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Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants? von Karl-Heinz Ilting (Saarbrücken) Hans Wagner zum 65. Geburtstag Die Frage, die in diesem Aufsatz erörtert wird, ist jüngst zum Gegen- stand einer Kontroverse gemacht worden: Nachdem Josef Schmucker 1 und Christian Ritter 2 sie verneint hatten, wird sie von Werner Busch bereits im Titel seines Buchs „Die Entstehung der kritischen Rechts- philosophie Kants (1762-1780)" 3 ostentativ bejaht. Ob man zugeben muß, daß es eine kritische Ethik und Rechts- philosophie Kants 4 wirklich gibt, das hängt natürlich vor allem davon ab, was man in diesem Falle mit dem Wort ,kritisch' meint. Im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes soll daher zunächst die Fragestellung und die These, die Werner Busch vertritt, präzisiert werden. Da es an dieser Stelle nicht möglich ist, diese These in voller Breite zu überprüfen, werden in den beiden folgenden Abschnitten einige besonders wichtige Texte, auf die Busch seine These stützt, analysiert und im Blick auf ihre Beweiskraft untersucht. Aus dieser Überprüfung ergibt sich, daß eine „kritische Wendung" Kants in den siebziger Jahren auf dem Gebiete der praktischen Philosophie nicht zu erkennen ist. Dieses Ergebnis wird im folgenden Abschnitt dieses Aufsatzes durch den Nachweis erhärtet, daß sich Kant auch noch in den achtziger Jahren in seinen Schriften zur praktischen Philosophie auf die Lehren einer vorkriti- schen Metaphysik stützt und sich gerade dort, wo er ethische Frage- stellungen mit seiner Vernunftkritik in Zusammenhang bringt, von dem entfernt, was man mit einigem Recht eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie nennen könnte. Im letzten Abschnitt soll dann eine Argumentation skizziert werden, die der von Kant selbst ausgearbci- 1 „Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen". Monographien zur philosophischen Forschung XXIII, Meisenheini am Cilan 19f>l. 2 „Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen", Juristische Abhandlungen X. Frankfurt am Main 1971. 3 'Kantstudien Ergänzungshefte 110, Berlin/New York 1979. 4 Da Kant bis in die „Metaphysik der Sitten" hinein /wischen Fthik und Rechts Philosophie nicht deutlich unterscheidet, ist mit diesen beiden Ausdrucken hici und im folgenden in der Regel auch die praktische Philosophie als gan/c gemeint 0003-91()1/81/0633-0005$2.00 Copyright by Walter de Ciruyter : (*o. Brought to you by | University of Glasgow L Authenticated Download Date | 12/18/14 2:58 PM

Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants?

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Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants?von K a r l - H e i n z I l t i ng (Saarbrücken)

Hans Wagner zum 65. Geburtstag

Die Frage, die in diesem Aufsatz erörtert wird, ist jüngst zum Gegen-stand einer Kontroverse gemacht worden: Nachdem Josef Schmucker1

und Christian Ritter2 sie verneint hatten, wird sie von Werner Buschbereits im Titel seines Buchs „Die Entstehung der kritischen Rechts-philosophie Kants (1762-1780)"3 ostentativ bejaht.

Ob man zugeben muß, daß es eine kritische Ethik und Rechts-philosophie Kants4 wirklich gibt, das hängt natürlich vor allem davonab, was man in diesem Falle mit dem Wort ,kritisch' meint. Im erstenAbschnitt dieses Aufsatzes soll daher zunächst die Fragestellung unddie These, die Werner Busch vertritt, präzisiert werden. Da es an dieserStelle nicht möglich ist, diese These in voller Breite zu überprüfen,werden in den beiden folgenden Abschnitten einige besonders wichtigeTexte, auf die Busch seine These stützt, analysiert und im Blick auf ihreBeweiskraft untersucht. Aus dieser Überprüfung ergibt sich, daß eine„kritische Wendung" Kants in den siebziger Jahren auf dem Gebieteder praktischen Philosophie nicht zu erkennen ist. Dieses Ergebniswird im folgenden Abschnitt dieses Aufsatzes durch den Nachweiserhärtet, daß sich Kant auch noch in den achtziger Jahren in seinenSchriften zur praktischen Philosophie auf die Lehren einer vorkriti-schen Metaphysik stützt und sich gerade dort, wo er ethische Frage-stellungen mit seiner Vernunftkritik in Zusammenhang bringt, vondem entfernt, was man mit einigem Recht eine kritische Ethik undRechtsphilosophie nennen könnte. Im letzten Abschnitt soll dann eineArgumentation skizziert werden, die der von Kant selbst ausgearbci-

1 „Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen".Monographien zur philosophischen Forschung XXIII, Meisenheini am Ci lan 1 9 f > l .

2 „Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen", Juristische Abhandlungen X.Frankfurt am Main 1971.

3 'Kantstudien Ergänzungshefte 110, Berlin/New York 1979.4 Da Kant bis in die „Metaphysik der Sitten" hinein /wischen Fthik und Rechts

Philosophie nicht deutlich unterscheidet, ist mit diesen beiden Ausdrucken hici undim folgenden in der Regel auch die praktische Philosophie als gan/c gemeint

0003-91()1/81/0633-0005$2.00Copyright by Walter de Ciruyter : (*o.

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loten Aufgabe einer kritischen Begründung der Ethik besser gerechtwerden dürfte.

l . Selbst in der Philosophie ist ein „Streit um Worte"5 nicht selteneine krypto —politische Auseinandersetzung. Denn da, zumal wenn esum Kant geht, das Wort ,kritisch4 (ähnlich wie »transzendental4) nichtselten soviel wie ,gut' und bisweilen nicht einmal mehr als dies be-deutet, kann die These, es gebe keine „kritische" Ethik Kants, als einnegatives Werturteil aufgefaßt werden; die Gegenthese empfiehlt sichdem Kantianer dann als eine Verteidigung der philosophischen Errun-genschaften Kants. Nun kann ernstlich ja gar nicht bestritten werden,daß die Kantische Ethik und, wenn auch in geringerem Maße, dieKantische Rechtsphilosophie6 einen entscheidenden Fortschritt in derGeschichte dieser philosophischen Disziplinen darstellen. Die Frage istdaher nur, worin dieser Fortschritt zu erkennen ist, zu welcher Zeit erstattgefunden hat und in welcher Beziehung er zur „kritischen Wende"in Kants Erörterung metaphysischer Probleme steht. Da das Wort,kritisch' jedoch nur in Kants theoretischer Philosophie hinreichenddefiniert ist, bedarf vor allem der Begriff einer „kritischen" Ethik undRechtsphilosophie Kants der Klärung.

Man kann diesen Begriff auf drei verschiedene Weisen definieren.„Kritisch4' ist Kants Ethik und Rechtsphilosophie entweder, wenn sieauf jener Fragestellung beruht, die für Kants theoretische Philosophieseit der „Kritik der reinen Vernunft" charakteristisch ist, und also imRückgang zu den Bedingungen der Möglichkeit dessen, was uns un-zweifelhaft gegeben ist, den Gegensatz zwischen Dogmatismus undSkeptizismus überwindet, oder, wenn sie unabtrennbar Lehren enthält,die sie mit Kants kritischer Philosophie in der „Kritik der reinenVernunft" verbinden, oder, wenn sich in ihr spezifische Lehren oderMethoden finden, die Kant erst in jener Zeit entwickelt hat, als seinekritische Philosophie entstand (nach 1771). Nun wird offenbar vonniemandem behauptet, es gebe auch in Kants praktischer Philosophieeine „kopernikanische Wendung", und diese These würde jedenfallseine besondere Klärung erfordern: zu bestimmen, worin sie bestehenmüßte und wozu sie dienen könnte. Der Zusammenhang zwischen

5 Vgl. Hermann Lübbe. „Der Streit um Worte", in: H.-G. Gadamer (Hrsg./, „DasProblem der Sprache", München 1967, 351-369.

6 Kant konnte zum einen bereits an die Naturrechtslehren, wie sie von Hobbes undPufendorf entwickelt worden waren, anknüpfen und gelangte zum anderen erst inhohem Alter und mit nicht mehr ausreichender Kraft zu einer Darstellung seiner„Rechtslehre".

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Kants ethischen Schriften der achtziger Jahre und seiner kritischenPhilosophie ist zwar unübersehbar; aber er besteht vor allem dort, woKant die Ergebnisse seiner ethischen Untersuchungen mit denResultaten seiner Vernunftskritik zur systematischen Übereinstim-mung bringen will, während theoretische und praktische Philosophieim übrigen gerade getrennt werden. Von einer „kritischen'' Ethik undRechtsphilosophie Kants wird auch in dieser zweiten Bedeutung kaumgesprochen. Die Meinungsverschiedenheit bezieht sich daher nahezuausschließlich auf die Frage, ob es auf dem Gebiete der praktischenPhilosophie in Kants „kritischer" Periode spezifische Lehren gibt, diefür seine Ethik (und Rechtsphilosophie) wesentlich sind. Zu klärenwäre freilich, welche Lehren in den Schriften der achtziger Jahre so-wohl als wesentlich wie auch als spezifisch anzusehen sind, da ja außerFrage steht, daß die am meisten beachteten Darlegungen und ThesenKants — die Lehre von den Imperativen und vor allem die These, nurein formaler, kategorischer Imperativ komme als ethisches Prinzip inBetracht — sich bereits in Texten aus den sechziger Jahren nachweisenlassen oder zumindest dort vorbereitet sind7.

