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Heinzel, Roland (2013): Gewalt, Trauma und Frieden - um uns und in uns. Von der Sozialwissenschaft zur Tiefenpsychologie. [Vortrag bei der Tagung von AWC Deutschland e.V., Überlingen, 02. 11.] LIED: KINDER DER ERDE (Roland Heinzel 1984) Alle wünschen wir uns den Frieden, Und dass die Völker sich besser versteh’n, und dass die Menschen im Norden und Süden sich als die Kinder der Erde seh’n. Doch den Frieden, den muss man üben, denn ganz von selber wird es nicht geh’n. 1. Wie viele Lieder singen von Liebe, singen die Träume von Menschlichkeit - doch unser Alltag ist oft so trübe, und schon im Kleinen gibt es oft Streit Und wie oft kommt mit der Liebe das Leiden, und auf das Ja-Wort folgt bald das Nein! Wie viele Menschen woll’n das vermeiden, suchen die Freiheit - und bleiben allein! Refr.: Alle wünschen ..... 2. Unsere Wünsche sind oft verschieden, zusammen leben, wie weh das oft tut. Doch wir versuchen’s, denn für den Frieden braucht man Vertrauen - und dazu viel Mut! Ja, auch wir beide sind Kinder der Erde, Teil ihrer Last und Teil ihrer Zier. Sie hofft auf uns, dass Frieden werde, und der fängt an zwischen Dir und mir! Wenn ich früher in die Zimmer unserer Söhne ging, dann lagen da oft Schwerter, Zorro-Masken und andere martialische Gegenstände, und ihre Lego-Raumschiffe wa- ren ausgerüstet mit Raketen und Laser-Kanonen. Wenn ich die beiden unten spielen hörte, dann klang es oft wie eine Kriegsberichterstattung. Und auch noch heute, nach ihrem Studium, bauen sie, wenn sie sich mal treffen, immer noch gern gemeinsam gut bewaffnete Lego-Raumschiffe. Meine Frau und ich hatten uns damals manchmal gefragt: Ist das normal? Müssen wir doch mal einschreiten – spätestens bei der Wachsbombe, die wie ein kleiner flammender Atompilz über unserem Grillplatz aufstieg? Aber sie erschienen uns ja sonst ganz "normal", fröhlich, hilfsbereit und naturverbunden, v.a. wenn wir durch den Wald zogen und Dämme und Hütten bauten. Heute weiß ich: Es IST normal – vielleicht fast andersherum unnormal, denn sie klettern, snowboarden und reisen, aber beide haben bis heute keinen Fernseher. 1

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Heinzel, Roland (2013): Gewalt, Trauma und Frieden - um uns und in uns. Von der Sozialwissenschaft zur Tiefenpsychologie.[Vortrag bei der Tagung von AWC Deutschland e.V., Überlingen, 02. 11.]

LIED: KINDER DER ERDE (Roland Heinzel 1984)

Alle wünschen wir uns den Frieden,

Und dass die Völker sich besser versteh’n, und dass die Menschen im Norden und Süden

sich als die Kinder der Erde seh’n.

Doch den Frieden, den muss man üben, denn ganz von selber wird es nicht geh’n.

1. Wie viele Lieder singen von Liebe, singen die Träume von Menschlichkeit -

doch unser Alltag ist oft so trübe,

und schon im Kleinen gibt es oft Streit Und wie oft kommt mit der Liebe das Leiden,

und auf das Ja-Wort folgt bald das Nein! Wie viele Menschen woll’n das vermeiden,

suchen die Freiheit - und bleiben allein!

Refr.: Alle wünschen .....2. Unsere Wünsche sind oft verschieden,

zusammen leben, wie weh das oft tut. Doch wir versuchen’s, denn für den Frieden

braucht man Vertrauen - und dazu viel Mut!

Ja, auch wir beide sind Kinder der Erde, Teil ihrer Last und Teil ihrer Zier.

Sie hofft auf uns, dass Frieden werde, und der fängt an zwischen Dir und mir!

Wenn ich früher in die Zimmer unserer Söhne ging, dann lagen da oft Schwerter, Zorro-Masken und andere martialische Gegenstände, und ihre Lego-Raumschiffe wa-ren ausgerüstet mit Raketen und Laser-Kanonen. Wenn ich die beiden unten spielen hörte, dann klang es oft wie eine Kriegsberichterstattung. Und auch noch heute, nach ihrem Studium, bauen sie, wenn sie sich mal treffen, immer noch gern gemeinsam gut bewaffnete Lego-Raumschiffe.

Meine Frau und ich hatten uns damals manchmal gefragt: Ist das normal? Müssen wir doch mal einschreiten – spätestens bei der Wachsbombe, die wie ein kleiner flammender Atompilz über unserem Grillplatz aufstieg? Aber sie erschienen uns ja sonst ganz "normal", fröhlich, hilfsbereit und naturverbunden, v.a. wenn wir durch den Wald zogen und Dämme und Hütten bauten. Heute weiß ich: Es IST normal – vielleicht fast andersherum unnormal, denn sie klettern, snowboarden und reisen, aber beide haben bis heute keinen Fernseher.

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Aber wo ist die Grenze zur Gewalt? Beim Ego-Shooter-Spiel? Beim Mobbing?

Oder erst beim richtigen „Schlägern“ auf dem Schulhof oder in der U-Bahn?Ist das Böse „banal“, wie Hannah Arendt es ausdrückt? Vieles schon, aber

gibt es auch ein genuin tiefsitzendes Böses, Gewalttätiges in uns Menschen?

1. EINFÜHRUNG:

Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.

Du hast nie gelernt, dich zu artikulieren,

und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit!(„Die Ärzte“ 1984)

“I killed a man in Reno just to watch him die”

(Johnny Cash, Folsom Prison Blues)

1.1 Die Gewalt und wir:

Zur Einführung ein kleines Erlebnis, das ich als Grundschüler bei der Besichtigung der Nürnberger Burg hatte:

Wir alle, auch etliche ältere Schüler und Erwachsene, liefen mit mäßi-

gem Interesse dem Fremdenführer hinterher. Plötzlich entstand ein un-glaubliches Gedränge. Alle schoben sich „mit Gewalt“ nach vorn. Ich wusste

erst nicht, wie mir geschah, bis mich durch "Mundfunk" die Kunde erreichte:

Dort vorne ist die Folterkammer zu besichtigen!!

In Deutschland wurden schon in den 1990-er-Jahren pro Minute mehr als 10 Strafta-ten begangen, d.h. täglich 11000 Diebstähle, Einbrüche und Überfälle, 2000 Autos geknackt, fast 1400 Einbrüche in Wohnungen und Geschäften, 1500 Ladendiebstähle, 7 Morde, 15 Vergewaltigungen und 3 Banküberfälle. 1992 gab es weltweit 52 Kriege mit ca. 500.000 Todesopfern! Und bis heute trieft die zweite Hälfte der Tagesschau von Bomben- und Selbstmord-Attentaten. Auch in unserem "friedlichen" Land: Hoy-erswerda, Erfurt, Winnenden usw…..Ausländerhass, NSU-Morde, Video- und Compu-terspiele.

Aber - auch kollektive und institutionelle Gewalt: ökonomisches und soziales Gefälle, die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb und zwischen den Staaten – vor allem zwischen Nord- und Südhalbkugel. Ausbeutung der Entwicklungsländer und der Na-tur, Waffenexporte, Interessen-Egoismen, Lobbyismus, Macht multinationaler Kon-zerne, umweltfeindliche Technik und Gentechnologie ("Diktatur der Zauberlehrlinge", F.Hacker). Alte und neue Feindbilder, und nicht zuletzt viele kleine Kämpfe, Stiche und Sadismen in persönlichen Beziehungen, Mobbing in den Betrieben. Dass nach dem Ende des 2. Weltkrieges die Menschen in Zivilisation und Demokratie allmählich

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"reifer" werden, hat sich wohl als Trugschluss erwiesen, es ist eine Kränkung unseres Selbstbildes und Bedrohung unserer Hoffnung auf Frieden!

Gewaltphänomene haben nicht nur völlig verschiedene Ursachen und Auslöser, man kann sie auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in verschiedenen Dimensionen betrachten und analysieren.

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Dimensionen:

Moralisch und religiösPolitischSoziologischHistorischPsychologischPädagogischTiefenpsychologischEvolutionsbiologischNeurobiologisch

Ursachen, Auslöser:

Kindheits-TraumataVerwahrlosung durch Armut oder WohlstandEnthumanisierung der Arbeitswelt im NeoliberalismusEgoismus und KonkurrenzdenkenArbeitslosigkeitMigrationMangel an echten WertenVerfall echter ReligiositätMangel an Achtung vor der SchöpfungMangel an echter IdentitätMassenmedienEgo-Shooter und andere VideospieleSchein-Nähe und Schein-Beziehungen im InternetAbwehr von SelbstunsicherheitLatente Bedrohungen durch Klimawandel, Finanz-Crash usw.

Gegensatz-Paare bzw. Polaritäten:

manifeste Gewalt vs. latente Machtausübung und Manipulationindividuelle Gewalt vs. kollektive Gewalt und Machtaktuelle Auslöser vs. tiefere Ursachen

Zudem gibt es zumindest drei Ebenen, auf denen das Thema Gewalt und Macht be-handelt werden kann: Die Makro-, die Meso- und die Mikro-Ebene.

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1.2 Gibt es einen „Aggressionstrieb?

Dazu zunächst ein kleiner evolutionsbiologischer Rückblick: Der Cro-Magnon, unser Stammvater, hat ja den Neandertaler verdrängt, nachdem er sich (wie Genanalysen zeigen) ein bisschen mit ihm vermischt hatte. Zwei Millionen Jahre waren wir vorwiegend Jäger. Die Großwildjagd hatte allerdings nicht nur den Sinn des Nahrungserwerbs, sondern war - wie die archetypische Psy-chologie herausfand - gemeinschafts- und bewusstseinsbildend (s. Giegerich 1988 u.1994), vielleicht auch noch in europäischen Mittelalter, wie der Wikinger Hägar vermuten lässt.

