrekt sind.Ein vielleicht naiv klingendes, aber doch so wahres und wichtiges Sprüch-lein sagt: „Hast du von der Lösung keine Spur, dann zeichne eine Hilfsfigur!“In diese Hilfsfigur sollte man zuerst die Lösung eintragen. Je brauchbarer(weil geometrisch korrekt) diese Figur dann ist, desto leichter wird sich her-ausfinden lassen, welche Schritte man unternehmen muss, um zu der schonvorhandenen Lösung zu kommen.Viele Zeichnungen wurden von den Teilnehmern meines Kurses über „künstle-rische Perspektive“ gezeichnet,viele bekamen von Christian Perrelli den letz-ten Schliff. Vielleicht finden Sie mit geschultem Auge den einen oder anderenkleinen Fehler in einer Zeichnung: Auch das macht den Scharm der Freihand-zeichnung aus! Perfekte Renderings haben wir schon genug gesehen. . .

ÜberblickA.1 Normalriss versus Schrägriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

A.2 Keine Scheu vor gekrümmten Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448

A.3 Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

A.4 Perspektivisches Skizzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

442 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

A.1 Normalriss versus Schrägriss

In diesem Anhang wollen wir drei Arten der Darstellung genauer beleuch-ten: Den Schrägriss, den Normalriss und die Perspektive (Zentralriss). VomSchwierigkeitsgrad ist die Perspektive deutlich vor dem Schrägriss und demNormalriss angesiedelt.

Warum der Schrägriss nicht unser Ziel istDer Abschnitt über den Schrägriss wird bei Weitem der kürzeste.

Abb. A.1 Haus, Würfel mit eingeschriebenen Kreisen und Kugel im Kavalierriss

Die meisten Menschen haben irgendwann in ihrem Leben „Schrägrisse“ ge-zeichnet – meist einen Kavalierriss, auch Frontalriss genannt: Ausgehend voneiner unverzerrten Vorderansicht lassen sich „eckige Gebilde“ leicht aufbauen.Nach hinten laufende Geraden werden unter festem Winkel α (z.B. α = 45○)gezeichnet, Tiefenwerte immer gleich verkürzt (z.B. um die Hälfte). Übereinem Quader ist dann schnell ein Häuschen konstruiert (Abb. A.1 links).Einem Würfel kann man sogar problemlos Kreise wie in Abb. A.1 Mitte ein-schreiben. Vorderster und hinterster Kreis bleiben kreisförmig, die Bildellip-sen der anderen Kreise sind durch jeweils vier Kantenmittelpunkte und denKantenbildern als Tangenten bestimmt. Man beachte aber, dass die Scheitelder Ellipse nicht bekannt sind. Den Umriss einer Kugel kann man nicht mehrleicht angeben, und wenn wir ihn ohne Konstruktion einzeichnen (Abb. A.1rechts), ist er sicher falsch!Ein zweiter Ansatz für anschauliche Schrägrisse besteht darin, Objekte überihrem unverzerrten, aber verdrehten Grundriss (Winkel α, z.B. α = 30○) auf-zubauen. Auf diese Weise entstehen die Gebilde in Abb. A.2. Die Höhenwertekönnen wieder verkürzt werden (z.B. auf die Hälfte), oder aber unverzerrtaufgetragen werden. Man erhält den Militärriss.Beim Würfel mit den eingeschrieben Kreisen sind unterster und obersterKreis unverzerrt, die restlichen Bildellipsen sind durch umschriebene Par-allelogramme fixiert. Wieder sind die Symmetrieachsen der Ellipsen nichtbekannt. Bei der Kugel haben wir dieselben Probleme wie vorhin.So praktisch und einfach erklärbar die beschriebenen Verfahren sind – siehaben gravierende Nachteile:

A.1 Normalriss versus Schrägriss 443

Abb. A.2 Haus, Würfel mit eingeschriebenen Kreisen und Kugel im Militärriss

Die üblichen Schrägrisse (Kavalierriss und Militärriss) liefern unnatürlich verzerrteBilder. Sie sind schlecht geeignet, Kugeln und andere Drehflächen abzubilden.

Isometrie

Theoretisch kann man bei einem Schrägriss die Bilder der Koordinatenach-sen und die Verkürzungen längs der Koordinatenrichtungen beliebig wählen.Manche solcher Annahmen überwinden die vorhin erwähnten Nachteile gut.Beginnen wir mit einer speziellen Annahme, die einen Normalriss ergibt, dersogenannten Isometrie: Hier bilden alle Achsenbilder einen Winkel von 120○,und alle Strecken in Koordinatenrichtungen bleiben unverzerrt (Isometrieheißt „gleiche Metrik“).

Abb. A.3 Haus, Würfel mit eingeschriebenen Kreisen und Kugel in Isometrie

In Abb. A.3 sind unsere Testobjekte isometrisch dargestellt. Das Häuschenwirkt jetzt „echter“, und die Kugel rechts hat einen kreisförmigen Umriss, waswohl die einschneidendste Verbesserung ist. Bei der Würfeldarstellung habenwir jetzt den Nachteil, dass die Bilder zweier Würfelecken im Zentrum desBildes zusammenfallen. Die elliptischen Kreisbilder fallen kongruent aus. DieAchsen der Bildellipsen sind mit den Koordinatenachsen gekoppelt, was eingroßer Zeichenvorteil ist, weil man die Symmetrieachsen der Ellipsen kennt.

444 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Durch die strikte Vorgabe der Achsenwinkel hat man bei der Isometrie einedoch sehr eingeschränkte Auswahl bei der Ansicht eines Körpers. Die waag-rechte Basisebene wird immer unter demselben Höhenwinkel betrachtet. Wirfassen zusammen:

Isometrische Darstellungen eignen sich gut für schnelle anschauliche Skizzen ecki-ger und runder Körper, sofern diese nicht würfelförmigen Aufbau haben. Sie lassenallerdings wenig Variation in der Ansicht zu.

Abb. A.4 Isometrie eines Ikosaeders (rechts Spaghetti-Modell von Sophie)

Zur Übung zeichnen wir die isometrische Ansicht eines Ikosaeders. Ein sol-cher Körper ist ohne Wissen über seinen Aufbau praktisch nicht zu zeichnen.Wenn man allerdings weiß, dass sich ein Ikosaeder über drei paarweise recht-winklige „goldene Rechtecke“ (Seitenverhältnis etwa 8 ∶ 5) definieren lässt,steht einer optimalen isometrischen Darstellung nichts mehr im Wege.

Der Vorteil einer Normalprojektion

Aus der Theorie ist bekannt: Man kann die Bilder der Achsen fast belie-big wählen. Dann gibt es immer genau bestimmte Verkürzungsverhältnissefür jede Achsenrichtung, mit denen man erreichen kann, dass nicht nur einallgemeiner Parallelriss vorliegt, sondern sogar ein Normalriss. Der Vorteil:

Bei jeder Normalprojektion bilden sich Kreise als Ellipsen symmetrisch zum Bildder Kreisachse ab, und Kugelumrisse sind Kreise. Dadurch entsteht ein natürlicherEindruck der dargestellten Objekte.

I. Allg. hat man es mit drei unterschiedlichen Verkürzungsverhältnissen fürdie drei Achsenrichtungen zu tun. Abgesehen davon, dass es dadurch aufwän-diger wird, Bilder zu erzeugen, erfordert die Ermittlung dieser Verhältnisseeine Konstruktion, die man als Freihandzeichner ohne Hilfsmittel nicht aus-reichend genau durchführen kann.Wir kennen schon ein sehr spezielles Beispiel einer Normalprojektion: DieIsometrie. Dort sind alle Verkürzungsverhältnisse wegen der gleichen Ach-

A.1 Normalriss versus Schrägriss 445

senwinkel identisch (1 ∶ 1 ∶ 1). Deswegen braucht man gar nicht verkürzen –das Ergebnis sieht qualitativ genauso aus.Es gibt noch andere günstige Achsenwinkel, welche einfache Verkürzungsver-hältnisse nach sich ziehen.

Der Ingenieurriss – dimetrisch und anschaulichSucht man z.B. die Achsenwinkel, deren Verkürzungsverhältnisse sich wie1 ∶ 1/2 ∶ 1 verhalten, stellt sich heraus, dass die y-Achse im Bild etwas wenigerals 45○ von der Horizontalen abweicht, nämlich etwa 42○. Das Bild der x-Achse und das der z-Achse sind wegen der gleichen Verkürzung zum Bild dery-Achse symmetrisch. Das Bild der x-Achse weicht dadurch etwa 7○ von derHorizontalen ab (Abb. A.5).

Abb. A.5 Haus, Würfel mit eingeschriebenen Kreisen und Kugel im Ingenieurriss

Diese Aufstellung wird als Ingenieurriss bezeichnet. Sie hat ähnliche Vorteilewie die Isometrie, ist aber auch für „würfelige“ Objekte sehr gut geeignet(Abb. A.5 Mitte). Natürlich gibt es auch die symmetrische Lösung, bei derdie x-Achse die besagten 42○ bildet. Dann muss in x-Richtung um die Hälfteverkürzt werden, während die y-Richtung nicht verkürzt wird.

Die allgemeine LösungAuch der Ingenieurriss ist ein wohldefinierter Normalriss. Sollten weder dieIsometrie noch der Ingenieurriss eine „vernünftige Ansicht“ des speziellen Ob-jekts liefern, gibt es eine allgemeine Methode, die auch bei der Freihandzeich-nung relativ genaue Ergebnisse erlaubt, wobei das zu erwartende Ergebnisvorher gut abgeschätzt werden kann, was sehr vorteilhaft ist: Wir wollennicht einfach nur „herum probieren“, sondern ökonomisch zum Ziel kommen.Man beginnt mit dem Bild eines „Einheitskreises“ in der waagrechten Grund-ebene (Mittelpunkt U). Die Hauptachse der Bildellipse ist nach den Regelnder Normalprojektion rechtwinklig zum Bild der z-Achse (Abb. A.6). Je nach-dem, wie „bauchig“ nun die Bildellipse ist, hat man es mit einer mehr oderweniger gekippten Grundebene zu tun.Im nächsten Schritt wählt man das Bild der x-Achse beliebig.Das Bild der y-Achse ergibt sich im dritten Schritt automatisch: Dort wo diex-Achse den Einheitskreis schneidet (Punkt X), gibt es eine Kreistangentet (im Bild eine Ellipsentangente). Weil diese waagrechte Tangente t mit derx-Achse im Raum einen rechten Winkel bildet, ist sie parallel zur y-Achse.

446 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Abb. A.6 Verschiedene Bilder des Einheitskreises

Die y-Achse schneidet den Einheitskreis im Punkt Y . Die Strecken UX undUY sind die „Einheitsstrecken“ auf den Achsen. Damit kann man bereitsbeliebige Figuren in der Basisebene einzeichnen.

Bei Vorgabe des Bildes eines horizontalen Kreises und einer horizontalen Ach-senrichtung sind die fehlende horizontale Achsenrichtung und die Verzerrung desGrundrisses festgelegt.

Nun ist nur noch zu klären, wie stark die Höhenwerte verkürzt werden. Reinqualitativ gilt: Je bauchiger die Bildellipse des Basiskreises (Achsenlängen2a = 2r und 2b), desto stärker werden die z-Werte verkürzt. Man kann dieAussage aber sofort quantifizieren, denn wir kennen bereits den Umriss derEinheitskugel um U , nämlich jenen Kreis um U , der das Bild des Einheits-kreises in den Hauptscheiteln berührt.

Abb. A.7 Allgemeine Ansichten der Erdkugel

Der Einheitskreis ist Äquator der Kugel. Völlig analog können wir den Null-meridian der Kugel durch den Punkt X einzeichnen. Seine Achse ist diey-Achse, und die Hauptscheitel seiner Bildellipse können – wie beim Äquator– im rechten Winkel auf das Bild seiner Drehachse gefunden werden. DieLage des Punkts X entscheidet über die „Bauchigkeit“ der Bildellipse. ImSchnitt dieser Bildellipse mit dem Bild der z-Achse findet sich der NordpolZ. UZ ist Einheitsstrecke für die Höhenkoordinaten. (Für Interessierte: Manerhält das Bild des Nordpols auch, indem man einen Brennpunkt des Bildesdes Einheitskreises um 90° schwenkt, oder aber, indem man Parallelen zum

A.1 Normalriss versus Schrägriss 447

Bild der z-Achse im Abstand ±b mit dem Umriss schneidet – der Nordpolhat dieselbe Höhe.)

Eine allgemeine Normalprojektion legt man am besten durch das Bild des Äqua-tors der Einheitskugel fest. Durch Einzeichnen des Nullmeridians der Kugel erhältman den Nordpol der Kugel und hat somit alle Verkürzungsverhältnisse im Griff.

Zur Festigung des Gesagten und zur Verbesserung des Ellipsen-Zeichnenswollen wir allgemeine Ansichten der Erdkugel skizzieren (Abb. A.7).Diese Art der „Konstruktion“ der richtigen Verkürzungen hat offensichtlichden Vorteil, dass wir genau steuern können, in welcher Blickrichtung wir aufunser Objekt sehen. Die Bilder des Äquators bzw. Nullmeridians der Ein-heitskugel geben einen guten Eindruck, wie das restliche Bild aussehen wird.Man kann ohne weitere Konstruktion auch das Bild des „Einheitswürfels“testen.

● Kreise mit Achsen parallel zu KoordinatenachsenMan skizziere eine Szene, die aus mehreren Drehzylindern besteht (Abb. A.8).

Abb. A.8 Stehende und liegende Drehzylinder

Die Bilder von Basis- und Deckkreis eines lotrechten Drehzylinders sind stetsEllipsen, deren Hauptachsen rechtwinklig zum Bild der Zylinderachse sind.Auch liegende Drehzylinder sind nach demselben Schema darzustellen:

• Die Bilder der Randkreise sind Ellipsen, deren Hauptachsen rechtwinkligzum Bild der Zylinderachse liegen.

• Der Durchmesser des Zylinders ist gleich der Länge der Hauptachse.

• Durch Aufsuchen eines weiteren Bildpunkts stellt man fest, wie bauchigdie Bildellipsen sind. Liegt etwa ein Basis- oder Deckkreis in einer Ebeneparallel zur yz-Ebene, kann man durch Parallelverschieben der Bilder von

448 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

y- und z-Achse durch die Hauptscheitel der Bildellipse einen solchen Punktfinden.

Diese Konstruktion ist leicht einzusehen: Seien A und B jene Durchmesserpunktedes Kreises k, deren Bilder die Hauptscheitel der Bildellipse kn sind. Die beidenAchsen y und z bilden im Raum einen rechten Winkel, so dass der Schnittpunktder Parallelen durch die Durchmesserpunkte A und B nach dem Satz von Thalesauf k liegt. Im Bild erhalten wir somit einen Ellipsenpunkt. Bei symmetrischenAchsenlagen hat man sogar die Nebenscheitel der Bildellipsen gefunden. ◾

A.2 Keine Scheu vor gekrümmten Flächen

Zunächst ungewohnt. . .Freihandzeichnen ist am Anfang ungewohnt: Statt bei jeder Gelegenheit einLineal zur Hand zu nehmen, zwingen wir uns, auch längere Geraden frei-händig zu ziehen. Auch Kreise würden wir lieber mit dem Zirkel zeichnen.Tatsächlich bedarf es einiger Übung, einen Kreis bei vorgegebenem Radiuszu zeichnen.

. . . aber schon bald ein großer Vorteil!Nur: Außer bei Kugelumrissen kommen Kreise im Freihandzeichnen kaumvor. Meist hat man es mit Ellipsen zu tun, und hier ist man als Freihandzeich-ner schon im Vorteil gegenüber dem mit Zirkel und Lineal Konstruierenden.Der wahre Vorteil aber liegt in der Tatsache, dass wir – mit Raumvorstellungund geometrischem Fingerspitzengefühl – über Hürden hinweg kommen, diedem „Konstruierer“ unnötig viel Zeit kosten.Oft findet man nachträglich viel leichter eine exakte Konstruktion, wenn mandas Ergebnis schon irgendwie „geschätzt“ hat.

Das geometrisch fundierte Freihandzeichnen ist ein wichtiger Schlüssel zum nach-träglichen Auffinden exakter Lösungen.

So gesehen sollte jeder, der mit Geometrie zu tun hat, diese Fähigkeit schulen– auch wenn man nicht vor hat, Künstler zu werden.

Es wird nicht schwierigerDer nächste Vorteil ergibt sich, wenn man von eckigen Bauklötzen zu elegan-ten krummen Flächen übergehen kann, ohne den erhöhten Schwierigkeitsgraddeutlich zu spüren.

Bei Konstruktion mit Zirkel und Lineal stoßen wir schnell an unsere Grenzen undscheitern ständig am „Handwerkszeug“! Beim Freihandzeichnen können wir unsauf geometrisches Denken konzentrieren.

A.2 Keine Scheu vor gekrümmten Flächen 449

● Einschaliges DrehhyperboloidDie Fläche entsteht unter anderem durch Drehung einer Geraden um einewindschiefe Achse. Auf der Fläche gibt es noch eine zweite Geradenschar.Umriss und Geradenscharen sind darzustellen.Wir beginnen mit dem horizontalen Basiskreis, den wir in acht gleiche Teileeinteilen wollen. Dies geschieht, indem wir beliebig die x-Achse wählen. Diedazu rechtwinklige y-Achse ist parallel zu den Tangenten in den Punkten derx-Achse am Basiskreis. Die beiden Achsen definieren ein dem Kreis umschrie-benes Quadrat, dessen Diagonalen zusammen mit den Koordinatenachsen diegleichmäßig verteilten Punkte 1,⋯,8 am Basiskreis liefern.

Abb. A.9 Einschaliges Drehhyperboloid in verschiedenen Variationen

In beliebiger Höhe stellen wir den kongruenten Deckkreis dar. Die Achter-einteilung übertragen wir ebenfalls, beschriften aber um – sagen wir – dreiPunkte „versetzt“. Damit haben wir bereits acht Geraden auf der Fläche undacht Tangenten an die Umrisshyperbel. Durch Versetzung der acht Punkte indie andere Richtung finden wir weitere acht Tangenten. Damit ist der Umrissausreichend bestimmt. Bei der Ausfertigung des Bildes ist darauf zu achten,dass am Umriss jeweils ein Sichtbarkeitswechsel stattfindet.Eine Variante besteht darin, die Affinität des Bildes des Basiskreises mit derparallel gedrehten Kreislage zu benützen. Ein Kreis kann leicht in gleicheTeile eingeteilt werden. ◾

● BalkenverbindungZwei liegende Drehzylinder mit gleichem Radius und rechtwinklig schneiden-den Achsen sind anschaulich darzustellen (Abb. A.10).Die Achsen der Zylinder seien die x- und die y-Achse. Es erweist sich als güns-tig, wenn die Bilder der Zylinderachsen möglichst unsymmetrisch bezüglichdes Bildes der z-Achse liegen – wie etwa beim Ingenieurriss. Die beiden Zy-linder haben eine gemeinsam eingeschriebene Hilfskugel um den Ursprung U ,die wir als erstes darstellen.

450 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Die Umrisserzeugenden der beiden Zylinder berühren den kreisförmigen Um-riss der Kugel. Wir schließen sie durch Kreise ab, indem wir an beliebigerStelle ihre Mittelpunkte auf den Zylinderachsen wählen. Die Hauptachsen derentsprechenden Bildellipsen sind zu den Bildern der Zylinderachsen recht-winklig, weitere Punkte finden wir durch Parallelverschieben der Achsen.