In diesem Zusammenhang glaubt Busch eine „kritische Wendung"konstatieren zu können, die alsbald nach der Veröffentlichung der„Inaugural-Dissertation", nämlich 1772, in Kants ethischen Über-legungen stattgefunden habe. Als „oberster Punkt, von dem aus Kantargumentiert", erscheine nunmehr ein „kritischer Freiheitsbegriff,auf dessen Rechtsstandpunkt das vernünftige Naturwesen sich stellenkann und in dessen Norm der Grund des Rechtszwangs liegt" (171).Dieser Freiheitsbegriff löse einen „naturalistischen" Freiheitsbegriffab, der für Kant in seinen Reflexionen und Bemerkungen zur prak-tischen Philosophie in den sechziger Jahren leitend gewesen sei (26u. ö.). In jenem neuen Freiheitsbegriff gehe es einmal um das„kritische Verhältnis von Sinnlichkeit und vernünftiger Bestimmung inder Handlung" und zum anderen um die „Möglichkeit der vernunf-tigen Bestimmung" (72). Von diesem „obersten Punkt" aus glaubt nunBusch spezifische Lehren in Kants ethischen und rechtsphilosophi-schen Reflexionen der siebziger Jahre deuten zu sollen und sie gegenKants Anschauungen in den sechziger Jahren abheben zu können.

2. Zur Prüfung dieser zweifellos gewichtigen Thesen empfiehlt essich, zunächst jene Texte zu analysieren, auf die sich Busch bei seinenDeutungen vor allem bezieht.7 Dies betrachte ich als ein gesichertes Ergebnis der Untersuchungen Josef SchmnckiMs

und Christian Ritters.

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a) Ktuii.s ..naturalistischer" IwiticitsbeKriff. - In Kants „Bemerkungen" zu seiner17(>4 ctschienenen Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen undl-r l iahcncir* - sie stammen nach Adickes8 aus den Jahren 1764 und 1765 - findet sichein Abschnitt mit der Überschrift „Von der Freiheit" (20, 91-94), der in Busens Argu-mentation eine wichtige Rolle spielt.

Kant unterscheidet hier zwei Arten von Abhängigkeit: Von äußeren Dingen ist derMensch, sei es durch seine Bedürfnisse, sei es durch seine Lüsternheit stets abhängig; imCicgcnsut/ zu dieser natürlichen Abhängigkeit ist die Unterwürfigkeit eines Menschenunter den Willen eines ändern Menschen jedoch weit härter und unnatürlichen Wer derFreiheit Rewohnt ist, wird ihren Verlust als das schrecklichste Unglück betrachten; erträg-lich wird er allenfalls durch eine sehr lange Gewohnheit. Aber jedermann würde in derWahl zwischen Sklaverei und Tod die Gefahr des letzteren vorziehen. - Der Grund dieserHinstellung ist nach Kant sowohl klar einsichtig wie auch rechtmäßig. Denn der Naturkann man sich zumeist unterwerfen, ohne daß dies die Freiheit der Wahl aufhebt; werhingegen von der Willkür eines anderen abhängt, der ist in weit höherem Maße unfrei.Denn: Der Wille eines jeden Menschen ist die Wirkung seiner eigenen Triebe, Neigun-gen und stimmt nur mit seiner wahren oder eingebildeten Wohlfahrt zusammen (20, 92,21-23). Wer sich zum Herrn über den Willen eines anderen macht - so wird manerläuternd hinzufügen dürfen —, der greift dessen Streben nach Glückseligkeit unmittel-bar an. Aber dieser Zustand ist nicht nur etwas Äußeres, Gefährliches, sondern er enthältauch eine gewisse Häßlichkeit, der zugleich seine Unrechtmäßigkeit anzeigt. Denn daß derMensch selbst gleichsam keiner Seele bedürfen und keinen eigenen Willen haben soll unddaß eine andere Seele meine Gliedmaßen bewegen soll, das ist ungereimt und verkehrt (20,93, 20—23). Da der Mensch ein freies Wesen ist, setzt ihn die Sklaverei sogar noch unterdas Tier herab und macht ihn gleichsam vor nichts als ein Hausgerät eines ändern, so daßein Sklave den Rang eines Menschen verloren hat.

In dieser unverkennbar von Rousseau inspirierten Betrachtung wird Freiheit als einVermögen verstanden, das den Menschen prinzipiell von jeder Naturbedingtheit unab-hängig macht, soweit sich diese in einem Selbsterhaltungstrieb und Lebenswillen äußert.Denn ein Mensch kann sich durch seinen freien Entschluß im äußersten Falle derSklaverei durch den Tod entziehen. Diese Fähigkeit ist indes zugleich auch ein Recht desMenschen, da sie im Grunde das Wesen eines menschlichen Individuums — seine„Seele" - ausmacht: Weil der Mensch im Grunde frei ist, ist Freiheit zugleich einGrundrec/if des Menschen. Wie der Zusammenhang zwischen Sein und Recht zubegreifen ist, bleibt hier freilich ungeklärt. Ein Hinweis darauf, wie Kant ihn zubegründen versucht, liegt indes in dem Satz: Ein Wille, der eines ändern seinem unter-worfen ist, ist unvollkommen und widersprechend (20, 66, 3 f.). Der „Widerspruch", umden es sich hier handelt, ist entweder der Gegensatz zwischen der Freiheit als einerwesentlichen Eigenschaft des Menschen und der Rechtlosigkeit eines Sklaven oder derGegensatz zwischen der Freiheit als einem menschlichen Grundrecht und ihrer Auf-hebung in der Sklaverei. Auf den Unterschied dieser beiden Auffassungen achtet Kant indieser Phase seines Denkens jedoch kaum; er scheint vielmehr zu glauben, die Unrecht-

Vgl. Kant, Ges. Sehr. Bd. 20, 472 Ak.-A. Im folgenden wird die Akademie-Ausgabenach Band, Seite und evt. Zeile zitiert.

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mäßigkeit der Sklaverei sei bereits erwiesen, wenn sie irgendwie als „widersprüchlich"erkannt ist.

Bemerkenswert ist schließlich die Formulierung: der Wille eines jeden Menschen seidie Wirkung seiner eigenen Triebe, Neigungen (20, 92, 21 f.). Sie enthält, streng genom-men, einen Widerspruch, insofern nämlich ein „Wille", der nur das Resultat irrationalerTriebkräfte im Menschen wäre, unfrei und damit nach Kants eigenem Verständnis, wiees sich in den „Bemerkungen" darstellt, überhaupt kein Wille ist. Wie dieser Wider-spruch zu erklären oder zu deuten ist, kann daher nur durch eine eingehendere Inter-pretation aller hierfür relevanten Texte entschieden werden.

b) Kants „kritischer'1 Freiheitsbegriff. — Es sind hier vor allem ein Text aus KantsReflexionen zur Metaphysik, der im Zusammenhang mit der „Inaugural-Dissertation"steht, und ein in der ersten Hälfte der siebziger Jahre verfaßter Text aus den Reflexionenzur Moralphilosophie zu betrachten.

Die Reflexion 4227 (17, 466) bezieht die (letztlich platonische) Unterscheidungzwischen einer „intellektualen" und einer sinnlichen Natur im Menschen auf dasProblem der Zurechenbarkeit von Handlungen und damit auf das Freiheitsproblem.·Wären die Menschen völlig intellektuell, so wären alle ihre Handlungen tätig determiniert,aber doch frei, und alle Handlungen wären folglich zurechenbar; wären sie völlig sinnlich,so wären ihre Handlungen allein passiv determiniert, ihnen könnte nichts imputiert werden.Da aber die Menschen zum Teil sinnlich, zum Teil intellektual sind, glaubt Kant schließenzu können, daß der Mensch weder active noch passive determiniert ist, so daß seine Hand-lungen zum Teil von den Umständen, zum Teil von dem Gebrauche seiner Vernunft ab-hängen. Die Folge ist, daß ein Mensch nicht voll für seine Handlungen verantwortlich ist:Sie können ihm nicht gänzlich imputiert werden. Die so eingeschränkte menschlicheFreiheit besteht also eigentlich nur in der Möglichkeit, etwas Gutes zu tun. Ob ein Menschbei einer einzelnen, bestimmten Handlung tatsächlich frei und folglich verantwortlichwar, das muß daher von Fall zu Fall geprüft und entschieden werden: Ob die Handlungwirklich aus diesem principio oder dem sensitiven entspringe, kommt auf die Konditionenan. Zwischen den einzelnen Handlungen glaubt Kant keinen Kausalnexus annehmen zudürfen: Wie im Spiel ein jeder Wurf gewinnen kann, unangesehen der vorhergehenden undbegleitenden Umstände, so kann auch jede einzelne Handlung unvorhersehbar frei b/wunfrei sein.

Dieser Text beruht ohne Zweifel auf jenem Modell einer dualistischen Anthropologie,das auch noch zahllosen Erörterungen Kants in seinen Schriften der achtziger undneunziger Jahre (also seiner „kritischen" Periode) zugrunde liegt. Aber damit ist keines-wegs gesagt, daß es sich hier um eine „kritische" Anthropologie und Handlungsthcorichandelt. Kant macht sich vielmehr, seltsam genug, das pythagoreisch-platonischeMenschenbild zu eigen - es mochte seinem vom Hallischen Pietismus geprägten Selbst -Verständnis plausibel erscheinen —, und gerät damit in unüberwindliche SchwierigkeitenSpäter hat er es dann durch seine transzendental-philosophische Unterscheidung /VMsehen Erscheinung und Ding-an-sich zu interpretieren versucht; aber davon findet sich indem vorliegenden Text noch nicht einmal eine Spur.

