9
GESCHICHTE UND GERECHTIGKEIT Aleida Assmann, Jan Assmann, Oliver Rathkolb (Hg.) Hannes Androsch Aleida Assmann Jan Assmann Ursula Baatz Anton Badinger Sander Bekesi Steven Beller· Eva Blimlinger Johanna Borek Gerhard Botz Andrea Maria Dusl Josef Ehmer Irmgard Eisenbach-Stangl Alexander Emanuely Renee Gadsden Ulrich Gansert Roland Girtler Christa Hämmerie· Wolfgang Häusler· Bodo Hell· Cornelius Hell· Roman Horak Martina Kaller· Peter Kampits Helmut Konrad Ulrich Körtner Margareth Lanzinger Konrad Paul Liessmann Klara Löffler· Kurt Luger· Gerhard MeißI Christian Mertens· Lorenz Mikoletzky Peter Moeschl Manfred Nowak Markus Oppenauer Anton Pelinka Martina Pippal Manfred Prisching Julya Rabinowich Oliver Rathkolb Helmut Reinalter Christoph Reinprecht Markus Reisenleitner Elisabeth von Samsonow Wolfgang Schmale· Michael Schmidt Elisabeth Schratten holzer Andreas Schwarcz Karl Sigmund Robert Sommer· Alfred Springer· Marianne Springer-Kremser· Friedrich Stadler Wolfgang Stangl Anton Tantner Heidemarie Uhl Eisbeth Wallnöfer Andreas Weigl Manfried Welan LIT

GESCHICHTE UND GERECHTIGKEIT · 2020. 4. 24. · Baatz • Anton Badinger • Sander Bekesi • Steven Beller· Eva Blimlinger • Johanna Borek • Gerhard Botz • Andrea Maria

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • GESCHICHTE UNDGERECHTIGKEITAleida Assmann, Jan Assmann, Oliver Rathkolb (Hg.)

    Hannes Androsch • Aleida Assmann • Jan Assmann • UrsulaBaatz • Anton Badinger • Sander Bekesi • Steven Beller· EvaBlimlinger • Johanna Borek • Gerhard Botz • Andrea MariaDusl • Josef Ehmer • Irmgard Eisenbach-Stangl • AlexanderEmanuely • Renee Gadsden • Ulrich Gansert • Roland Girtler •Christa Hämmerie· Wolfgang Häusler· Bodo Hell· CorneliusHell· Roman Horak • Martina Kaller· Peter Kampits • HelmutKonrad • Ulrich Körtner • Margareth Lanzinger • Konrad PaulLiessmann • Klara Löffler· Kurt Luger· Gerhard MeißI • ChristianMertens· Lorenz Mikoletzky • Peter Moeschl • Manfred Nowak •Markus Oppenauer • Anton Pelinka • Martina Pippal • ManfredPrisching • Julya Rabinowich • Oliver Rathkolb • Helmut Reinalter• Christoph Reinprecht • Markus Reisenleitner • Elisabeth vonSamsonow • Wolfgang Schmale· Michael Schmidt • ElisabethSchratten holzer • Andreas Schwarcz • Karl Sigmund • RobertSommer· Alfred Springer· Marianne Springer-Kremser· FriedrichStadler • Wolfgang Stangl • Anton Tantner • Heidemarie Uhl •Eisbeth Wallnöfer • Andreas Weigl • Manfried Welan

    LIT

  • Aleida Assmann, Jan Assmann, Oliver RathkoJb (Hg.)

    Geschichte und GerechtigkeitFestschrift für Hubert Christian Ehalt

    LIT

  • ARSENESSER UND GESCHICHTE

    ANMERKUNGEN ZUR UNTERGEGANGENEN KULTUREINER RANDGRUPPE

    Inngard EISENBACH-STANGL, Wolfgang STANGL

    I. Arsen ist ein Mineral, das selten in reiner Form ("gediegen") vorkommt und ineigenen Bergwerken abgebaut wird, häufig hingegen mit anderen Erzen "vergesellschaftet" vorgefunden wird, und bei deren Verhüttung, durch die Anwendungeines Röstverfahrens, anfallt. Der Bergbau, der auf heutigem österreichischernStaatsgebiet ab dem 14. Jahrhundert vorangetrieben wurde, verlor am Ende des19. Jahrhunderts seine Rentabilität - die Bergwerke schlossen, das letzte 1884.Auch die nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgenommene Arsenproduktionwurde aus ökonomischen Gründen im Jahr 1924 eingestellt, sowie die Arsengewinnung zwischen 1941 und 1944 in Tirol nach dem Krieg nicht weitergeführtwurde (Bylow 1935: 108; Wonisch 1951; Allesch 1959: 280-281).