Abb. A.10 Balkenverbindung

Zu erwarten sind zwei Schnittellipsen. Man beachte, dass sich eine Ellipse imRaum zwar auch als Ellipse abbilden wird, dass aber i. Allg. keine Achse derBildellipse rechtwinklig zum Bild irgendeiner Koordinatenachse steht. Zielwird es sein, möglichst viele Punkte und Tangenten der Ellipse zu ermitteln.Wir betrachten nun die höchsten bzw. tiefsten Erzeugenden beider Zylin-der. Sie schneiden einander in zwei Punkten C und D. Die in der xy-Ebeneliegenden Erzeugenden schneiden einander in den bezüglich des Ursprungssymmetrischen Punkten A1, A2 bzw. B1, B2. Dort haben die Schnittellipsenz-parallele Tangenten. C und D gehören beiden Ellipsen an. Die zugehörigenTangenten sind parallel zu A1B1 bzw. A2B2. Als zusätzliche Information istunbedingt zu beachten, dass die Ellipsenbilder die Umrisserzeugenden derZylinder berühren. Die Berührpunkte sind von großer Wichtigkeit, weil dortSichtbarkeitswechsel stattfinden. ◾

● Bleistiftspitze (Abb. A.11)Ein regelmäßiges sechsseitiges Prisma ist kegelförmig „abzudrehen“ (genaudas geschieht beim Spitzen des Bleistifts).Die lotrechten Seitenflächen des Prismas werden den Drehkegel nach Hy-perbeln schneiden. Von diesen wollen wir zumindest die höchsten Punktelokalisieren.Wir wählen den waagrechten Basiskreis des Drehkegels, in den wir ein regel-mäßiges Sechseck einschreiben wollen. Die Spitze kann frei gewählt werden.

A.2 Keine Scheu vor gekrümmten Flächen 451

Abb. A.11 Bleistiftspitze

Die Tangenten aus dem Bild der Spitze an das Bild des Basiskreises sind dieUmrisserzeugenden des Kegels. Die Wahl der x-Achse (Punkt X am Kreis)zieht wieder die Richtung der y-Achse nach sich (parallel zur Tangente inX). Diesmal dürfen die Bilder der Achsen durchaus symmetrisch sein. DieNachbarpunkte des Sechsecks erhält man, indem man – einer bekannten Ei-genschaft des regelmäßigen Sechsecks folgend – durch den Mittelpunkt M vonUX die y-Parallele mit dem Kreis schneidet. Die restlichen Punkte ergebensich spiegelsymmetrisch bezüglich U .In der yz-Ebene kann man den höchsten Punkt H der Schnitthyperbel direktermitteln: Er liegt genau über der Seitenmitte und auf der Kegelerzeugenden.Alle anderen Scheitel liegen gleich hoch über den restlichen Seitenmitten. Diezugehörigen Tangenten sind parallel zu den Sechseckseiten. Beim Ausfertigenist zu beachten, dass zwei der sechs Bögen den Kegelumriss berühren unddort die Sichtbarkeit wechseln.Die Mine des Bleistifts hat einen Schnittkreis mit dem Kegel, der zentrischähnlich zum Basiskreis in entsprechender Höhe liegt.Es kann beim Freihandzeichnen (genauso wie beim Konstruieren) immer passieren,dass sich ungünstige Ansichten (z.B. projizierende Schnitte) ergeben. Der Versuchin Abb. A.11 links ist vielleicht nicht optimal getroffen. Das Schöne beim Freihand-zeichnen ist, dass man nicht sehr viel Zeit verloren hat und einen zweiten, besserenVersuch starten kann.

● Wendeltreppe (Abb. A.12)Im Aufriss erscheint eine Schraublinie mit lotrechter Achse als Sinuskurve.Eine solche Kurve ist für uns leicht zu zeichnen: Sie entsteht durch harmoni-sches Schwingen bei gleichzeitiger Bewegung in dazu orthogonaler Richtung.Zeichnen wir also eine solche Kurve ein. Als Orientierung zeichnen wir dieUmrisserzeugenden des Trägerzylinders ein, deren Mittensymmetrale das Bildder Schraubachse ist (Abb. A.12 links). Die Periodenlänge der Kurve ist die

452 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Abb. A.12 Normalriss und Aufrisse von Schraublinien mit Variationen (Wendeltreppe)

Ganghöhe der Schraubung. Zur Übung stellen wir eine zweite Schraubliniedar, die dadurch entsteht, dass der Achsenabstand der Punkte der ursprüng-lichen Schraublinie etwa ein Viertel beträgt. Sie bildet sich als Sinuskurvemit gleicher Frequenz, aber kleinerer Amplitude ab. In Abb. A.12 Mitte isteine Variation der Angabe zu sehen, rechts ist dann eine Wendeltreppe einge-zeichnet. Um etwa zu 16 gleichmäßig verteilten Punkten auf der Schraubliniezu kommen, stellen wir jene Schichtenebenen ein, die zu einer Höhendifferenzvon 1/16 der Ganghöhe gehören. Die 16-er-Einteilung ist zeichentechnisch zufinden, indem man wiederholt die Ganghöhe halbiert. ◾

● DrehflächenDrehflächen entstehen unter anderem durch Rotation eines Meridians. Punk-te des Meridians wandern dabei auf Breitenkreisen. Tangenten des Meridiansüberstreichen i. Allg. Drehkegel mit Spitzen auf der Drehachse (unter Um-ständen auch Drehzylinder oder Ebenen rechtwinklig zur Drehachse).Um eine vorgegebene Drehfläche optisch korrekt zu skizzieren, wird manden Meridian samt Drehachse (und zur Kontrolle den spiegelsymmetrischenMeridian) einzeichnen (Abb. A.13 links) und dort spezielle Punkte markieren:Dies sind vor allem die Punkte mit achsenparallelen Tangenten, aber auchetwaige Wendepunkte. Die Tangenten in den Randpunkten sind ebenfallswichtig.Nun werden die Normalrisse der entsprechenden Breitenkreise in der Nor-malprojektion (Abb. A.13 rechts) eingezeichnet. Die entsprechenden Höhenwerden – je nach Schräglage der Achse – mehr oder weniger verkürzt. Beigeringer Schräglage kann man in einer Freihandzeichnung sogar dieselbenHöhen verwenden. Indem wir auch die Kegelspitzen verwenden, können wiraus deren Bildern die Tangenten an die elliptischen Bilder der zugehörigenBreitenkreise legen. Die Berührpunkte gehören dem Umriss der Drehfläche

A.2 Keine Scheu vor gekrümmten Flächen 453

Abb. A.13 Drehflächen (rechts: Torus)

an, die Ellipsentangenten sind Umrisstangenten. In den Punkten auf „Kehl-kreisen“ und „Gürtelkreisen“ (dort haben wir berührende Drehzylinder) sindbereits die Hauptscheitel der Bildellipse Umrisspunkte der Fläche. ◾

● Blüte einer Lilie

Abb. A.14 Blüte einer Lilie

Fortgeschrittene und/oder künstlerisch Ambitionierte mögen sich an folgendem Bei-spiel versuchen: Eine glockenförmige Drehfläche (Abb. A.14) soll so „eingeschnitten“werden, dass so etwas wie eine Glockenblume oder Lilie entsteht. Da die Natur oh-nehin keine absolut perfekten Flächen liefert, dürfen auch wir beim Zeichnen einbisschen großzügig sein. Es erweist sich dennoch als wichtig, die Drehfläche zunächstohne die Einschnitte zu skizzieren – und den Umriss zu fixieren.In einem weiteren Schritt teilen wir die Randkurve in fünf halbwegs gleichmäßigverteilte Abschnitte (die Natur hat eine Vorliebe für die Fünfer-Symmetrie) undschätzen durch die Punkte A der Fünfereinteilung den zugehörigen Meridian ein.

454 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Im letzten Schritt zeichnen wir den Breitenkreis ein, bis zu dem wir die Einschnit-te machen wollen. Die Mittelpunkte der durch die Schnittpunkte mit den speziel-len Meridianen festgelegten Punkte sind die Endpunkte B der Schnittlinien. DiesePunkte sind nun – mit Einfühlungsvermögen – mit den Anfangspunkten A zu ver-binden. Die Schnittkurven berühren unter Umständen den Umriss. Wenn also einUmriss der Blume übrig bleibt, wird er von Teilen des ursprünglichen Umrisses derDrehfläche gebildet. ◾

A.3 Schatten

Um unseren Handskizzen ein realistischeres Aussehen zu geben, können wirauch Schatten einzeichnen. Doch Vorsicht: Schattenkonstruktionen sind kom-pliziert und damit „gefährlich“. Ein realistisch eingezeichneter falscher Schat-ten richtet mehr Schaden an, als er zum Verständnis der Zeichnung beiträgt.Wir sollten es also dabei belassen, Schatten einfacher Szenen zu erfassen.Am Anfang sollten wir außerdem mit Sonnenlicht (Parallelschatten) arbei-ten, und nicht gerade eine Lichtquelle mitten in eine Szene stellen.Konvexe Körper haben keine Einbuchtungen oder Einschnürungen. Sie wer-fen daher keine Schatten auf sich selbst. Quader, Drehzylinder und Drehkegelsind einfache Beispiele dafür. Für diese drei Prototypen wollen wir zunächstParallelschatten bei einfachster Aufstellung skizzieren.

● Parallelschatten eines QuadersWir fixieren die Lichtrichtung am besten dadurch, dass wir in der Basisebene

Abb. A.15 Quader mit Schatten

den Schatten Ps eines Punkts P der Deckfläche wählen. Alle Lichtstrahlensind dann zur Richtung PPs parallel. Weiters sind alle Grundrisse der Licht-strahlen parallel zur Verbindung des Grundrisses P ′ von P mit dem SchattenPs in der Basisebene. Wir können damit den Schatten eines weiteren PunktsQ der Deckfläche so erhalten, dass wir durch Q die Parallele zum Lichtstrahl

A.3 Schatten 455

und durch Q′ eine Parallele zum Grundriss des Lichtstrahls zeichnen. DieDreiecke PP ′Ps und QQ′Qs sind in jedem Fall ähnlich, im speziellen Fall(gleiche Höhe) sogar kongruent. Zur Kontrolle sind PQ und PsQs parallelund gleich lang, weil P parallel zur Basisebene ist. (Die „Lichtebene“ durchdie Kante wird von zwei parallelen Ebenen geschnitten.)Der Schlagschatten liefert auch die wichtige Information für den Eigenschat-ten des Quaders. Dabei wollen wir uns auf unser Raumvorstellungsvermögenverlassen.Ein Hinweis zum Schattieren des Quaders: Flächen im Eigenschatten sind einfach„etwas dunkler“, zeigen aber nach wie vor die Oberflächenstruktur des Quaders (z.B.einer Hauswand). Schlagschatten hingegen „wissen“ natürlich nicht mehr, woher siekommen, und nehmen die Struktur der Schirmebene an (Rasen, Asphalt . . . ). ◾

● Parallelschatten von Zylinder und KegelSchatten von Drehzylindern und Drehkegeln sind fast genauso leicht zu zeich-nen wie Schatten von Quadern. Die Angabe der Lichtrichtung kann so gesche-

Abb. A.16 Zylinder und Kegel mit Schatten

hen, dass man den Schatten des Mittelpunkts M des Deckkreises bzw. derKegelspitze S angibt. Dann haben wir wieder das charakteristische Dreieck,das zur Konstruktion weiterer Schattenpunkte herangezogen werden kann.Beim Drehzylinder wird man um den Schatten Ms von M den Schatten desDeckkreises zentrieren: Dieser ist zum Bild des Deckkreises kongruent. Die ge-meinsamen Tangenten des elliptischen Bildes des Basiskreises und des Schat-tens der Deckfläche liefern den geradlinigen Anteil der Schlagschattengrenze.In den Berührpunkten mit dem Basiskreis starten die achsenparallelen Ei-genschattengrenzen. Beim Kegel braucht man nur aus dem Schatten Ss derSpitze S die Tangenten an das elliptische Bild des Basiskreises zeichnen, umdie Ränder des Schlagschattens zu erhalten. Von den Berührpunkten gehendann die Eigenschattengrenzen zur Kegelspitze. ◾

456 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

A.4 Perspektivisches Skizzieren

Auf der Universität für angewandte Kunst gibt es eine Aufnahmsprüfung.Dort sollen unter anderem die zeichnerischen Fähigkeiten der Bewerber ge-testet werden. Eine Aufgabenstellung lautete vor Jahren: Man skizziere denStiegenaufgang des Hauses. Abb. A.17 zeigt links eine Fischaugen-Fotografiedieser Stiege (von oben). Kann man so etwas überhaupt geometrisch korrektskizzieren?

Abb. A.17 Überblick mit dem Fischauge, allgemeine und spezielle Perspektive

Reduktion des Schwierigkeitsgrads

In der Mitte sieht man eine Weitwinkel-Aufnahme. Die Sache scheint nichteinfacher zu werden. Wahrscheinlich fällt es nicht wirklich auf, wenn wir beimSkizzieren einen Fehler machen. Sicherlich kann es nicht schaden, die Ansichtein wenig zu vereinfachen (rechts). Kein Mensch wird – insbesondere zumZeitpunkt der Aufnahmsprüfung – verlangen, dass jeder Punkt geometrischnachvollziehbar ist. Andererseits: Man kann sehr wohl durch systematischeÜberlegungen sehr gute Ergebnisse erreichen.

Die Methode der Renaissance-Künstler

Perspektiven (Zentralrisse) sind das Ergebnis einer Zentralprojektion aus ei-nem Augpunkt auf eine Bildebene. Dadurch wird der Eindruck des natürli-chen Sehens nachempfunden.Albrecht Dürer erklärte seinen Zeitgenossen und der Nachwelt mit einemHolzstich, wie man Sehstrahlen mit der Bildebene schneidet:Der Sehstrahl ist mittels eines Fadens durch eine Öse E – den Augpunkt –materialisiert, der vermöge eines Gewichts gespannt bleibt. Ein erster Gehilfelegt den Faden am abzubildenden Punkt an, ein zweiter markiert den Durch-stoßpunkt mit dem Bildrahmen mittels eines Fadenkreuzes. Durch kurzfris-tiges Zuklappen des Deckels kann der Bildpunkt festgehalten werden.

Die wichtigsten Grundbegriffe

Um besser reden zu können, brauchen wir einige „Vokabeln“: Der AugpunktE befindet sich in einer Distanz d vor dem Hauptpunkt H der Perspektive.Die Gerade EH ist Sehachse oder Hauptsehstrahl. Eine Gerade parallel zur

A.4 Perspektivisches Skizzieren 457

Abb. A.18 Holzstich zum Durchschnittverfahren

Bildebene π heißt Frontalgerade, eine Gerade rechtwinklig zu π (und damitparallel zur Sehachse) heißt Tiefengerade.Es gilt der zeichentechnisch wichtige Satz:

Parallele Geraden schneiden einander in der Perspektive. Ausgenommen davonsind nur parallele Frontalgeraden, die auch in der Perspektive parallel sind. Tie-fengeraden fluchten im Hauptpunkt.

Frontalgeraden sind in der Perspektive sehr praktisch:

Auf Frontalgeraden bleibt das Teilverhältnis erhalten. Auch der Winkel zweierFrontalgeraden bildet sich in der Perspektive unverzerrt ab.

Die horizontale Ebene, auf der wir stehen, heißt Grundebene, ihre Schnitt-gerade mit der Bildebene Grundlinie. Den Ort, wo unsere Füße sind, nenntman Standpunkt, die Höhe des Projektionszentrums Aughöhe. Projiziert manalle Fernpunkte der Basisebene, erhält man den Horizont. Es gilt:

Horizontale parallele Geraden schneiden sich am Horizont. Bei waagrechter Blick-richtung verläuft der Horizont durch den Hauptpunkt.

Frontale PerspektiveWir verknüpfen nun die Szene sinnvoll mit einem kartesischen Koordina-tensystem mit drei Achsenrichtungen x, y und z , wobei die xy-Ebene dieGrundebene sein soll. Die z-Achse ist dann lotrecht.Wenn wir in Richtung einer Koordinatenachse blicken, ist die Bildebene par-allel zur dazu rechtwinkligen Koordinatenebene, und man spricht von einerfrontalen Perspektive. Zwei der Achsen sind nun Frontalgeraden, auf denenwir Einheitspunkte wählen und Strecken auftragen können (Abb. A.19). Diedritte Achse ist Tiefengerade und fluchtet daher im Hauptpunkt. Abb. A.18ist – abgesehen vom „Inhalt“ – ein klassisches Beispiel für eine frontale Per-spektive.

458 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Abb. A.19 Spezielle Lagen des Koordinatensystems

● Das Quadratraster-VerfahrenIn der Renaissance verwendete man gern ein Verfahren, bei dem ein kom-plexer Grundriss mittels eines Quadratrasters eingeschätzt wurde.Wir pflastern die Grundebene ausgehend von der Grundlinie mit quadrati-schen Kacheln. Dadurch sind die Seiten der Quadrate entweder parallel oderrechtwinklig zur Bildebene. In der Perspektive ist das Bild dieses Rasters wiefolgt einzuzeichnen: Erstens sind die Punkte auf der Grundlinie gleichzeitigihre perspektivischen Bilder, und zweitens fluchten die Tiefengeraden durchH. Den Fluchtpunkt D1 einer Diagonalenrichtung dürfen wir noch frei wäh-len, der andere Fluchtpunkt D2 liegt aus Symmetriegründen symmetrischzum Hauptpunkt H.

Abb. A.20 Quadratraster-Verfahren. Links: Das klassische Verfahren aus der Renaissance. Rechts:Eine Weitwinkelaufnahme, in der man gut die Fluchtpunkte der Quadratdiagonalen erkennen kann(das Foto hat einen leichten „Kisseneffekt“, der bei Objektiven mit sehr kurzer Brennweite oftauftritt).

Der Abstand der Punkte D1 und D2 von H ist gleich der Distanz EH desAugpunkts von der Bildebene (wir haben 45○-Geraden durch den AugpunktE parallel verschoben). Deswegen heißen diese Punkte auch Distanzpunkte.Nun können wir die Grundrisse beliebiger Punkte „interpolieren“. Die entspre-chende Höhe kann man nach der „Telegrafenstangenregel“ auftragen: Manverschiebt den Grundriss rechtwinklig auf die Grundlinie (was in der Per-

A.4 Perspektivisches Skizzieren 459

spektive einer Projektion aus H auf g gleich kommt). Über dem so auf g

projizierten Grundriss darf nun die Höhe unverzerrt aufgetragen und an-schließend zurück projiziert werden. ◾

Perspektiven mit waagrechter Sehachse

Wir wollen nun nicht in Richtung einer Koordinatenachse blicken, aber dieSehachse immer noch waagrecht belassen. Dann bleiben immerhin die lot-rechten Geraden Frontalgeraden und ihre Bilder sind zueinander parallel. Diex-Achse und die y-Achse fluchten in zwei Punkten F1 und F2 am Horizont.

Abb. A.21 Teilung von Strecken (spezielle Vielfache) Abb. A.22 Quaderförmige Objekte

Quaderförmige Objekte, die achsenparallel ausgerichtet sind (Abb. A.22),lassen sich damit bequem skizzieren. Lotrechte Strecken kann man wie be-schrieben mit der Telegrafenstangenregel auftragen und auch beliebig teilen.Ein Wunsch ist allerdings im Freihandzeichnen schwer zu erfüllen: Das exakteAuftragen von Strecken entlang der Koordinatenrichtungen. Doch die Sacheist nicht so schlimm. Es gibt einfache Methoden, Teilverhältnisse in die Per-spektive zu übertragen.Abb. A.21 zeigt, wie man rasch Mittelpunkte bzw. Verdoppelungen von waag-rechten Strecken bekommt, indem man in darüber liegende lotrechte Recht-ecke Diagonalen einzieht.