Was dieses dualistische Menschenbild zu leisten scheint, ist immerhin eine l-iklarun^.·der Tatsache, daß Menschen einerseits als moralisch verantwortlich handelnde Wesensich nicht an die physischen Bedingungen ihres Daseins gebunden fühlen und amh-ici·

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scits in ihicm Tun nur all/uschr natürlichen Trieben und Neigungen folgen. Indem Kantdiese platonische Kon/eption übernimmt und auf ihrer Grundlage die Zurechenbarkeitvon Handlungen /u erklären versucht, entsteht ihm ein doppelter Begriff von Freiheit:Freiheit ist einmal die aktive Determination von Handlungen eines rein intellektualenWesens und /um anderen die Fähigkeit eines sinnlich-bedingten Vernunftwesens,gcrniiß seiner intellektualen Natur moralisch gut oder gemäß seiner sinnlichen Naturmoralisch verwerflich zu handeln. Unklar bleibt indes, warum die „aktive" Determina-tion im Gegensatz zur „passiven" frei genannt zu werden verdient; denn ein Wesen, daskraft eines ihm innewohnenden Prinzips tätig ist, wie es seiner Natur entspricht, istebenso determiniert wie ein Wesen, das auf äußere Einwirkungen nur auf eine bestimmteWeise reagieren kann: Durchgängige Determination und Freiheit schließen einanderaus. Hin Wesen, das zum Teil auf die eine, zum Teil auf die andere Weise determiniertist, wäre erst recht nicht frei. Frei wäre - im Vorstellungshorizont dieser platonisie-renden Konzeption — nur ein Wesen, das weder auf die eine noch auf die andere Weisedeterminiert ist, sondern die Fähigkeit hat, sich in der einen oder in der anderenRichtung zu entscheiden. Sinnlichkeit und Vernunft sind, so verstanden, also nicht zweiKomponenten, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist, sondern divergierendeTendenzen oder Handlungsmöglichkeiten, zwischen denen der menschliche Wille sichfrei entscheiden kann. Dies scheint Kant zu meinen, wenn er Freiheit als Möglichkeitbestimmt. Aber indem er sie nur als Möglichkeit, etwas Gutes zu tun, gelten läßt und sienicht als die Möglichkeit, zwischen dem moralisch Gebotenen und dem moralischVerwerflichen zu wählen, definiert, werden moralisch verwerfliche Handlungen zumResultat einer rein sinnlichen Determination, so daß sie einem menschlichen Individuumebensowenig zugerechnet werden können wie unerwünschte Verhaltensweisen einemTier. Wenn umgekehrt moralisch gute Handlungen durch ein gewisses Maß des Über-gewichts über die Sinnlichkeit zu erklären sind, so kann man dies ebenfalls einem mensch-lichen Individuum nicht als Verdienst anrechnen, da es im Rahmen dieser Vorstellungenja gar nicht die Fähigkeit hat, jenes „Übergewicht" aus eigener Willensmacht zuerzeugen. Nur weil Kant unterstellt, Handlungen eines „völlig intellektualen" und „tätigdeterminierten" Wesen seien zurechenbar, kann er behaupten, einem Menschenkönnten seine Handlungen nicht gänzlich imputiert werden; in Wahrheit sind sie nachseinen Voraussetzungen weder im einen noch im anderen Falle zurechenbar. DerMensch als ein sinnliches Vernunftwesen hat nicht einmal einen Willen.

Der soeben erörterte Text behandelt nicht eine moralisch-rechtliche, sondern einemetaphysische Frage: Er unterstellt, daß es so etwas wie Zurechenbarkeit geben muß,und will eine metaphysisch fundierte, anthropologische Erklärung dafür bieten, warumund wieweit Handlungen zurechenbar sind. Die Reflexion 6801 (19, 165 f.) hingegengehört ins Gebiet der Moralphilosophie.

Kant beginnt mit der seit der „Preis-Schrift" (1764) vertrauten Erklärung: Es ist vonder größten Notwendigkeit für die Vernunft, gewisse praktische Regeln anzunehmen, dieabsolut nezessitieren (kategorisch), ohne auf den Bedingungen von Nutzen zu beruhen9.

Zur Zurückweisung des Nutzen als eines moralisch relevanten Kriteriums vgl. die„Bemerkungen" 20, 118, lOf. 20, 138, 10-16. 20, 157, 1-7. 20, 168, 7-9 sowiedie Reflexionen 6586 (19, 97, 6f.), 6714 (19, 139, 10-12), 6716 (19, 139, 27-29).

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Als Beispiele solcher Grundsätze führt Kant das Selbstmordverbot und das Verbot derPreisgabe der eignen Person an. Die sich anschließende Begründung ist sowohl sprach-lich wie auch sachlich unklar, da sie sich teils auf die vorangestellte These, teils auf dieerläuternden Beispiele bezieht. Man wird sie indes etwa folgendermaßen rekonstruierenmüssen: 1. Nutzen kann keine absolut verbindlichen Grundsätze begründen helfen, danicht allgemein anzugeben ist, was jeweils im bestimmten Falle als nützlich gilt. 2. Eineallgemein gültige Bedingung absolut verbindlicher Grundsätze enthält [nur] der Begriffder Freiheit unserer Handlungen. (Das Privileg der Freiheit gibt dem Menschen „mora-lischen und inneren Wert".)

In einer Zwischenbemerkung betont Kant, Freiheit bestehe darin, sich nicht durch„tierische Triebfedern" überwältigen zu lassen, und leitet dann aus (2) ab, daß 3. die aufFreiheit beruhenden praktischen Grundsätze alles verbieten, was ein principium derHandlung wider sich selbst verrät, so daß das, was eine vorhergehende Bedingung ist, sichseiner Freiheit zu bedienen, die Freiheit notwendig einschränken muß. In (3) findet Kantschließlich die Begründung dafür, daß Selbstmord und die Preisgabe der eignen Person inder Sklaverei moralisch verwerflich sind; denn die eigne Person und das Leben selbst sind,wie er meint, wesentliche Bestimmungen der Freiheit, da ein Mensch ohne sie entwederkein Mensch oder gar kein freies Wesen sein würde. In dieser Formulierung ist indes dieBegründung der absoluten Verbindlichkeit, die in (2) vorliegt, insofern erweitert, alsjetzt nicht nur die Bedingungen der Freiheit, sondern auch die Bedingungen der Existenzeines freien Wesens (eines Menschen), nämlich sein Leben zur Grundlage moralischerVerbindlichkeit und zur einschränkenden Bedingung moralisch verantwortlichenHandelns gemacht wird.

Aber auch darüber geht Kant in den nachfolgenden Erläuterungen noch hinaus,indem er zugleich alle wesentlichen Bestimmungen des Menschen zur Grundlage derEthik macht. Eine Lüge betrachtet er folglich darum als verwerflich, weil ein Mensch alseiner, der seinen Sinn bezeichnen kann, die Bedeutung seiner Rede nicht vernichtigen darf.So wird nun auch der Selbstmord nicht mehr für moralisch verwerflich erklärt, weil er mitden Bedingungen der Freiheit unvereinbar ist, sondern vielmehr verworfen, weil einMensch, wenn er mit sich selbst schaltet, sich als eine Sache betrachtet und die Würde einesMenschen verliert. Auch der Widerspruch, der im Diebstahl liegt — insofern nämlich derDieb das, was nicht seine Sache ist, als die seinige behandelt —, gilt jetzt nicht mehr alsmoralisch verwerflich, weil er sich auf einen Widerspruch im Gebrauch der Freiheitzurückführen läßt, sondern vielmehr weil er eine „Beleidigung" anderer ist. Als dieallgemeine Bedingung, auf der die unbedingte Verbindlichkeit moralischer Normenberuht, gilt mithin nunmehr die Würde des Menschen: Die Menschlichkeit i.v/ hciliK undunverletzlich (sowohl in seiner eignen Person als in der anderer). Eine Begründung tur dieUnverletzlichkeit der Menschenwürde hat Kant in diesem Text nicht mehr gegeben

Den in den „Bemerkungen" über Freiheit (20, 91-94; s. o.) angedeuteten Zusam-menhang zwischen der Freiheit als einer wesentlichen menschlichen Eigenschaft und JetFreiheit als menschlichem Grundrecht hat Kant auch in Reflexion 68(11 nicht aufklärenkönnen; er hat ihn vielmehr nur von der Freiheit auf alle übrigen wesentlichen l igenSchäften des Menschen ausgedehnt: Alles, was wesentlich menschlich ist. soll nunmehr alsmoralisch unverletzlich gelten. Weil nur ein Mensch die Wahrheit sagen kann, soll esverboten sein, absichtlich die Unwahrheit zu sagen. (Aber daraus, daß nui Menschen

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konm-n, folgt doch nicht, daß man lügen soll.) Ebensowenig folgt aus dem Satz, daßn u r Menschen Selbstmord begehen können, daß sie dies auch tun sollen. (Aber mankann immerhin die These verteidigen, daß die Fähigkeit /um Selbstmord ein Zeichenmenschlicher Freiheit, einer spezifisch menschlichen Eigenschaft ist. Da nicht jeder(ichrauch, den Menschen von ihrer Freiheit machen können, moralisch erlaubt (oder garverboten) ist, folgt daraus keineswegs, daß Selbstmord überhaupt und in jedem Fallemoralisch gerechtfertigt ist.) Die Begründungslücke in Kants Überlegungen entstehtmithin dadurch, daß er den Begriff spezifisch menschlicher Fähigkeiten durch einennormativen Begriff menschlicher Freiheit und Würde substituiert. Zu fragen wäre aber,warum der Mensch Anspruch auf Würde hat und welche spezifisch menschlichen Eigen-schaften moralisch unantastbar sein sollten.