    Arsen hatte durch die industriell organisierte Massenproduktion im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen, da die Beimengung des Minerals zu zahlreichenGütern, wie etwa Glaswaren, Tapeten und Textilien deren Qualität verbesserte.Folge war, dass viele Gebrauchsgüter wie z.B. Möbel oder auch Kinderspielzeugarsenhaltig waren (Whorton 20 I 0). Ende des 19. Jahrhunderts häuften sich Hinweise auf gesundheitsschädigende Wirkungen der Beimengungen und so wurdedie Verwendung von Arsen in der Güterproduktion beschränkt, allerdings nichtverboten: Aktuell wird das Mineral bei der Herstellung von Batterien und elektronischen Geräten verwendet.

    2. Aus Arsen wurden Arsenik (auch: arsenige Säure, weißes Arsen, Hüttenrauchoder Hittrach) und weitere toxische Präparate hergestellt, die seit Jahrtausendenbei der Schädlingsbekämpfung wie in der Heilkunde eine wichtige Rolle spielten.In der Heilkunde dienten sie bei der Bekämpfung von Fieber, Gewichtsverlust,Migräne, Diabetes, Infektionskrankheiten, Malaria, Darmgeschwüren, Blutkrankheit und Syphilis, in medizinischen Spezialfachern wie etwa der Gynäkologieund der Augenheilkunde wurden sie auf breiterer Grundlage eingesetzt (Thera-

    -68-

  • Arsenesser und Geschichte

    peutische Notiz 1892: 1820; Journal-Revue 1895: 2040-2041; Grabner/Gänser1987:77).

    Ebenso prominent waren Arsenik und verwandte toxische Präparate als Pestizide, Herbizide und Insektizide und bei der Vernichtung von "Raubzeug", worunter Krähen, Häher oder auch Wanderratten in der Jägersprache des 19. Jahrhunderts verstanden wurden, und auch von Ratten und Mäusen, die Lebensmittelvorräte bedrohten.

    Arsenik diente nicht nur der Kontrolle schädlicher Tiere, es kam auch in Tierzucht, Tierhandel und Veterinärmedizin zum Einsatz: Um die Leistungskraft vonPferden zu erhöhen und um sie gegebenenfalls jünger und feuriger erscheinen zulassen, wurde es dem Pferdefutter beigemengt; Muskelentzündungen von Pferdenwurden traditionell mit einer arsenhaItigen Salbe kuriert (Bibra 1855: 388; Rosegger 1914: 232; Grabner/ Gänser 1987: 77). Arsenik diente auch der Schweinemast und wird aktuell bei der Bekämpfung von Rotlauf bei Schweinen eingesetzt(Schleich 1997: 120).

    3. Die Verwendung von Arsenik ist risikoreich, denn auch die Einnahme sehr geringer Mengen des geruch- und geschmacklosen Stoffs kann bei Menschen raschden Tod herbeiführen. So fand das Gift bekanntlich auch als "Mord-Gift" seitjeher Verwendung. Wiewohl das 19. Jahrhundert als .jhe arsen ic century" identifiziert wurde (Whorton 2010), ist nicht davon auszugehen, dass die - durch intensivere wirtschaftliche Nutzung - gesteigerte Erhältlichkeit der Substanz im 19.Jahrhundert in der absoluten oder auch nur relativen Steigerung von Arsenmorden zum Ausdruck kam. Das unauffällige Gift war für Mörder "schon immer"attraktiv und für das Gros der Gift-Morde verantwortlich gewesen. Zudem konntedie erleichterte Erhältlichkeit kaum ihre Wirkung entfalten, denn 1835 gelang eserstmals, die Substanz im menschlichen Körper nachzuweisen.

    Die Geschichte der Arsenikmorde beschreibt die zweifellos prominenteste und an Beispielen reichste Rolle der Substanz, die alle Ausformungen undAbgründe der menschlichen Seele berührt. Anklagen wegen Giftmord gehörten zu den großen Kriminalthemen der Lokalzeitungen im 19. Jahrhundert undBerichte über mordende Frauen und abgelegene Schauplätze steigerten das Leser(i nnen)i nteresse.