Abb. A.23 Teilung von Strecken (allgemein)

In Abb. A.23 ist die allgemeine Methode beschrieben: Man wählt auf demHorizont einen beliebigen Hilfspunkt B, schiebt die Strecke PQ auf eineParallele zur Grundlinie. Dort erhält man eine Strecke P0Q0, die zwar i. Allg.nicht in wahrer Länge zu sehen ist, aber man kann mit ihr die gewünschten

460 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Teilverhältnisse eintragen. Dann schiebt man wieder zurück. (Diese Methodefunktioniert, weil man sie räumlich als Parallelprojektion deuten kann.)Ein Hinweis: P0Q0 erscheint umso eher in wahrer Länge, je näher B beim soge-nannten Messpunkt der Strecke liegt (das ist der Fluchtpunkt der Drehsehnen beimParalleldrehen in die Bildebene). Zeichentechnisch kommt man dem Messpunkt derx-Richtung (Fluchtpunkt F1) nahe, indem man die Stecke zwischen Hauptpunkt Hund dem Fluchtpunkt der y-Richtung (F2) halbiert.

Abb. A.24 Römisches Aquädukt und eine Variation von Zorica Nicolic

Abb. A.25 Kettenlinien, wohin man blickt

Jetzt können wir schon Bilder wie in Abb. A.24 rechts zeichnen. Keine Scheuvor krummen Linien. Die ellipsenförmigen Bilder der Kreisbögen sind durchihre lotrechten Anfangstangenten und die waagrechte (im Bild durch einenHauptfluchtpunkt gehende) Tangente im höchsten Punkt schon recht gutfixiert!

Beim Einzeichnen von krummen Kurven sind nach Möglichkeit die Anfangs-tangenten und Tangenten spezieller Punkte (z.B. der höchsten und tiefsten Punk-te) einzutragen.

A.4 Perspektivisches Skizzieren 461

Wenn wir unsere Perspektive auch schattieren wollen: Es ist immer güns-tig, den Richtungen zu folgen, die zu den Hauptfluchtpunkten führen. Diesverstärkt die für das Auge reizvolle „Fluchtpunktwirkung“.Die „Hängebrücke“ und der Liegestuhl in Abb. A.25 wurden auf die gleicheWeise erzeugt. Zur Illustration sind die Tangenten in den Punkten P und Q

der Kettenlinie und deren Schnittpunkt T genau unter dem tiefsten Punkteingezeichnet.

HilfsgerüsteDas Erfassen von krummen Kurven durch Punkte und Tangenten (Linienele-mente) ist ein wichtiger und legitimer Schritt beim Skizzieren. Wenn wir kom-plizierte Objekte darstellen, ist es immer gut, sich ein einfaches Hilfsgerüstzu denken, das wesentliche Punkte des Objekts erfasst.

Abb. A.26 Links: Ein zunächst unverzerrtes Fahrrad (frontale Perspektive). Mitte: Ein gewohnterAnblick. Rechts: Schon ziemlich stark verzerrt (Objektiv mit sehr kurzer Brennweite).

Abb. A.27 Freihandskizzen von Fahrrädern

Betrachten wir als Beispiel ein Fahrrad (Abb. A.26). Genau genommen istes gar nicht so kompliziert: Es liegt im Wesentlichen in einer Ebene. Wenndie Fahrradstange horizontal gedacht wird, bilden ihre Endpunkte mit denMittelpunkten der Räder fast ein gleichseitiges Trapez, und die Kurbel setztetwa in der Halbierung der Radmittelpunkte an. Damit lässt sich schon vielanfangen – das „Drumherum“ ergibt sich in weitere Folge fast von selbst.Abb. A.27 zeigt zwei Fahrrad-Varianten von Stefan Wirnsperger und OtmarÖhlinger. Beim Einzeichnen der Bilder der Räder ist Folgendes zu beachten:

462 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Abb. A.28 Innenansichten eines Tunnels

Regeln bei der Darstellung von Kreisen in Perspektive:

• Das Bild des Kreises ist meist eine Ellipse (manchmal auch Ast einer Hyper-bel), hat also planimetrisch gesehen zwei Symmetrieachsen. Der Mittelpunktdes Kreises entspricht nicht dem Mittelpunkt der Bildellipse (Bildhyperbel).

• Man zeichne nach Möglichkeit die Bilder der vordersten und hintersten Punktedes Kreises samt ihrer lotrechten Tangenten ein, aber auch die Bilder deshöchsten und tiefsten Punkts. Die Bilder der waagrechten Tangenten in diesenPunkten gehen durch den Fluchtpunkt des horizontalen Durchmessers.

Abb. A.28 soll illustrieren, dass Kreisbilder sehr wohl Teile von Hyperbelnsein können. Beim Blick aus einem torusförmigen Tunnel (vgl. Abb. 6.59) be-findet man sich nämlich innerhalb des rechten kreisförmigen Fahrbahnrandsund blickt so, dass nahezu alle sichtbaren Kreise Äste von Hyperbeln werden.Bei starker Krümmung des Tunnels könnte unter Umständen der Innenrandder Straße ellipsenförmig sein, nämlich dann, wenn die Ebene senkrecht zurBlickrichtung durch den Augpunkt den Kreis nicht schneidet.

● Wendeltreppe in PerspektiveIm Jahr 1531 (drei Jahre nach Albrecht Dürers Tod) veröffentlichte Hie-ronymus Rodler ein Buch über perspektivisches Zeichnen. Obwohl manchePerspektive durchaus bemerkenswert ist, hatten Rodlers Erklärungen – imGegensatz zu denen Dürers – manchmal wenig geometrischen Hintergrund.So kam z.B. die Zeichnung in Abb. A.29 rechts oben zustande, deren Anfer-tigung Rodler ausführlich beschreibt.Im Vergleich mit der korrekten Perspektive links finden sich zahlreiche Un-terschiede. Es ist eine gute Übung, die Unterschiede bei den Zeichnungenherauszuarbeiten. Dasselbe gilt für die Fischaugen-Fotografie darunter.

A.4 Perspektivisches Skizzieren 463

Abb. A.29 Wendeltreppen-Studien.

Oben rechts eine Perspektive von Hie-ronymus Rodler , links davon eine „mo-derne Alternative“ von Christian Per-relli. Rechts: Dieses Fischaugen-Fotoscheint entfernt etwas mit RodlersZeichnung zu tun zu haben. Allerdingsgibt es doch gravierende Unterschiede.Insbesondere gibt es beim Fischaugen-bild kaum gerade Linien (außer die Ge-rade trifft die optische Achse).

Schatten in PerspektiveSchattenkonstruktionen sind bei Zentralrissen nicht aufwändiger als bei Nor-malrissen. Wieder ist zu sagen, dass man als Anfänger Schatten nur in einfa-che Szenen eintragen sollte. Falsch eingezeichnete Schatten zerstören viel vondem, was man durch eine perspektivische Skizze eigentlich erreichen wollte:Anschaulichkeit.

Von fundamentaler Wichtigkeit ist folgender Satz:

464 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Der Lichtstrahl durch einen Punkt geht durch den Sonnenpunkt, sein Grundrissdurch den Sonnenfußpunkt.

Abb. A.30 Links Gegenlicht, rechts Rückenlicht

Wir unterscheiden Gegenlicht, Rückenlicht und als Grenzfall Seitenlicht.Der Fall des Gegenlichts ist am leichtesten verständlich (Abb. A.30 links):Die Sonne S bildet sich als Punkt über dem Horizont ab. Das Bild ihresFußpunkts S′ liegt bei horizontaler Sehachse genau unter S am Horizonth. Den Schatten Ps eines Punkts P erhalten wir, indem wir PS mit P ′S′

schneiden. Auch im Bild gilt dann P cs = P cSc ∩ P ′cS′c. Wir können in der

Zeichnung das Symbol für die Zentralprojektion (das c) weglassen, sofern wirzumindest gedanklich zwischen Raumsituation und Zentralriss (Perspektive)unterscheiden.

Abb. A.31 Einfache Szene mit Schatten

A.4 Perspektivisches Skizzieren 465

Nun zum Fall des Rückenlichts (Abb. A.30 rechts): Hier ändert sich von derKonstruktion her nichts, wenn wir akzeptieren, dass der Sonnenpunkt – alstheoretischer Punkt – auch unter dem Horizont sein kann, ohne dass es Nachtist. Das Bild der Sonne erhalten wir nämlich, indem wir die Sonne mit demAugpunkt verbinden (das ist ein Sonnenstrahl, der uns am Hinterkopf trifft)und die Verbindungsgerade mit der Bildebene schneiden (diese steht lotrechtvor uns).

Abb. A.32 Seitenlicht: Konstruktiv einfacher und optisch ansprechend

In der Zeichenpraxis sind oft Sonnenpunkt und Sonnenfußpunkt weit außerhalb desBlatts. Kein Problem für den Freihandzeichner! Solange wir die Punkte anvisierenkönnen, können wir auch die für die Zeichnung wichtigen Abschnitte der Verbin-dungsgeraden einzeichnen.

Abb. A.33 Einfache Szene mit Seitenlicht

SpiegelungenMit kleinen Tricks lassen sich in Perspektiven einfache Spiegelungen ein-tragen. Wir beschränken uns auf waagrechte und lotrechte Spiegelebenen(Wasser und „klassische“ Wandspiegel). Wir merken uns am besten folgendeRegel:

466 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Jeder Spiegel erzeugt eine virtuelle Gegenwelt, die wir durch das Spiegelfensterbetrachten können.

Zu jedem Punkt P gibt es also einen „Gegenpunkt“ P ∗, der sich nach denRegeln der Spiegelung auf der Normalen auf die Spiegelebene befindet. DieAbstände der beiden Punkte von der Spiegelebene sind gleich.Besonders einfach ist die Spiegelung an Wasser durchzuführen (Abb. A.34):Wir suchen zu einem Punkt P seinen Grundriss P ′ in der Wasserebene auf.Nun muss die Strecke P ′P nach unten hin aufgetragen werden. Wenn dieSehachse horizontal ist, können wir diese „Verdoppelung“ direkt im Bild nach-vollziehen.

Abb. A.34 Die Spiegelung an ei-ner Wasserfläche ist einfach

Abb. A.35 Lotrechter Spiegel. Der umschriebene Quaderist das Geheimnis des Erfolgs. . .

Auch die Spiegelung an einer lotrechten Wand (Abb. A.35) ist nicht vielschwerer. Die Spur s der Spiegelebene und die Richtung der Spiegelnormalen(Fluchtpunkt S) müssen bekannt sein. Sei wieder P ein Punkt mit GrundrissP ′. Projizieren wir die Strecke PP ′ in Richtung der Spiegelnormalen wie beider Telegrafenstangenregel. Dann erhalten wir zunächst die Punkte 1 und2 in der Spiegelebene (1 im Schnitt mit der Spur s und 2 darüber). Überden Mittelpunkt 3 der Strecke 12 (Halbierung auch im Bild) finden wir denGrundriss des gespiegelten Punkts und darüber das Bild des SpiegelpunktsP ∗. Merken wir uns 1→ 2→ 3.

A.4 Perspektivisches Skizzieren 467

Drei HauptfluchtpunkteBis jetzt haben wir nur Perspektiven gezeichnet, bei denen die Sehachsewaagrecht war. Nun wollen wir auch den allgemeinen Fall besprechen.

Abb. A.36 Drei Hauptfluchtpunkte und Rückenlicht

Die drei Koordinatenrichtungen fluchten im Bild durch die HauptfluchtpunkteF1, F2 und F3. Der Horizont h = F1F2 kippt bei Ansicht von oben bzw. untenin Richtung des oberen bzw. unteren Blattrands. Lotrechte Geraden bildensich nun nicht mehr parallel ab. Ein Quader ist rasch gezeichnet (Abb. A.36).Wie sieht aber sein Schatten auf die Grundebene aus? Hier müssen wir dieRegel von vorhin adaptieren und dabei beachten, dass die Sonne und ihrGrundriss ebenfalls durch eine Lotrechte verbunden sind, so dass gilt:

In einer allgemeinen Perspektive liegen Sonnenpunkt und Sonnenfußpunkt aufeiner Geraden durch den Fluchtpunkt aller Lotrechten.

Wieder können wir Gegen- und Rückenlicht unterscheiden, je nachdem, obder Sonnenpunkt über oder unter dem Horizont liegt. Der Spezialfall desSeitenlichts bringt diesmal weniger Vorteile als im Spezialfall der waagrechten

468 A Ein Kurs im Freihandzeichnen

Sehachse, denn die Lichtstrahlen sind nur mehr im Grundriss parallel (derSonnenpunkt liegt nach unserer Regel auf einer Horizontalen durch F3).

Abb. A.37 Gegenlicht: Verschiedene Stile, dieselbe Theorie dahinter. . .

Abb. A.37 rechts zeigt eine „fertige“ allgemeine Perspektive (Stefan Wirn-sperger), ohne dass Konstruktionslinien zu sehen sind. Man vergleiche aberden Entwurf des Flughafengebäudes (links), der zeigen soll, dass es durchauslegitim und notwendig ist, sich die Dinge genau zu überlegen.

Abb. A.38 Anspruchsvolle Objekte immer in Quader verpacken und Schatten nur andeuten!

Abb. A.38 soll noch einmal eindrücklich darauf hinweisen, dass man beikomplizierteren Objekten stets umschriebene Quader verwenden und sehrvorsichtig mit dem Eintragen der Schlagschatten sein soll.

B Ein geometrischer Fotografiekurs

Geometrie ist – das haben wirschon gesehen – keineswegs nureine theoretische Gedankenspiele-rei für ein paar Auserwählte. An-wendungen gibt es zuhauf! Einerder naheliegendsten Zusammen-hänge mit anderen Disziplinenliegt bei der Fotografie vor. Fotossind nun einmal „klassische“ Per-spektiven (oder wie im Bild linksFischaugen-Perspektiven). UnserWissen über die Perspektive hilftuns, bewusst gewisse Effekte er-zielen zu können.

Für diejenigen Leser, die vielleicht den theoretischen Teil nur überblätterthaben, werden in diesem Abschnitt so manche geometrische Aussagen wie-derholt. Viele fotografisch interessierte Leser werden vielleicht – nachträglich– einige Dinge noch klarer erkennen, wenn man sie geometrisch beleuchtet:Wie erzeugt man mit einfachen Tricks Bilder, die sonst nur teuren Shift-Objektiven vorbehalten sind? Warum ist die Wahl der Brennweite nicht nureine Frage des „Überblicks“, sondern auch der weiteren Verwendung der Fo-tografie? Wann sind Ultra-Perspektiven nicht nur erlaubt, sondern sogar not-wendig? Warum hängt die Schärfentiefe von der Blendenzahl ab?Nicht nur im Anhang, sondern im gesamten Buch finden sich zahlreiche Illus-trationen zu den einzelnen Fragen. Dadurch werden die Querverbindungenzwischen den Fachgebieten noch verstärkt. Wenn also jemand über die Foto-grafie zur Geometrie kommen will: Es gibt kaum einen schöneren Einstieg!

ÜberblickB.1 Brennweiten und Sehwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

B.2 3D-Bilder in der Fotografie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden? . . . . . . . . . . . . . . 478

B.4 Primäre und sekundäre Projektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

B.5 Von unten oder von oben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

470 B Ein geometrischer Fotografiekurs

B.1 Brennweiten und Sehwinkel

Abb. B.1 Der berühmte Markusplatz in Venedig: 17mm Brennweite, Vollformatsensor. Das Fotoerscheint unnatürlich verzerrt. Wir werden aber später sehen, dass dies unter gewissen Umständen(z.B., wenn sich der Betrachter sehr nahe am zum riesigen Plakat vergrößerten Bild befindet) sogarnotwendig ist, um einen „natürlichen“ Eindruck zu bekommen.

Abb. B.2 Links: Irgendwie dasselbe Motiv, diesmal allerdings mit 400mm Brennweite. Man mussentsprechend weit entfernt sein, und der Eindruck ist völlig anders als in Abb. B.1. Rechts: DasselbeMotiv wie oben, aufgenommen mit einem 15mm Fischaugenobjektiv und Vollformatsensor.

Die heutigen Objektive sind enorm kompliziert. Meist handelt es sich umVario-Objektive (Zoom-Objektive). Vor der digitalen Fotografie wurden fastausschließlich Kleinbild-Negative der Größe 24 × 36 mm verwendet („Klein-bildformat“). Die Objektive der Spiegelreflex-Kameras hatten Brennweitenim Bereich 18 − 300 mm (teure Ausnahmen bestätigen die Regel).

B.1 Brennweiten und Sehwinkel 471

Moderne Digitalkameras haben oft einen Sensor, der deutlich kleiner als dasKleinbildformat ist, und die tatsächliche physikalische Brennweite der Ob-jektive ist entsprechend kleiner (einige Profi-Modelle mit Vollformatsensorbilden die Ausnahme).

Brennweite und Sehwinkel hängen mathematisch zusammenDer physikalische Begriff der Brennweite war (und ist unter gewissen Zusatz-bedingungen auch heute noch) auch ein Maß für den geometrischen BegriffBildwinkel – den Winkel zwischen den Sehstrahlen vom Linsenzentrum durchdie Eckpunkte der Bilddiagonale. Je kleiner die Brennweite, desto größer istdieser. Ist der Bildwinkel größer als 50○ (entspricht auf Kleinbildbasis et-wa einer Brennweite von 35 mm), spricht man von Weitwinkel-Objektiven,bei über 85○ (ca. 24 mm Brennweite) von „Super-Weitwinkel“ oder „Ultra-Weitwinkel“, bei über 180○ (ja, das ist möglich!) von Fischaugen-Objektiven(unter 16 mm). Ist umgekehrt der Bildwinkel kleiner als 20 Grad (ca. 85mm), spricht man von Teleobjektiven.

Abb. B.3 Jedem Sehwinkel ϕ (gemessen in Grad) entspricht eine Brennweite f (gemessen inMillimetern). Die angegebene Formel wurde aus den Angaben verschiedener Kameraherstellerabgeleitet. Generell gilt: Je kleiner die Brennweite, desto größer der Sehwinkel.

Mittlerweile ist die Brennweite als Maß für den Bildwinkel eher verwirrend gewor-den. Digitalkameras auf Spiegelreflex-Basis haben meist einen „Verlängerungsfaktor“zwischen 1,5 und 1,6. Steht also auf einem Zoom 18−200 mm drauf, dann entsprichtdies auf Kleinbildbasis 18×1,5−200×1,5mm = 27−300 mm. Das hängt damit zusam-men, dass die Chipgröße (die lichtempfindliche Schicht) dementsprechend kleiner ist.Ausnahmen bestätigen die Regel: Manche teuren Spiegelreflex-Kameras verlängerngar nicht (Vollformatsensor), manche sogar mit dem Faktor 2.Bei den Digitalkameras, die nicht auf Spiegelreflex-Basis arbeiten (und daher auchnicht die „guten alten“ Objektive verwenden), findet man üblicherweise Brennweiten,die etwa einem Viertel der Werte auf Kleinbildbasis entsprechen. Trotzdem erhältman vergleichbare Bildwinkel. Hier ist die Chipgröße offensichtlich wesentlich klei-ner (was auf Kosten der Bildqualität geht).

472 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Nun möchte man meinen, dass Objektive mit verschiedenen Brennweitenbzw. verschiedenen Bildwinkeln unterschiedliche Bilder liefern. Doch gilt vomStandpunkt der Geometrie der folgende wichtige Satz:

Die gewählte Perspektive hängt nur von der Position des Linsenzentrums undder Richtung der optischen Achse (Neigung der Kamera) ab, nicht aber von dergewählten Brennweite. Eine Teleobjektiv-Aufnahme ist eine gewöhnliche „Her-ausvergrößerung“ des Bildzentrums.