Folie 3

Also ist das "sogenannte Böse" (K. Lorenz) nicht ein biologisch, aber stammesge-schichtlich entstandener "Aggressionstrieb"? Nur ein gesundes "aggredi", ein "Etwas-in-Angriff-Nehmen"? Aber wie bei vielen unserer inneren Kräfte können wir unsere "innere Natur" auch hier nicht als Entschuldigung verwenden, sondern sie ist auch eine Herausforderung. Immerhin wäre das eine erste Erklärung dafür, dass es Gewalt zu allen Zeiten gab. Wahrscheinlich wurde sie früher eher als selbstverständ-lich hingenommen (wie Kinderarbeit, Sklaverei, Prügelstrafe, Hinrichtungen usw.) Und es gab immer schon auch staatlich befohlene und organisierte Verbrechen, wie Christenverfolgung, Kreuzzüge, Hexenprozesse und Judenverfolgungen.

Aber der Neurobiologe Steven Pinker behauptet in seinem neuen Buch „Ge-

walt“, dass sie statistisch weltweit in den letzten Jahrtausenden stark abge-nommen hat und die Menschheit sich heute in ihrer gewaltärmsten Phase

befinde. Der Mensch lerne immer mehr, die Triebe zu beherrschen, die ihn

früher zu Mord und Totschlag gedrängt haben. Dieser Zivilisationsprozess begann laut Pinker schon beim Übergang von der Sammler- und Jägerge-

sellschaft zu Ackerbau-Kulturen und Städtebau. Wahllose Überfälle und Stammesfehden gingen zurück, die Mordrate sei auf einen Fünftel gesunken.

Seine Thesen werden natürlich kontrovers diskutiert – v.a. sein statistisches

Material. Eine gewisse Unterstützung bekommt diese These durch die Recherchen und Gedan-ken von Jeremy Rifkin in seinem Buch „Die empathische Zivilisation“.„Aggression“ ist kein einheitliches Konzept. Aber inzwischen ist man sicher, dass es keinen Aggressions-„Trieb“ im engeren Sinne gibt. Man geht heute davon aus, dass

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aggressive Affekte und Verhaltensweisen eher eine Schutz- und Abwehr-Funktion ha-ben, nach außen und nach innen, für den Einzelnen und für die Gruppe. Wie sich Ge-walt in Gruppen, besonders in Soldatengruppen, entwickelt, die z.B. unschuldige Zivi-listen, auch Kinder, töten, dieser Frage geht ein Film des Oscar-Preisträgers Stefan Ruzowitzky nach, mit dem etwas reißerischen Titel „DAS RADIKAL BÖSE“ (Doku-Drama mit Prädikat „Besonders wertvoll“). Er läuft am 14. Januar 2014 an.

Nach Jaak Panksepp u. a. gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von

Aggression, die auch hirnphysiologisch unterschieden werden können:

1. Wut-Aggression als Abwehr von Angst. Dieser Affekt liegt auch neu-

robiologisch nahe bei den Erregungszuständen der Angst.

2. Beute-Aggression: Hier handelt es sich, wie bei der Katze, die eine Maus jagt, eher um ein lustvolles Geschehen, auch hirnphysiologisch.

Hierher gehört auch die „erlernte“ Aggression, die durch Nachahmung

von Vorbildern und durch Gruppendruck erzeugt wird (sie ist z.B in einfach strukturierten Randgruppen-Milieus und unter Soldaten häufi-

ger).

Natürlich gibt es auch Mischformen, z.B. kann zunächst eine Bedrohung Wut-Aggres-sion auslösen, die dann in Beute-Aggression übergeht. Nur der Mensch kann (v.a. durch Waffen-Technik) den AHM, den Angeborenen Hemm-Mechanismus, überwin-den, der eine Tierart daran hindert, sich selbst auszurotten. Auch kann die Wut durchaus das Objekt wechseln, d.h., sich nicht gegen den Bedrohenden wenden, sondern gegen einen Sündenbock.

1.3 Versuche von Abgrenzung und De-Finition:

Wir hätten gern klare Grenzen zwischen den "Normalen" (also uns) und den Gewalt-tätern! Und wenn es schon keine klare Trennung gibt, dann doch wenigstens zwi-schen Opfern und Tätern! Aber das ist unrealistisch! Gewalt, v.a. die destruktiven Folgen von Machtgefälle und Aggression, ist vom "Normalen" nicht zu trennen:

Ge-walt": Ver-walten, „Erziehungsgewalt", „Staatsgewalt" „das walte Gott"

- Althochdeutsch "Waltan" = "stark sein, herrschen". Gewalt besteht aus

Handlungen, die entweder aufgrund einer Machtposition ausgeübt (oder verübt) werden oder eine Bemächtigung darstellen, durch die man Macht

gewinnen will. Macht an sich ist weder gut noch schlecht, es kommt darauf an, wie und warum sie ausgeübt wird und welche Funktion sie hat. Umge-

kehrt ist „Frieden“ ein Zustand von Gerechtigkeit und gleicher Augenhöhe,

oder einer „legitimen“ Asymmetrie, wie zwischen Arbeitgeber und Arbeit-nehmer oder zwischen Eltern bzw. Lehrern und Kindern. Im privaten Bereich

kann die Asymmetrie auch psychodynamisch begründet sein (s.u.).

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Destruktive Gewalt beruht immer auf einer nicht legitimen, „ungerechten“ Asymmetrie der Kräfte. Auf allen 3 Ebenen geht es prinzipiell um die Frage: Wer hat die „Definiti-

onsmacht“, wer bestimmt die Regeln? Z.B. wie man sich verhalten darf, was unterlassen werden muss, was wer wann sagen oder tun darf, welche Emo-

tionen oder Affekte wer zeigen darf und wer nicht. Bei den Römern sagte man: „Quod licet Jovi non licet bovi“, zu deutsch: Was dem Jupiter geziemt, darf sich der Ochse noch lang nicht erlauben!“ Mehr dazu im Kap. Tiefenpsychologie.

1.4 Ursachen-Suche und Hirnforschung

Wie bei Krankheiten wird auch bei der Gewalt immer mehr auch nach den "Ur-sachen" gefahndet. Aber das ist schwierig, wie bei allen „multifaktoriellen“ Phänome-nen. Und natürlich werden von verschiedenen Seiten - ähnlich wie in der Medizin die "Erreger" - immer wieder auch schnell "Schuldige" gefunden, wie der Aggressions-trieb (s.o.), die lebensfeindliche Umwelt in den Städten, das Fernsehen, die "Über-fremdung" - und immer wieder der Verlust der "Werte", den die Politiker bei den Bür-gern und die Bürger bei den Politikern beklagen, usw. Das ist ja alles auch nicht falsch, denn alle diese "Erreger" erregen uns ja auch (hoffentlich!). Und wenn man einen Schuldigen (im Außen) gefunden hat, kann man sich zurücklehnen, weil man dann die Verantwortung abgeschoben hat.

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Je enger der Blickwinkel ist, desto eher findet man eine einfache (oft bana-le) Ursache, aber je weiter man ihn fasst, desto mehr muss man sich auf

Wechselwirkungen, Ineinandergreifen verschiedener Faktoren einlassen, also wie bei Krankheiten eine ganzheitliche Sichtweise. Anstelle der schlich-

ten Suche nach Schuldigen muss man also Gewalt als ein Symptom betrach-

ten - aber für welche Krankheit? Um das besser zu verstehen, brauchen wir die genannten Dimensionen und die 3 Ebenen, die man auch kollektiv, sozial

und individuell nennen könnte und die in enger Wechselwirkung zueinander stehen - und wir müssen uns zwischen diesen hin- und herbewegen.

1.5 Kampf- und Flucht-Reaktionen aus dem Zwischenhirn:

Im Laufe der Evolution haben sich unterhalb der langsam wachsenden Hirnrinde schon früh Kerne, also Neuronen-Haufen, gebildet, die für das Überleben notwendig waren. Hier wurden alle wichtigen Erfahrungen, vor allem Bedrohungen und Chancen zum Überleben, gespeichert. Das Zentrum für Angst, Flucht und Kampf ist die Amyg-dala, der „Mandelkern“ im mittleren Teil der Schläfenlappen. Die darin gespeicherten Erfahrungen und die daraus entstandenen Programme können nie mehr im Leben gelöscht werden. Das heißt, wenn eine neue Situation, in die der Mensch gerät, Ähn-lichkeiten mit einem frühen traumatischen oder schon bedrohlichen Geschehen hat, werden sofort die dafür zuständigen Affekte wie Angst und Wut, und daraus folgend

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die Flucht oder Kampf-Programme aktiviert. Dazu ein Blick auf die 4 Ebenen der Psy-che im Gehirn.

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Die vier Ebenen der Psyche im Gehirn

I: Kognitive Ebene

(Sprachzentrum, linkes Frontalhirn):Denken, Planen, generelle rationale

Verhaltenssteuerung, Rollen einnehmen, Vorsätze fassen, logisches Denken,

Ziele setzen. Beeinflussbar durch Beratung und Verhaltenstherapie, aber nicht nachhaltig.