    Arsenikmorde fanden zudem auch Eingang in die Belletristik, die sie sublimierte und die Öffentlichkeit mit zusätzlichen mythischen Figuren bereicherte.Als berühmte Beispiele seien Päpste aus der Familie Borgia genannt, die um desErbes willen reiche Kardinäle vergifteten (Schmidbauer/vom Scheidt 1975:32);des Weiteren die Schwestern Abby und Martha Brewster aus dem Lustspiel "Arsenic and old Lace", die die Leichen von zwölf Männern, die sie mit Arsenik"erlösten", in ihrem Keller lagerten (Kesselring 1939); und schließlich die stei-

    -69-

  • Irmgard EISENBACH-STANGL, Wolfgang STANGL

    rische Bäuerin Agnes Karfreit. die sich von ihrer großen und bedrohten Mutterund Heimatliebe (von ihren drei Söhnen, die den Familienhof übernehmen können, kommt 1945 nur der Jüngste zurück) in den Arsenmord treiben lässt (Wurmbrand 1951). Schließlich ist auch Gustave Flaubert's 1857 erschienener Roman"Madame Bovary" zu erwähnen, in dem die HeIdin ihrem Leben mit Arsen einEnde setzt (Flaubert). Im Lärmen der Geschichte der Arsenmorde und sensationsprallen Historien über Giftmörder, Giftopfer und Zeugen lässt sich - wenn auchmit Mühe - eine Figur auszumachen, durch die der Geschichte des Arsens eineweitere Bedeutung hinzugefügt wird: Es sind dies die .Arsenesser'', wie sie dieZeitgenossen nannten, jene, die Arsen gewohnheitsmäßig als Droge konsumierten.

    4. 1864 besuchten zwei britische Ärzte die Steiermark, um Arsenesser zu studieren, und sammelten gemeinsam mit steirischen Kollegen wertvolles Material(Pregl 1928). Unklar bleibt, warum sie den gewohnheitsmäßigen Arsenkonsumnicht in ihrer Heimat untersuchten, wo er durchaus gebräuchlich war. Da sich beiStrafverfahren in UK wiederholt herausstellte, dass mutmaßliche Opfer - absichtlich oder durch Ungeschick -Gift zu sich genommen hatten, kam es wiederholt zuFreisprüchen. Machten Verdächtige den Arsenkonsum der Opfer geltend, sprachman von "styrian defense" (Whorton 2010:270).

    Das britische Bedürfnis, gewohnheitsmäßiges Arsenessen im Südosten Europas anzusiedeln, ist mit einer Sonderrolle der Steiermark in "Sachen Arsenessen"insofern nicht unvereinbar, als' die in diesem österreichischen Kronland umfangreiche Arsenproduktion der Entwicklung der Kunst des Arsenessens förderlichgewesen sein mag. Wenige Jahre nach der Reise der britischen Ärzte in die Steiermark wurden in Graz jedenfalls zwei Arsen-Virtuosen der Öffentlichkeit präsentiert: In einer Sitzung auf der 48. Versammlung deutscher Naturforscher undÄrzte im Jahr 1875 hallen zwei steirische Arsenesser 0,3 bzw. 0,4 Gramm Arsenerheblich mehr als das Doppelte einer letalen Dosis für Anfänger - verzehrt, ohnedie geringsten Vergiftungserscheinungen zu zeigen.

    Aber auch in der Steiermark wurden Arsenessen und Arsenesser von der Forschung vernachlässigt: Die Mehrzahl der Studien beschäftigt sich mit der vergleichsweise dichten Verbreitung der Gewohnheit im Land, der Konsum in übergreifenden Gebieten interessierte nur wenige (Bebra 1855: 384; Hörmann 1912).Über Wien berichtet nur der Naturforscher Otto Tschudi, er habe hier arsenes sende Kutscher, Schauspieler und Prostituierte beobachtet (Tschudi 1851: 455; ihmfolgend Moravius 1954:8). In den vorrangig gebirgigen und waldreichen Verbreitungsgebieten in der Steiermark stammten die - vermutlich mehrheitlich männlichen - Arsenesser aus dem bäuerlichen Milieu, in dem das Wissen über dieDroge gegebenenfalls von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie

    -70-

  • Arsenesser und Geschichte

    rekrutierten sich aber auch aus Berufsgruppen. die durch ihre Tätigkeit mit Arsen in Berührung kamen - Bergknappen, HÜllenleuten und Hammerarbeitern -wie aus ländlich bäuerlichen Randgruppen - Holz- und Rossknechten, Waldhütern, Jägern, Wilderern und Bergführern. Die Versorgung der Arsenesser wurdevon Hausierern, Kräutersammlern, wandernden Ärzten, "fahrenden Leuten" unddurch Bergarbeiter wahrgenommen (Rosegger 1914:238, Bylof 1935: 108; Moravius 1954:8).