● Ganze Linsensysteme wirken wie eine einzige SammellinseEin modernes Objektiv besteht aus mehreren Linsen und Linsengruppen(Abb. B.4). Bei der Analyse des Strahlengangs stellen wir bald fest, dassdie Sache deutlich komplizierter ist, als man vielleicht angenommen hätte.Man kann zunächst feststellen, dass Strahlen, die parallel in das Linsensys-tem eintreten, zu guter Letzt auf der lichtempfindlichen Schicht gebündeltwerden (wenn die Entfernung ∞ eingestellt ist). Wenn wir die Richtung zumsehr weit entfernten Punkt P durch den Bildpunkt P c parallel verschieben,muss er durch einen festen Punkt E auf der optischen Achse gehen – sonstläge nämlich keine Zentralprojektion vor. Vertrauen wir also darauf, dass dieHersteller von Objektiven ihre 10 bis 15 Linsen so aufeinander abstimmen,dass dies der Fall ist.

Abb. B.4 Der komplizierte Strahlengang durch ein modernes Objektiv. Letztendlich arbeitet dasLinsensystem jedoch wie eine einzige Linse mit optischem Zentrum E (was dem Augpunkt derPerspektive entspricht).

Die Frage, warum sich die Hersteller diese Arbeit antun, ist leicht beantwortet: Nurso kann man die vielen Abweichungen von der idealen Abbildung völlig korrigieren.Es fängt damit an, dass die Spektralfarben unterschiedlich gebrochen werden. Beieiner einfachen Linse hat man „Regenbogenränder.“Wenn P bei der vorgegebenen Entfernungseinstellung nicht sehr weit weg ist,treffen sich die von ihm ausgesandten und in das Linsensystem eingetretenenLichtstrahlen nicht genau auf der Fotoschicht. Der Punkt wird sich daher alsFleck abbilden und das Bild an dieser Stelle unscharf sein. Ist P ein wich-tiger Punkt, wird man die Entfernung zwischen dem vorderen und hinteren

B.2 3D-Bilder in der Fotografie? 473

Linsenblock so weit verändern, dass es wieder einen Bildpunkt P c auf derFotoschicht gibt.Durch das Ändern der Entfernungseinstellung verschiebt sich daher – bei festgehal-tenem Kameragehäuse – der Augpunkt der Perspektive. Dies ist wichtig zu wissen,wenn man z.B. von einem Objekt bei festgehaltener Kamera viele Aufnahmen mitverschiedenen Entfernungseinstellungen macht, um dann mittels Software ein „un-endlich scharfes Bild“ zu erzeugen. ◾

B.2 3D-Bilder in der Fotografie?

Die Gaußsche Kollineation

Nur sehr vereinfacht kann man sagen, dass Fotografie eine Projektion desRaums aus einem Linsenzentrum auf eine gewählte Bildebene (den licht-empfindlichen Sensor) ist. Es muss nämlich etwas Wichtiges dabei beachtetwerden, was zum tieferen Verständnis der Verhältnisse beim Fotografierensehr nützlich sein kann:

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zunahe!

Abb. B.5 Die Gaußsche Kollineation: Je näher am Brennpunkt F das Objekt ist (Gegenstands-weite d), umso größer wird das Bild. Wenn d die einfache Brennweite unterschreitet (d < f), landetder Bildpunkt P ∗ auf der „falschen Seite“.

Physikalisch gesehen handelt es sich gar nicht um eine Abbildung des drei-dimensionalen Raums in eine Ebene. Abb. B.5 zeigt, wie ein RaumpunktP eigentlich in einen Raumpunkt P ∗ hinter der Linse transformiert wird,der normalerweise nicht in der vorgesehenen Bildebene liegt (siehe dazu An-wendung S. 305 und insbesondere Abb. 9.31). Die Verwandtschaft zwischender Situation im Raum und der virtuellen dreidimensionalen Bildwelt wirdGaußsche Kollineation genannt. Wir haben schon bewiesen, dass sie linearist (S. 305), was der Name ja schon andeutet. Geraden gehen also in Geradenüber, und sie ist umkehrbar – ganz im Gegenteil zu einer simplen Projektion

474 B Ein geometrischer Fotografiekurs

auf eine Ebene1. Aus der Geradentreue folgt unmittelbar die Ebenentreue,weil eine Ebene ja als Menge aller Treffgeraden von zwei sich schneidendenGeraden aufgefasst werden können. Ebenen gehen also in Ebenen über, insbe-sondere bleiben Ebenen parallel zur Sensorebene (orthogonal zur Sehachse)parallel.

virtueller Raumhinter der Linse

Realer Raumvor der LinseS

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Abb. B.6 Zu jedem Objekt im Raum gibt es ein virtuelles Objekt hinter der Linse. Der Sen-sorebene (Film- oder Chipebene) hinter dem Linsenzentrum entspricht in der Kollineation eineparallele Ebene vor der Linse. Alle Punkte, die in dieser „Schärfeebene“ liegen, „landen“ genau aufdem Sensor und bilden sich dadurch scharf ab.

Unschärfekreise

P ∗

P

Hauptebene durchdas Linsenzentrumund Blendenöffnung

Realer Raumvor dem Objektiv

Virtueller Raumhinter dem Objektiv

Abb. B.7 Die Blendenöffnung und die Größe des Unschärfekreises hängen direkt miteinanderzusammen. Die Lichtstrahlen, die aus P den Weg zum Sensor schaffen, liegen innerhalb einesschiefen Kreiskegels, der in einen schiefen Kreiskegel durch P ∗ gebrochen wird.

Nehmen wir an, wir haben eine gewisse Entfernung beim Fotografieren einge-stellt. Wenn ein Punkt P nicht genau so weit weg ist, werden die Lichtstrah-len, die von ihm ausgehen und ins Linsensystem gelangen, einander nachder Brechung nicht genau am Sensor treffen. Der Punkt wird sich also als

1Vgl. http://www1.uni-ak.ac.at/geom/files/3d-images-in-photography.pdf

B.2 3D-Bilder in der Fotografie? 475

„Bildfleck“, genannt Unschärfekreis – Englisch circle of confusion (COC) – ab-bilden, und in seiner Umgebung ist das Bild verschwommen. Abb. B.7 zeigt,dass es sich tatsächlich um einen annähernd kreisförmigen Fleck handelt, so-fern die Blendenöffnung, durch die das Licht überhaupt eintreten kann, auchkreisförmig ist: Der Lichtkegel mit Spitze P ist ein schiefer Kreiskegel, derin einen anderen schiefen Kreiskegel durch P ∗ gebrochen wird, und dessenSpurkurve in der Sensorebene wieder ein Kreis ist.

Der Ort aller gestochen scharf abgebildeten Punkte

Wenn P ein wichtiger Punkt ist, sollte man dementsprechend die Entfernungso einstellen (indem man die Entfernung des Linsenzentrums ändert), dassP ∗ = P c am Sensor landet, und der Unschärfekreis „unendlich klein“ ist. Nachden Regeln der Gaußschen Kollineation sind dann alle Punkte, die in der zurSensorebene parallel liegenden Ebene liegen, scharf (Abb. B.8).

Abb. B.8 Die drei Strumpfbandnattern bewegen sich schnell. Wenn man Glück hat, befinden sichfür eine kurze Zeit alle drei Augenpaare in der Schärfeebene.

Gemessen wird also – ein wenig überraschend – nicht die tatsächliche Entfer-nung eines Punktes zum Linsenzentrum, sondern der Abstand der Normal-projektion des Punktes auf die optische Achse, die sog. Gegenstandsweite:

Bei einer Fotografie werden – bei einer Entfernungseinstellung von x Me-tern/Zentimetern – nicht all jene Objekte scharf abgebildet, die x Meter vonder Linse entfernt sind, sondern jene Objekte, die in einer zur hinteren Kame-rawand parallelen Ebene – der Schärfeebene – liegen, die den Abstand x Me-ter/Zentimetern vom Linsenzentrum hat. Perfekte Schärfentiefe gibt es also nurorthogonal zum Hauptsehstrahl (der optischen Achse).

476 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Schärfentiefe – Fliegen- und Elefantenfotografie . . .

Abb. B.9 Die Fliege vor der Linse kommt schon an die kritische Distanz der einfachen Brennweitean das Linsenzentrum heran(und dementsprechend noch näher an die vorderste Linse). Entspre-chend der Gaußschen Kollineation ist die Verzerrung des virtuellen 3D-Bilds extrem (Abb. B.10,siehe auch Abb. 9.31) und die Schärfentiefe minimal.

Abb. B.10 Die Größe des Unschärfekreises hängt extrem vom Abstand des Raumpunkts vomLinsenzentrum ab. Oben rechts: Ein Lupenobjektiv, in das das virtuelle Objekt hineinpasst . . .

Beim Betrachten von Abb. B.8 hat man schon den Eindruck, dass die Schär-fentiefe extrem gering ist. Das ist hauptsächlich auf die große Blendenöffnungzurückzuführen (nahezu Offenblende). Abb. B.9 sieht bis zu einem gewissenGrad auch sehr verschwommen aus – nur die wirklich wichtigen Teile derSzene sind scharf. In diesem Fall war die Blende aber geschlossen, d.h., der

B.2 3D-Bilder in der Fotografie? 477

Durchmesser der Öffnung war minimal. Warum ist das Bild nicht überallscharf?Abb. B.10 zeigt, was passiert, wenn wir ein Objekt anvisieren, das sich sehrnahe am Linsenzentrum befindet. Eine Schnecke kriecht langsam auf die Linsezu und das virtuelle 3D-Bild hinter dem Linsenzentrum „explodiert“ förmlichauf Grund der Gaußschen Kollineation. Die absolute Grenze ist erreicht, wenndie abstehenden Augen die „verbotene Ebene“ im Abstand f vor dem Linsen-zentrum erreichen. Jeder Millimeter Abstandsänderung kann einen enormenUnterschied machen, und deshalb „bricht die Schärfentiefe ein“.

Abb. B.11 Wenn das abgebildete Objekt weit genug von der Kamera weg ist, wird das virtuelle3D-Bild flach und somit „beinahe zweidimensional“. Dadurch gibt es kaum Probleme mit derSchärfentiefe.

Was für ein Unterschied, wenn wir hingegen ein großes Objekt fotografieren(Abb. B.11): Die Distanz ist dann viel größer als die Brennweite f ,und ent-sprechend der Kollineation ist dieser Teil des Raums „harmlos“: Das virtuelle3D-Bild ist nahezu flach und kommt schon viel eher in jene Richtung, die derFotografie gemeinhin nachgesagt wird: Nämlich die Abbildung des Raums ineine Ebene.

Der Traum vom unendlich scharfen FliegenfotoMit dem Wissen, das wir bisher erarbeitet haben, könnten wir Folgendes vermuten:Hätten wir eine winzige Kamera mit einer ebenso winzigen Linse, also auch einerwinzigen Brennweite, könnten wir eine Fliege genauso scharf abbilden, wie wir mitunserer großen Kamera einen Elefanten ablichten können. Es ist eben alles relativ,

478 B Ein geometrischer Fotografiekurs

und das Problem scheint eher die Technologie zu sein: Der Sensor wäre dann auchso winzig, dass die Bildqualität extrem darunter leiden würde. Aber nicht einmaldas wäre das Hauptproblem: Bei Blendenöffnungen von unter einem Millimeterspielt das Licht prinzipiell nicht mehr mit – es hat nämlich Wellenstruktur, unddadurch kommt es an der Blendenöffnung zu Beugungserscheinungen, die uns balddie Freude am erhofften durchgehend scharfen Bild nehmen würden! Fotografenkönnen mit dem „Problem“ zumeist gut leben. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit,Dinge „ausblenden“ zu können, eröffnet wunderbare Gestaltungsmöglichkeiten . . .

Wovon hängt die Schärfentiefe ab?Fassen wir noch einmal zusammen:

Die Schärfentiefe hängt von drei Parametern ab:1. Der Blendenöffnung (je kleiner, desto schärfer, aber mit dem Problem derBeugungsunschärfe unter einem Millimeter Durchmesser),2. der Brennweite f (je kleiner f , desto mehr Schärfentiefe, denn dann ist dieDistanz d eines Raumpunkt im Verhältnis zu f größer), und3. der Distanz des Objekts vom Linsenzentrum: Wegen der Eigenschaften derKollineation nimmt der Abstand des virtuellen Raumpunkts P ∗ dramatisch zu,wenn unser Objekt dem „verbotenen Halbraum“ (wo die Gegenstandsweite unteroder nahe bei f liegt) zu nahe kommt.

B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden?

Der gravierende Unterschied

Abb. B.12 Änderung der Distanz (konstanter Hauptsehstrahl)

Nach der Erkenntnis, dass die Brennweite bzw. der Bildwinkel keinen Ein-fluss auf die Geometrie der Perspektive hat, scheint es gleichgültig zu sein,ob wir mit einem Weitwinkel- oder mit einem Teleobjektiv fotografieren. Ist

B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden? 479

es natürlich nicht: Ein Teleobjektiv hilft uns, überflüssige Dinge nicht ab-zubilden und dafür das Wesentliche ins Zentrum zu rücken. Im Gegensatzdazu können wir mit einem Weitwinkelobjektiv „so viel wie möglich“ ins Bildbringen.Wenn wir an ein Objekt nahe heran treten (kleine Distanz), brauchen wireinen großen Sehwinkel (ein Weitwinkelobjektiv), um es noch ganz erfassenzu können.Das Objekt wird dann stark verzerrt erscheinen, was natürlich auch im Sin-ne des Fotografen sein kann. Beträgt der Sehwinkel etwa 50○, so entsprichtdas einer „angemessenen“ Distanz (etwa dem doppelten Objekt-Durchmesser)und einem „Normalobjektiv“ (ca. 50 bis 60 mm Brennweite).Je weiter wir uns vom Objekt entfernen, desto weniger Verzerrung tritt auf:Die Perspektive liegt jetzt schon sehr in der Nähe des Hauptpunkts. Wir müs-sen das Bild (mithilfe eines Teleobjektivs) stark vergrößern, um das Objektin vergleichbarer Größe zu sehen.

Abb. B.13 Links eine Ultra-Weitwinkel-Aufnahme (17 mm Brennweite), bei welcher der Rüsselschon verdächtig knapp an die Linse kommt, rechts eine Tele-Aufnahme (vgl. Abb. B.12) mitVerflachung der Tiefenabstände.

Bei Ultra-Tele-Aufnahmen (welche, um beim Beispiel des abgebildeten Gnus zubleiben, in der afrikanischen Steppe sehr häufig notwendig sind) nähert sich das Bildeinem Normalriss. Das hat Vor- und Nachteile: Der Nachteil ist, dass die Dramatikverloren geht. Entfernungen erscheinen geringer – so hat man oft den Eindruck, alsob die Gnus und Gazellen, die oft in Nachbarschaft weiden, praktisch am selbenOrt stehen (Abb. B.13 rechts).

Subjektive Änderung der Proportionen

Der Vorteil ist, dass die Proportionen der Tiere den „wahren Maßen“ viel eherentsprechen. Ein Gnu hat sicherlich einen nach hinten abfallenden Rücken,doch der Neigungswinkel ist in Abb. B.12 am ehesten ganz rechts zu sehen.Gelegentlich ist es auch ein Vorteil, von Tieren etwas weiter entfernt zu sein.Der Elefant in Abb. B.13 links hielt die Kamera offensichtlich für Futter, unddas nächste Foto wurde wieder mit mehr Respektabstand gemacht.

480 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Abb. B.14 Tiefenverstärkung beim Weitwinkelobjektiv (28 mm) und Tiefenverkürzung beimTeleobjektiv (670 mm). Das Boot ist etwa 400 m entfernt (das kann man über den Sonnendurch-messer von ca. 0,5○ Bildwinkel abschätzen [16]), aber sicher viele Kilometer von den Inseln imHintergrund.

Von einem Extrem ins andere. . .

Der Extremfall einer Teleobjektiv-Aufnahme ist eine Normalprojektion. Beiihr spielen die Tiefenwerte – also die Abstände vom Beobachter – keine Rollemehr (Abb. B.14).

. . . oder: Wie aus einer Besenkammer ein Prunksaal wird

Abb. B.15 Weitwinkel- vs. Normalobjektiv bei Innenaufnahmen

Auch beim Fotografieren von kleineren Räumen hat man nicht mehr dieMöglichkeit, beliebige Brennweiten zu wählen. Man steht stets vor dem Di-lemma, dass man einerseits möglichst viel abbilden will, andererseits durchextreme Weitwinkel-Aufnahmen einen seltsamen Eindruck des Raums ver-mittelt (Abb. B.15 links): Man bekommt den Eindruck, in einem großen,lang gezogenen Saal zu stehen. Wenn man also für eine Immobilien-Agenturarbeitet und einen 10m2-Raum möglichst teuer verkaufen will. . .

Unfaire Karikatur oder PassfotoAuch beim menschlichen Kopf ist dieser „Verstärkungseffekt“ bei den Propor-tionen sehr augenfällig (Abb. B.16). Wir sind sicher bei diesem „Objekt“ amsensibelsten. Wenn uns also jemand bittet, ein Passfoto von sich anzufertigen,dann wählen wir ein Teleobjektiv!

B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden? 481

Abb. B.16 Weitwinkel vs. Teleobjektiv: Portraits macht man nicht mit Weitwinkelobjektiven!

Auch wenn der menschliche Kopf nicht kugelförmig ist, lässt Abb. B.16erahnen, was man mit einem extremen Weitwinkelobjektiv alles anrichtenkann . . .

Welche Brennweite verwendet man unter Wasser?

Abb. B.17 Für dieses Bild wurde ein Ultraweitwinkel-Objektiv (f = 14mm) verwendet – dererwachsene Delfin berührte beinahe die Linse.

Wenn man große Unterwasser-Lebewesen fotografieren will, muss man – ganzim Gegensatz zur Fotografie an Land – praktisch immer Weitwinkelobjektiveverwenden (Abb. B.17). Jeder Meter verringert die Sicht unter Wasser. Auf10 oder 20 Meter Entfernung sieht man alles blaugrau, und auch die stärkstenBlitze können da nicht helfen!Stärkere Teleobjektive verwendet man praktisch nie unter Wasser (Abb. B.17)– und das aus zumindest zwei guten Gründen. Erstens kann man selbst bei

482 B Ein geometrischer Fotografiekurs

klarem Wasser nur wenige Meter weit sehen, und zweitens ändert sich dieFarbtemperatur rapide mit der Entfernung.Zudem „verlängert“ die Brechung zwischen Wasser und Luft (im Gehäuse undder Linse) die Brennweite ohnehin um etwa ein Drittel, außer man verwen-det einen kugelförmigen „Dom-Vorsatz“, der ebendiese Brechung verhindert.Dadurch werden Weitwinkelobjektive schnell zu „normalen Objektiven“.

Abb. B.18 Blitzen unter Wasser kann kontraproduktiv sein, wenn Plankton vorhanden ist. Im-merhin: Die Pilotfische des Walhais, die ja viel kleiner sind, lassen sich recht gut und farbechtfotografieren.

Abb. B.19 Wenn das Wasser voll von Plankton ist, gibt es nur eine Chance auf gute Fotos:Extrem nahe dran und ein Ultraweitwinkel-Objektiv verwenden (f = 14mm, Vollformatsensor).

In Abb. B.18 pflügt ein Walhai durchs Plankton, durch das die Sicht oh-nehin schon stark eingeschränkt ist. Blitzlicht ist kontraproduktiv, weil esdie Partikelchen im Wasser zum Aufleuchten bringt und die Sicht behindert.Abb. B.18 rechts: Die Begleitfische des Walhais kann man aus kürzerer Di-stanz fotografieren und mit Blitzlicht nahezu in echten Farben ablichten.

