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Henning Mankell Ein Herbstabend vor der Stille Deutsch von HANSJÖRG BETSCHART F 1424

Henning Mankell - Deutscher TheaterverlagDas wird sonst hier alles nass. Tone Das macht nichts. Hier wohnt niemand im Herbst. Tom Ich ziehe sie trotzdem aus. Ich mag es nicht, wenn

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Henning Mankell

Ein Herbstabend vor der StilleDeutsch von HANSJÖRG BETSCHART

F 1424

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Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes

Ein Herbstabend vor der Stille (F 1424)

Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb anNichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnenerwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mitdem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kaufder vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw.einer Tantieme.Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungenin geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen.Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen derRollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen dasUrheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich.Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechteverfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main

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Personen: HANNA, 60. Hausfrau. ROLF, 60. Ihr Gatte. Geschäftsmann. HELENE, 30. Deren Tochter. Malerin. TOM, 40. Inhaber eines Nachtklubs. LISA, 25. Seine Frau. Farbige Migrantin. LENA, 50. Ehemaliges Fotomodell. TONE, 25. Börsenmaklerin. Statisten: Zwei Frauen/Männer Besatzung des Helikopters der Küstenwache Zwei Polizisten

Ort der Handlung: Ein offener Raum in einem Haus, auf den Klippen einer Insel. Der Raum ist einfach möbliert. Die Einrichtung ist behelfsweise mit weissen Laken zugedeckt. Fenster, Türen. Ein Balkon mit Stühlen, die im Sommer stehen gelassen wurden. Das Stück spielt an einem Tag im Frühherbst 1981. Erster Akt: Nachmittag Zweiter Akt: Abend Dritter Akt: Nacht gegen Morgengrauen

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Akt 1

(Mit dem Licht erscheint ein verlassener Raum. Der Wind schlägt ein Fenster auf und lässt die Gardinen tanzen. Die Gischt spritzt aus den Klippen in das Zimmer. Das Meer dröhnt aus nächster Nähe. TONE kommt herein. Sie trägt eine nasse Regenjacke. Sie schließt das Fenster. Sie bleibt stehen und schaut hinaus. Sie gestikuliert und ruft durch das geschlossene Fenster.)

Tone Andere Seite .... Nein! Auf die andere Seite. (Zu sich selbst.) Oder meint ihr, ihr könnt mit dem Kopf durch die Wand? (Sie schaut sich im Zimmer um. Sie entfernt hastig die weißen Laken von den Möbeln. Die Einrichtung ist unbestimmbar zeitlos. Die meisten Stücke stammen aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren. Unter Anderem steht das Oberteil einer alten Taucherausrüstung neben schweren Taucherschuhen. TOM betritt das Zimmer. Er schüttelt eine viel zu dünne, nasse Jacke ab.)

Tom Wahnsinn. Wie das regnet. Guten Tag. Ich heiße Tom. Tom Klarström.

Tone Tone. Tone Salén. Guten Tag. Willkommen.

Tom Ich dachte, ich sei der Erste...

Tone Das sind Sie auch. Die anderen sind noch da draußen.

Tom Ich dachte mir schon, dass ich nicht der einzige Spekulant sein werde.

Tone Das ist ein Missverständnis. Ich bin die Verkäuferin. Ich bin nicht hier, um zu kaufen.

Tom Ach, so. Ja. Da habe ich mich getäuscht. Ich ziehe die Schuhe aus. Das wird sonst hier alles nass.

Tone Das macht nichts. Hier wohnt niemand im Herbst.

Tom Ich ziehe sie trotzdem aus. Ich mag es nicht, wenn ich Dreck hinterlasse. Fantastisch diese Aussicht! Mitten hinein ins offene Meer. Volle Kanone. Wie heißt der Leuchtturm, den man da draußen sieht?

Tone Das weiß ich nicht.

Tom Sind Sie nicht hier geboren? Zumindest sagte das der Typ am Telefon. Roger.

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Tone Robert. Mein Bruder. Ja, ich bin hier geboren. Aber es gibt vierzehn Leuchttürme rund um die Inseln. Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern. Der da auf dem benachbarten Hügel steht, heißt „Graufluh“.

Tom (Bewegt sich unruhig im Raum. Als hörte er gar nicht zu, was Tone erzählt.) Sie sind also hier draußen aufgewachsen? Das muss nicht leicht gewesen sein.

Tone Schwer auch nicht.

Tom Das muss es wohl. Nur Klippen und Wasser. Nicht ein einziger Baum. Und was sehe ich da draußen auf der Landzunge? Ein Friedhof?