II: Limbisches System

a) Obere limbische Ebene

(unteres Stirnhirn, Insel i.d.Schläfe)

Beziehungserleben, Motivationsebene, Erkennen und Verarbeiten von emotionalen Inhalten, Abschätzen von Chancen und Risiken, Belohnungs-

und Bestrafungs-Gedächtnis, Lernen und Steuern des Sozialverhaltens, Er-folgssstreben, Freundschaft, Liebe, Moral, Ethik, aber auch Dominanz und

Macht. Beeinflussbar durch emotionale Nähe, Einfühlung, stabile Bezie-

hung.

b) Mittlere limbische Ebene

(v.a. unterer Mandelkern, Nucl. accumbens im Zwischenhirn)

Unbewusste emotionale Konditionierung, elementare Emotionen und An-

triebe, nonverbale Kommunikation, Frustrationstoleranz, Veränderungsmög-

lichkeiten nur in langfristigen stabilen persönlichen oder/und therapeuti-schen Beziehungen

c) Untere limbische Ebene (Hypothalamus, zentraler Mandelkern, vegetative Zentren des Hirn-

stamms)

Angeborene Reaktionsmuster, intrauterine und frühkindliche Prägungen, Charaktereigenschaften, Triebe (Sexualität, Kampf u. Flucht), kaum beein-

flussbare Persönlichkeitsmerkmale, man kann nur lernen, besser damit um-zugehen.

Gegenspieler der Amygdala sind v. a. Teile des Stirnhirns, die die Affekte mäßigen und mit der Zeit symbolisieren und versprachlichen können. Aber je archaischer und früher eine Beeinträchtigung und Traumatisierung stattfand, desto autonomer laufen die Reaktionen ab, wenn alte Muster reaktiviert werden.

Wenn z.B. das Trauma darin besteht, dass das kleine Kind sich von der primären Be-zugsperson vernachlässigt und nicht wahrgenommen fühlt, ist das ein Warnsignal,

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denn in der Zeit der Jäger und Sammler war das lebensbedrohlich – d.h., das Kind wurde evtl. vergessen oder aus anderen Gründen zurückgelassen, wenn die Horde weiterzog. Deshalb sind diese Reaktionen fast immer vorsprachlich und viel schneller als jede Vernunftreaktion. Doris Reile schreibt dazu:

Ein großer Teil der manifesten Gewaltausübung wird also vermutlich ausgelöst durch derartige kaum bewusste Trigger-Reize, die bei den einen den Rückzug, bei andern den Angriff auslösen. Dabei spielt natürlich – v.a. bei Skinheads und anderen gewalt-bereiten Jugendlichen – auch der Gruppendruck (s.o.) eine Rolle. Wer nicht mit-macht, ist ein Feigling und „gehört nicht mehr dazu“!!!Es gibt noch viele andere Mechanismen der Gewalt-Auslösung, aber die

meisten sind Varianten dieses Musters: Um nicht (wieder) Opfer zu werden, wird man lieber Täter, also „Angriff ist die beste Verteidigung“.

(s. Anhang)

2. PSYCHOLOGIE : Die Brücke zur Dynamik von Psyche und Beziehung

2.1. Allgemeine Psychologie

2.11 Strukturelle Gewalt:

Im Gegensatz zur manifesten, aktuellen Gewalt steht die institutionalisierte, sog. "strukturelle" Gewalt. Dieser von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung stammende Ausdruck meint das Maß an Terror und Repression, das in einem Gemeinwesen zur quasi selbst-

verständlichen Struktur geronnen ist. D.h., wir sind uns dessen normalerweise gar nicht bewusst. Aber wenn wir uns über die Bürokratie ärgern, empfinden wir vielleicht die Verwaltung eher als Vergewaltung!

Aber nicht nur in erstarrten Bürokratien ist strukturelle Gewalt zu finden. Auch wenn Menschen unter ungewöhnlichen Bedingungen plötzlich überleben müssen, kann sich ein gnadenlos hierarchisches, auf Gewalt basierendes System entwickeln - und es kommt meist zu Polarisierungen und "Bandenkriegen". Siehe den Film "Herr der Fliegen" nach dem Roman von William Golding. (Wenn kein Außenfeind da ist, muss zur Solidarisierung der Gruppe einer geschaffen werden.)

2.12 Giftmüll-Deponien

Tilmann Moser hat in seinem Buch "Politik und seelischer Untergrund" beschrieben dass Nazi-Terror und schreckliche Kriegserlebnisse äußerlich und innerlich in den See-len der Ältesten von uns oder unserer Eltern-Generationen tiefe Spuren hinterlassen haben, die abgelagert wurden in "unterirdischen Giftmüll-Deponien“ und nach dem Krieg in Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nicht verarbeitet, sondern an die nach-folgenden Generationen in verschiedenen Formen „vererbt“ wurden.

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In einem Vortrag bei der Jahrestagung 2012 der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie habe ich dieses Erbe „destruktive Implantate“ genannt (Heinzel 2012). A. u. M. Mitscherlich haben ja schon Ende der 60er Jahre auf unsere "Unfähigkeit zu trauern" hingewiesen. (Internet-Gruppe: www.kriegsenkel.de)

Aus tiefenpsychologischer Sicht waren Wiederaufbau und Wirtschaftswunder Formen einer kollektiven progressiven Abwehr, d.h. einer "Flucht nach vorn" vor Trauer, Scham, Schuldgefühlen, aber auch der hilflosen Wut der von einer gnadenlosen Staatsmaschinerie traumatisierten und um Jahre ihres Lebens und oft um ihre Ge-sundheit betrogenen Menschen. Die Aufbruchsstimmung durch die Auflösung der Sowjetunion und die Wiedervereini-gung hat inzwischen kräftige Dämpfer erlitten, so dass uns die Gewalt-Welle heute besonders schmerzt. Die Trauerarbeit wartet immer noch auf uns. H.E.Richter gab deshalb einem Buch den Titel: "Wer nicht leiden will, muss hassen".

Jetzt droht uns in vielen Ländern durch die sich vergrößernde Schere zwi-schen Arm und Reich, durch Überschuldung und Massenarbeitslosigkeit eine

Schwächung der Demokratie und ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Oft führte früher eine solche Krise zu Diktaturen. Derzeit bewegen wir uns

global hin zu einer Diktatur der Finanzmärkte und multinationalen Konzerne

– unterstützt von NSA und Internet-Giganten (Siehe das Buch von Iliya Tro-janow: „Der überflüssige Mensch. Unruhe bewahren!“

2.13 Persönliche Betroffenheit und Affekte:

Wir müssen uns wohl oder übel auch mit uns selbst befassen. Und da wird vieles eine Zu-Mut-ung sein!! Zunächst einmal löst dieses Thema in uns Gefühle und Affekte aus, Und wir müssen sorgsam darauf achten, was wir mit diesen Affekten machen bzw. was die mit uns machen - oder was wir sie mit uns machen lassen! Immerhin spüren wir in uns wahrscheinlich verschiedene Affekte.

Wir fühlen z.B Mitleid mit den Opfern, wir haben Angst davor, selbst einmal Op-fer einer Gewalttat zu werden, vielleicht schämen wir uns sogar für die Täter. Vor-herrschend wird wohl eine eher hilflose Wut sein, wahrscheinlich gemischt mit Empö-rung. Aber Vorsicht! Dieses Wort weist uns schon auf darauf hin, dass wir uns empor heben über Tat und Täter - und damit das Ganze auch vom Leib halten, so dass wir selbst nichts damit zu tun haben und wieder zur Tagesordnung übergehen können.Also lassen wir uns auf das Thema ein: D.h. mehr verstehen als bekämpfen!

Bei genauerer Betrachtung müssen wir also vermuten: Es besteht wohl in uns allen im Hinblick auf diese Thematik eine tiefsitzende Ambivalenz, und zwar zwischen einer (eher bewussten) Ablehnung (bzw. einem Ausweichen) gegenüber der Gewalt einerseits und einer (eher unbewussten) Faszination andererseits.

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Ob wir besser, genauso oder schlimmer als die Tiere sind, ist noch offen. Neben den Tricks, den „Angeborenen Hemm-Mechanismus“ technisch zu umgehen, haben wir auch psychische Mechanismen, allen voran die Gefühlsunterdrückung bzw. –abspal-tung (s.u.). Bei Extremsituationen wie Krieg muss man differenzieren.

2.14 Krieg:

Dazu ein Bericht meines Vaters aus Stalingrad:

- Fühlen vermischt sich in Gefahrensituationen sehr mit dem Denken. - Angst wurde immer kurzfristig erlebt und dann wieder weggeschoben,

weil schon wieder neue Bedrohungen kamen. Zur Verarbeitung war kei-

ne Zeit. Auch später haben die meisten Soldaten (die froh waren, davon gekommen zu sein) wenig die Angst und Trauer aufgearbeitet.

- Wut wurde wenig erlebt. Im Gegensatz zu früher, wo noch mehr mit der Hand und Mann gegen Mann gekämpft wurde, hatten im Zweiten Welt-

krieg die meisten Soldaten keine besonderen Aggressionen gegen den

"Feind". Aggression ist in den Kriegen des 20. Jh. fast völlig instrumentalisiert, d.h..

1. Die Technik des Tötens auf Distanz überspielt den AHM (s.o.). 2. Die Befehlsgeber erleben nicht, was geschieht, und die, welche die Be-

fehle ausführen, sind im Befehlsnotstand (bzw. unter Gruppendruck),

d.h., haben keine Verantwortung. (s. auch den erwähnten Film „DAS RADIKAL BÖSE“)

2.15 Hierarchien:

Je größer die eigene Unsicherheit bzw. der unterschwellige Angstpegel, je größer der Ordnungs- und Kontrollzwang und die latente hierarchische Struktur der Psyche, desto größer ist die Gefahr einer Manifestation von Gewalt. Generell gilt: Wer Gewalt ausübt, fühlt sich fast immer subjektiv im Recht !