Aber selbst wenn man unterstellt, Kant habe diese Fragen befriedigend beantwortet,bleiben seine Versuche, die Verbindlichkeit der erwähnten moralischen Normen zubegründen, noch unzureichend. Dies ist beim Selbstmordverbot besonders deutlich, unddie verschiedenen von Kant nacheinander allein in der vorliegenden Reflexion vorge-brachten Begründungsversuche deuten darauf hin, daß ihm selbst dies nicht unklar ge-blieben ist. Wer sich als Sklave verkauft oder sich sonst irgendwie zum willenlosenWerkzeug der Willkür anderer machen läßt, benutzt in der Tat seine Freiheit, um sichseiner Freiheit zu berauben; wer sich zum Selbstmord entschließt, weil er das Daseineines Sklaven für unerträglich hält, oder der Folterung und damit der Gefahr, Unschul-dige zu verraten, zuvorkommen will, nutzt die Chance seiner Freiheit hingegen, um seinDasein in Unfreiheit aufzuheben. Seine Existenz als lebendiges Individuum ist zwar eineBedingung, sich seiner Freiheit zu bedienen-, aber seine Tat soll nicht seine Freiheit,sondern seine Unfreiheit aufheben und so seine Menschenwürde erhalten undbestätigen. Gerade ein unbedingtes Selbstmordverbot würde die Freiheit aufheben. Inden „Bemerkungen" (20, 92) war Kant dieser Einsicht anscheinend näher als in dervorliegenden Reflexion. Ebensowenig trifft zu, daß jemand, der sich das Leben nimmt,sich als eine Sache betrachtet und die Würde eines Menschen verliert (19, 165, 27); denn erbetrachtet ja nur seine Existenz als lebendiges Individuum als eine ihm äußerliche Sache,nicht hingegen sich selbst als ein freies Wesen. — Wenn Kant überdies meint, daß mankeinen freien Willen hat, um aufzuhören, gar etwas zu sein (19, 166, 1), so wird er durchdie Tat eines einzelnen widerlegt, falls er bestreiten wollte, daß dem Menschen diephysische Willensmacht dazu fehlt; wenn er hingegen sagen will, ein Mensch habe garnicht das Recht, aufhören zu wollen, so behauptet er lediglich, was er begründen wollte.— Einer moralisch zutreffenden Beurteilung nähert sich Kant erst, wenn er betont: DerMensch kann große Handlungen selbst im Unglück ausüben; und da, wo er das Lebenaufopfert, nicht weil er dasselbe haßt, da ist er doch des Lebens wert. Der so sein Lebenselbst kleiner schätzt als die Gemächlichkeit des Glücks, der ist des Lebens nicht wert(19, 166, 5—9). Aber hier, wie auch in seinen Schriften der achtziger und neunzigerJahre, verschließt er sich der Einsicht, daß Selbstmord nicht deshalb moraliscji ver-werflich oder doch jedenfalls bedenklich ist, weil er die Bedingungen moralisch verant-wortlichen Handelns überhaupt verletzt — denn dies ist gar nicht der Fall —, sondern weiler den Verzicht darauf einschließt, zu seinem Teil an der Verwirklichung eines men-schenwürdigen Daseins in Freiheit im einzelnen und im allgemeinen mitzuwirken. Kanthat m. a. W. nicht einsehen wollen, daß das Selbstmordverbot nach seinem Sprachge-brauch nicht eine vollkommene, sondern nur (?) eine unvollkommene Pflicht begründet.Brought to you by | University of Glasgow Library

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Aus der Analyse dieser drei Texte ergibt sich nun keineswegs, daßihnen zwei verschiedene Freiheitsbegriffe zugrunde liegen, von denender eine als „naturalistisch" und der andere als „kritisch" charakteri-siert werden könnte. Es wird daher zu untersuchen sein, wie Buschdiese für seine Beweisführung entscheidenden Äußerungen Kants aus-wertet.

3. Busch findet den Kantischen Freiheitsbegriff der sechziger Jahre,der erst in den siebziger Jahren von einem „kritischen" Freiheitsbegriffabgelöst wird, vor allem in den oben erörterten „Bemerkungen" überdie Freiheit und hier wieder vor allem in dem Gedanken, daß dieAbhängigkeit des Menschen von der Willkür eines anderenschrecklicher sei als die Abhängigkeit von den natürlichen Bedin-gungen seines Lebens, und zumal in der Begründung: Alle . . . Übel derNatur sind doch gewissen Gesetzen unterworfen, die man kennenlernt,um nachher zu wählen, wiefern man ihnen nachgeben oder sich ihnenunterwerfen will (20, 92, 15—18). Busch glaubt in dieser ÄußerungKants einen „Freiheitsbegriff" zu finden, „der die Abhängigkeit desMenschen auf die von Naturgesetzen einschränkt" (aaO 25), was dochwohl bedeutet, der Mensch sei nach Kants „Bemerkungen" lediglichvon Naturgesetzen abhängig, im übrigen aber vollkommen frei. Dies istjedoch unzutreffend, da Kant dieser Abhängigkeit des Menschen jagerade die Abhängigkeit von der Willkür eines anderen als die wahreUnfreiheit gegenüberstellt, — um freilich deutlich zu machen, daß einMensch sich von dieser Abhängigkeit grundsätzlich befreien kann.Unverständlich bleibt indes zunächst, wieso diese nur durchNaturgesetze beschränkte Freiheit als „naturalistisch" charakterisiertwerden kann.

Busch kommt zu dieser Deutung nicht, indem er Kants ,,Bemer-kungen" über Freiheit interpretiert, sondern indem er sie mit ähnlichenÄußerungen bei Rousseau und Locke10 vergleicht (25) und imAnschluß daran den Freiheitsbegriff bei Locke und Rousseau unter-sucht (26).

Dieser Argumentationsschritt hat bei Busch die folgende Form: „Sie stellen die l·welche rechtlichen Maßnahmen ich unternehmen muß, um die dem Menschen ;i tjie-gebene ursprüngliche Freiheit zu erhalten oder wiederherzustellen. Ihnen gelingtWendung, indem sie im Freiheitsbegriff nur die von Gott b/w. der Natur iinbelohlPflichten des Menschen gegen sich selbst betrachten und dann erst, in einem /\\ScJiritt, auf das Verhältnis zum Mitmenschen schließen."

Vgl. Rousseau, Emile II. Oeuvres completes, Paris (Plciadc)Locke, Second Treatise, Kap. 4.

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In Lockes helraelHungen über Sklaverei („Second Trcatise", Kap. 4) findet dieseDeutung ihre Grundlage. In engem Anschluß an Hobbes entwickelt Locke hier einel ehre von der Freiheil in\ Naturzustand und im Staat, die sich in einem entscheidendenl'unkt gegen die Souveränitätslehre des „Leviathan" (Kap. 21) richtet. Freiheit imNatur/.ustand (natural liheriy) besteht nacli Locke darin, to be free from any superiorin t wer on earth, and not he nnder the will or legislative authority of man, but to havetmlv the law of natitre for /I/A· ruie. Im Rahmen dieser für das gesamte rationale Natur-recht der Neuzeit seit Hobbes charakteristischen Konzeption ist die Freiheit von jederBeschränkung, die sich nicht aus den Bedingungen der Verwirklichung und Bewahrungdieser Freiheit im Zusammenleben mit anderen ebenso freien Wesen als notwendig her-ausstellt, ein unverlierbares Grundrecht des Menschen. Die allgemeinen, allein aus derIdee der Verwirklichung von Freiheit zu begründenden Einschränkungen der Freiheitheilten in diesem Zusammenhang das (objektive) „Naturrecht" (law of nature). DerGrund der Verbindlichkeit dieses Naturrechts wird im Anschluß an Suarez11 seit Hobbeshäufig im Willen Gottes gesucht. Diesem ursprünglichen Freiheitsrecht des Menschenstellt Locke — hier bereits im Gegensatz zu Hobbes — die Freiheit im Staat (liberty ofman in society) gegenüber; sie besteht nach seiner Lehre darin, to be under no otherlegislative power but that established by consent in the Commonwealth, nor under thedominion of any will, or restraint of any law, but what that legislative shall enact accordingto the trustput in it. Leitend ist hierbei der von Hobbes formulierte Gedanke, daß Rechts-sicherheit allein auf der Grundlage des objektiven Naturrechts nicht erreichbar ist und daßdarum zur Bestimmung und Durchsetzung des Rechts ein Staat geschaffen werden muß,so daß durch staatliches (positives) Recht eine weitere Einschränkung des ursprünglichenFreiheitsrechts der Individuen erforderlich wird. In der Souveränitätslehre des Hobbesführt diese Überlegung bekanntlich dazu, daß das ursprüngliche Freiheitsrecht prinzipiellaufgehoben wird, und dagegen betont nun Locke, daß die Rechtsgrundlage staatlicherGewalt allein in einer allgemein zumutbaren Einschränkung des ursprünglichen Frei-heitsrechts, auf der Basis einer Zustimmung (consent) der Individuen gefunden werdenkann. Daraus schließt Locke — ohne Zweifel mit Recht —, daß es ein unveräußerlichesFreiheitsrecht der Individuen ist, im Staate not to be subject to the inconstant, uncertain,unknow, arbitrary will of annother man. Nicht ausreichend ist lediglich die Form seineranschließend vorgebrachten Begründung: Die prinzipielle Unrechtmäßigkeit desDespotismus soll — nun wieder in Übereinstimmung mit Hobbes — im Selbsterhaltungs-willen bzw. -recht der Individuen ihren Grund haben. (Locke ist hier ähnlich unklar wiebereits Hobbes oder später, an den oben erörterten Stellen, Kant.)