B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden? 483

Die Lösung für das „Walhai-Problem“: Ganz nahe dran und eine Kameramit extrem kurzer Brennweite verwenden, damit man das Tier trotzdemganz abbilden kann (Abb. B.19). Neuerdings werden solche „Action-Kameras“(sogar mit Fischaugen-Effekt) vergleichsweise preisgünstig angeboten.

Die Wassertiefe macht viel aus

Man sieht Farben nur unverfälscht, wenn man sehr nahe am Objekt dranist und ein Blitzlicht verwendet bzw. bei Sonnenschein unmittelbar an derOberfläche ist: Nur ein Meter Distanz in einem Meter Tiefe bedeutet, dass dasLicht von der Oberfläche über das Objekt zur Kamera zwei Meter zurücklegenmuss (dasselbe gilt beim Blitzen aus einem Meter Entfernung). Schon werdendie meisten Rotanteile aus dem Licht „geschluckt“. Dadurch, dass es in derNatur keine künstlichen Lichtquellen gibt, wirkt Rot unter Wasser wie eineTarnfarbe.

Abb. B.20 Farbverlust: Ein und dieselbe Schildkröte an der Oberfläche und in 10 Metern Tiefe.

Abb. B.20 links zeigt eine Schildkröte an der Oberfläche, fotografiert aus1,5 m Distanz (Lichtweg knapp 2 m). In Abb. B.20 rechts ist dieselbe Schild-kröte 10 m abgetaucht. Das Sonnenlicht musste nun bereits 11,5 Meter zu-rücklegen, um den Sensor zu belichten.Abb. B.21 links zeigt, dass in 20 Meter Tiefe Rot und Orange wie Tarnfarbenwirken (trotz schwachen Blitzlichts).

Abb. B.21 Links: Ein Meter Abstand vom Steinfisch, schwaches Blitzlicht, tagsüber in 20 m Tiefe(vgl. Abb. B.22 rechts). Rechts: Eine Lampe hilft, nahezu unsichtbare Wesen ausfindig zu machen.

484 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Makrofotografie unter WasserMakrofotografie unter Wasser kann für einen Taucher eine Herausforderungsein, weil man sehr gut austariert eine ruhige Position ohne Hilfe der Schwer-kraft finden muss (insbesondere im Korallenriff ist es streng verpönt, sichirgendwo anzuhalten, und wenn, dann im Notfall an einer unkritischen Stellevorsichtig mit Daumen und Zeigefinger der nicht zum Fotografieren benö-tigten Hand). Dadurch, dass man aber nahe am Objekt ist und man prak-tisch immer mit Blitz arbeitet, bleiben allerdings die Farben im Bild „echt“(Abb. B.21 rechts, Abb. B.22).

Abb. B.22 Je näher man dem Räuber kommt (links ein Skorpionfisch, rechts derselbe Steinfischwie in Abb. B.21 links!), desto mehr versteht man die Wirkung der Tarnfarben. Im Hintergrundsieht man noch das verschwommene Blau des Riffs, das auch der Blitz nicht aufbessern kann.

Abb. B.23 illustriert, wie beim Fotografieren in größeren Tiefen oder beiNacht der Blitz die einzige Lichtquelle ist. „Echtfarben“ sind so leicht zuerreichen, wenn man maximal einen halben Meter dran ist.

Abb. B.23 Links: Nachts ist der Blitz die einzige Lichtquelle. Rechts: Die bemerkenswert gutgetarnten Augen des Krokodilfischs (man beachte die Seitenansicht des Auges im Hintergrund).

Abb. B.24 und Abb. B.25 sollen schließlich illustrieren, dass beim Fotogra-fieren von wirklich kleinen Objekten praktisch kein Unterschied mehr zur

B.3 Wann soll man welche Brennweite verwenden? 485

Makro-Fotografie an Land besteht: Wegen der extrem geringen Schärfentie-fe müssen die wichtigen Punkte in der Schärfeebene liegen. Grundsätzlichsollte man in diesem Größenbereich immer stark abblenden (die Ausleuch-tung ist wegen der geringen Entfernung kein Problem – im Gegenteil: vieleAutomatikblitze neigen auf sehr kurze Entfernung zur Überbelichtung).

Abb. B.24 Ein „echtes“ Closeup. Wichtig: Wegen ihrer Kleinheit müssen die Polypen der Hartko-ralle unbedingt in der Schärfeebene liegen, auch wenn man mit geschlossener Blende fotografiert.Ein „Hüftschuss“ bringt hier kaum ein brauchbares Ergebnis. Das Foto offenbart nachträglich, dassauf der Koralle noch andere Tierchen herumkrabbeln.

Das notwendige Annähern an schnell schwimmende Tiere erfordert viel Ge-duld und Glück, wie etwa beim intelligenten und neugierigen Sepia („Tinten-fisch“) in Abb. B.25. Die Augen der Kopffüßer sind übrigens evolutionsmäßiganders entstanden als die der Wirbeltiere. Sie haben sogar zwei gelbe Fle-cken.Mehr Information zum Unterwasserfotografieren finden Sie z.B. in [10].

Abb. B.25 Das Auge einer Sepia (Tintenfisch) in verschiedenen Ansichten. Diese Augen sindetwas ganz Besonderes und können gleichzeitig nach vorne und zur Seite scharf sehen, weil sie zweigelbe Flecken haben.

486 B Ein geometrischer Fotografiekurs

B.4 Primäre und sekundäre Projektion

Abb. B.26 Primäre Perspektiven eines eher harmlosen Sandtigerhais mit einem Ultraweitwin-kel-Objektiv, dessen Schnauze die Kamera fast berührt. Die Bilder sehen, wenn sie so klein wiehier abgebildet sind und aus 40-50 cm Entfernung betrachtet werden, unnatürlich aus. Wenn aberdie Fotos entsprechend vergrößert werden und der Betrachter in eine nahe Position vor dem Dia-gonalenschnittpunkt „gezwungen“ wird, entsteht ein durchaus „normaler“ Eindruck.

Ultra-Weitwinkel-Aufnahmen sind manchmal notwendig!

Die extremen Weitwinkel-Aufnahmen in Abb. B.26 erscheinen zunächst über-trieben – sie ist es auch, wenn wir das Bild im Buch nachträglich aus 50 cmEntfernung oder mehr betrachten.Aber testen Sie bitte folgenden Sachverhalt: Halten Sie sich ein Auge zu undpositionieren Sie das andere Auge so knapp wie möglich über dem Zentrumdes Bildes (sagen wir etwa 10 bis 15 cm – wenn Sie näher heran gehen, kannIhr Auge nicht mehr scharfstellen). Nun wird Ihnen das Bild keineswegs mehrso absurd verzerrt erscheinen.Das hängt damit zusammen, dass es sehr wohl möglich ist, an das Objektin natura so nahe heran zu gehen. Von dieser nahen Position können Sienatürlich nicht die ganze Szene mit einem Bild erfassen – Ihr Kopf oderzumindest Ihre Augen werden sich herumdrehen, um jedes Detail möglichstgut zu erkennen. Im Verhältnis zum doch recht großen Objekt bleiben dieAugen jedoch praktisch an der selben Position.Nun zurück zum maßstäblich verkleinerten Bild: Wenn Sie in Ihrer Extrempo-sition knapp über der Bildmitte Ihre Augen verdrehen (relevant ist natürlichnur das nicht verdeckte Auge), entspricht das der beschriebenen Kopfdre-hung. Weil Sie nur einäugig sehen, können Sie die Entfernung ohnehin nichtbestimmen. Somit haben Sie einigermaßen dieselbe Situation (verkleinert)

B.4 Primäre und sekundäre Projektion 487

wie sie im Raum stattfindet. Nennen wir die Raumsituation primäre Per-spektive und die Bildsituation sekundäre Perspektive.Dann gilt der folgende, leider nicht sehr bekannte Satz:

Um eine Fotografie realistisch zu empfinden, sollten primäre und sekundäre Per-spektive übereinstimmen. Mit anderen Worten: Der Fotograf sollte sich bereitszum Zeitpunkt der Aufnahme überlegen, ob der Betrachter des Bildes sich maß-stäblich in seine Position versetzen kann.

Abb. B.29 rechts kann unter diesem Aspekt unter Umständen ebenfalls einenotwendige Darstellungsweise sein: Denken Sie an ein begehbares Museum,in dem Bäume dargestellt sind. An einer hohen Seitenwand soll übergroßder abgebildete Baum so dargestellt werden, dass ein in geringer Entfernungvorbei geleiteter Besucher den Eindruck hat, er könne auf den Baum hinaufschauen. Jetzt muss der Stamm im unteren Bereich so dick sein, damit dieserräumliche Eindruck zustande kommt!

Kino-Leinwände und tragbare FernseherDie Sache mit den korrespondierenden Standpunkten erscheint mir so wich-tig, dass wir noch ein praktisches Beispiel folgen lassen wollen: Ein Unter-wasser-Filmer macht Aufnahmen von Riffhaien oder anderen wenig gefährli-chen Haien, wie dem Sandtigerhai in FigSharkAttack1 (die primäre Perspek-tive in Abb. B.27 links). Obwohl die Tiere meist kleiner als ein Mensch sind,erscheinen sie durch seine Ultra-Weitwinkel-Linse sehr stark verzerrt, wennsie die (Weitwinkel!)-Linse inspizieren.

Abb. B.27 Links: Primäre Perspektive – die Kamera ist nahe an der Schnauze des Riffhais. Mitte:Dramatische, aber geometrisch korrekte sekundäre Perspektive: Wer in der ersten Reihe sitzt,bekommt einen durchaus realen Eindruck von der Situation. Rechts: Von weiter hinten stimmendie Bildwinkel nicht mehr mit der primären Situation überein.

Die Aufnahmen sind sensationell gut geworden, und der Film wird im Kinogezeigt (Abb. B.27 Mitte bzw. rechts). Zuschauer in den vorderen Rängensind zwangsläufig in eine sekundäre Perspektive gezwungen, die durchaus derprimären Aufnahme entspricht.Einige Zeit später wird der Film auch im Fernsehen ausgestrahlt. Da gibt eszunächst ein winziges Foto in der Programm-Zeitschrift (Abb. B.28 links), dieneugierig macht: Dort ist ein unnatürlich verzerrter Hai mit riesigen Zähnenzu sehen. Jene Zuseher, die den Film jetzt auf einem kleinen Fernsehgerät

488 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Abb. B.28 Unrealistische sekundäre Perspektiven: Links sieht das Foto vom Riffhai seltsam ver-zerrt aus, auch in der Mitte kommt wegen der kleinen Bildwinkel eine Verfälschung zustande.Rechts: Es ist nicht egal, wie groß das Bild in einer Zeitschrift ist. Der Riffhai braucht eine Dop-pelseite!

aus größerer Distanz betrachten, versäumen aber die Dramatik der Original-Aufnahme (Abb. B.28 Mitte). Sie werden sich ein bisschen darüber mockie-ren, dass die Haischnauzen so unnatürlich schnell hin und her wandern. . .

Wenn Sie also Bilder veröffentlichen wollen, die – wie z.B. in diesem Buch– aus Platzgründen eher klein abgedruckt werden, wählen Sie eine größereDistanz (und ein Teleobjektiv). Kleinere geometrische Illustrationen solltenam besten sogar in Normalprojektion dargestellt sein. Ist Ihnen aber eineDoppelseite in einer Fotozeitschrift garantiert, können und sollen Sie einWeitwinkelobjektiv verwenden (Abb. B.28 rechts).Jetzt sind Sie als potentieller Starfotograf natürlich wieder so klug wie zuvor: Siewollen ja einen doppelseitigen Abdruck – also müssten Sie eigentlich immer einUltra-Weitwinkelobjektiv verwenden. . .

Abb. B.29 Zweimal extremes Weitwinkelobjektiv. Links können wir mit unserem Wissen dieSzene „entzerren“. Rechts können wir kaum eine Aussage über die Stammdicke machen.

In Abb. B.29 links macht die extreme Weitwinkel-Aufnahme den Prunksaal span-nend anzusehen. Unser Wissen über das Aussehen der Säulen und Luster hilft uns,den Saal problemlos richtig in seinen Dimensionen zu erfassen. Im Bild rechts er-innert der gewöhnliche Baum an einen afrikanischen Affenbrotbaum (Baobab) mitextrem dickem Stamm. Das könnte man als „Verzerrung der Tatsachen“ klassifi-zieren. Anderseits sieht man Bäume so, wenn man ganz nahe dran geht und steilhinaufsieht. Hängt also unser Foto in Plakatgröße in zwei Metern Höhe und geht

B.4 Primäre und sekundäre Projektion 489

man darunter vorbei, ist die Ansicht durchaus legitim, um den Eindruck einer Wan-derung durch den Wald zu verstärken.

Abb. B.30 Zwei extreme Weitwinkelaufnahmen. Links: Herbstszene mit 15-20 m hohen Bäumen,rechts etwa 30-40 cm hohes „Buschwerk“.

Abb. B.30 zeigt zwei durchaus vergleichbare Szenen. Der Ähnlichkeitsfaktor beträgtallerdings 50 ∶ 1. Wir sind es eher nicht gewohnt, auf sehr kurze Distanzen einenUltraweitwinkel-Blick anzuwenden und vermuten im rechten Bild größere Pflanzen.

Abb. B.31 Extreme Weitwinkelaufnahmen können auch als Botschaft oder Stilmittel Sinn haben.In jedem Fall erregen sie spontan unser Interesse, weil Dinge, die man als sehr nah empfindet,Reaktionen welcher Art auch immer hervorrufen. Dinge, die eigentlich vergleichsweise klein bzw.„normal“ sind, können überdimensional groß erscheinen.

Abb. B.31 zeigt zwei weitere extreme Perspektiven, die auch eine gewisse „Botschaft“vermitteln bzw. als Stilmittel eingesetzt werden können. Wenn man etwas „einge-trichtert“ bekommen soll oder der Hersteller eines Produkts die enorme Leistungseines Erzeugnisses hervorheben will, kann man optisch ruhig ein wenig übertrei-ben. . .

Leonardos Dilemma

Leonardo da Vinci hatte folgendes Problem, als er das „letzte Abendmahl“entwarf: Das Gemälde ist zehn Meter lang. Die Betrachter werden in einerrelativ kurzen Distanz daran entlang wandern und das eine oder andere Detailbetrachten. Wenn sie stillstehen, brauchen sie einen „Ultra-Weitwinkelblick“.

490 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Abb. B.32 Leonardos Dilemma: Soll er in seiner extremen Perspektive die Köpfe mitverzerrenoder „normal“ abbilden? Leonardo entschied sich für’s Zweitere, weil er wusste, dass man dem10 m langen Bild entlang gehen und nicht nur an der „Idealposition“ verharren würde.

Deshalb müssten natürlich alle Objekte stark verzerrt sein (der Tisch, dieEinrichtungsgegenstände, aber auch die Köpfe der Apostel).Leonardo wusste, dass wir bei den Köpfen am sensibelsten sind. Also ent-schied er sich für einen Kompromiss: Die unbelebte Umgebung unterwarf ereiner extremen Perspektive, die Köpfe nicht!

Abb. B.33 Fischaugen-Perspektive einer Szene mit Personen längs einer langen Front aus nächsterNähe: Hier löst das Objektiv die Verzerrungen bzw. Verkürzungen an den Rändern „auf seine Wei-se“. Man beachte das bewusste Arbeiten mit Lichteffekten – im konkreten Fall liegt Reflexionslichtvor, das von unten kommt und dem Bild eine gewisse Mystik verleiht.

B.5 Von unten oder von oben?

Eine waagrechte Objektiv-Achse kommt unserem gewohnten Sehen recht gutentgegen. Wir haben ein „Savannen-Gehirn“, das es gewohnt ist, Stereobildervon Objekten zu verarbeiten, die sich in einiger Entfernung von uns befinden

B.5 Von unten oder von oben? 491

und „in unserer Preisklasse“ liegen – also nicht zu groß und nicht zu kleinsind.

Abb. B.34 Froschperspektive, aber aus der Sicht eines Vogels oder Vogelperspektive, aber ausder Sicht eines Froschs?

„Überschreitet die Größe des Objekts unseren Horizont“, dann müssen wirunseren Sehapparat kippen – entweder nach oben (wie etwa bei Wolken-kratzern) oder nach unten (bei kleinen Objekten knapp vor uns am Boden).Irgendwann haben sich dafür die Ausdrücke Froschperspektive und Vogel-perspektive eingebürgert. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange man sichbewusst ist, dass viele Tiere sicherlich anders wahrnehmen als wir.

Abb. B.35 Frosch- und Vogelperspektive in den elliptischen Türmen der Sagrada Família inBarcelona

492 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Nach den Regeln der Zentralprojektion kommt jetzt ein weiterer Hauptflucht-punkt dazu: Der Fluchtpunkt aller vertikalen Geraden.Dabei hat sich herausgestellt, dass Bilder, die einen so ausgeprägten Flucht-punkt haben, vom kritischen Betrachter als „künstlerisch besser“ beurteiltwerden. Folgende „Botschaft“ wird dadurch vom Fotografen besser vermit-telt: Das Objekt ist sehr hoch, bzw. ich befinde mich sehr weit über demObjekt.Fast „schmerzhaft“ für das geschulte Auge sind sogenannte leicht stürzendeKanten. Sie treten dann auf, wenn der Fluchtpunkt der vertikalen Geradenweit außerhalb des Bildes liegt (Abb. B.37 links). Dann erscheinen die verti-kalen Kanten der Objekte „fast“ parallel. Die linken Kantenbilder sind dannz.B. nicht ganz parallel zum linken Blattrand, die rechten – entgegen gesetztverdreht – nicht ganz parallel zum rechten Blattrand.

Entweder teure Shift-Objektive. . .

Professionelle Fotografen wissen allesamt über dieses Problem Bescheid. Inden Zeiten der Analog-Fotografie halfen sich Profis oder Amateure mit dickerBrieftasche mit einem sogenannten Shift-Objektiv und einem Stativ: Diesesspezielle Objektiv erlaubt, nicht nur in Richtung der optischen Achse zu fo-tografieren, sondern auch „versetzt“. Geometrisch handelt es sich nach wievor um eine gewöhnliche Zentralprojektion. Praktisch kann man aber dieKameraachse nach wie vor horizontal fixieren und trotzdem den Kanten desHochhauses „nachschauen“. Im Bild bleiben aufgrund der geometrischen Ge-setze die Kanten parallel.

. . . oder ein bisschen geometrisches Know-How

Abb. B.36 Entweder stark fluchtende . . .

B.5 Von unten oder von oben? 493

In Zeiten der Digital-Fotografie hat sich einiges geändert: Eine primäre Per-spektive wird elektronisch festgehalten und kann mit Bildbearbeitungspro-grammen verändert werden (früher gab’s natürlich die Dunkelkammer, wo„getrickst“ wurde, aber es war viel schwieriger). Insbesondere kann man so-gar rechteckige Bilder so deformieren, dass die Ränder dann ein allgemeinesViereck bilden, die Bilder vertikaler Kanten aber parallel werden. Jetzt nochden Rand zum Rechteck zugeschnitten – und schon merkt niemand die Kos-metik.

Abb. B.37 . . . oder wirklich parallele Kanten!

Abb. B.38 Zwei extreme Perspektiven: Rechts ist die optische Achse horizontal. Bei so einemextremen Weitwinkel-Objektiv (14 mm) machen oft ein oder zwei Grad Neigungswinkel einenextremen Unterschied. Wenn es das Motiv lohnt, sollte man mit Stativ arbeiten und sich einbisschen Zeit nehmen.