Eindrucksvoll waren die Experimente von Milgram und Zimbardo (die im Film aus-führlich besprochen werden): Sie demonstrierten, dass auch im Frieden ein realer oder eingebildeter "Befehlsnotstand" (bei Milgrams Experiment "Abraham") oder, wie bei Zimbaros Stanford-Experiment, das auch verfilmt wurde, eine zufällige Einteilung der Versuchspersonen in "Wärter" und "Gefangene", fast alle Menschen dazu bringt, andere zu demütigen oder gar zu misshandeln. Was die Gewalt in hierarchischen Institutionen betrifft, so ist bekannt, dass hier, z. B. beim Militär oder im Strafvollzug, die Asymmetrie und Gewalt gleichsam „Teil des Systems“ ist. Sowohl die strukturelle Gewalt zwischen Männern mit verschiede-nen Rollen in einer Hierarchie (s.o.) als auch die „gegenderte“ (von gender = Ge-schlecht) zwischen Männern und Frauen führt hier zu kaum lösbaren Problemen.

Über Gewalt im Knast siehe im Anhang einen Bericht der Psychoanalytikerin, Grup-pentherapeutin und Gleichstellungs-Beauftragten Franziska Lamott. Ebenso bahnbre-

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chende Überlegungen des türkischstämmigen Psychoanalytikers und Ethnologen Vamic Volkan über Gewalt als identitätsstiftende Kraft in Völkern.

2.2 Tiefenpsychologie:

Vorbemerkung:

Erstes Fazit: Gewalt und Macht beruhen auch psychologisch auf Asymmetrie

Asymmetrien kann man überall beobachten, manche sind naturgegeben

bzw. juristisch geregelt, wie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder

Vermietern und Mietern. Andere sind eher psychologisch bzw. tiefenpsycho-logisch begründet - um die geht es in diesem Kapitel.

2.21 Kindliche Entwicklung und Versuche der Trauma-Verarbeitung

Um die individuelle Entstehungsgeschichte von Gewaltbereitschaft zu verstehen, müssen wir uns mit den tiefenpsychologischen Entwicklungsphasen in der Kindheit befassen. Dazu will ich nochmal auf unsere Söhne zurückkommen:Auch wenn es manchmal heiß herging, der Kampf hatte und hat immer eine spieleri-sche Qualität, ein Sich-Austoben und Kräftemessen. Auch wenn sie - wie leider oft - mit mir kämpfen wollten. (Inzwischen reichen sie mir die Hände, wenn es bei einer Bergtour über eine schwierige Stelle geht, und sie helfen sich beim Klettern.)

C.G.Jung und E.Neumann schildern die Stadien der kindlichen Entwicklung. Bei der Reifung des Männlichen, bzw. des Animus (der männlichen Seite) der Frau, beschrei-ben sie u.a. eine "magisch-kriegerische" Phase, in die zu allen Zeiten auch Kampf-spiele gehörten (was Erzieherinnen heute leider manchmal zu schnell zu einem ADHS-Verdacht verleitet). Leider wurde, um später aus den jungen Männern Solda-ten zu machen – diese Tendenz oft von Machthabern missbraucht. Aber wie sollte denn die kindliche Entwicklung im guten Sinne ablaufen, damit es zu weniger Ge-waltbereitschaft kommt? Dazu ein Exkurs in die frühkindliche Entwicklung.

Die beiden wichtigsten Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung des Menschen in der Kindheit sind folgende:

1. Jeder Mensch muss von frühester Kindheit an erleben, dass er auf die

Umwelt bzw. sein Gegenüber Einfluss hat, Wirkung und Resonanz erzielt (sog. Selbstwirksamkeit). Wenn ein Säugling das zu wenig erlebt (z.B. weil

die Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt, überfordert oder traumatisiert sind), entsteht in ihm ein Mangel im Gefühl der Bedeutsamkeit, ja überhaupt

seiner Existenz in dieser Welt, d.h., seine Identität kann sich nicht ange-

messen entwickeln. In der Tiefe wird sich ein "primäres Schuldgefühl" ent-wickeln (Neumann), das man in Worten etwa so ausdrücken könnte: "So wie

ich bin, bin ich nicht in Ordnung - sonst würden die andern mich ja anneh-men und richtig auf mich reagieren!"

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2. Er sollte um seiner selbst willen angenommen und geliebt werden und

erst einmal so gelassen werden, wie er ist. Aber hier stehen oft die Macht-strukturen in der Familie im Wege: Das Kind bekommt eine bestimmte Funk-

tion in der Familie: Es muss z.B. die Selbstwert-Defizite der Mutter bzw. ihre Depressionen ausgleichen, die Ehe kitten oder den frustrierten Ehrgeiz oder

gar die Kriegstraumata des Vaters auffangen und erlösen.

Diese beiden Störungen treten im allgemeinen zusammen auf, und die

Deformierung des Kindes beruht auch auf diesen beiden Aspekten: "Wie ich wirklich bin, interessiert hier wohl niemand - aber wenn ich so "bin", wie sie

mich brauchen, dann darf ich weiterexistieren und bekomme das, was ich

zum Leben brauche!" Allerdings führt eine solche Kompensation nicht nur zu Anpassung, denn das Kind verinnerlicht ja das ganze Beziehungsmuster. Es

hat also auch die Täter bald "internalisiert". Und daraus folgt: So, wie das Kind behandelt wurde, so geht es später auch mit den andern um!

Folie 6: Väterlichkeit

Zweites Fazit: Gewalt ist Ausdruck einer Beziehungsstörung!

Unbewusst laufen später folgende "Überlegungen" ab:

“Um meiner selbst willen werde ich nicht geliebt. Um mich abzusichern, muss ich also andere an mich binden und klein halten - oder ich muss mich

dem oder den andern unterwerfen, mich (wie von den Eltern) benutzen las-sen, denn wenn ich dem andern nützlich bin, wird er mich nicht im Stich las-

sen.

Aber auf mein einfaches So-Sein, auf meine natürlichen Bedürfnis-Äußerun-gen bekomme ich keine Resonanz. Ich muss also entweder resignieren oder

Gewalt anwenden, um das, was ich brauche, zu bekommen.“

Drittes Fazit: Gewalt resultiert aus einem Defizit und aus Schwäche.

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Fehlende Abgrenzung der Eltern, die Zerstörung der Identität eines Kindes durch körperliche und psychische Gewalt sind zusammen mit der offen pro-

pagierten Gewalt in den Medien Haupt-Wegbereiter der erhöhten Gewaltbe-reitschaft, die auch durch die Anonymität und die Egoismen einer Leistungs-

gesellschaft gefördert wird. In vielen Kulturen, v.a. im Nahen und Fernen

Osten, geht manifeste Gewalt zum größten Teil von frustrierten, arbeitslo-sen jungen Männern aus, die kaum Lebensperspektiven haben, oft als Kinder

traumatisiert wurden. Die erste Generation der Taliban waren Waisenjungen nach dem Krieg zwischen Russland und Afghanistan, die in Koranschulen er-

zogen (und instrumentalisiert) wurden. Hinzu kommen oft krasse patriar-

chale Gesellschafts-Strukturen, wie z.B. in Indien und hinterindischen Län-dern. Und so pflanzt sich eine Täter-Opfer-Dynamik durch die Generationen fort. Auch im Alltag, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, auch

zwischen Partnern, gegenüber andern Menschen und gegenüber der Natur,

dominiert statt des Seins-Modus der "Haben-Modus". Brennend aktuell ist die Weitergabe der Gewalt der immer mehr ent-huma-

nisierten Arbeitswelt in die Familien: Die einen werden arbeitslos und des-halb in der Familie depressiv oder gewalttätig, die andern müssen deren Ar-

beit noch übernehmen – und geben den entstehenden Druck an die Familie

weiter.

2.22 Die Macht von negativen Erfahrungen:

Wir müssen nochmals auf die Neurobiologie von Gewalt und Trauma zurückkommen, hier neben den selbst erlebten v.a. die indirekt, also transgenerational erlebten Traumata: Deren „logistisches Zentrum“ ist die beschriebene Amygdala („Mandel-kern“). Wenn hier negative Vorerfahrungen einprogrammiert sind, so sind diese nie mehr zu löschen. Sie können allenfalls durch sog „korrektive Neuerfahrungen“ (Heis-terkamp) in stabilen menschlichen Bindungen ergänzt werden, die synaptische Ver-bindungen wie „Umgehungskreisläufe“ oder „Kollateralen“ bilden, so dass eine neuer-liche negative Erfahrung nicht unbedingt die gleiche traumatische Reaktion auslösen muss wie damals. Bei „Flashbacks“ wird das alte Programm wieder autonom reakti-viert, ohne Zutun des Bewusstseins. Aber es gibt auch im Alltag viele Abstufun-

gen, von milden Formen einer Negativ-Reaktion wie abfällige oder ange-

spannte Stimme bis zu Panikreaktionen oder cholerischem „Ausrasten“.

Die Entwicklung bzw. die „Abwehr“ der direkten oder indirekten Traumatisierung kann – siehe mein Aufsatz über Destruktive Implantate - in zwei Richtungen weitergehen: Entweder es kommt zu Resignation, Rückzug, Krankheit, Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, später zu Depressionen, Angsterkrankungen usw.; d.h. das Opfer bleibt Opfer (vielleicht mit Erlösungs-Erwartungen) und latenten Machtansprüchen – also der defensive „Typ D“, oder der Mensch tritt die Flucht nach vorn an, das Opfer wird zum Täter, der selbst nicht mehr bewusst unter seinen Defiziten leidet, sondern offensiv die andern angreift, benutzt oder schädigt, was ich „Typ O“ nenne. Anna Freud nannte das "Identifikation mit dem Aggressor".