Die Interpretation, die Busch an der oben zitierten Stelle, vorträgt, ist mithin — jeden-falls was Locke angeht — im ganzen zutreffend, wenn auch etwas unklar und wenig hilf-reich für denjenigen, dem diese Erörterungen nicht ohnehin gegenwärtig sind.

Das Ergebnis dieser Interpretation faßt Busch in dem Satzzusammen: „Diesem selbstbezogenen, unmoralischen Freiheitsbe'griffschließt sich Kant an" (26). Nun mag man immerhin noch darüber

11 Vgl. meinen Artikel „Naturrecht" in: „Geschichtliche Grundbegriffe", (hrsg. vonW. Conze/R. Koselleck) Bd. 4, Stuttgart 1978, 273, 281.

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streiten, ob es angebracht ist, von einem „selbstbezogenen Freiheits-begriff4 zu sprechen, wenn gemeint ist, alles Recht und alle Verbind-lichkeit müsse ihre Grundlage in einem unveräußerlichen Freiheits-recht eines jeden menschlichen Individuums haben; aber daß dieserFreiheitsbegriff auch noch als „unmoralisch" bezeichnet wird, istebenso unberechtigt wie unverständlich. So richtig es ferner ist, daßKants Freiheitsbegriff im Grunde derjenige des neuzeitlichenrationalen Naturrechts ist, so falsch ist es, den Freiheitsbegriff Kants inden sechziger Jahren, vor allem in den „Bemerkungen" über Freiheitals „selbstbezogen" und „unmoralisch" zu charakterisieren. Ganzbesonders verwirrend aber ist es, wenn Busch unmittelbar darauferklärt: „Übernimmt Kant damit von Rousseau das Erscheinungsbildeiner mehr oder weniger begründeten naturalistischen Freiheit? ImGegenteil: für Kant besitzt die natürliche Unabhängigkeit desMenschen Beweischarakter, indem Unfreiheit widersprüchlich, unge-reimt und verkehrt, genannt wird" (26).

Der Zusammenhang legt nahe, daß der „naturalistische" Freiheitsbegriff mit dem zu-vor erwähnten Begriff einer „selbstbezogenen, unmoralischen'1 Freiheit identisch ist.Ferner wird im folgenden (vgl. 25. 27. 54. 93) Kant dieser „naturalistische" Freiheits-begriff fortwährend zugeschrieben. Der behauptete Gegensatz zwischen Rousseau undKant besteht also offenbar nicht darin, daß Kant den „naturalistischen" FreiheitsbegritfRousseaus (und Lockes) ablehnt, sondern daß dieser bei Kant ein anderes „Erschei-nungsbild" erhält. Aber auch das ist unverständlich, da die Auffassung, die dann Kantzugeschrieben wird, sich ebenso schon bei Rousseau und Locke an den oben Anm. l Ozitierten Stellen findet.

Als der zutreffende Kern der Interpretation, die Busch zu KantsFreiheitsbegriff in den sechziger Jahren vorträgt, bleibt mithin nur dieFeststellung übrig, daß sich Kant in den „Bemerkungen" über Freiheitbereits 1764/5 die Auffassung des modernen Naturrechts zueigengemacht hat, daß Freiheit ein unveräußerliches Grundrecht eines jedenmenschlichen Individuums ist. Hinzuzufügen wäre, daß hier — ähnlichwie bei Kants Vorgängern — ungeklärt bleibt, wie dieses Grundrechtdes näheren begründet werden kann.

Betrachtet man nun jenen Freiheitsbegriff, der nach Buschs Deutungin Kants Reflexionen aus den siebziger Jahren diesen irreführend als„naturalistisch** bezeichneten Freiheitsbegriff abgelöst hat, so siehtman sich zunächst auf Kants Überlegungen zum Verhältnis des„Intellektualen" und des Sinnlichen in der menschlichen Freiheit, dieuns in Reflexion 4227 (s. o.) vorliegen, verwiesen. Dazu bemerktBusch, es lasse sich „leicht zeigen, daß es sich hierbei um das kritischeVerhältnis von Sinnlichkeit und vernünftiger Bestimmung in de?

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Handlung handelt" (72). Dies ist jedoch schon darum mehr als/wct lc lhut t , da der Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft hier, amAnfang der siebziger Jahre, noch durchaus vorkritisch ist und auf denVoraussetzungen einer dogmatischen Metaphysik beruht (s. o.).Überdies ist aber auch zu fragen, ob der ihm entsprechende Freiheits-begritT in der Schriften der kritischen Periode, wie er etwa in derdritten Antinomie der „Kritik der reinen Vernunft" vorliegt, den Stan-dards von Kants kritischer Philosophie genügt.

Die Schwierigkeiten, die in Reflexion 4227 der Begriff einer „intellektualen" Freiheitenthal t (s. o.), treten in Kants Auflösung der dritten Antinomie nur noch deutlicherhervor. Denn nach den Lehren in Kants kritischer Metaphysik würde das handelnde Sub-jekt, nach seinem intelligiblen Charakter, unter keinen Zeitbedingungen stehen, da die Zeitja nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst ist. In ihmwurde keine Handlung entstehen oder vergehen. Als intelligibler Charakter würde alsodas transzendentale Ich nach den Lehren der „Kritik der reinen Vernunft" überhaupt garnicht handeln, sondern nur die zeitlose Ursache dessen sein, was in der Erfahrungsweltals Handlung erscheint. Nach seinem empirischen Charakter würde das handelndeSubjekt indes ebensowenig handeln, da es als Erscheinung betrachtet den Bedingungender Naturkausalität unterliegt. Der Begriff der Handlung ist unter diesen Voraus-setzungen nicht mehr haltbar.

So folgert auch Kant, daß dieser intelligible Charakter . . . niemals gekannt werdenkönnte, weil wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint. Indes meint Kantfolgern zu dürfen, dieser intelligible Charakter würde doch dem empirischen Charaktergemäß gedacht werden müssen (KrV A 539 f.), obwohl sich ein Schluß auf das prinzipiellunerkennbare Ding an sich aus empirischen Prämissen nach den Grundsätzen seinerkritischen Philosophie gerade verbietet. Es liegt daher nach seinen eigenen Voraus-setzungen eine fehlerhafte Argumentation vor, wenn er den empirischen Charakter desMenschen als das sinnliche Zeichen seines intelligiblen Charakters betrachtet und unter-stellt, der Mensch erkenne sich selbst auch durch bloße Apperzeption, so daß er sichselbst einesteils Phänomen, anderenteils aber . . . ein bloß intelligibler Gegenstand sei(A 546). Seine These, jede Handlung sei die unmittelbare Wirkung des intelligiblenCharakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt (A 553), ist daher grundlosund als ein Weiterwirken von Vorstellungen einer dogmatischen Metaphysik in KantsSchriften seiner kritischen Periode zu erklären.

Daß im Zusammenhang mit diesen Vorstellungen Handlungen nicht mehr zurechen-bar sind, wurde bereits oben gezeigt. Gleichwohl hält Kant auch in seinen kritischenSchriften an der Zurechenbarkeit von Handlungen natürlich fest (vgl. A 554—556).Aber auf die Frage, wie die so entstehenden Probleme zu lösen sind, hält er nur die Aus-kunft bereit: Daraufist keine Antwort möglich (A 556). Ein Erkenntnisfortschritt gegen-über seinen Lehren der sechziger Jahre ist an diesem Punkt nicht zu entdecken.

Busch glaubt in Kants „kritischem" Freiheitsbegriff außer dieserVoraussetzung einer dualistischen Anthropologie noch eine zweiteKomponente feststellen zu können: Freiheit sei hier begriffen als die

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„Möglichkeit der vernünftigen Bestimmung" (72). Nun spricht Kant inReflexion 4227 ja in der Tat von Freiheit als der Möglichkeit, etwasGutes zu tun (17, 466, 27; vgl. oben), und in Reflexion 4226 liest man,unsere Handlungen hätten alle können nach der Vernunft geschehen(17, 465, 25f.). Gemeint ist hier - noch ohne jeden Bezug zu Inter-pretamenten der kritischen Philosophie -, daß Menschen als sinnlicheVernunftwesen vernünftig, d. h. nach moralischen Normen handelnkönnen. Dies ist in der Tat bei aller Zurechnung von Handlungenvorausgesetzt. Die Lehre vom Menschen als einem sinnlichen Ver-nunftwesen ist eine metaphysische Theorie, die dies begreiflich machensoll, dazu aber nicht geeignet ist. Aber selbst wenn Kant in seinerkritischen Philosophie eine befriedigende Erklärung für die Zurechen-barkeit von Handlungen gefunden hätte, würde dieser kritische Frei-heitsbegriff die These nicht stützen können, es gebe eine kritischeEthik und Rechtsphilosophie Kants. Denn dieser Begriff von Freiheit(besser: diese Erklärung der menschlichen Freiheit) wäre nicht Teilseiner praktischen, sondern Teil seiner theoretischen Philosophie.