Niemand? Ein „Geometer“ könnte Ihnen sofort beweisen, dass das neu ge-wonnene Bild nicht mehr original ist, indem er ein paar Tests vornimmt – sowerden z.B. räumliche rechte Winkel bei der vorschriftsmäßigen Entzerrungzu schiefen Winkeln.Die vorgenommene Veränderung war nämlich zweidimensional, nahm alsoauf die Tiefenabstände der einzelnen Punkte keine Rücksicht. Es kann alsogar nicht ganz exakt stimmen. Daher sollte man nur „in Notfällen“ auf diesenTrick zurückgreifen – etwa, wenn man ein ganz besonderes Architekturfotovom Urlaub mitgebracht hat, welches nicht mehr zu wiederholen ist.

494 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Abb. B.39 Architekturfotos: Links „ein bisschen fluchtend“ (stürzend). Die im Bild in der Mittemitfotografierte untere Hälfte wird rechts nachträglich weggeschnitten.

Abb. B.40 Dreimal wurde hier besonderer Wert darauf gelegt, dass die optische Achse waagrechtliegt, indem ein Punkt in größerer Entfernung anvisiert wurde, der in Kopfhöhe liegt.

Wenn man vor dem Abdrücken folgendes Prinzip beachtet, hat man hin-terher fast gar nichts mehr zu tun: Man fotografiert nicht nur das in Fragestehende Objekt (etwa das hohe Gebäude in Abb. B.39), sondern viele an-dere – unwichtige – Dinge dazu. Wichtig ist nur, dass die optische Achsehorizontal liegt. Dies erreicht man z.B. auch ohne Wasserwaage, indem manKöpfe von Personen anvisiert, die sich in gleicher Höhe vor dem Gebäude be-finden. Bei der Nachbearbeitung braucht man nur noch den „digitalen Junk“wegschneiden. . .

Abb. B.41 Die „Auslagerung“ des Hauptpunkts

B.5 Von unten oder von oben? 495

● Werbung mit langen FrauenbeinenWir wissen mittlerweile, dass Objekte umso mehr verzerrt werden, je wei-ter sie von der optischen Achse entfernt sind. Bei einem Ultra-Weitwinkel-objektiv sollten deshalb Köpfe immer in der Nähe des Hauptpunkts sein.Köpfe meinetwegen, aber Beine?

Abb. B.42 Man verwende ein Ultra-Weitwinkelobjektiv. Die Beine sind am besten diagonalangeordnet und der Linse zugewandt. Jetzt hängt es nur noch vom Bildausschnitt ab, ob dieBeine besonders lang erscheinen. Im konkreten Fall verstärken die Flossen den Eindruck.

Betrachten wir zunächst Abb. B.41. Links ist das Originalfoto eines Weingla-ses zu sehen, rechts ein Detailausschnitt. Auf einem Werbeplakat würde mansicher nur den Ausschnitt wählen – der Rest interessiert erstens niemanden,und zweitens wollen wir mit unserer extremen Verzerrung einen Blickfangerzeugen.Womit wir beim Thema sind. Die Werbung zeigt überdurchschnittlich oftFrauen mit langen Beinen. Manchmal sind diese Beine sogar fast „unmensch-lich“ lang. Abb. B.42 zeigt, wie das mit Tricks gemacht werden kann. ◾

Kollineare Verzerrung eines Fotos

Abb. B.43 Extreme Verzerrung eines Quadratrasters. Mitte: Mit einem gängigen Bildbearbei-tungsprogramm – nicht linientreu (kollinear); rechts: kollinear durch exakte Anwendung mathe-matischer Gleichungen.

496 B Ein geometrischer Fotografiekurs

Wir wollen noch eine zweite Methode erwähnen, wie sich Effekte wie inAbb. B.42 erzielen lassen: Man kann Fotos kollinearen Transformationen un-terwerfen, die beliebig ausgewählte Vierecke in andere Vierecke, z.B. Rechte-cke, „verwandeln“. Die Kollineation ist linear, weswegen Geraden in Geradentransformiert werden.Abb. B.44 zeigt links ein originelles Foto, halb unter und halb über Was-ser aufgenommen. Man sieht, dass in beiden Fällen eine Zentralprojektionauftritt, wenn auch mit geänderten Parametern. Die Vertikalen in der obe-ren Bildhälfte fluchten in einem Hauptfluchtpunkt, die vertikalen Kanten desSchwimmbeckens hingegen sind nahezu parallel. Im rechten Bild wurde die-ses Bild via Computer kollinear so transformiert, dass die oberen Vertikalenbeim Hochhaus-Umriss bzw. Baum „parallelgebogen“ sind.

Abb. B.44 Aussicht eines Schwimmers am „Badeschiff“ am Wiener Donaukanal

Nun muss allerdings ein Bildausschnitt gewählt werden, der ganz im TrapezPlatz hat (Bild rechts, roter Rahmen). Nachträglich ist kaum zu merken, dassdas Foto grob manipuliert wurde und eigentlich eine Scheinwelt zeigt, dienicht mehr genau der Realität entspricht. Die Kanten unter Wasser wurdenz.B. nicht exakt parallelgerichtet.

Abb. B.45 Links: Eine Schnecke überkriecht das perspektive Bild eines Würfels. Rechts: Dasgesamte Foto wird einer Kollineation so unterworfen, dass der Würfel wieder „normal“ erscheint.Das Bild des Tierchens ist nun kein Abbild einer realen Schnecke mehr.

In Abb. B.45 links überkriecht eine Schnecke das perspektive Bild eines Wür-fels. Die Projektion des Würfels ist durch das Fotografieren der Situationeiner zweiten Kollineation unterworfen (sekundäre Perspektive). Rechts ist

B.5 Von unten oder von oben? 497

diese Kollineation „aufgehoben“, indem das gesamte Foto einer Kollineationunterworfen wird. Jetzt sieht der Würfel zwar wieder „normal“ aus, das Bildder Schnecke stammt aber nicht mehr von einer realen Schnecke.Solche Ungereimtheiten finden sich mittlerweile bei nicht wenigen Fotos undlassen Rückschlüsse auf die verwendete Software zu. Abb. B.43 zeigt die – zu-gegebenermaßen sehr extreme – Transformation eines Quadratrasters mittelseiner renommierten Software. Das Ergebnis ist deutlich nicht linear, auch dieUnterteilungen des Rasters erscheinen nicht dort, wo sie sein müssten, wennman die Sache exakt durchrechnet. Das rechte Bild könnte eine Fotografiedes Rasters aus einer extremen Position sein.Nachträglich soll bemerkt werden, dass die kollineare Verzerrung bzw. Entzerrungeiner ebenen Figur sehr wohl exakt funktioniert. Abb. B.46 illustriert dies an einemrealen Beispiel (Foto von einem medizinischen Vortrag von Zvi Ram). Geometrischinteressant: Das Virus hat die Form eines Ikosaeders mit einem Durchmesser von1/10000 mm!

Abb. B.46 Abfotografieren von einer Projektionswand: Wenn man nicht unmittelbar neben demProjektor steht, ist das Bild kollinear verzerrt. Eine Entzerrung eines allgemeinen ebenen Vierecksist aber auf korrekte Weise möglich. So konnte das rot eingerahmte Detail der Projektion im linkenBild trotz der begrenzten Auflösung der Projektion erstaunlich gut rekonstruiert werden.

Als letztes Beispiel zu diesem Thema betrachte man Abb. B.47: Wenn Sie einenoriginellen Schnappschuss vom Baptisterium in Florenz – aufgenommen von einerpreiswerten Kompaktkamera – zur Verfügung haben (immerhin sieht man den Voll-mond hinter der Domkuppel, vgl. S.289), dann wird es Ihnen niemand verübeln, dasBild ein wenig „nachzubearbeiten“ – schließlich kostet eine weitere Übernachtungim Zentrum von Florenz nahezu gleich viel wie die Kamera. . .

Abb. B.47 Links: Nächtlicher origineller Schnappschuss an historischer Stätte mit einer Kom-paktkamera (Format 4 ∶ 3). Rechts: Geometrisch gerade noch vertretbare Manipulation des Fotos(Format 3 ∶ 2). Der leichte Knick in der Kante des Turms rechts ist auch am Original links zuerkennen.

Abb. B.48 Ein letztes Foto zeigt eine Mehrfachspiegelung mit annähernd parallelen Spiegeln. Wasist hier virtuell? Wo steht die Person wirklich? Wie kommt so ein Bild zustande? Die Geometriehilft uns, solche Fragen zu enträtseln. Man beginnt dabei praktisch immer mit einer möglichsteinfachen Skizze, z.B. mit einem Grundriss. . .

Ergänzende LiteraturDas Buch ist so aufgebaut, dass man beim Lesen möglichst ohne zusätzliche Querverweise auskommt (bzw. eswurden die Quellen an Ort und Stelle angegeben). Hier wird hauptsächlich weiterführende Literatur aufgelistet.

[1] G.Bär: Geometrie – Eine Einführung für Ingenieure und Naturwissenschaftler. B.G.Teubner, 2001.

[2] H.Brauner: Lehrbuch der konstruktiven Geometrie. Springer Wien, 1986.

[3] G.Farin: NURBS – From Projective Geometry to Practical Use. A.K.Peters Ltd., 1999.

[4] G.Farin: Kurven und Flächen im Computer Aided Geometric Design. Vieweg, 1994.

[5] T.Fruchterman,E. Reingold: Graph Drawing by Force-directed Placement. Software - Practice and Expe-rience 21, 1991, pp. 1129-1164.

[6] O.Giering, J.Hoschek : Geometrie und ihre Anwendungen. Hanser Verlag, München 1994.

[7] G.Glaeser: Fast Algorithms for 3D-Graphics. Springer Verlag New York, 1994.

[8] G.Glaeser, H.Stachel: Open Geometry – Open GL + Advanced Geometry. Springer N.Y., 1997.

[9] G.Glaeser, H.P.Schröcker: Geometric Programming Using Open Geometry GL. Springer N.Y., 2002.

[10] G.Glaeser: Praxis der digitalen Makrofotografie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2008.

[11] G.Glaeser, K. Polthier: Bilder der Mathematik, 2. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg2009.

[12] G.Glaeser: Wie aus der Zahl ein Zebra wird. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010.

[13] G.Glaeser: Geometry and its Appications in Arts, Nature and Technology. Springer Wien New York2012.

[14] G.Glaeser, H. Paulus: Die Evolution des Auges. Springer Spektrum, Wien 2013.

[15] G.Glaeser: Nature and Numbers – a mathematical photo shooting. Ambra/de Gruyter, Wien 2013.

[16] G.Glaeser: Der mathematische Werkzeugkasten - Anwendungen in Natur und Technik, 4. Auflage.Springer Spektrum, Heidelberg 2014.

[17] G. Glaeser, F. Gruber: Developable surfaces and contemporary architecture. Mathematics and the Arts,Vol. 1/2007, 1–15.

[18] B.Green: Das elegante Universum. Berliner Taschenbuch Verlag, 2002.

[19] Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach. Ein endlos geflochtenes Band. Ernst Klett Verlag, Neuauf-lage 2006.

[20] F.Lesák: Ausschnitt02 . Hefte zu Themen des plastischen Gestaltens, ISNN 1027-7226, 1997.

[21] D.Marsh: Applied Geometry for Computer Graphics and CAD. Springer, 2000.

[22] R.Müllner, H.Löffler, A.Asperl: Darstellende Geometrie I, II . oebv-hpt, 1999.

[23] G.Pillwein, A.Asperl, R.Müllner, M.Wischounig: Raumgeometrie – Konstruieren und Visualisieren. oebv-hpt, 2006.

[24] H.Pottmann, A.Asperl, M.Hofer, A.Kilian: Architekturgeometrie. Springer Wien New York, 2010.

[25] H.Prautzsch et.al.: Bézier and B-Spline Techniques. Springer, 2002.

[26] H.Scheid: Elemente der Geometrie. Elsevier, Heidelberg, 1994.

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[28] D´À. Thompson: On Growth and Form. Cambridge University Press, 1961. Canto Edition Reprint 2000.

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[30] J.Warren, H.Weimer: Subdivision Methods for Geometric Design. Academic Press, 2002.

[31] W.Wunderlich: Darstellende Geometrie I und II . Bibliographisches Institut Mannheim, 1966/67.

[32] W.Wunderlich: Ebene Kinematik . Bibliographisches Institut Mannheim, 1971.

BildnachweisDas Buch enthält mehr als 2300 Figuren, verteilt auf etwa 900 Abbildungen. Folgende Abbildungen wurdenfreundlicherweise zur Verfügung gestellt, ohne dass der Name des Fotografen / Künstlers explizit im Text erwähntwurde:2.12 Foto: Reiner Zettl5.17 Gerald Zugmann

5.18 Gerald Zugmann, Paula Goldman

5.69 Alexander Glaeser6.38, 10.26 Statikbüro Bollinger/Grohmann/Schneider, Metallbau Pagitz

6.75 Matthias Ecker6.93 rechts Karin Pfaffstetter-Odehnal6.94 ISOCHROM.com, Vienna

6.95 Christian PerrelliS. 269 [Gehry, DG Bank Berlin] Foto Christian Perrelli

9.4, 9.78 Harald Andreas Korvas (sodwana.uni-ak.ac.at/korvas)

8.33 Foto: Kasimir Reimann9.63 links, B.47 Romana König

9.28 Foto links: Elisabeth Halmer9.28 rechts: Torre Annunziata / Villa di Poppea, credit: B. Andreae, Neue Forschungen in Pompeji und denanderen vom Vesuvausbruch 79 n.Chr. verschütteten Städten (1975) Abb. 26, Database: HeidICON - KlassischeArchäologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

9.40 Mischa Erben9.83, 9.84 artpool.cc (www.artpool.cc/marianne, www.artpool.cc/grisei)

13.44 Helen Binet Studio, 24a Bartholomew Villas, London NW5 2LL, U.K.

A.30 links Othmar Glaeser

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

IndexAAbbildungsvorschrift, 45absolute Kreispunkte, 157, 220Abstandsebenen, 26Abstandsfläche, 26Abstandskreis, 23Abstandskugel, 124Abstandslinien, 26Abstoßungskräfte, 114Abtriebsachse, 370Abu Simbel, 303abwickelbare Flächen, 30, 226, 285Abwickelvorgang, 267Abwicklung, 57, 89Achterschleife, 396Adhäsion, 222, 420Affenbrotbaum, 488affine Verzerrungen, 188Affinitätsachse, 101, 102ähnliches Dreieck, 9Ähnlichkeitsfaktor, 4Akustik, 192Alberti, viialgebraische Gleichung, 138Algorithmus, 115Aluminium, 167Aluminiumschicht, 172Analog-Fotografie, 492Analoguhr, 393Anamorphosen, 182Android, 343Anemone, 223, 233Angabeelemente, 156angenäherte Geradführung, 352Animation, 85Ankreis, 10Anschauungsraum, 21, 22, 31Ansicht von links, 70Antarktis, 391anti-invers, 29Antiparallelogramm, 347, 348Antipode, 175Antriebswelle, 33Aperiodizität, 408Apollonischer Kreis, 24Apollonius von Perge, 24Äquinoktium, 67Archimedes, 3, 16, 17, 94, 245, 246, 415archimedische Körper, 75, 99archimedische Parkettierung, 407Archimedische Spirale, 255Architektur, 46, 81, 124, 133, 148, 150, 167, 196,

221, 233–235, 242, 271, 294, 376Art, 423Aschenbecher, 115, 116Asteroidengürtel, 430Astgabel, 3Astigmatismus, 222Astroide, 18, 338Astronomie, viAsymptoten, 160Atomuhr, 392Attraktorpunkte, 265Außenmaße, 72Auffächerung, 328Auflagepunkt, 337Aufradrollung, 357Aufriss, 56, 97Augapfel, 289Augenarzt, 222Augenlinse, 322Augenmaß, 191Aughöhe, 457Augposition, 290Augpunkt, 291, 456Ausgangskapital, 256Ausgangsradius, 419Ausrundungsflächen, 233Austrittswinkel, 327Autobahnauffahrt, 250Axiome, 4, 22Axiomensystem, 40

BB-Splinekurve, 278Bach, 440back view, 58Baggerschaufel, 246Bahnellipse, 394Bahnkreis, 122Bahnkurven, 111Bahnnormale, 337Bahnschraublinie, 251Bahntangente, 338Balkenverbindung, 135Bambus-Hocker, 142, 202Baobab, 488Baptisterium, 288, 497Basilica di Santa Prassede, 405Basisebene, 31, 59, 293Bauingenieurwesen, viBauzeichnung, 73Beckenhöhe, 51Beduinen, 417begleitendes Dreibein, 110Beilagscheiben, 71Beleuchtungsvorgang, 82Belichtungszeit, 163Berührkreis, 28Berührnormalen, 26Berührpunkt, 106Berührstrecken, 134Berger, 409Berlin, 190, 388Bernhardt, 392, 396, 398, 399Beugung, 172Bézierkurve, 276, 278, 413Bézierspline, 278Bézout, 138, 203Bezugsebene, 57Biedermeierzeit, 353Biegemaschine, 282Biegevorgang, 141Bierdeckelmethode, 12Big Bang, 42Big Crunch, 42bilaterale Symmetrie, 417Bilateria, 417Bilbao, 242Bildbearbeitungsprogramm, 493Bilddiagonale, 471Bildebene, 44Bildellipse, 129, 442, 443, 445–448, 450Bildende Künste, viBildentstehung, 329Bildhebung, 290, 325Bildpunkt, 44, 320Bildsituation, 487Bildspurdreieck, 299Bildwinkel, 471Billardkugel, 52Binormale, 110, 166Binormalentorse, 166Biologie, vi, 431Bleistift, 450Bleistiftspitzer, 374Blendenöffnung, 474Blendenzahl, 469Blitzlicht, 113, 483Blume, 99Bodenstation, 124Boeing, 278Bogenbrücke, 156Bogenlänge, 108, 136Bolyai, 41Bombay, 177Boolesche Operation, 286Böschungskegel, 164Böschungslinie, 258bottom view, 58Boysche Fläche, 268Brachistochrone, 341Braunalge, 266Brechung zum Lot, 322Brechungsgesetz, 305, 324Brechungsindex, 325Breitenkreis, 177, 213Brennebene, 170Brennfläche, 169, 397Brennlinie, 170, 185, 341, 397Brennpunkt, 23, 42, 152Brennpunkteigenschaft, 191

G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik,DOI 10.1007/978-3-642-41852-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Index 501

Brennspiegel, 153, 191Brennstrahlen, 152Brennweite, 320, 461, 471, 472Brianchon, 157Briefwaage, 346Brille, 222Bruegel, 254Brunelleschi, 124, 190, 288, 289Buenos Aires, 177Bündelgeometrie, 41Bündelstrahl, 38Bündelungseffekt, 171Bündelzentrum, 31

CC-Dur Tonalität, 440Calatrava, 238, 242Camera obscura, 333Cardano, 356Cassinische Kurven, 25, 218Catalan, 98Catalanische Körper, 98chair tiling, 408Chemie, viCheops, 81Chilliada, 272Chipgröße, 471Chitin-Panzer, 331Choreografie, 431Chromosomen, 247circle of confusion (COC), 475Circumpolarstern, 379Citroen, 276Clipping, 300Cloud Gate Chicago, 181Cockpit, 321Cognacschwenker, 115Commodore Amiga, 85Computergeometrie, vi, 82, 226, 376Computergrafik, vi, 218, 318Computersimulation, 258, 330, 344, 394, 396, 430Crux, 391