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2.23 Asymmetrie und Kontrolle in persönlichen Beziehungen:

Im gesellschaftlichen Bereich kann man feststellen, dass alle Diktatoren Angst vor Gegnern, Kritikern usw. haben und diese bekämpfen und verfolgen. Hierzu passt ein Zitat des Finanzfachmanns und Jungianers Bernard Lietaer (Lietaer 2000):„Dominanz ist das Bedürfnis, andere zu kontrollieren und zu dominieren, um ein Gefühl von Sicherheit zu erlangen oder seine Identität zu finden.“

Diese Definition, die Lietaer vor allem zur Beschreibung politischer und insbesondere ökonomischer Machtstrukturen verwendet, lässt sich auch auf das Machtgefälle zwi-schen individueller offensiver und defensiver Trauma-Verarbeitung anwenden.Zur Vermeidung einer Retraumatisierung werde die Betroffenen, solange das Trauma bzw. Implantat nicht oder nicht genügend bearbeitet, betrauert und integriert ist, von ihrer Amygdala zu verschiedenen Formen von „Prophylaxe“ getrieben: Beim Typ D besteht diese v. a. in Vermeidungsstrategien, in Vorsicht und Anpassung, bis hin zu Unterwerfung und Verleugnung eigener Bedürfnisse (im Sinne einer frühen Abwehr-form der „Idealisierung (bzw. Beschönigung) des „bösen Objekts“ zur Aufrechterhal-tung des Gleichgewichts einer Gruppe, Familie oder Partnerschaft.Beim Typ O besteht die Prophylaxe vor allem in Kontrolle der Situation und der/des anderen, der, notfalls mit „Erziehungsmaßnahmen“, voreiliger Kritik, Unterstellungen bis hin zu Anschreien („Schimpfen“, nicht nur gegenüber Kindern), weil der oder die andern „zur Räson“ bzw. wieder „auf Linie“ gebracht werden muss oder müssen, be-vor bei O selbst auch nur ein Hauch von “Schuld“ (s.o.) bzw. eigener Beteiligung zu identifizieren ist. Somit ergibt sich – komplementär zur Unterwerfung von D – bei O die „Dominanz“ zur Aufrechterhaltung der Macht-Asymmetrie.

Wenn Typ O weiblich ist, passt hier die Erfahrung des Paartherapeuten Michael Mary, dass in den Partnerschaften, die er erlebt hat, „die Frau ca. 90 % des emotiona-len Territoriums beherrscht“. Der Schweizer Jung’sche Analytiker Alan Guggen-bühl drückt es noch treffender aus: „Ich erlebe es immer wieder: Wenn die

Männer heiraten, kommen sie in ein Nacherziehungs-Programm!“

Folie 7: manifeste und latente Gewalt

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Folie 8: Nacherziehungsprogramm

Und wie machen das die Frauen? Indem sie, meist unbewusst, auf die obere und mittlere Ebene des Limbischen Systems des Mannes einwirken, also Stimmung her-stellen: Der Mann kann gar nicht so schnell denken, da ist er emotional schon beein-flusst. Und je mehr er in der Kindheit zu Anpassung und Harmonie erzogen wurde oder je weniger Zuwendung er bekam, desto eher wird er nachgeben (oder revoltie-ren, wenn er innerseelisch noch in der „pubertären Revolte“ steckt).

Man sieht, dass man ebenso wie bei der gesamtgesellschaftlichen Ebene auch auf der privaten Ebene, in Familien und Partnerschaften, manifeste und strukturelle Gewalt unterscheiden kann. Die manifeste Gewalt besteht vorwiegend aus Härte, Schlagen (vor allem seitens der Väter und Ehemänner), bis hin zu Kindesmissbrauch, der ja in über 2/3 der Fälle unter Verwandten geschieht. Die strukturelle Gewalt hingegen ba-siert darauf, wie die Machtverhältnisse in einer Familie bzw. Partnerschaft gelagert sind. Wer bestimmt die „Regeln“ im System, z.B., wer eingeladen werden darf und wer nicht, wer welche Gefühle bzw. Affekte äußern darf und wer nicht, wer die Stim-me wie weit erheben darf, wer wem gegenüber wie viel von früher oder zu einem Fo-to im Album erzählen darf usw.

Und für Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse gilt: Da Machtausübung ja fast immer eine Folge von psychischer Unsicherheit und Schwäche ist, wird O immer die „Schuld“ beim andern sehen und meistens nicht einmal einen „eigenen Anteil“ eingestehen - weder vor sich selbst noch vor D. (Blaming the victiim!)

Bis vor einigen Jahren galt die „Regel“, dass direkte Gewalt fast ausschließlich von Männern, die emotionale vorwiegend von Frauen ausgeübt werde. Inzwischen meh-ren sich die Hinweise, dass auch Frauen manifeste Gewalt gegenüber ihren Partnern ausüben, dass diese aber aus Schamgründen kaum je davon sprechen. Ebenso schwer fällt es ihnen, in Beratungsstellen oder Therapiegruppen von der latenten,

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strukturellen und emotionalen „Gewalt“ bzw. Machtausübung ihrer Partnerinnen zu sprechen (s.u.). Ich habe beobachtet, dass sich häufig Typ O und Typ D sowohl in Geschwisterkonstellationen als auch bei der Partnerwahl finden wie Schlüssel und Schloss. Hier geht strukturelle Gewalt im Allgemeinen vom Typ O aus. Hier nur ein einziges Beispiel aus dem „Alltag“, das für viele steht und Asymmetrie und „Machtge-fälle“ zwischen den beiden Typen schlaglichtartig verdeutlicht:

# Hat D einen Satz von O nicht verstanden, hat D eben nicht richtig zuge-

hört.# Hat O etwas von D nicht richtig verstanden, hat D eben nicht deutlich ge-

nug gesprochen.

Das Interessante ist, dass solche Szenen von Patienten (die fast alle vom Typ D sind) in der Therapie, v.a. in der Gruppe, erst nach einem gewissen Selbsterfahrungspro-zess geschildert werden, weil die Betroffenen solche subtilen Asymmetrien vorher gar nicht gemerkt haben oder weil es ihnen peinlich ist, vor anderen darüber zu reden, s.o. Worunter sie bewusst leiden, sind konkrete Vorwürfe, Unterstellungen usw. oder konkretes Dominanzverhalten (dieses v.a. von Männern).

Dagegen sind die auf der Ebene der Stimmung, Tonfall, Wortwahl usw. stattfindenden indirekten Machtausübungen (hier überwiegend von Frauen) meist beiden Beteiligten lange unbewusst - bis sich bei D genug Leidensdruck entwickelt hat. Aber um sich effektiv zu wehren, muss er viel Mut aufbringen. Und auch dann wird Typ O seine Machtposition nicht so schnell aufgeben und ihn „in die Schranken weisen“, z.B., in-dem er ihm sagt, er möge doch nicht so empfindlich sein usw. Mitpatienten, die schon weiter in der Entwicklung sind, raten dann den „Neulingen“, so lange zu warten, bis die Selbstbehauptung („hol dir deine Würde zurück“ o.ä.) „aus dem Bauch“ kommt. Dies gilt gleichermaßen für beide Geschlechter.

Folie 9: Frühe Prägung

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2.24 Opfer-Täter-Dynamik: Gefühls-Einengung:

Bei D besteht die Gefahr, dass alle negativen Gefühle wie Ärger, Enttäuschung, Schmerz oder Trauer letztlich in einem Gefühl der Unterlegenheit, Minderwertigkeit und Angst landen, mit den entsprechenden somatischen Reaktionen wie Hypertonie, Magen-Darm-Beschwerden oder Muskelverspannungen. Bei O ist die häufigste Ent-wicklung, dass alle negativen Gefühle, auch Angst und Trauer, sobald sie aufkommen, in die „Wut-Schiene“ einmünden, weil hier am wenigsten die Gefahr besteht, als schwach oder schuldig zu erscheinen (vor den/dem andern und vor allem vor dem eigenen Über-Ich). Angriff ist die beste Verteidigung.

Hier erkennt man bei beiden Typen wieder die von den Eltern kommenden Implanta-te: Beim Typ O dominierte früher meist ein strenger, aggressiver bzw. cholerischer Elternteil, meist der Vater, beim Typ D ein depressiver oder masochistischer Eltern-teil, im Allgemeinen eher die Mutter. Gewaltbereitschaft entsteht also sowohl durch Gewalterfahrung als auch durch Grenzenlosigkeit und Schwäche der Eltern.In einem Aspekt allerdings sind die beiden Abwehrtypen nicht symmetrisch: Beim Typ D sind die latente Anpassungshaltung aus der Kindheit und die spätere Lebens-haltung eher kohärent: Typ D bleibt sozusagen in der „Opferrolle“ hängen. Patienten schildern das in der Gruppe oft so: „Als hätte ich ein Schild auf der Stirn: Mit mir

könnt ihr’s machen!“. Das hat man als Kind früh gelernt.

O verfolgt die umgekehrte Strategie: Um nicht wieder Opfer zu werden, bzw. wenn er sich vorbewusst millise-

kundenlang als Opfer einer Kritik fühlt (die er oft in die Worte eines Gegen-

übers hineininterpretiert), springt O sofort in die Täter-Rolle und greift den andern an, in den vielen mehrfach beschriebenen Varianten, je nach seiner

derzeitigen Stimmungslage oder je nach Thematik. Das einzige von außen wahrnehmbare Gefühl ist – wie erwähnt – natürlich wie immer Ärger.

Der Grund für dieses „Umkippen“ ist, dass O als Kind ja selbst meist Opfer eines traumatisierten, rigiden und cholerischen Vaters war: Somit bestehen

in O bis auf weiteres zwei Teilobjekte: ein Opfer-Anteil, nämlich das ängstli-che, unterdrückte Kind, und ein Täter-Introjekt, z.B. vom cholerischen Vater.

Viertes Fazit: Aus den Opfern von gestern werden die Täter von heute.