Dieser von Busch zu unrecht so genannte ,,kritische" Freiheitsbegriffsoll nun dazu dienen, Kants Begründung der unbedingten Verbindlich-keit moralischer Normen in Reflexion 6801 (s. o.) zu rechtfertigen.Vorangegangen war Christian Ritter (aaO 320) mit einer Interpreta-tion, derzufolge Kant in dieser Reflexion außer einem „formalenApriori" — der menschlichen Freiheit — auch ein ,,materiales.anthropologisches Apriori" zur Begründung von Verbindlichkeit ver-wendet. Diese Unterscheidung kann sich immerhin auf Kants Unter-scheidung zwischen formalen und materialen ethischen Grundsätzen inder „Preis-Schrift" stützen. Der Problematik, um die es in Reflexion6801 geht, ist sie im übrigen angemessen, wenn auch die Frage, wo-durch jenes materiale, anthropologische Apriori gerechtfertigt werdenkönne, dadurch keineswegs beantwortet wird. Dagegen wendet sichnun Busch mit der Behauptung, Christian Ritters Interpretationberuhe auf einem Mißverständnis des „kritischen" Freiheitsbegriffs indieser Reflexion; dieser enthalte nämlich „analytisch sowohl Intellektals auch Sinnlichkeit" (79).

Von diesem Argument macht nun freilich Kant weder hier noch, wie es scheitirgendwo Gebrauch; es handelt sich also um eine von Busch eingeführte Inferprehypothcse. Sachlich weiterführen würde sie nur, wenn klargeworden wäre,solcher Freiheitsbegriff wohlbegründet ist; sonst aber würde sie lediglieh aulKant nicht gelöstes Problem verweisen. Daß dies tatsächlich der I all ist. wird diArt, wie Busch seine Interpretationshypothesc zur Erklärung des Ka n tischenanwendet, nur noch wahrscheinlicher.

Ja B ein

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Mit lilick auf das Verhol der Lüge betont Busch nämlich, der Freiheit seien alleliestimimingcn zuwider, „die das Sinnenwescn der Wirksamkeit der Vernunft berauben.Was die Vernunft aber am allerersten unbrauchbar macht, ist der Widerspruch zwischen(icdankcn und deren Zeichen, d. i. die Unwahrhaftigkeit" (79). Eine moralische Normkann man mit dieser Überlegung natürlich nicht begründen; denn nicht alles, was dieVernunft unbrauchbar macht, ist moralisch verwerflich. Richtig ist nur, daß derGebrauch des freien Willens behindert oder aufgehoben wird durch alles, was einemmenschliehen Individuum die Vernunft unbrauchbar macht. In Kants ethischen Re-flexionen geht es aber nicht um diesen Begriff der physischen Wirksamkeit von Vernunftund Freiheit, sondern um den praktischen Begriff einer vernünftigen Normierung desfreien Willens.

So muß man anschließend denn wohl feststellen, daß diesem ambi-tionierten Unternehmen12, die Entstehung einer kritischen Rechts-philosophie und eine „kritische Wendung" in Kants Reflexionen dersiebziger Jahre nachzuweisen, der Erfolg versagt geblieben ist.

4. Was gegen diese These einer kritischen Ethik und Rechtsphilo-sophie Kants spricht, läßt sich indes auch unmittelbar an KantsSchriften aus den achtziger und neunziger Jahren zeigen. Einerseitsrekurrieren sie nämlich durchaus unkritisch auf Vorstellungen einerdogmatischen Metaphysik, und andererseits entwickeln sie Lehren, diesich in den früheren Schriften und Reflexionen noch nicht finden unddie insofern mit einigem Recht als „kritische" Ethik und Rechtsphilo-sophie angesprochen werden können.

In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" treten dieseneuen, „kritischen" Lehren nun gerade engstens mit jenen unkriti-schen, metaphysischen Vorstellungen verbunden auf. Dies allein dürfteschon ein Indiz dafür sein, daß Kant selbst zunächst gar nicht darangedacht hat, die Grundlagen seiner „kritischen" Ethik durch Unter-suchungen abzusichern, die der transzendentalen Deduktion und derAnalytik der Grundsätze in der „Kritik der reinen Vernunft" ver-gleichbar wären, und entsprechend auch in der praktischen Philosophiedie Vorstellungen der dogmatischen Metaphysik zurückzuweisen. Dietranzendentale Dialektik und die Methodenlehre der KrV und dieGMS machen vielmehr ganz den Eindruck, als ob Kant geglaubt habe,eine Metaphysik der Sitten würde unmittelbar die Leerstellen ausfüllenkönnen, welche er in der KrV offengehalten hatte. Die Skizze einer„Kritik der praktischen Vernunft" im dritten Teil der GMS leistet dennauch — mithilfe eines Arguments, dessen Untauglichkeit Kant selbst in

12 Seine positiven Aspekte hat, z. T. mit anderem Ergebnis als dem hier vorgetragenen,H. Kienner (Deutsche Literaturzeitung 102 [1981], 163 f.) gewürdigt.

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der späteren KpV implizit zugegeben hat - in der Tat nicht mehr alseben dies; sie vervollständigt die in der KrV entwickelte Konzeption,ist aber selbst keineswegs eine kritische Grundlegung der Ethik.

Neu in der GMS ist Kants Deutung der Sittlichkeit als Autonomie, d. h. als einerGrundnorm, derzufolge Personen, die je selbst „Zweck an sich" sind, so miteinanderkoexistieren sollen, daß sie — ähnlich wie das „Reich der Natur" - ein „Reich derZwecke" bilden und sich zugleich als Urheber dieser Grundnorm begreifen können13.Elemente dieser Deutung finden sich gewiß schon in früheren Schriften und ReflexionenKants; aber in der ersten Auflage der KrV fehlt noch der Begriff der Autonomie, undselbst in den Reflexionen vor der GMS ist die Bedeutung, die dieser Begriff hier erhaltensollte, noch kaum zu erkennen14. Daß es sich hier um eine spezifische Lehre in Kantsethischen Schriften der kritischen Periode handelt, dürfte unbestritten sein. In diesemSinne könnte man gewiß alle Lehren, die sich auf diese Idee der Autonomie beziehen, alsKants kritische Ethik bzw. Rechtsphilosophie bezeichnen.

Gleichwohl begründet Kant in der GMS diese Konzeption von Sittlichkeit als Auto-nomie in einer Weise, die man nur als unkritisch bezeichnen kann. Denn daß Menschen,insofern sie vernünftige Wesen sind, einander als Personen behandeln sollten, hat nachKants Auffassung in der GMS seinen Grund in der Tatsache, daß sie Personen sind, näm-lich darin, daß ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. a/s etwas, das nichtbloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet15. Kants These ist also nicht etwa, daßMenschen einander nie „bloß als Mittel" benutzen dürfen, weil und insofern sie mora-lisch verantwortlich handeln; ihre Auszeichnung soll vielmehr darin liegen, daß sie ver-nünftig sind, und der Grund dieser Auszeichnung wird in einem an die Existenz desVernunftwesens gebundenen Wert an sich gesucht. Aber wie wir berechtigt sein könnten,die Natur als eine Werte an sich setzende Instanz zu deuten, ist nach den Grundsätzender transzendentalen Analytik in der KrV unerfindlich.

Nun nimmt Kant im folgenden dieser Deutung zwar ihren thetischen Charakter,indem er (etwas unerwartet16) erklärt, man müsse, um die Verbindlichkeit des Auto-nomie-Prinzips zu beweisen, „über die Erkenntnis der Objekte" hinaus — und ,,/u einerKritik des Subjekts, d. i. der einen praktischen Vernunft" übergehen (440, 24 — 2 h ) .

13 Vgl. GMS Bd. 4, 436-440 Ak.-A.14 Vgl. L. W. Beck, „Kants ,Kritik der praktischen Vernunft*. Ein Kommentar". Mün-

chen 1974, 25. - Nach Reflexion 6867 (ca. 1776-1778) ist das primipium derMoral . . . Autokratie der Freiheit in Ansehung aller Glückseligkeit. (Vgl. Reflexion7199 [1780 oder früher]: „Selbstherrschaft"; Reflexion 7242 [1780 oder spater):„Prinzipien des selbstgesetzgebenden Willens".)

15 GMS Bd. 4, 428, 21-24. Vgl. ebd. 428, 3f.: etwas, dessen Dasein an sich selbst einenabsoluten Wert hat; 428, 7f.: jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst:432, 31 f.: Der Mensch soll nach seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber ull^e-mein gesetzgebenden Willen handeln; ähnlich 435, 33f. 436, 20.

16> Unmittelbar zuvor hatte Kant erklärt, er wolle „eben jetzt" untersuchen, wie dieVernunft für sich allein das Verhalten bestimmen könne (427, 17). und die TheseJedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst durch ein ..Nun süjse ich"eingeführt (428, 7 f.).