Dda Vinci, vii, 376, 489Dachkante, 293Dandelin, 133, 152Datumslinien, 393de Boor, 278de Casteljau, 276–279de la Hire, 103, 372Deckengemälde, 308Deflation, 408Delfin, 481Demo-Programme, xDesign, vi, 148, 190, 191, 225, 226, 233, 238, 272,

273, 275, 276, 280, 281Desoxyribonucleinsäure (DNS), 247, 253Diagonalenrichtung, 458Diakaustik, 326Differentialgleichung, 155Digital-Fotografie, 493Digitalkamera, 471Dimension, 1, 27Dimensionssprung, 37, 41Dioptrie, 222diskrete Schar, 272Distanz, 291Distanzkreis, 291Distanzpunkte, 458DNS, 247, 253Dodekaeder, 88, 90, 91, 114, 282, 403, 413Dom-Vorsatz, 482Dominantparallele, 440Doppelbande, 52Doppelbelichtung, 313Doppelberührung, 142Doppeldominante, 440Doppelhelix, 246, 247, 253Doppelkegel, 144Doppellösung, 23Doppelpunkt, 149Doppelschnecke, 246Doppelschneckenmischer, 246Doppelspiegelung, 53Doppelsubdominante, 440Drahtgittermodell, 282Drahtschlinge, 262Draufsicht, 70Drehellipsoid, 190, 208, 226, 326Drehfläche, 26, 35, 230, 271Drehhyperboloid, 196, 326

Drehimpuls, 394Drehimpulserhaltungssatz, 394, 428, 429, 431Drehkegel, 144, 188, 214Drehkegelstumpf, 145Drehkomponente, 244Drehkreuz, 369Drehmaschine, 342Drehmeißel, 342, 357, 358Drehparaboloid, 193, 194Drehstreck-Vorgang, 428Drehtisch, 357Drehung, 76, 78Drehyperboloid, 199, 214Drehzylinder, 26, 131, 141, 188, 233, 243Drehzylinderkeile, 135Drehzylindermantel, 131Dreidimensionaler Quintenzirkel, 439Dreieck, 3Dreiflach, 79Dreiklang, 440duale Räume, 28Dualitätsprinzip, 30Dunkelkammer, 493Dupin, 207, 229Dupinsche Indikatrix, 263Durchdringung, 224Durchdringungskurve, 149Durchgangsloch, 248Durchschnittverfahren, 291, 292Durchstoßpunkt, 60Dürer, 403, 456, 462Düse, 71

Ee-Moll, 440ebene perspektive Affinität, 101ebene perspektive Kollineation, 101Ebenenraum, 1, 28, 31Ebenenstellung, 21Ebenentreue, 474Echtzeit, 85Eckenschwerpunkt, 8Eierkokon, 323Eigengewicht, 434Eigenrotation, 374Eigenschatten, 82, 455Eigenschattengrenze, 85, 120, 121, 132, 395, 455Einheitskugel, 446Einheitspunkte, 49Einheitswürfel, 447einschaliges Drehhyperboloid, 196, 197, 199–201, 209,

373, 449Einstein, 42Einzelreaktion, 431Ekliptik, 128, 377Elefant, 434, 479Elektromotor, 364Elemente, 22Ellipse, 36, 39, 103, 104, 277, 278, 289, 313, 319,

321, 341, 348, 442–444, 448, 450Ellipsenbewegung, 355, 360, 361Ellipsenfräse, 356Ellipsenscheitel, 107Ellipsenzirkel, 355, 358, 359Ellipsoid, 161elliptische Ebene, 41elliptische Flächenkrümmung, 113elliptische Paraboloide, 194elliptischer Zylinder, 141, 188Empfänger, 193Empfangsgerät, 193enharmonisch, 438Ennepersche Fläche, 266Entzerrung, 497Epitrochoide, 362Eratosthenes, 210Erbmaterial, 247Erdachse, 387Erdkugel, vii, 21, 114, 129, 130, 143, 173, 175–178,

189, 209, 446, 447Erdmittelpunkt, 176, 178Erdumfang, 210Erfahrungswert, 290Ersatzkonstruktion, 29Erzeugende, 237Escher, 14, 15, 186, 218Etikett, 141Euklid, 6, 22, 40Euklidische Gruppe, 406Euler, 12, 77, 87Evolute, 106, 120, 341Evolutentorse, 119Evolution, 426

502 Index

Evolventenzahnräder, 202, 250exakte Geradführung, 33Explosionszeichnung, 149, 400Exponentialfunktion, 155Extremposition, 486exzentrisch, 371eye catcher, x, 315

FFacette, 330Facettenauge, 114, 323, 330Fadenkreuz, 456Fahrrad, 336, 337, 461Fahrradspeichen, 52Fallschirm, 61Farbtemperatur, 482Ferguson, 278Fermat, 14Fermatscher Punkt, 13Fernebene, 21, 47Ferngerade, 20, 21, 28, 36, 39, 40, 46Fernpunkt, 18, 80, 176, 335Fernsehen, 487Feuerbach, 12Feuerbachkreis, 13Feuerlilie, 215Feuerwerkskörper, 19Fibonacci, 426Fibonaccizahl, 410Fichtenzapfen, 407Fischaugen-Objektiv, 315, 318, 471Fischaugenbild, 320Fischschuppen, 172Fischschwarm, 431Fixiermechanismus, 352Fixkreis, 362Flächen zweiter Ordnung, 188Flächengrad, 280Flächenkrümmung, 113Flächennormale, 111, 227Flächenregel, 378Flächentangente, 206Flächenmetrik, 267Flachkreis, 213Flachpunkt, 110, 114Fledermaus, 376Fleischfresser, 434florentinisches Muster, 404Florenz, 497Flughund, 332Flugroutenproblem, 177Flugsimulator, 375Flüsterschalen, 192Formenvielfalt, 432Foster, 261Foto, 299Fotografie, vi, viii, 44, 45, 48, 55, 130, 289, 306, 315,

318, 320, 321, 469, 470, 473, 475, 487Fotomontage, 50, 73Fotozeitschrift, 488Fourier, 366Fourier-Entwicklung, 366Fräser, 374Fräserflanken, 250Frauenbeine, 495Freiformfläche, 269, 273, 286front view, 58frontale Perspektive, 291, 457Frontalgerade, 457Frontalriss, 442Froschperspektive, 491Fruchterman/Reingold, 115Fußgängerbrücke, 242Fuhs, 357Fuller, 177Fundamentalsatz der Algebra, 138Funktionsgraph, 270, 271, 366Fuß des Regenbogens, 328Fußball, 94, 414

GGärtnerkonstruktion, 42Ganghöhe, 452Gänseblümchen, 427Gärtner, 361Gärtnerkonstruktion, 23Gauß, 41Gaußsche Kollineation, 305, 473Gaudi, 156Gaudí, 200Gauß, 305Gegenlicht, 464

gegensinnig kongruent, 4, 76Gegenstandsweite, 473, 475Gehirnleistung, 330Gelenkparallelogramm, 346Gelenktrapez, 351Gelenkviereck, 350, 352geodätische Linie, 41, 110, 116, 117, 142, 165Geodreieck, 16, 337Geografie, vigeografische Breite, 177, 381, 387Geoid, 189gerade offene Schraubregelflächen, 247Geraden-Kongruenz, 31Geradenbüschel, 38Geradenhüllbahn, 339Geradenraum, 28, 30, 31Geradenrichtung, 22Geradenschar, 198, 201, 202Geradenspiegelung, 7Geradentreue, 474Geradführung, 352gesterntes Dodekaeder, 92Gherkin tower, 261Gibbs, 392, 399Giraffe, 435Glanzpunkt, 112, 183Glasfassade, 168Glaskörper, 289Gleichdick, 361Gleichgewicht, 13Gleichgewichtslage, 115, 155gleichschenklig, 87gleichseitig, 87gleichsinnig kongruent, 4, 76Gleitspiegelung, 406Gliedertiere, 434global, 210Global Positioning System (GPS), 130Glockenblume, 224, 226, 453Glutbrocken, 430goldener Schnitt, 410, 426goldener Winkel, 427GPS, 130Grasshopper plugin, 265Gratlinie, 166, 227, 237, 286Gratschraublinie, 249Gravitation, 374, 429Gravitationsgesetz, 429Gravitationslinsen, 22Grenzkegel, 325Grenzlage, 106, 109, 337großes Dodekaeder, 92großes Ikosaeder, 92Großkreis, 114, 123, 178, 363Großkreis der Himmelskugel, 392Großwetterlage, 428Grund- und Aufriss, 53, 56, 60, 61, 136, 296, 301,

387Grundbaustein, 404Grundebene, 457Grundlinie, 293, 457Grundriss, 56, 97Gullstrand, 329Gummihaut, 262Gummiring, 99Gürtelkreis, 213, 223

HHaarspalterei, 161Habichtsfliege, 114Haihaut, 403, 437Halbellipse, 128, 129Halbschatten, 85, 89Halbschnitt, 71, 72Halbtorus, 218Halfpipe, 140Hängekuppel, 433Hardware, 331Harmonie, 438harmonische Schwingung, 77, 241Hart, 33Hartkoralle, 485Harztropfen, 424Haselblattroller, 118Haucksche Perspektive, 317Hauptfluchtpunkt, 291, 467, 492Hauptgerade, 63, 159Hauptkrümmung, 265Hauptkrümmungen, 222, 263Hauptnormale, 109Hauptnormalebene, 327Hauptnormalenbild, 227Hauptpunkt, 291, 456, 479

Index 503

Hauptrisse, 53, 55, 57, 60, 92Hauptsatz der räumlichen Kinematik, 373Hauptscheitelkreis, 103Hauptsehstrahl, 289, 456Hawking, 41Heißluftballon, 306Heidelberg, 104Heliochronometer, 399Helispirale, 255Helispiralung, 258, 275Helligkeit, 419Henkelpunkt, 110Hexaeder, 88Hexenschaukel, 371Hilfsgerüst, 461Hilfsriss, 57Himmelsäquator, 363, 396Himmelsachse, 393Himmelskugel, 392Himmelspol, 379, 393Hochgeschwindigkeitsaufnahme, 272Hoecken, 358Höhenschnittpunkt, 299Hofmann, 392, 398Höhenfußpunkt, 13Höhensatz, 29Höhenschnittpunkt, 8Höhenwinkel, 379, 384Hohlkörper, 85Hohlrad, 356Holbein, 300holprige Straße, 156Holzbiene, 345Horizont, 291, 457Hornhaut, 329HP-Fläche, 199, 209, 239HP-Schale, 73, 196, 239Hubschrauber, 86Hüllfläche, 216Hüllkegel, 119Hüllkurve, 18, 338, 341Huygens, 341Hyperbel, 23, 74, 103, 104, 108, 139, 143, 152, 156,

158, 160, 162, 196, 203, 278, 381hyperbolisch gekrümmt, 214, 237hyperbolisch gekrümmte Fläche, 114hyperbolische Ebene, 41hyperbolisches Paraboloid, 73, 194Hyperboloid, 188, 196, 198, 199, 202, 207, 224Hyperkugel, 180Hypoidräder, 202, 373Hypotrochoide, 361

IIbis, 79Ikosaeder, 90–92, 114, 115, 444, 497implizite Gleichung, 138, 190, 242Indikatrix, 206Individuum, 423Inflation, 408Inflationsdrachen, 410Inflationsrhomben, 411Informationsverlust, 34Ingenieurriss, 445Inkreismittelpunkt, 9Inkugel, 92Inradrollung, 356, 357Insektenauge, 330Interferenz, 341Interferenzerscheinung, 172Interferenzfarbe, 313interpolierende Flächen, 275Inversion, 32, 35Inversionskugel, 33Inversor, 33Iris, 290irrationalste Zahl, 428Isochronie, 341Isometrie, 443

JJahr, 129, 377Jahresringe, 419Jet streams, 130Jet-Streams, 130Jupiter, 390

KKäfer, 416Kalenderjahr, 376Kalkpanzer, 226Kammerwasser, 329Kanalfläche, 230, 256Kantenschwerpunkt, 8Kap der guten Hoffnung, 391Kardankreise, 356, 361Kardanwelle, 370Karlskirche, 104Karosseriebau, 210Kartoffelchips, 142Kartografie, 173, 174Katenoid, 224Kathetensatz, 11, 29Katze, 50, 55Katzenaugen, 52Katzengold, 89Kaustik, 169, 185Kavalierriss, 442, 443Kegelerzeugende, 176Kegelräder, 249, 369Kegelrollung, 369Kegelschnitt, 17, 24, 39, 160, 162, 381, 393Kegelschnittskonstruktion, 159Kegelspitze, 151Kegelstumpf, 174Kehlkreis, 213, 217, 223Kehlschraublinie, 247Kempelen, 343Kepler, 92, 163, 215, 380, 387, 394Keplergleichung, 394Keramik-Linsen, 283Kernschatten, 85, 89Kettenfläche, 224, 262, 263, 267Kettenlinie, 154–156, 461Kettenreaktion, 432Kiefernstamm, 25Kiepert, 12, 14, 101Kinderschwimmbäder, 252Kinematik, 6, 79, 158, 335, 366, 367, 372Klangkörper, 132Klangwelten, 192, 232Klapperschlange, 402Klappsessel, 365klassische Spiralung, 256Kleinbildbasis, 471Kleinbildformat, 470Kleinkreis, 123Klothoide, 108, 250Knickpunkt, 84, 322Knotenvektor, 279Kofferraum, 405Kohäsion, 420Kolbenmotor, 350Kolbenraum, 363kollineare Verzerrungen, 188Kollineation, 203, 305Kollineationsachse, 38, 101, 298Kollineationszentrum, 38, 101, 298Kollision, 61komplizierte Flächen, 270konfokale Kegelschnitte, 153kongruent, 3Kongruenzbeziehungen, 37Kongruenztransformation, 76konjugierte Durchmesser, 303Konoid, 237, 238Kontaktlinse, 222Kontrollnetz, 281Kontrollpolygon, 276, 278Kontrollturm, 200Kontur, 111Konturlinie, 111Konturpunkt, 111konvex, 80Koordinatenebenen, 55Koordinatennetz, 174Koordinatenrichtungen, 467Koordinatensystem, 31Koordinatenursprung, 56Kopfdrehung, 486Kopfrechnung, 16Koppelbewegung, 351Korallenfisch, 407Korallenstock, 423Korkenzieher, 247Korrekturlinse, 222Kotierte Projektion, 69Kran, 345Kreiselbewegung, 377Kreisevolvente, 107

504 Index

Kreiskegel, 38Kreiskonoid, 201, 237Kreisring, 174, 343Kreisringsektor, 145Kreisrollung, 361Kreisschar, 220Kreisschraubflächen, 250Kreissektor, 145Kreisspiegelung, 33Kreistreue, 180Kreuz des Südens, 391Kreuzgewölbe, 135Kreuzrippengewölbe, 433Kreuzriss, 56, 57, 301Kristallformation, 411Krokodilfisch, 484Krümmung, 108Krümmungskreis, 106, 107, 109, 120, 205, 206, 208,

221Krümmungskugel, 192, 193Krümmungslinien, 207Krümmungsradius, 107, 108, 330Krümmungssprung, 211Krümmungsstetigkeit, 279Krümmungstangenten, 206Krustentiere, 323Kuba, 130kubischer Kreis, 120, 204Kuboktaeder, 177Kubuswohnung, 271Kugel, 122, 188, 419Kugeldreieck, 41Kugelgelenk, 371Kugelkappe, 222Kugelloxodrome, 220Kugelmodell, 42Kugeloberfläche, 419Kugelpackung, 95Kugelschicht, 381Kugelschnitt, 123Kugelspiegelung, 33, 34Kugelumriss, 30, 127, 289Kühlturm, 201Kulminationspunkt, viii, 378, 386Kunstlicht, 85Kuppelbau, 189Kürbis, 213Kurswinkel, 177, 220Kurve auf der Kugel, 227Kurve dritter Ordnung, 204Kurve zweiten Grades, 151Kurve zweiter Ordnung, 151Kurvenkrümmung, 113Kurvennormale, 106, 108Kurventangente, 108

LLängenkreis, 41, 177Längsschnitt, 71Ladekran, 353Lagebeziehungen, 37Lampenschirm, 162Lasergerät, 275Laufschrift, 440Le Corbusier, 148Lebenselixier, 322left side view, 58Leitgerade, 153, 160, 237, 238Leitkurve, 236Leitpolygon, 80Lenkrad, 108, 351Leonardo da Vinci, 57, 345, 350, 354, 357Lichtebene, 294, 295, 455Lichtempfindlichkeit, 218Lichtjahr, 18Lichtkante, 280Lichtpyramide, 313Lichtquelle, 313Lichtspiele, 171Lichtspot, 47Lichtstrahlen, 42, 294Lichtzentrum, 82Lilie, 215, 453lineare Abbildung, 45lineares Gleichungssystem, 157Linearkombinationen, 150Linienelement, 157, 461linksgängig, 254Linksschraubung, 243Linse, 222Linsenauge, 313Linsensystem, 222Lobatschewskij, 41

logarithmische Spirale, 107logarithmischer Zylinder, 258Loxodrome, 220Luftdruckgewehr, 272Luftspiegelung, 329Luftwiderstand, 162

MMaßketten, 72Maßstab, 50, 298, 327, 374, 433magnetische Abstoßung, 114, 402Mandarine, 172Marienkäfer, 161, 421Marionette, 344, 371Markusplatz, 470Mars, 390Maschinenbau, vi, vii, 225, 233, 250Maschinenzeichnen, 72, 131Mathematik, v, ix, 2, 22, 31, 87, 180, 209, 210, 215,

243, 270, 416Matrizenkalkül, 102Mehrfachschnitt, 71Meridiankreis, 218Meridiankreisschraubfläche, 252Merkur, 364, 390Messpunkt, 460Messungenauigkeit, 228Meusnier, 206Mikrokosmos, 75, 416Militärriss, 49, 50, 298, 442, 443Mindingsche Biegung, 268Minimalfläche, 235, 262, 437Mittellinie, 231Mittelmeerraum, 4Mittelsenkrechte, 7, 11, 106, 337Mittenfläche, 259Mittenkreis, 220Mittenschraubline, 252mittlere Krümmung, 263, 264, 267mittlere Ortszeit, 393mittlerer Mittag, 393Möbiusband, 167, 211Möbiusband, 267Molekül, 247Molekularbiologie, vi, 246Molltonarten, 438Momentanachse, 368, 373Momentangeschwindigkeit, 338Momentanpol, 337Mond, 67, 430Mondaufgang, 315Mondsichel, 67, 128Monduntergang, 293Monge, 57, 225monohedrale Parkettierung, 406Morley, 12, 15, 16Mücke, 416Mufflon, 423museumsreif, 85Musik, viMuskelkontraktion, 322Muskelquerschnitt, 434Mutation, 424Muttern, 71Mystik, 490

NNäherungspolyeder, 224Näherungsverfahren, 182Nachbarerzeugende, 199Nachbarpunkt, 106Nadir, 385Napoleon, 34, 35Navigationssystem, 129Nazca-Kultur, 306Nebenscheitel, 135Nebenscheitelkreis, 103Nephroide, 236Netz, 89Netzhaut, 330Netzkonstruktion, 57Netzpunkt, 280Neumond, 128, 129, 389, 390Neutrino, 42Newton, 163Newton-Ringe, 341Nichteuklidische Geometrie, 40Nierenkurve, 236Nildelta, 5Nordpol, 128, 381Nordrichtung, 220, 379, 384, 387Nordwinter, 381, 389

Index 505

Normalabstand, 26Normalenbild, 227Normalenfußpunkt, 338, 368Normalenkongruenz, 326Normalenrichtung, 227Normalentorse, 110, 165Normalprojektion, 67, 132, 189Normalriss, 83, 442, 479Normalschnitt, 113, 165, 208nulldimensional, 2, 27Nullkreis, 123, 154Nullmeridian, 446Nutation, 394