Je früher und je stärker die Beziehung eines jungen Menschen zu den Din-gen und dann auch zu den andern Menschen gestört ist, desto eher neigt

dieser später dazu, alles um ihn herum als "Objekt" zu betrachten und sei-

nen Bedürfnissen und seiner Weltsicht unterzuordnen bzw. alles in sein nar-zisstisches System einzubauen - oder, da er gleichzeitig wegen seiner

schwachen Identität für Suggestionen und Verlockungen einer Gruppen-Identität sehr anfällig ist, sich selbst bereitwillig einem System, einer Sekte,

Bande, einem Kult usw. unterzuordnen. In der Gewalt paaren sich also äu-

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ßerliche Demonstration von Stärke mit innerer Identitätsschwäche

(s. das Lied der „Ärzte“). Kinder werden in unserer Gesellschaft ja wenig in ihren kindlichen Bedürfnissen wahrgenommen, als vielmehr oft als notwendiges Übel, oder als "noch nicht ganz Er-wachsene", bei denen man nur darauf wartet, bis sie sich möglichst nahtlos in das Leistungs- und Konsumdenken unserer Ego-Gesellschaft eingefügt haben. Und das gelingt ja auch meistens recht schnell, was man daran sieht, dass Kinder bis zum 18. Lebensjahr bereits ca. 15000 Stunden vor dem Fernseher verbracht haben. Und der überwiegende Teil der Sendungen, ob Krimis, Spielfilme, Comics oder Tagesschau, handelt von Gewalt. Und in den wenigsten Familien wird über das Gesehene gespro-chen, es wird nicht verarbeitet, sondern in die noch in Entwicklung befindliche Psyche eingebaut. In Situationen von Belastung, oder Langeweile steht das gewalttätige Verhalten dann als Modell bereit. (s. Bücher von Manfred Spitzer).

Es gibt noch einen „Ausweg“, um nicht zum Täter zu werden: Das „Helfer-

Syndrom“ (siehe das „Drama-Dreieck“ der Transaktionsanalyse). Aber auch hier muss man genau hinsehen: Braucht der Helfer die Hilfsbedürftigen, um

sein Selbstwert zu stabilisieren? Dann ist es auch eine Machtausübung !

2.25 Feindbilder:

Das Kind "schluckt" Schuld, das "Böse" der Eltern, um Harmonie herzustellen, auf die es angewiesen ist. Dabei internalisiert es das Klima von Spaltung in Gut und Böse, von Vorwürfen usw. Entweder steckt es in eine Koalition mit einem Elternteil gegen den andern oder in einer Trutzburg Familie gegen die "böse" Außenwelt.

Fünftes Fazit: Schuldprojektionen und Machtausübung geschehen meist

auch aus Angst, selbst nicht gut (genug), also „schuldig“ zu sein (und nicht mehr geliebt zu werden). Dabei gerät die Frage, wie gut ich selbst mich wirklich fühle, völlig ins Abseits.

Feindbilder haben hier ihre Wurzeln. Sie dienen - im kleinen und großen Maß-stab - sowohl dem Zusammenhalt einer Gruppe und der Orientierung bei Unsicher-heit und der Angstbewältigung und Schuld-Projektion. Durch Zuschlagen oder Aus-weichen wird eine echte Auseinandersetzung vermieden. Je unsicherer die Identität eines Einzelnen oder einer Gruppe, desto geringer ist die Konfliktfähigkeit und desto dringender werden zur Stabilisierung Feindbilder benötigt. Deshalb sind heute vor allem Jugendliche, die sich ihrer Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft in Deutschland und ihrer Zukunft nicht so sicher sind, besonders anfällig gegen Auslän-derhass: Sie bekämpfen die Fremden, um sich dadurch selbst bei uns nicht so fremd zu fühlen.

Bei den Übungen zur gewaltfreien Kommunikation leitet Marshall Rosenberg die Konfliktparteien an, einander zuzuhören und zunächst das Leiden und

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die Bedürfnisse der anderen Gruppe anzuerkennen.

2.26. "Schatten"-Konzept und Gewaltphantasien:

Die in allen erfolgreichen heutigen Mythen verbreitete Botschaft lautet: "Das Böse kommt immer von außen und kann durch Kraft und Mut wieder abgewehrt werden." Aber mittlerweile dürfte wohl klargeworden sein, dass es, was die Gewalt betrifft, weder mit entschlossener "Bekämpfung" noch mit eigenen guten Vorsätzen schon getan ist. Wir müssen uns wohl oder übel mit der "Gewalt in uns", also mit dem be-fassen, was C.G.Jung unseren "Schatten" nennt. Dieser Begriff ist ein anschauli-ches Bild für das, was ich vorher schon öfter angesprochen habe als "verdrängter" und "projizierter" anderer Pol, als "abgespaltene Gefühle" usw. Aber auch unser evo-lutionäres und menschheitsgeschichtliches Erbe liegt in diesen Regionen der Seele verborgen. Je weniger wir diese Welt der Phantasien und Instinkte kennen, desto är-mer ist unser "Innenleben" bzw. unser "seelischer Innenraum", desto mehr müssen wir von außen bekommen, und auf der Handlungsebene bleiben.

In diesem Zusammenhang spricht man in der Tiefenpsychologie dann von der Ret-tung durch "Schatten-Integration": Das sagt sich leichter, als es getan ist. Aber es ist immer wieder berührend, wenn ein Patient in der Gruppentherapie wirklich gefühls-mäßig an einen Schattenanteil herankommt und ihn der Gruppe "gesteht".Eine Form von versuchter Schatten-Integration ist allen von uns geläufig: Davon kommt der Riesenerfolg der vielen Krimi-Serien im Fernsehen !

Sechstes Fazit: Es ist besser, vor der Empörung über Randalierer auch die

eigene gewalttätige Seite (auch die in Konsumverhalten, Dogmatismus, Bes-

serwissen usw. versteckte) besser kennen zu lernen. Wer immer recht ha-ben und gut sein will, überlässt den andern das Böse und die Schuldgefühle.

H.E.Richter und viele andere weisen darauf hin, dass Kriminelle, Rechtsradikale usw. uns allen einen Spiegel vorhalten. Ein Skinhead sagte einmal in einem Fernseh-Inter-view: "Wir machen doch nur mit der Hand, was ihr im Kopf denkt!" Hierher gehört auch der Umgang mit Gewalt-Phantasien, und hier scheiden sich oft die Geister: Laien, Eltern, Berater, Sozialarbeiter usw. neigen eher dazu, Gewaltphan-tasien den Klienten auszureden. Tiefenpsychologen dagegen wissen, dass das Imagi-nieren und ggf. das Berichten von solchen Phantasien eher eine reinigende Wirkung haben, wie ein Ventil. Wenn keinerlei solche Entlastung möglich ist, steigt die Wahr-scheinlichkeit, dass „der Kessel platzt“.

3. SOZIOLOGIE UND ETHIK: Brückenschlag zur kollektiven Ebene

3.1 Der Wachstums- und Machbarkeitswahn als Strukturprinzip Wenn wir uns die Ideale, Grundhaltungen und Organisationsprinzipien unserer mitteleuropäischen Gesellschaftsstrukturen genauer ansehen, müssen wir leider fest-stellen, dass sie auf genau den Vorstellungen der Bemächtigung und der Machbarkeit

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aufgebaut sind, die ich als Folge einer verunglückten Eltern-Kind-Beziehung be-schrieben habe und die die Grundlage für die "strukturelle Gewalt" in unserer Politik und Wohlstandsgesellschaft bilden. Wer mir das jetzt noch nicht glaubt, soll sich ein-mal der Tortur unterwerfen, ganz bewusst einige Minuten lang das Werbefernsehen anzusehen. Ich glaube, danach wird er mir zustimmen. Die Konsumhaltung lernt z.B. ein Kind, das zu wenig Zuwendung von den Eltern bekommt und dafür eine Ersatzbe-friedigung bekommt. Falls dieses Kind dann Karriere macht, wird es dieses Prinzip z.B. an der Börse fortsetzen.

Solche Zusammenhänge hat der britische Psychoanalytiker und Finanzfachmann Da-vid Tuckett erforscht. Er hat 52 Geld-Manager, von denen jeder mindestens eine Summe von 10 Mrd. Dollar im Jahr „bewegt“, nach den Faktoren für ihre jeweiligen Entscheidungen befragt. Diese Interviews hat er zu einem Buch verarbeitet (2011). Darin erklärt er die Entstehungsgeschichte der strukturellen Gewalt und der Finanz-märkte und die Finanzkrise:

Bei den Objekten des Geldhandels kann man folgende Entwicklung beobachten:Vor der Finanzwirtschaft gab es auf der Erde Tauschhandel, nach dem Muster: Hung-riger Schneider trifft frierenden Bauern. Solange ihre Bedürfnisse zur selben Zeit auf-treten, können sie sich schnell einigen, aber wenn sie zeitlich auseinander liegen, ist es günstiger, wenn sie sich auf symbolische Träger von Werten einigen. So hat es sich eingebürgert, feste Vereinbarungen zu treffen, bestimmte Gegenstände als Tauschob-jekte zu verwenden und deren Wert zu „normieren“: Schafe, Muscheln usw.

1. Stufe: Gold oder andere Edelmetalle 2. Stufe: Münzen aus Edelmetall mit bestimmten Prägungen 3. Stufe: Papiergeld, „Cash“ 4. Stufe: Schuldverschreibungen, Wertpapiere, Stocks, Currencies 5. Stufe: Weitere Derivate wie CDOs, CDS, Index futures, Bonds etc.Je höher die Stufe, desto abstrakter und unanschaulicher wird der Wert-Träger. Aber desto größer ist auch die Rolle, die dabei unbewusste Motive spielen. In der Kreditwirtschaft bringt man Sparer (Verleiher) und Leiher (Kreditnehmer) zu-sammen. Das Risiko des Verleihers hängt davon ab, wem er das Geld leiht: Einer ver-trauenswürdigen alteingesessenen Firma, dem Staat (bislang risikofrei) oder einem neuen, einem „Start up“-Unternehmen mit einem neuen Produkt, von dem man noch nicht weiß, wie es sich verkauft. Der Preis der assets (Papiere) ist abhängig von zu-künftigen Entwicklungen: Sozialen, emotionalen, ökonomischen. Die Entwicklung hängt ab von vielen Gefühlen und psychischen Faktoren wie Imagination, Hoffnung, Ängsten, also auch vom Zufall ! Tuckett nennt es „Story telling“!