23 Arch. Gesch. Philov>pbie Bd. 63

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340 K a r l - H e i n z I l t i n g

Ahcr in dem entsprechenden Teil der GMS (446 ff.) werden diese Voraussetzungen auseiner dogmatischen Metaphysik durch eine kritische Analyse des praktischen Vernunft-gchniuchs weder erhärtet noch zurückgenommen. Nachdem Kant noch einmal einge-schärft hat, daß der Mensch sich nicht anmaßen darf, sich zu erkennen, wie er an sich\clh\f sfi (451, 23), schreibt er ihm vielmehr unmittelbar darauf das Recht zu, in An-sehung dessen, was in ihm reine Tätigkeit sein mag . . . sich zur intellektuellen Welt zuzählen, die er doch nicht weiter kennt (452, 33-36), - offenbar ohne den Widerspruch zubemerken, der darin liegt, daß ein Wesen, das sich „reine Selbsttätigkeit" (452, 9f.)/uschreiben und sich als Glied einer ,,intelligiblen Welt" begreifen darf bzw. muß (452,3 l f .) , doch durchaus sein angeblich unerkennbares An-sich-sein erkennt. Dieser Wider-spruch wird nicht dadurch aufgehoben, daß Kant die These vermeidet, wir seien fähig zuerkennen, daß wir Glied einer „Verstandeswelt" sind, sondern vielmehr nur betont, wirkönnten nicht umhin, uns als ein solches Wesen zu denken. Denn aus dieser angeblichnotwendigen und „in praktischer Rücksicht" (vgl. 448, 6) berechtigten Selbstdeutungleitet Kant nicht nur ab, daß wir uns als frei denken (452, 33), sondern auch, daß wir die„Autonomie des Willens, samt ihrer Folge, der Moralität", erkennen (453, 11 — 13). Kantstützt sich also auch hier auf eine dogmatische Metaphysik und eine mit ihr verbundenedualistische Anthropologie, der er ,,in praktischer Rücksicht" Gewißheit zuschreibt, umaus ihr die Verbindlichkeit moralischer Normen abzuleiten.

In diesem Begründungsversuch wird Freiheit zunächst als Spontaneität („reine Selbst-tätigkeit") verstanden, dann aber als Autonomie gedeutet. Die bloße „Unabhängigkeitvon bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt" (455, 2f.) wird so zum „notwendigenWollen" des Menschen als „Gliedes einer intelligiblen Welt" und dieses Wollen zumHandeln in Übereinstimmung mit einem selbstgegebenen (moralischen) Gesetz. Wederder erste noch der zweite dieser beiden Argumentationsschritte ist durch eine kritischeAnalyse der ethischen Grundnorm ausgewiesen, und wie aus dem negativen Begriff derFreiheit als Unabhängigkeit der positive Begriff der Freiheit als Autonomie hervorgehenkönnte, bleibt unerfindlich. Erst recht bleibt unklar, wie die Glieder einer „Verstandes-welt" überhaupt handeln und frei nicht nur i. S. einer Unabhängigkeit von den Ursachender Sinneswelt, sondern auch als Glieder dieser „Verstandeswelt" sein können. Auto-nomie als Grundgesetz dieser „Verstandeswelt" soll schließlich sogar noch der „Grund"eines Gesetzes der „Sinnenwelt" sein und so in Ansehung meines Willens (der ganz zurVerstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend sein (453, 31—34). Ein solches Hinein-wirken der „Verstandeswelt" in die „Sinnenwelt" ist indes mit den Grundsätzen der KrVunvereinbar. Diese unter dem Titel einer „Kritik der praktischen Vernunft" vorge-brachten Argumente zur „Deduktion" (454, 21) des Kategorischen Imperativs reichenweder zur Begründung der Ethik aus, noch verdienen sie, als „kritische Ethik" ange-sprochen zu werden.

Aber auch wenn Kant in der KpV den Anspruch, eine „Deduktion"des Kategorischen Imperativs leisten zu können, fallen läßt17 und imganzen weniger unbedenklich auf Vorstellungen einer dogmatischenMetaphysik zurückgreift, um der praktischen Philosophie eine

17 Vgl. KpV Bd. 5, 47, 15-20 Ak.-A.Brought to you by | University of Glasgow Library

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Grundlage zu geben und die Leerstellen der KrV auszufüllen, so bleibtder Deutungszusammenhang, in den er seine ethischen Analysen stellt,doch unverändert derselbe. Dies verrät sich schon dadurch, wie Kantdie Grundfrage der KpV formuliert: Sie soll die Frage beantworten,ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange(15, 16f.). Eingeführt wird hier der Begriff einer „reinen Vernunft"zwar als der eines bloßen Vermögens im Menschen, das entweder zurtheoretischen Erkenntnis oder zur Bestimmung des Willens gebrauchtwerden kann. Aber auch in der KpV bleibt Kant dabei, daß in der Be-stimmung durch reine Vernunft der Wille eines vernünftigen Wesens . . .sich . . . als Wesen an sich selbst seines in einer intelligiblen Ordnung derDinge bestimmbaren Daseins bewußt ist (42, 10—15)18. Und wennKant auch in Abrede stellt, daß uns das moralische Gesetz eine ^Aus-sicht" in eine ,,reine Verstandeswelt" eröffne, so meint er doch, daßdas Bewußtsein einer moralischen Verbindlichkeit in unserem Han-deln (als ein „Faktum der reinen Vernunft") uns nicht nur eine „An-zeige" auf eine ,,reine Verstandeswelt" gebe, sondern diese sogar po-sitiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz erkennenläßt (43, 4 — 9). Alle Fragen, wie die Konzeption einer solchen „über-sinnlichen" oder „urbildlichen" Natur (natura archetypa) imstande sei,als Grundlage einer Ethik autonomen Handelns zu dienen, bleibenebenso unbeantwortet wie schon in der GMS; die Frage, wie dieVerbindlichkeit des Autonomie-Prinzips für unser Handeln zubegründen sei, wird mit dem Hinweis abgeschnitten, daß wir uns seinerVerbindlichkeit bewußt sind, daß sich damit reine Vernunft . . . prak-tisch beweist (42, 6f.) und daß damit die Verbindlichkeit, nämlich dieobjektive Realität des moralischen Gesetzes . . . für sich selbst feststeht(47, 15 — 20). Die im Grunde mythischen Vorstellungen aus einerplatonisierenden Metaphysik, derer sich Kant bedient, hat er wederhier noch später in die Begriffssprache einer kritischen Ethik zu über-setzen bzw. aus der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ver-bindlicher Normen und moralisch verantwortlichen Handelns zu ent-wickeln vermocht.

Dies zeigt sich besonders klar in der „Dialektik" der KpV. Kants These vom Primatder reinen praktischen Vernunft und ihre Entwicklung in der Postulaten-Lchre beruhtauf dem Gedanken, daß die praktische Vernunft/w/-s/r/7 ursprüngliche Prinzipien n priorihat, mit denen gewisse theoretische Positionen unzertrennlich verbunden sind ( \ 2O. 1 4 1 )Gemeint sind die Annahmen, daß es einen Gott gibt, daß der Mensch eine unsterbliche

Vgl. ebd. 34, 3-5: Das Gesetz des reinen Willens, der frei ixt, setzt diesen in eine f>nn;andere Sphäre als die empirische.

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Seele hat und daß er als ein Wesen, das /ur „intclligiblcn Welt" gehört, frei ist. Diese Ideenlies Daseins Gottes, der Unsterblichkeit und der Freiheit sollen die Grenzen unserer

« kenntnis nun /war nicht „erweitern", ihnen gleichwohl aber im allgemeinen (vermittelst//i/r/ Iti'zii'liunx au Praktische) objektive Realität verleihen (132, 14— 16; vgl. 134, 19 f.).Für Kant handelt es sieh also gerade nicht darum, diesen Ideen den Schein objektiverRealität /u nehmen und zu zeigen, daß sie sinnvoll nur als mythischer Ausdruck einesmoralisch fundierten menschlichen Selbstverständnisses zu verstehen sind und sich daherin einer Kritik der praktischen Vernunft, die diesen Namen wirklich verdient, letztlich alsinadäquat erweisen, da ja die praktische Vernunft auf die in jenen Ideen postulierteExistenz keineswegs „unvermeidlich" angewiesen ist (vgl. indes 134, 26) und dasVerlangen nach einer der Sittlichkeit „proportionierten Glückseligkeit" (124, 30 f.)Handlungen aus einer rein moralischen Verantwortung sogar verhindert. Kant glaubtvielmehr, diese eingängigen und tröstenden Vorstellungen bestätigen zu sollen und zurVervollständigung in sein metaphysisches System einbeziehen zu dürfen, wenn er ihrerangeblich „objektiven Realität" nur den Vorbehalt der „Beziehung aufs Praktische"hinzufügt.

Die wichtigste Einsicht, daß - ebenso wie Freiheit und Unsterblichkeit - der Begriffvon Gott ein ursprünglich . . . zur Moral gehöriger Begriff ist (140, 12 f.), verwandelt sichdamit in den Anspruch, theoretisch unerweisliche Sätze durch einen Rekurs auf prak-tische Bedürfnisse zu erhärten. Die Ideen Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeitwerden für Kant so zum Gegenstand eines (vernünftigen) Glaubens (144, 2), d. h. einesFür-wahr-haltens (146, 5). Daß sich diese Ideen auf etwas Wirkliches beziehen, stehtihm dabei fest; nur unsere definitiv beschränkte Erkenntnisfähigkeit hindert uns nachKants Verständnis daran, dieser Wirklichkeit unverstellt ansichtig zu werden. So sind unszwar Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken er-laubte aber diese sehr dunkle und zweideutige Aussicht (147, 27 f. 33 f.) soll gerade dieBedingung unserer Befähigung zur Moralität sein, da die volle Einsicht, bei einer imübrigen unverändert menschlichen Natur, moralisches Handeln unmöglich machen,nämlich in ein interessegeleitetes Handeln zurückverwandeln würde. Nach dieserDeutung wäre zu wünschen, daß wir in unserem Handeln möglichst fest an die Wirk-lichkeit jener drei Ideen glaubten. Je mehr uns indes ihre Wirklichkeit zur Gewißheitwird, desto weniger wäre unsere moralische Motivation frei von außermoralischenInteressen, falls es uns nicht etwa gelingt, unser Handeln von jener Glaubensgewißheitunabhängig zu halten oder zu machen. Nur in diesem Falle, d. h. wenn wir keineswegsdavon überzeugt sind, daß unsere „Würdigkeit", glücklich zu sein, belohnt wird, wärenwir zu einem rein moralisch motivierten Handeln fähig.