OOberfläche, 420Oberflächenspannung, 262, 420Offenblende, 476Oktaeder, 90, 92, 114Olivenpresse, 247Oliver, 392Oloid, 166, 169, 212, 227Ölpumpe, 352Olympisches Stadium, 265Ommatidie, 330, 331Optiker, 222optische Täuschung, 304Orca, 61Ordner, 56Originalfoto, 298Orthogonaltrajektorie, 418Ortskurve, 25Ortslinie, 17Osten, 377, 385, 388, 397, 398oszillieren, 275Otto, 349Ovalwerk, 357

PPalmenhaus, 136Panoramablick, 306Papierschnitzelregen, 311Papierstreifenkonstruktion, 158, 355Parabel, 74, 103, 104, 143, 162, 193, 239, 277, 278parabolisch gekrümmte Fläche, 114Paraboloid, 188, 280Parabolscheinwerfer, 187, 194Parallelbeleuchtung, 293Parallelenabschnitte, 4Parallelenaxiom, 41Parallelenbüschel, 239Parallelenpaar, 26Parallelentreue, 49, 102Parallelkreis, 213Parallelkurve, 339Parallelperspektivität, 100Parallelprojektion, 49, 133Parallelschatten, 51, 102, 133Paralleltonarten, 438Parameterdarstellung, 138, 198, 204, 240, 242, 355Parameterintervall, 240parasitische Punkte, 226Parkettierung, 15, 94, 408Pascal, 17, 157, 159, 363Pascal-Gerade, 159Pascalschnecke, 17, 363Peaucellier, 33Pendeluhr, 341Penrose, 409Penrose-Muster, 410Pentagondodekaeder, 88, 403Pentagramm, 92Periodendauer, 389, 392Peripheriekreis, 14, 359Peripheriewinkelsatz, 5Peritrochoide, 362perspektiv kollinear, 38Perspektive, 46, 189, 442, 479perspektive Affinität, 100perspektive Kollineation, 38, 100Perspektivitätsachse, 101Perspektivitätsstrahl, 101Pfadfinderregel, 386Pfau, 213Pfauenfeder, 4, 76Pfeffermühle, 343Pflanzenart, 427Pflanzenfresser, 434Pflasterungsvorschrift, 405phasenverschoben, 244Philodendron, 408

Phyllotaxis, 426Physik, vi, viii, 8, 22, 41, 42, 189, 235, 332, 375,

411, 430physikalische Spiegelung, 33Pilkington, 392, 399Pixel, 314Plücker, 242Plücker-Konoid, 240Plakatgröße, 488Planetenbewegung, 363Planetenräder, 365Planetensystem, 374planimetrisch, 38Plankton, 482Plato, 415Platonische Körper, 75Plattenheber, 108Plattform, 375Plattkreis, 213, 216, 223Pleuelstange, 350Poincare, 412Poinsot, 92Pol, 27Polare, 27Polarebene, 28–30, 33Polarität, 31Polarität am Kreis, 27Polarnacht, 382Polarstern, 312, 379, 380, 393Polartorse, 119Polarwinter, 128Polycarbonat, 172Polyedersatz, 87Polynomfunktion, 275, 280Pompeji, 304Potenz, 11Pozzo, 308Präzessionsbewegung, 377, 394primäre Perspektive, 487Prioritätenliste, 84Prisma, 80Projektionsebene, 37, 44Projektionskegel, 103, 162, 289, 309Projektionskurve, 244Projektionsstrahl, 37, 44Projektionszentrum, 44, 47, 457projektive Ebene, 40Projektive Geometrie, 1, 37Projektor, 313projizierend, 30Proklus, 103Propeller, 245proportionaler Drehwinkel, 252Proportionalität, 243Proportionalitätsfaktor, 242punktförmige Lichtquelle, 162Punktraum, 28, 31Punktreihe, 38, 200Puzzle, 414Puzzlesteine, 414Pyramide, 80Pyramidenstumpf, 44Pyrit, 88, 89Pythagoras, 11, 125, 415

QQuader, 467Quadrangulierung, 284quadratische Abbildung, 32quadratischer Kegel, 38, 103, 188quadratisches Rad, 156Quadratrasterfelder, 313Quadratseite, 404quasiperiodisch, 411quasiperiodische Parkettierungen, 408Quasiperiodizität, 411Quecksilber, 262Querbeschleunigung, 372Quintenzirkel, 438

Rräumliche affine Transformation, 150räumliche Deutung, 159räumlicher Pythagoras, 125Racknitz, 344Radarreflektoren, 52Radarschirm, 193Radialstrahl, 12Radialsymmetrie, 416Radiata, 417Radioteleskope, 193

506 Index

Radlinien, 244Radnetzspinne, 417Raketenzeitalter, 210Randkreis, 213rapid prototyping, 281rationale Bézierkurven, 278Raubfisch, 431Raumdiagonale, 271Raumkreuz, 135Raumkurve, 271Raumkurve vierter Ordnung, 138räumliches Dreibein, 77Raumparkettierung, 96Raumvorstellung, 105Raumvorstellungsvermögen, 135, 455Raute, 405Rechteckstreifen, 165rechtsgängig, 248, 253Rechtsschraubung, 243Reflexionslicht, 490Regelfläche, 236, 245, 280Regenbogen, 319Regenbogeneffekt, 325Regenbogenfarben, 171Regenguss, 327Regenschirm, 262Reichstagskuppel, 190Rekonstruktion, 299rektifizierende Ebene, 110rektifizierende Torse, 110, 165, 286Relativbewegung, 342, 357, 370Relativitätstheorie, 42Relativposition, 57Reliefperspektive, 304, 305Renaissance, 43, 287, 302, 304Renault, 276Reptilien, 322Reverse Engineering, 226, 228Rhombendodekaeder, 96, 97, 99Rhombenikosaeder, 99Rhombentriakontaeder, 96rhombische Parkettierung, 97rhombisches Dodekaeder, 98Rhombus, 96Ricardo Bofill Levi, 200Richtebene, 237Riegler, 392, 397Riemann, 41Riffhai, 487right side view, 58Ringfläche, 216Ringzyklide, 229Rippen, 71Riss, 44Roboterarm, 375Robotik, 354, 375Rodler, 462, 463Rohrfläche, 230, 256Rohrknie, 134, 135Rohrkrümmer, 71, 315Rohrverbindung, 137Rollkreis, 362Rosenbeet, 361Rossbreiten, 399Rotation, 76Rotoide, 438Rotor, 86Rubik, 76Rückenlicht, 295, 464, 465, 467Rückstoß, 431Rutsche, 252

SSackloch, 248Sägewerk, 350Sagrada Família, 200, 491Samenkorn, 427, 428Sammellinse, 472Sanddüne, 164Sandtigerhai, 486Satellitenbahn, 130Satellitenempfänger, 193Sattelfläche, 113, 187Sattelpunkt, 209Satz vom rechten Winkel, 37, 63, 67Satz von Morley, 15Säulen, 160Säulenhalle, 304Sawyer, 398Scanner, 228Schachbrettmuster, 406Schachfiguren, 344Schachspielender Türke, 344

Schallstärke, 419Schaniergelenk, 238, 343Schärfeebene, 474, 475Schärfentiefe, 320, 321, 475, 476Schattengrenze, 132Schattenpolygon, 86Schattenprofile, 86Schattenpunkt, 381Scheinwerfer, 194Scheitel, 80Scheitelkrümmungskreis, 193Scherk, 263Scherksche Fläche, 263Schichtenkreis, 213Schiebfläche, 194, 239, 259Schiebstrecke, 242, 243Schiebung, 76, 243schiefer Kreiszylinder, 188Schiffsroute, 177Schiffsschraube, 245Schirmebene, 89Schlagschatten, 296, 455Schlagschattengrenze, 120Schleife, 218Schlitzführung, 359Schmetterling, 416Schmetterlingsflügel, 172Schmiegebene, 109, 111Schmiegparabel, 205Schnecke, 266, 477, 496Schneckenhaus, 58Schneckenräder, 370Schneefräse, 246schneiden, 30Schnitt, 71Schnittellipse, 135Schnittkreis, 123Schockwelle, 432Schönbrunn, 136, 361Schrägriss, 49, 442Schrägansicht, 50Schraubachse, 245, 256Schrauben, 71Schraubenbolzen, 247Schraubenmutter, 247Schraubfläche, 241Schraublinie, 98, 111, 117, 142, 240, 242Schraubparameter, 242Schraubregelfläche, 248, 249, 439Schraubrohrfläche, 252Schraubstock, 247Schraubtorse, 249Schraubung, 253Schraubzwinge, 247Schrotung, 202Schubkomponente, 243Schubkurbel, 349, 358Schubkurbelgetriebe, 358Schwarzsche Minimalfläche , 264Schwerlinien, 8Schwerpunkt, 8Schwertfisch, 413Schwimmbecken, 141, 325Sechsflach, 88Seeigel, 226Seepferdchen, 435Sehachse, 456Sehkegel, 292, 329Sehnenmittelpunkt, 259Sehpyramide, 291, 300Sehstrahl, 291Sehvorgang, 82Sehwinkel, 479Seifenblase, 262Seitenlicht, 295, 296, 464, 465, 467Seitenriss, 59, 296Sekante, 10, 106, 108sekundäre Perspektive, 487Selbstähnlichkeit, 408Selbstdurchdringung, 149Selbstschnitt, 248, 286semireguläre Parkettierung, 407Sepia, 485Shechtman, 411Sherlock Holmes, 50Shift-Objektiv, 492Sichtbarkeitsentscheidung, 61Sichtbarkeitsregel, 82Silvesterhimmel, 19Sinus, 241Sinuskurve, 137, 261Sinussatz, 24Skalarprodukt, 82

Index 507

Skalenfaktor, 434Skalenverhalten, 434Skorpionfisch, 484Snell’s window, 318, 325Snellius, 324, 325Snellius-Fenster, 318, 325Sommersonnenwende, 384Sommerzeit, 393Sonnenaufgang, 293Sonnenblume, 426, 427Sonnenfußpunkt, 294, 296Sonnenhöchststand, 387Sonnenkollektor, 194Sonnenpunkt, 140, 296, 467Sonnenrad, 365Sonnenschein, 377, 386Sonnentag, 376Sonnenuhr, 393Sonnenwende, 394, 397, 399Spektralfarben, 328, 329sphärische Radlinien, 369sphärischer Kegelschnitt, 26, 372sphärisches Erzeugendenbild, 227sphärisches Tangentenbild, 227sphärischer Kegelschnitt, 42sphärische Radlinie, 371Sphinx-Muster, 408Spiegelbild, 7Spiegelebene, 76Spiegelfenster, 466Spiegelpunkt, 466Spiegelreflex-Basis, 471Spiegelreflex-Kamera, 470, 471Spiegelung, 76Spiegelung am Kreis, 32Spiegelung an einer lotrechten Wand, 466Spiegelung in Perspektive, 465Spindeltorus, 124, 161, 221, 222Spinnenaugen, 313Spiralfläche, 228, 271Spiraltorse, 257Spiralwendelfläche, 257Spitze, 80, 110, 339Sprühregen, 328Springspinne, x, 314, 315, 331Sprunghöhe, 51Sprungstelle, 205Spurpunkt, 49, 293Stützstellen, 275stabförmige Lichtquelle, 194Stabsichtigkeit, 222Stadtplan, 49Stahlseil, 252Standardflächen, 273Standpunkt, 457Steinbohrer, 250Steinchen, 2Steiner, 14Steinfisch, 483, 484stereografische Projektion, 174, 317, 391Sternpolyeder, 92Stewart-Gough-Plattform, 354, 375Straßenbau, 165, 250Straßenzüge, 50Strahlbüschel, 418Strahlengang, 472Strahlensatz, 4, 24, 49, 102Strahlflächen, 236Strahlkongruenz, 397Streben, 71Strecke, 19Streckenmessung, 43Streckensymmetrale, 7Streifgerade, 81Streiflicht, 82Streitwagen, 303Streulicht, 132Stroboskop-Aufnahme, 337Stufenpyramide, 81Stundenlinien, 393Stundenskala, 395, 397–400Stundenteilung, 392Subnetz, 280Süden, 381, 385, 386, 393, 395Südhalbkugel, 384, 390Südwinter, 381Südrichtung, 386Super-Weitwinkel, 471Superkugel, 191Supernova, 430Supplementärwinkel, 14, 24, 26Symmetrie, 158, 416, 453Symmetrieachse, 71, 443, 462

Symmetrieebene, 110, 189, 194, 227Symmetriegrad, 227Symmetriegruppe, 406synthetische Beweise, 9Syrakus, 3

TTag-Nacht-Gleiche, 381, 389, 393–395Tageslänge, 383Tangente, 106, 108Tangente einer Kurve, 106Tangentenfläche, 110, 143, 165, 237, 249Tangentenstrecke, 11, 134Tangentialebene, 111, 123, 227Tapetum lucidum, 313Tarantel, 313Tarnfarbe, 483Tastsinn, 313Taubnessel, 50Taumelkäfer, 322Tautochrone, 341Teilschnitt, 72Teilverhältnistreue, 48, 49, 102Telegrafenstangenregel, 458, 459, 466Teleobjektiv, 479, 480Temelin, 201Temporalstunden, 392Tennisballkurve, 227Terminator, 67, 121Tetraeder, 90, 114Tetrakaidekaeder, 95Tetrapak, 99Textur, 440Thales, 5, 6, 25, 179, 359, 360, 448Thaleskreis, 12, 24, 299Thaleskugel, 125, 299thermohaline Zirkulation, 391Thompson-Problem, 115Tiefdruckwirbel, 429Tiefengerade, 293, 457Tiefenverkürzung, 480Tiefenverstärkung, 480Tierfiguren, 306Tiermotive, 306Tiger, 434Tintenfisch, 485Tokio, 176Tonalitätszentrum, 440Tonartennetz, 439Tonika, 440Tonnengewölbe, 135, 433Tonsystem, 438top view, 58Torse, 143, 237, 249Torsion, 111Torus, 136, 216, 224, 376, 438Toruskappe, 222Toruskette, 217Torusschnitte, 25Toskana, 345Totalreflexion, 325, 327Totenkopf, 299Trägerdrehfläche, 429Trägerebene, 27Trägerfläche, 210Trägergerade, 2, 19Trägerzylinder, 243Trägheitsgesetz, 429Tränenflüssigkeit, 223Tragfähigkeit, 156Translation, 76transzendent, 240Trennebene, 322, 326Triakontaeders, 97Triangulierung, 285Trochoidenbewegung, 361Tunis, 176Turmuhr, 392

UÜbereckstellung, 50Übergangsfläche, 322Ultraweitwinkel, 486umgekehrte Kettenlinie, 156umgekehrte Papierstreifenkonstruktion, 355Umkehrbewegung, 357Umkehrmatrix, 102Umkreis, 8Umkreismittelpunkt, 8, 35, 107Umkugel, 92, 97Umlaufsinn, 3, 77, 201

508 Index

Umriss, 112Umriss einer Kugel, 314Umrissellipse, 289Umrisserzeugende, 159, 451Umrisshyperbel, 449Umrisspolygon, 82Umrissspitzen, 223Umschwungkurven, 241unendlich, 1, 18, 19, 27, 31, 47, 113, 123, 195, 206Unschärfekreis, 474–476Untersicht, 135Urknall, 342

VVaduz, 169Varadero, 130Vario-Objektiv, 470Vektorrechnung, 125Ventilator, 245Venus, 390verbinden, 30Verbindungsebene, 175Verbindungsfläche, 146Verbindungsgerade, 27Verbindungslinie, 116Verbindungstorse, 169Verdrehungswinkel, 427Verebnung, 89Vergnügungspark, 375Verkleinerungsfaktor, 12Verlängerungsfaktor, 471Vernes, 129Verpackungsmaterial, 99Verschwindungsebene, 45, 301, 314, 315Verschwindungspunkt, 45Vertikalbewegung, 156Verzerrung, 497Vieraugenfisch, 322Vierecksnetz, 280Vierflach, 90Vierteltorus, 223, 233Villarceau, 219, 220, 229virtuelle Gegenwelt, 466Vogelperspektive, 491Vogt, 54Vollformatsensor, 470, 471, 482Volllinie, 71Vollmond, 129, 389, 497Vollschnitt, 72Volumenschwerpunkt, 8Vorderansicht, 70, 71Vorstellungsvermögen, 58Vorzeichen des Abstands, 76

WWachstum, 419Wachstumsgeschwindigkeit, 243wahre Ortszeit, 392wahre Sonnenzeit, 378, 387wahre Zeit, 393Wahrnehmung, 287Walhai, 482Wanderung, 489Wandmalerei, 304Wankelmotor, 363Wärmestrahlung, 191Wasserbecken, 104wasserdicht, 99Wasserläufer, 323Wasseroberfläche, 184, 318, 322, 323, 325–327Wasserschraube, 245Wasserspinne, 323Wassertröpfchen, 420Wasserwaage, 494Wasserwanze, 323Weidenast, 423Weinabtropfer, 142Weitstrahler, 194Weitwinkelobjektiv, 315, 479, 480Wellenberg, 3Wellenfront, 191, 193, 324Wellenstruktur des Lichts, 324Weltall, 42, 235, 374, 380, 384, 429, 431Wendekreis, 381, 385Wendelfläche, 240, 241, 245, 247, 256, 259, 263, 267Wendeltreppe, 245, 451, 452Wendepunkt, 277Wendetangente, 137Wespe, 418, 434Westen, 130, 377, 385, 386, 398Wickelpunkt, 108Wieland, 397

Wien, 104, 175, 189, 271, 377Windrad, 166windschief, 61windschiefe Achsen, 197, 373windschiefes Erzeugenden-Vierseit, 239windschiefes Vierseit, 195Windschlüpfrigkeit, 403Windung, 111Winkelgeschwindigkeit, 395Winkelgeschwindigkeit der Erde, 387Winkelhalbierende, 9, 26Winkelhalbierendenpaar, 10, 26Winkelmessung, 42, 50Winkelsymmetrale, 9Winkeltreue, 175, 180Wintersonnenwende, 130Wirbelbildung, 428Wissenschaftsmetropole, 5Wobbler, 212Wolfsspinne, 313, 323Wren, 197Wunderlich, 172, 173Würfel, 87–90, 271, 405, 442, 443, 496Würfeleck, 53, 77Wurfparabel, 162

Xxyz-Koordinaten, 56

YYin und Yang, 6

ZZahlenmystik, 427Zahnstange, 351Zange, 352Zauberwürfel, 78Zehnerpotenzen, 434Zeitgleichung, 367, 386, 387, 392–398, 400Zellkern, 247Zenit, 129, 381, 385, 392Zentralbeleuchtung, 293Zentralperspektivität, 100, 103Zentralprojektion, 132, 189, 291, 492Zentralriss, 442Zentralschatten, 102zentrisch ähnlich, 9, 404Zifferblatt, 393Zinseszins-Rechnung, 256zirkular, 220Zonenmeridian, 397Zonenzeit, 397Zoom-Objektiv, 470Zuckersaft, 421Zuordnungsproblem, 58Zwanglauf, 336Zwanzigflach, 91Zweieck, 360Zweipunktführung, 336zweischaliges Drehhyperboloid, 48zweischaliges Hyperboloid, 47, 198Zwölfeck, 406Zyklide, 186, 229Zykloide, 339, 340, 398Zykloidenbewegung, 339Zykloidenuhr, 398Zylinder, 131Zylinderachsen, 450Zylindererzeugende, 134Zylinderfläche, 280Zylindermodell, 414Zylinderprojektion der Kugel, 317