    5. Die Wirkungen der Droge wurden von Arsenessern wie von ihren Beobachtern überraschend differenziert und konsistent beschrieben. Generell ging mandavon aus, dass Arsen die Kraft und Potenz steigere: So etwa mache es Bergsteiger "luftig" und vergrößere ganz allgemein die .Kurasch'' (Rosegger 1914:232).Auch führe der Arsengenuss bei Mensch und Tier zu blühendem Aussehen, färbe die Wangen rot, mache die weibliche Brust voll und verleihe dem Haar Glanz(Allesch 1959: 247; Bibra 1855: 385). Vom Arsengenuss erhoffte man also allgemein die Verstärkung und Vermehrung der eigenen körperlichen und psychischen Kräfte und Kompetenzen und des körperlichen Anziehungspotentials. Indas Sexualleben griffen bereits andere arsenbezogenen Praktiken ein: Arsen wurde seit Jahrhunderten - wenn auch illegal - zur Verhütung von Schwangerschaftund zur Abtreibung eingesetzt und es war solcherweise mit Praktiken assoziiert,die das Sexualleben liberalisierten (Hauschildl Staschen/Troschke 1979:31; Biedermann 1987: 165). Generell ist daher davon auszugehen, dass Arsen als Drogegalt, die das Begehren fördert und die Erfüllung von Begierden erleichtert. Dassder Gebrauch verboten und risikoreich war und bei mangelnder Kunstfertigkeitzum Tode führen konnte, mag die Attraktivität der Droge nur noch weiter gesteigert haben.

    6. Das Wissen um Arsenesser und Arsengenuss ist spärlich und widersprüchlich,weil die Praxis - so der Nobelpreisträger Fritz Pregl (1928), der bei Arsenmordenwiederholt als Gutachter fungierte - der "tiefste Schleier der Geheimhaltung" umgab. Denn - so klingt es bei Pregl an - würde die Potenz eines Mannes oder dieSchönheit einer Frau als arseninduziert erkannt, kehrte sich erwünschtes Begehrenleicht ins Gegenteil. Wie rasch Attraktion und Anziehung in Abscheu umschlagenkönnen - wird etwa die Herkunft "gesunder Wangen" aus den "Bergwerken in Ungarn" entdeckt - schildert Heinrich von Kleist im .Käthchen von Heilbronn". Dasletzte Wort, das der enttäuschte Liebhaber der Frau nachruft, die ihn mit künstlichen Reizen verführt hat - und zugleich das letzte Wort des "Ritterspiels" - ist:"Giftmischerin".

    Der Genuss des Arsens, dessen Drogenprofil in Vielem jenem von Hexensalben gleicht, erregte auch den Abscheu der Kirche, die jegliches Begehren derFortpflanzung unterworfen und auf diese reduziert sehen wollte. Doch auch der

    -71-

  • Irrngard EISENBACH-STANGL, Wolfgang STANGL

    Einsatz von Arsen als Schönheitsmittel und als Therapeutikum widersprach kirchlichen Dogmen und förderte die Geheimhaltung des Gebrauchs vor "Priestern undÄrzten": Denn der Kirche galt "Putzsucht" lange als das übelste aller Laster undgalten die Schmerzen des Gebarens als gottgewollt (Hauschild/Saschenl Troschke1979:27).