Nur an einer Stelle gelingt es Kant, seine Postulatenlehre aus ihrer Verwurzelung ineiner letztlich dogmatischen Metaphysik zu lösen und der Einsicht Geltung zu ver-schaffen, daß der Begriff von Gott . . . ein ursprünglich zur Moral gehöriger Begriff ist,nämlich dort, wo er erklärt, moralisches Handeln sei mit dem Gedanken verbunden:Ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung,noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch meine Dauer endlos sei(143, 24-27). Hier wird die Wirklichkeit der praktischen Ideen der Vernunft nichtmehr als Bedingung moralischen Handelns, sondern als etwas, das erst durch moralischesHandeln hervorgebracht wird, angesehen. Eine solchermaßen durch unser Handeln

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hervorgebrachte und in unserem Handeln präsente Wirklichkeit ist jedoch etwas anderesals eine vorgestellte, gedachte Wirklichkeit, auf welche uns nur eine „dunkle und zwei-deutige Aussicht" vergönnt ist. Kant blieb indes den Vorstellungen einer dogmatischenMetaphysik zu sehr verhaftet, als daß er dem Begriff einer nur im Handeln präsenten„Wirklichkeit" hätte nachgehen können. Denn dies hätte ihn zu dem Eingeständnisgenötigt, daß es diese „Wirklichkeit", gemessen an den Kriterien theoretischer Erkennt-nis, nicht gibt.

Wenn man Kants Autonomie-Lehre in der GMS und in der KpV alseine spezifische, wenn auch in den Reflexionen der sechziger undsiebziger Jahre vorbereitete Lehre als kritische Ethik bezeichnenmöchte, so bleibt also bestehen, daß er dieser Lehre keineswegs aucheine kritische Begründung im Sinne einer transzendentalphilosophi-schen Grundlegung zu geben vermochte. Dabei hatte er doch selbst inseinen ethischen Schriften der achtziger Jahre immerhin das Programmeiner solchen Grundlegung entwickelt, indem er die Frage nach derVerbindlichkeit des Kategorischen Imperativs als die Frage nach der„Möglichkeit" eines praktischen, synthetischen Urteils a prioribeschrieb19. Wenn man unter einer kritischen Ethik eine Rechtferti-gung der Verbindlichkeit des Kategorischen Imperativs aus koristi-tutiven Leistungen des transzendentalen Subjekts — analog zu KantsBeantwortung der Frage nach den transzendentalen Bedingungen derMöglichkeit von Erfahrung in der KrV — versteht, so muß man fest-stellen, daß Kant den Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe nichtgefunden hat. Eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants indiesem Sinne gibt es nicht.

5. Fragt man sich, wie eine Lösung dieser Aufgabe hätte erreichtwerden können, so wäre wohl vor allem darauf hinzuweisen, daß sichKant bei seinen Analysen zu sehr auf die Begriffe ,Vernunft4 und .Nöti-gung des Willens' konzentriert und nur selten oder gar nicht von einerfreiwilligen Selbstbeschränkung und von Verantwortlichkeit gegenüberanderen beim moralisch motivierten Handeln spricht. Immer wiedermachen seine Analysen den Eindruck, als glaube er dem von Crusiuserneuerten Gedanken, daß wir durch Gottes unnachlaßlichen Willenzu moralischem Handeln verpflichtet werden, ohne den Rekurs aulGott etwas Gleichwertiges entgegenstellen zu müssen. Im Mit te lpunktseiner Betrachtungen steht daher immer wieder das Selbstbewußtseinvon Individuen, die sich in ihren triebbedingtcn Neigungen durch einGebot gehemmt sehen, und nicht das Selbst Verständnis von Imli-

'" Vgl. GMS Bd. 4, 400, 10-12. 42O, 14. 440. 2O-24. 444. .VMt 44^. X :* 4 * 4 .6-15; KpV Bd. 5, 31, 27 Ak.-A.

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Page 20: Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants?

3 4 4 K a r l - H e i n z I l t i n g

vklucn, ciic es in ihren Handlungen mit Personen zu tun haben undeinander für ihre Handlungen verantwortlich sind, die ihre Handlungs-mögliehkeiten daher freiwillig insofern beschränken, als sie jede Hand-lungsweise für unzulässig halten, die sie nicht gegenüber Betroffenenoder vor anderen rechtfertigen könnten.

Um diese Problemanalyse als die geeignete Grundlage für eineBeantwortung der Frage nach der Berechtigung des Anspruchs mora-lischer Normen auf Verbindlichkeit zu erkennen, muß man sichzunächst auf diejenigen Normen konzentrieren, ohne deren Aner-kennung moralisch verantwortliches Handeln überhaupt unmöglichwäre, also auf Kants „vollkommene" Pflichten: Eine Lüge in Bezug aufDinge, die für die Beteiligten hinreichend relevant sind, und in einernormalen, d. h. nicht durch Zwang oder Friedlosigkeit bestimmtenSituation ist insofern „unverantwortlich", als sie die Pflicht, einandergegebenenfalls über die Berechtigung unserer Handlungen Rechen-schaft abzulegen, überhaupt negiert; ebenso bedeutet der Bruch einesgegebenen Versprechens, daß jemand für sein Wort überhaupt nichteinzustehen gewillt ist. Im ersten Falle wird die Verantwortlichkeit beider Mitteilung von Informationen, im zweiten bei der Ankündigungvon Handlungen, entgegen den, auf der Basis gemeinsam anerkannterNormen berechtigten, Erwartungen der Betroffenen nicht mehr zu-gestanden. Aus diesem Ansatz der Fragestellung folgt dann freilich,im Gegensatz zu Kants moralischen Anschauungen, daß es „vollkom-mene" Pflichten immer nur gegen andere geben kann; moralischePflichten gegen uns selbst haben wir nur, insofern wir uns verpflichtetwissen, nicht nur die moralischen Ansprüche anderer zu achten, son-dern ihnen auch bei der Verwirklichung ihrer moralischen Ansprüchebeizustehen, d. h. insofern wir nicht nur „vollkommene", sondern dar-über hinaus auch „unvollkommene" Pflichten anerkennen20. WerSelbstmord begeht, um auf dieses Lieblingsbeispiel Kants zurückzu-kommen, der hebt nicht etwa, soweit es auf ihn ankommt, die Bedin-gungen moralischen Handelns überhaupt auf; aber er versagt sich derPflicht, anderen nach Maßgabe des ihm Möglichen bei der Verwirk-lichung ihrer (berechtigten) moralischen Ansprüche beizustehen, —gar nicht anders als jemand, der (um auch dieses Beispiel Kants aufzu-nehmen) seine Fähigkeiten und Talente nicht zu entwickeln sucht.

Fragt man nun nach der „Möglichkeit" des praktischen syntheti-schen Urteils a priori, das darin besteht, daß ein menschliches Indi-

20 Auf diese Fragen bin jch in meinem Aufsatz „Sittlichkeit und Höflichkeit", in:J. Stagl (Hrsg.), „Aspekte der Kultursoziologie", Berlin 1982, eingegangen.

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Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants? 345

viduum sich verpflichtet findet, die Verfolgung seiner persönlichenInteressen auf die Bedingung einzuschränken, daß dies nur im Rahmendes anderen gegenüber Verantwortbaren geschieht, so stößt man aufeine freiwillige Selbstbeschränkung der Individuen bei der Ausübungund Wahrnehmung ihrer Handlungsmöglichkeiten. Das ,,Faktum derVernunft", daß wir uns in unserer Handlungsfreiheit von vornhereingebunden sehen, hat also seinen Grund in einer vorgängigen Selbstver-pflichtung zu verantwortlichem Handeln. Wer diese Selbstverpflich-tung zu leisten nicht bereit ist — falls man mit dieser Weigerung über-haupt menschlich leben und handeln kann —, der verhält sichangesichts aller dazu Entschlossenen nicht viel anders als eine Natur-gewalt: Man muß versuchen, ihr Rechnung zu tragen, soweit dies mög-lich ist; aber man hat keine anerkannten Rechte gegen sie, ebenso-wenig wie sie uns gegenüber überhaupt Rechte geltend machen kann.Das Interesse, das uns bei dieser Selbstverpflichtung leiten kann undsoll, ist allein das Interesse, sich im Verkehr mit anderen nicht in dasVerhältnis aufeinander einwirkender Naturgewalten zu setzen,sondern als verantwortlich handelnde Person grundsätzlich auch jedenanderen, der dazu bereit ist, als verantwortlich Handelnden anzu-erkennen und zu achten. Auf der Linie dieser Argumentation, soscheint es, läßt sich die von Kant formulierte Aufgabe lösen und einekritische Ethik und Rechtsphilosophie begründen, die sich dem Be-weisanspruch der transzendentalen Deduktion in Kants KrV gleichbe-rechtigt an die Seite stellen läßt.

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