Liquidität ist ein Preis, der unabhängig von Käufern und Verkäufern ist und norma-lerweise konstant gehalten wird. Um eine hohe Liquidität zu gewährleisten, benötigt man genug Kapital, das gerade nicht verliehen wird, also nicht „arbeitet“. Ab 2007 haben viele Banken ihre Liquidität reduziert, um höheren Profit zu machen, obwohl damit das Risiko der In-Solvenz (das Gegenteil von Liquidität) anstieg. Trotz vieler Warnungen dachten diese Banken, das sei clever – sie hatten auch längere Zeit da-

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von einen höheren Profit und Marktvorteil. Hier waren kleine Banken, Genossen-schaftsbanken etc., viel vorsichtiger. Sie wurden durch die Krise auch viel weniger getroffen. Der Wert von Financial Assets hat oft wenig mit dem tatsächlichen Wert einer Firma zu tun (Immobilien, Qualität der Produkte, Sicherheit und Zufriedenheit der Mitarbei-ter etc.), sondern beruht auf Zukunftserwartungen der Anleger und ist deshalb sehr schwer einzuschätzen. Was kriegt man statt Informationen? Stories!! Da viele Ent-scheidungen von Managern intuitiv und aufgrund eines „Narrativs“ getroffen werden, ist es schwer zu beurteilen, warum ein Manager Erfolg hat. Skills oder Luck?

Und hier kommt die Tiefenpsychologie ins Spiel:

Es handelt sich bei den unbewussten Entscheidungsvoraussetzungen oft um solche Kräfte wie Idealisierung, Ambivalente Objektbeziehungen, Liebe und

Hass. Sehr oft, viel zu oft, werden dabei Gefühle abgespalten, typischerwei-se wird bei einem lockenden Geschäft (Aktivierung des Belohnungssystems

im Nucleus accumbens) das Bewusstsein des Risikos ausgeschaltet. Im Ide-

alfall werden das logische, deduktive Denken und das „Gutt“-Feeling, die In-tuition integriert zu einem angemessenen subjektiven Empfinden für die

„Wahrheit“ oder Außenrealität. Aber sehr oft werden sie auch gesteuert von unerfüllten Wünschen,

(Sehn-)Sucht nach Anerkennung, bzw. von narzisstischen Bedürfnissen, im

Sinne einer Ersatzbefriedigung, und auf der anderen Seite von z.T. unrealis-tischen Ängsten vor Mangel (die oft aus der Kindheit stammen), die ein Ge-

gengewicht bilden könnten. Aber dann muss das Individuum diese „kogniti-ve Dissonanz“ reduzieren, z.B. durch selektive Wahrnehmung – oder auch

durch Spaltung. Leider sind die „Manipulatoren“ selbst auch Getriebene, Op-

fer des Systems. Deshalb nützt es nicht, sie ins Gefängnis zu stecken.

Tuckett plädiert für ein besseres theoretisches Verständnis der psychischen Mecha-nismen hinter den nur scheinbar rationalen Entscheidungen auf allen Ebenen, vor al-lem der beteiligten psychischen Mechanismen (im Limbischen System!!!). Er rät au-ßerdem, immer mehr globale Vereinbarungen, Regeln, Grenzen zu finden, die einen verlässlichen Rahmen für alle Arten von Finanzströmen und -aktionen bilden, um die „needs and greeds“ in Schranken zu halten.

Das Problem sind weniger die Manager, die für ihren Konzern Gewinne und

Arbeitsplätze schaffen, sondern die, die Firmen „filetieren“ oder gar zugrun-de richten – und vor allem die, die NICHTS beitragen und viel höhere Gewin-

ne einstreichen als Manager, nur aus Dividenden, Spekulationsgewinnen oder gar „Wetten“ auf den Misserfolg von Firmen (CDS etc.) oder Währun-

gen – und das dann großenteils nicht einmal in Deutschland versteuern!!

Z.B. bekommt die Familie Quandt als Anteilseigner ohne jede Leistung über 700 Mill. € / Jahr – das ist mehr als das Hundertfache von BMW-Chef Reitho-

fer, der für seine 6 Mill. etwas geleistet hat. Aber: Die wahren „Transfer-Empfänger“ im obersten Promille (wo es KEINE STATISTIK gibt !) verstehen

es, säuberlich im Hintergrund zu bleiben ! Während der Volkszorn sich über

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die Manager-Gehälter erregt, lachen die sich ins Fäustchen.

Es gibt also zumindest eine Parallele zwischen der strukturellen Gewalt, die

von „Eliten“ ausgeht, und der emotionalen Gewalt in Beziehungen:In beiden Fällen besteht bei dem, der die Macht hat, ein Defizit an Selbster-

kenntnis und Empathie-Fähigkeit, d.h., aus Gründen der Selbst-Sicherung

kann er sich nicht oder nur wenig in den/die andern hineinversetzen, son-dern setzt seine subjektive Meinung als Maßstab für den andern bzw. für al-

le. Und dadurch, dass der Mangel an Einfühlungsvermögen fast immer aus der Kindheit stammt, wo die Eltern selbst traumatisiert oder weltfern und

egoistisch waren, schließt sich der Teufelskreis.

In Wissenschaft und Technik hat sich seit der Aufklärung eine Mentalität durchge-setzt, die schon Francis Bacon wie einen Auftakt zum "modernen" Umgang mit der Natur formuliert hat (sinngemäß): "Wir müssen die Natur wie eine Sklavin auf die Streckbank legen und foltern, bis sie uns ihre Geheimnisse preisgibt!" Die heutige Gentechnologie geht noch einen Schritt weiter, indem sie in das Getriebe der Natur auf tiefster Ebene eingreift. Lauter Zauberlehrlinge? Man fühlt sich an den Turmbau zu Babel oder den Golem erinnert.

Ein wichtiger Aspekt der kollektiven strukturellen Gewalt ist die erwähnte De-finitionsmacht (Bourdieu 1988). Das ist eine Macht, die es im „soziale Feld“ einer In-stitution oder ihren Vertretern ermöglicht, "Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim zu verkünden". Beispiele: Der Jugend-Wahn in der Werbung, die Zuschrei-bung oder Verweigerung der Krankenrolle durch Gutachter und das Sponsoring von Ärztekongressen durch die Pharmaindustrie, der Lobbyismus, der die Politiker infilt-riert und die Medien, die Begriffe wie „Wut-Bürger“ weitertragen, wo man sie doch besser „Mutbüger“ nennen sollte, usw. usf. Die ungesunden Prinzipien des neolibera-len Markt-Radikalismus, die uns imprägnieren und uns und unseren Planeten dem Abgrund immer näher bringen, lassen sich in den Begriffen zusammenfassen:

Leistungsehrgeiz - Hektik - Verdrängung – Konsumzwang - Oder kurz:

Wir sind tüchtig, züchtig, flüchtig und süchtig.

3.2 Gewalt gegen die Natur: Wie gut wir uns schon die Erde untertan gemacht haben und wie wir die Natur als Selbstbedienungsladen missbrauchen, spüren wir gar nicht mehr. Es ist Gewohn-heit geworden - das kann wirken wie eine schleichende Verseuchung, auch mit den besten Absichten, wie bei der Arbeitsplatzerhaltung durch noch mehr Produktion von Waren, die dann auch wieder konsumiert werden müssen (z.B. um die „Binnennach-frage“ zu erhöhen und die Abhängigkeit vom Exportüberschuss zu mildern!).Oder in der Medizin: Schon das Wort ANTI-BIOTIKA ist bei genauer Betrachtung verräterisch! Es heißt ja wörtlich "gegen das Leben"! Und dieses Leben, in dem Fall die "Erreger", werden immer resistenter. Ganz zu schweigen von den nicht erneuerbaren Ressour-

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cen und der Produktion von Müll und Gift, die uns wie unser materialisierter Schatten jetzt wieder einholen. (s. Al Gore 1992) Hierher passt auch der angebliche "göttliche Auftrag" "Macht euch die Erde untertan!". Dass damit früher untrennbar die Verantwortung für die Natur über-nommen wurde, geriet aus dem Blick. Doch Forderungen nach einer "Umwelt-Ethik", die nach der Bilanz des Club of Rome laut wurden, sind mit dem Verstand und dem Über-Ich nicht zu erfüllen, es muss die Gefühlsebene des Limbischen Systems dazu kommen. kurz: Unser Umweltbewusstsein müsste, aus tiefenpsychologischer Sicht, "vom Lustprinzip geleitet" sein, wie Sigrun Preuss in ihrem Buch "Umweltkatastrophe Mensch" empfiehlt. Und H. Welzer empfiehlt „Selber denken“ (2013) als ersten Schritt zu einem sinnvollen Widerstand gegen die Dehumanisierungsprozesse.

Wir alle sind leider fast blind für das Ausmaß der grundsätzlichen, all-täglichen Gewalt gegen die Natur in allen Bereichen des Alltags im moder-

nen Leben. ABER AUCH BLIND GEMACHT: Ein besonders krasser Fall ist die

systematische Unterdrückung der Information über die "Globale Warnung" in der über 1600 Wissenschaftler 1992 aller Fachgebiete aus der ganzen

Welt (darunter 101 Nobelpreisträger) die Menschheit dringend zu einer gründlichen Kurskorrektur aufgerufen haben….. Und heute, über 20 Jahre

später, gab es wieder eine eindringliche Warnung der Klimaforscher, dass

der Meeresspiegel wohl schneller steigen wird als bisher angenommen und die 2-Grad-Erwärmung bis 2100 sicher nicht mehr einzuhalten sei. Das kam

EINMAL in der Tagesschau. An diesem Tag stand auf der Titelseite der BILD-Zeitung in riesigen Lettern, dass man sich um Walter Scheel Sorgen machen

müsse, weil er in ein Pflegeheim kommt.