    In der Literatur wird der Einfluss der Kirche auf das Arsenessen gerne unterschätzt, der des Staates aber überschätzt. Dafür spricht, dass die Regulierung desArsenverkehrs - der Lagerung, des Transportes, des Handels - ab Beginn des 19.Jahrhunderts zwar mit größerer Konsequenz vorangetrieben wurde, jedoch langeStückwerk blieb und auch nur rudimentär durchgesetzt werden konnte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Regierungsentwürfen "zur Hintanhaltung der Trunksucht", deren Bestimmungen aufgrund des politischen Dissenses ein Gesetzesvorhaben blieben und erst im 20. Jahrhundert stückweise realisiert wurden, griffen diearsenbezogenen Bestimmungen auf Personenebene in den Konsum nicht ein. Siesind als frühe sicherheitsstaatliche Regelungen einzustufen, die vor allem Handel,Transport und Lagerung regelten (Tremel 1947) und wirtschaftlichen InteressenRechnung trugen. Die zahlreichen Entwürfe für präventive Maßnahmen gegendie Trunksucht reagierten hingegen auf nationale und internationale Bewegungen, und nicht zuletzt auf den politischen Aufstieg der Arbeiterschaft, als derenDroge der Alkohol galt (Eisenbach-Stangl 2016). Das gesetzgeberische Desinteresse an den Arsenessern war vermutlich auch ihrer Unauffälligkeit geschuldet:Anders als alkoholische Getränke war Arsen keine Droge der Öffentlichkeit undnicht mit diversen Spielalten unmittelbar wahrnehmbarer Devianz - etwa Lärmenund Gewalttätigkeiten - assoziiert.

    7. Die kargen Berichte über Arsenesser aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen vermuten, dass der Arsengenuss im habsburgischen Österreich weit verbreitetgewesen war, dass sich intensiver Konsum aber auf ausgewählte Gebiete konzentrierte. Idealtypisch besehen zeichneten sich die .Hochkonsumgebiete" durcheinen bäuerlich provinziellen Charakter und traditionelle Lebensformen aus, auchwaren sie topografisch unzugänglich und wirtschaftlich rückständig, wenn nichtarm. Ein beträchtlicher Anteil der Arsenesser gehölte überdies sozial benachteiligten Berufs- und Randgruppen an. Unter diesen Vorzeichen betrachtet, lässt sichdie Bedeutung des Arsengenusses nahe der verpönten Hexensalben früherer Jahrhunderte ansiedeln. Arsen war ein .Berauschungsmittel des armen Volkes ...dem kostspieligere Genüsse versagt waren" (Hauschild/StaschenITroschke 1979:37).

    Die Einstufung der Arsenesser als benachteiligte Randgruppe und des Arsenessens als Ersatz gründet in einem Material, dessen erhebliche Mängel im Rahmen der Arbeit an diesem Text nicht zu beheben waren. Ob und in wieweit der

    -72-

  • Arsenesser und Geschichte

    Text daher im Sinne von Christian Ehalts Vorschlägen (1984) zur Sichtbarkeit benachteiligten sozialen Milieus und zur Hörbarkeit wenig artikulierter subjektiverBedürfnisse und Anliegen beitragen konnte, ist ungewiss. Gewiss wurde das vielgestaltige Thema in mehrfacher Hinsicht idealtypisch vereinfacht und, um ihmgerechter zu werden, werden abschließend ausgewählte Verkürzungen angesprochen.

    Kompensierte der Genuss von Arsen für einige gesellschaftlichen Ausschluss,war er für andere Ausdruck der selbstgewählten Distanz zu sozialpolitischenStrukturen, Organisationen und Institutionen und damit zur gegebenen "Gesellschaft" schlechthin. Auch "distanzierte" Arsenesser lebten häufig im sozialen wierechtlichen Abseits - sie stammten aus sozialen Milieus, die in Auflösung begriffen waren oder sich bereits aufgelöst hatten. Die Konsumgewohnheiten glichenden Lebensgewohnheiten - dem selbst gewähltem "Lebensstil", der zusätzlicheKraft versprach und mit hohem (Überiebens)Risiko assoziiert war. Sie bedurftenweder Gleichgesinnter noch der Advokaten.

    Hielt das gesellschaftliche Abseits Arsenesser generell von Mitteilungen überLebens- und Konsumgewohnheiten zurück - in den letzten 200 Jahren habennur Einzelne ausnahmsweise Auskunft gegeben und eine aktuelle Anfrage würde wohl negativ beschieden - war die Geheimhaltung zweifellos ein machtvollerer Schutz. Geheimhaltung separiert die Gewohnheit von der Sprache, möglicherweise sogar von der "Menthalisierung", sie bleibt leiblich dominiert, stülptsich in ihrer Leiblichkeit über andere Lebensangelegenheiten und erzeugt ihrerseits gesellschaftliches Abseits. Zu hören ist bestenfalls das Schweigen, liegt dieBotschaft darin? Und wenn ja, handelt sie von den Ansprüchen emanzipatorischer Forschung angesichts sprachloser Adressaten, von deren Aussterben in den1950er Jahren (Moravius, 1954), von Ersatz-Kulturen, und/oder von?

    LrTERATURVERZEICHNlS

    Richard M. Allesch: Arsenik. Seine Geschichte in Österreich. Klagenfurt: Verlag Fcrdinand Kleinmayr (1959).

    Ernst von Bibra: Die Narkotischen Genußmittel und der Mensch. Nürnberg: Verlag Wilhelm Schmid (1855).

    Hans Biedermann: Schaden- und Abwehrzauber. In: Helfried Valentinitsch (Hg.)Hexenund Zauberer. Die große Verfolgung - ein europäisches Phänomen in der Steiermark,Graz- Wien: Leykam- Verlag (1987), S. 165 - 174.

    Fritz Bylow: Die steirische Arsenikesserei in geschichtlicher Betrachtung. In: Zeitschriftdes Historischen Vereins für Steiermark, 29. Jg. (1935), S. 107-110.

    _ 7',-

  • Irmgard EISENBACH-STANGL, Wolfgang STANGL

    Die 48. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Graz. In: Carinthia, Zeitschrift für Vaterlandskunde, Belehrung und Unterhaltung, 65. Jg. NI'. II u. 12 (1875),S.245-258.

    Die Verwendung von Arsen in der gynäkologischen Praxis. In: Wiener Medizinische Wochenschrift, 47 (1892),1820.

    Irmgard Eisenbach-Stangl: Towards Individual Responsibilities: Interests affecling MajorAicohol Policy Changes in 1950s Austria. In: Social History of Alcohol and Drugs,Volume30(2016),p.120-137.

    Huben Christi an Ehalt: "Geschichle von unten". Zwischen Wissenschaft, politischer Bildung und politischer Aktivierung.ln: Beiträge zur historischen Sozialkunde, I (1984),S.32-36.

    EI friede Grabnerl Gerald Gänser: Volksmedizin und ärztliche Versorgung. In: Hexen undZauberer, Steirische Landesausstellung 1987, Katalog, Graz: Leykam_ Verlag (1987),S. 77 - 92.

    Thomas Hauschild/ Heidi Stase he nl Regina Troschke: Hexen. Katalog zur Ausstellung.Hamburg: Hochschule für bildende Künste (1979).

    Ludwig von Hönnann: Gcnuß- und Reizmittel in den Ostalpen. eine volkskundliche Skizze. In: Zeitschrift des Deutschen und Österreich ischen Alpenvereins, Jg. 1912, Bel.XLIII, S. 78-100.

    Journal-Revue: Zur Methode des subcutanen Anwendung des Arsens. 1n: Wien er Medizinische Wochenschrift 48 (1895), S. 2040-2041.

    Dieter Martinetz: Rauschdrogen und Stimulantien, Leipzig, Jena, Berlin: Urania-Verlag(1994), S. 143-145.

    Ludwig Morovius: Die Hidrimänner und der Hüttenrauch. In: Neue Illustrierte Wochenschau, Nr. 39,26. September 1954, S. 8.

    Fritz Pregl: Arsen als Volksmedizin und Gift in der Steiermark. In: Die medizinische Welt,Nr.25 (1928), S. 939-940.

    Peter Rosegger: Der Arsenikesser. In: Gesammelte Werke, Bd. 20, Waldheimat - Erzählungen aus der Jugendzeit - Vierter Band, Leipzig: Staackmann, (1914), S. 232 - 239.

    Wolfgang Schmidbauer/Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, München:Nymphenburger Verlagshandlung (1975).

    Ferdinand Tremel: Der Handel der Stadt Judenburg im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift deshistorischen Vereins für Steiermark vol. 38 (1947), S. 95-164.

    Otto Tschudi: Über die Giftesser. In: Wien er medizinische Wochenschrift I (1851),S.454-455.

    Othmar, Wonisch: Der Hittrachbergbau in St. Blasen bei St. Lambrecht. In: Blätter fürHeimatkunde, 25. Jg., Heft 4, (1951), S. 97-100.

    James C. Whorton: The Arsenic Century. How Victorian Britain was poisened at Horne,Work & Play, Oxford (2010), Oxford University Press

    -74-