Das ist Strukturelle Gewalt des Boulevard-Journalismus !

3.3 Strukturelle Gewalt der Finanzmärkte

Der bekannte US-Analyst und Preisträger Noam Chomsky hat mehrfach darauf hin-gewiesen, dass das Hauptthema bei den Geheimdienst-Aktvitäten, Ausspähungen usw. nicht die Abwehr äußerer Feinde ist, sondern die Beschaffung von Informationen zur Absicherung der „Plutokratie“ (Geld-Herrschaft) in ihrer Macht gegen die EIGENEN Bürger !! (Vortrag in Frank-

furt, FAZ-Archiv 19.6.2013.) Das nur als kurze Randbemerkung, denn dieses „gewaltige“ Thema benötigt im Grunde einen extra Vortrag – ich habe darüber schon einen gehalten, im März 2013 in Singen. Hier nur vorläufig ein langer Satz:

Seit den 70-er Jahren, als die Goldbindung des Dollar aufgehoben wurde,

und erst recht seit Beginn der 90-er Jahre, als die Globalisierung dank In-

ternet und Computer-Währungshandel Fahrt aufnahm, werden die früher wirksamen Selbstregulationskräfte des „freien Marktes“ und der „sozialen

Marktwirtschaft“ immer mehr behindert und ausgehebelt, so dass die A-symmetrie der Macht sich deutlich verstärkt, und zwar zwischen 99 % Ar-

men und 1 % Reichen – innerhalb der Nationen und zwischen Nord und Süd.

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Folie 10: Soziale Gerechtigkeit im Neoliberalismus

Folie 11: Globale Ungerechtigkeit

Favela in Brasilien

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4. AUSWEGE ?

4.1 Handeln im aktuellen Fall: Was nicht hilft: Blauäugiger Pazifismus und masochistisches Tolerieren, Verordnete Feindesliebe, Rachedurst, Einfache Gegengewalt (Teufel mit dem Beelzebub austrei-ben) Auch Vernunft und guter Wille reichen nicht!

Ein Begriff, der Haltung und Verhalten in einem Doppelsinn darstellt:

Der Gewalt "BEGEGNEN": (Statt "konstruktiver Umgang") Das bedeutet sowohl eine Grenzziehung als auch einen Kontakt (Kontakt kann nur an Grenzen stattfinden!).

1. Gegenüber dem Gewalttäter:

Es gibt kein Rezept, nur eine ZuMutung: ein paradoxer Schwebezustand zwischen:

# der Fähigkeit, alle Gefühle, die der andere bei mir auslöst, wahrzunehmen und mir zuzugestehen, aber sie nicht automatisch mein Handeln bestimmen zu lassen (d.h. auch, mich von Imponiergehabe nicht zu sehr beeindrucken zu lassen) # der Bereitschaft, auszuweichen und nicht den Helden zu spielen # dem Bewusstsein, selbst auch zum Zurückschlagen fähig zu sein # das latente Wissen, dass der Täter wahrscheinlich ein ehemaliges Opfer ist # Alternativen aufzeigen bzw. zur gemeinsamen Suche nach ihnen bereit sein. # ein klares Bekenntnis zu Humanität und Solidarität.

Welche Komponente dieser komplexen inneren Haltung dann im konkreten Verhalten die wichtigste Rolle spielt, hängt vom Einzelfall ab.

2. Gewalt und Frieden in Beziehungen:

a) Für sich selbst Die eigene Aggressivität konstruktiv und kreativ einsetzen, z.B. in der Musik. Jazz ist dabei vielseitiger und "friedlicher" als Rockmusik, und Rockmusik ist vielseitiger und friedlicher als Disco-, Rap, Heavy Metal usw. b) Gegenüber der Jugend: spürbare Väterlichkeit Kinder brauchen eine emotional und körperlich präsente Vaterfigur. Idealer-weise der eigene leibliche Vater, bei alleinerziehenden Müttern ein erwachsener Ver-wandter, ein Lehrer, Jugendleiter o.ä. Ihn sollten sie auch körperlich erleben können, im Sport, beim Raufen, Kräftemessen.

c) In der Schule: konstruktives "Aggredi", Anpacken: Innovative Schul-Modelle: Gemeinschaftsarbeiten fördern die Solidarität. Ver-

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schiedene Qualitäten und Fähigkeiten der Schüler kommen zur Geltung, die im nor-malen Schulbetrieb untergehen oder unterdrückt werden. usw.. (Projekt „Faustlos“ und Gewalt-Präventionsprojekt SAFE (Sichere Ausbildung für Eltern) von K.H.Brisch).

d) Gegenüber dem Partner: Liebevolle Festigkeit und fröhliche Beziehungsarbeit: Das heißt: Kontur zeigen, Position beziehen, seine Meinung und sein Gefühl zeigen, also eine feste und durchlässige Grenze. Das heißt: Standhalten und in der Beziehung bleiben! Denn:

Nicht-legitime Asymmetrien bzw. „Machtgefälle“ (wie oben beschrieben)

sind heutzutage langfristig mit „Frieden“, emotionaler Nähe und seelischer

Gesundheit nicht vereinbar. Frieden ist nur mit Gerechtigkeit möglich.

Fast alle beschriebenen Mechanismen, die zu Gewalt führen, können in laten-ter, milder bis bedrohlicher Form auch in Familien und Partnerschaften auftreten.

4.3 Macht-Asymmetrie in der Partnerschaft:

Wenn latente „Gewalt“ bzw. Asymmetrie die Folge einer eingefahrenen asymmetri-schen Beziehungsstruktur ist, dann kommen wir auch hier nur heraus durch geduldi-ge „Friedensarbeit“ an und in dieser Beziehung, das bedeutet auch eine Verbesserung unserer Wahrnehmung der Interaktionen und der Gefühle, die wir dabei spüren. Das Wichtigste dabei ist, dass Gespräche in gleicher Augenhöhe geführt werden („glei-ches Recht für alle“), dass also prinzipiell beide Beteiligten bei einem Problem, ob Kommunikationsstörung, Meinungsverschiedenheit oder emotionaler Konflikt, zu-nächst dem andern offen zuhören und dies auch signalisieren, und nicht schnell den Spieß umdrehen und vom anderen etwas einfordern. Erst dadurch besteht die Chan-ce für jeden, seinen eigenen Anteil zu erkennen. Wer zuerst eine Störung in ange-messener Form (also nicht als Vorwurf, oder pauschalisierte Schuldzuweisung) an-meldet, soll das Recht haben, erst einmal vom andern ein Signal zu bekommen, dass er „wahrgenommen und ernstgenommen“ wurde, bevor man sich gemeinsam und möglichst kooperativ an eine Lösung herantastet.

Für diese Partnerschafts-Gespräche gibt es schon einige Erfahrungen und Beschrei-bungen, am bekanntesten sind wohl die Empfehlungen von M.L.Möller und das Prin-zip der „Gewaltfreien Kommunikation“ von Marshall Rosenberg.

4.4 Mitarbeit in Nichtregierungs-Organisationen

Viele „NGOs“ arbeiten gegen Gewalt und Ungerechtigkeit innerhalb und zwischen den Gesellschaften. Allein in Deutschland wird ihre Zahl auf ca. 500 geschätzt. Im An-

hang ist eine Liste mit Namen und Stichworten.

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4.5 Zum Abschluss: Eine angemessene Haltung finden:

Wir sollten nochmals bedenken:

Wir alle sind Opfer und Täter, und alle wollen wir gut sein – aber das

Gegenteil von "gut" ist "gut gemeint" (Karl Kraus)

Gewalt heißt auch: - Unachtsam Genießen auf Kosten anderer (Reich gegen arm)

- Oben gegen unten und Konkurrenzkampf in der leider nicht mehr ganz so "Freien Marktwirtschaft"

- Meine subjektive Sichtweise verallgemeinern (Partnerschaft!)

- Missionieren, auch für Vegetariertum oder Friedensbewegung - Feindbilder pflegen

- Immer Recht haben wollen, das Gute für sich pachten, - Zuviel helfen wollen (als Eltern, soziale oder professionelle Helfer

usw.)

- Seine Unsicherheit und Verletzlichkeit überspielen oder kompen- sieren

4.5 Ein 10- Punkte-Programm:

1 Die strukturelle Gewalt in und um uns erkennen2 Unsere Wachstums- und Sucht-Ideologie erkennen3 Die Spannung zwischen dem Nötigen und dem Möglichen aushalten4. Schuldbewusstsein statt lähmender Schuldgefühle und Schuldzuweisungen5 Die seelischen Hintergründe von Gewalt und Naturzerstörung (an)erkennen6 Konkrete kleine Schritte unternehmen, ohne dadurch das Gewissen zu beruhigen7 In unserem persönlichen Bereich eine Beziehungskultur pflegen8 Leidensfähigkeit und Verantwortungsgefühl üben9 Grenzen setzen und Grenzen dankbar annehmen lernen, Konflikte üben10 Frieden heißt: Liebevolle und selbst-bewusste Beziehungs- und Konfliktfähig- keit auf Augenhöhe miteinander und in jedem einzelnen in seiner INNERSEELI- SCHEN DEMOKRATIE (s. mein Buch), d.h.: Wie gut kann ich mein inneres Chaos ertragen? Ohne mein Handeln zu sehr davon infizieren zu lassen!!)

-> Auch "sadistisch" fühlen dürfen und human handeln! Menschsein ist paradox.

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Anmerkung der Redaktion:Der Autor stellt den Leserinnen und Lesern weiteres Material zum Thema in einem Anhang zur Verfügung: >http://www.worldcitizens.de/pdf/news/2013-11-02_heinzel_gewalt_trauma_anhang.pdf

___________________________________________________________________________> Hinweis für Leserinnen und Leser, die über eine Suchmaschine oder einen Link zu dieser Seite gekommen sind. Sie befinden sich hier: www.worldcitizens.de

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