Tone Ja, das ist ein Friedhof.

Tom Wieso?

Tone Auch hier draußen sterben Leute.

Tom Hatten Sie hier draußen Spielkameraden? Oder waren sie ein Einzelkind unter Erwachsenen?

Tone Wir waren zu meiner Zeit neun Kinder auf der Insel. Mit einer eigenen Schule. Bis zur siebten Klasse. Einsamkeit war das nicht. Nein. Außerdem kannte ich nichts anderes. Heutzutage gibt es überhaupt keine Kinder mehr hier draußen.

Tom Ich wäre verrückt geworden.

Tone Warum kommen Sie dann hierher? Warum interessieren Sie sich für ein Sommerhaus hier draußen?

Tom Man wird als Erwachsener nicht aus denselben Gründen verrückt wie ein Kind. Nicht wahr? Es ist hier nicht besonders warm?

Tone Nein.

Tom Ich schwitze. Mist. Ich habe wieder Fieber. Ich bin schon den ganzen Herbst erkältet ... Sind die Wände des Hauses wintersicher?

Tone Hier wohnen die Leute seit vier Generationen. Und es sind nie welche erfroren.

Tom Gab es je Probleme mit Insekten?

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Tone Nein.

Tom Wenn es Fledermäuse im Haus gibt, kommt es für mich nicht in Frage.

Tone Vor vierzig Jahren, lange vor meiner Geburt, gab es einige Jahre lang Fledermäuse im Schornsteinsockel. Nach Erzählungen meines Großvaters. Aber die sind sicher weg.

Tom Ich denke eher an Holzwespen, die ihre Bauten an die Südwände kleben. Die nagen ein solches Holzhaus in ein paar Jahren weg.

Tone Es gibt ein Gutachten für das Haus. So steht es in der Anzeige.

Tom Tone, der Tag, an dem ich einem Inserat Glauben schenke, wird nie anbrechen. Ich bin Geschäftsmann. Da weiß man, wie man Inserate deuten muss. Wie viele Personen kommen zur Besichtigung?

Tone Ich bin nicht ganz sicher. Es haben sich sieben angemeldet. Kann sein, es windet für einige zu stark. Wie viele waren auf der Fähre?

Tom Keine Ahnung. Habe sie nicht gezählt. Einer hat gekotzt. Mensch, war das eklig ... Und der Preis? Wie steht es damit?

Tone Das stand im Inserat. Zwei Millionen. Oder an den Meistbietenden.

Tom Das Haus Ihrer Kindheit? Kann man das einfach so weggeben?

Tone Bei vier Geschwistern fällt es schwer zu teilen.

Tom Eine halbe Million pro Kopf? Was macht man damit? Was kriegt man heute schon noch für eine halbe Million? Nichts! Was machen Sie beruflich?

Tone Ich arbeite in einer Fonds-Gesellschaft.

Tom Aha?

Tone Ich bin Aktienhändlerin.

Tom Dann verdienen Sie wohl genug, um sich durchzuschlagen. Was verdient ein Aktiendealer heutzutage.

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Tone Das kommt darauf an. Ich habe allerdings nicht die Absicht, mich über meinen Lohn zu unterhalten.

Tom Verzeihung! Das war ein Fehler von mir. Ich bin zu neugierig! Verzeihen Sie. Tut mir leid. Wenn mich die Leute fragen, wie viel ich verdiene, gebe ich immer Auskunft! Darin unterscheiden wir uns. Ich habe einen Nachtklub in Stockholm. Der wirft ordentlich was ab.

Tone Ja, das ist ja gut ... (Sie geht zum Fenster.) Warum kommen die nicht?

Tom (Beim Fenster.) Sechs Personen werden sich um all das hier prügeln...

Tone Ich gehe ihnen entgegen.

(LISA betritt das Zimmer, eben, da TONE gehen will. Lisa ist eine farbige Frau. Sie trägt einen Regenschutz und ist nass, wie die anderen auch. Sie ist wütend.)

Lisa Warum kannst du nicht auf mich warten?

Tom Jetzt beruhige dich. Hör auf zu fluchen. Ich war nass.

Lisa Bin ich das nicht?

Tom Du hast eine richtige Regenjacke. Schau dir meine hier an. Ein dünnes Frühlingsjäckchen.

Lisa Du suchst selber aus, was du anziehst.

Tom Jetzt hör auf zu streiten. Ich halte das nicht aus. ... Das hier ist Lisa, meine Frau. Tone, sie verkauft das Haus ihrer Kindheit.

Tone Willkommen. Guten Tag.

Lisa Hallo. Gibt es hier irgendwo eine Toilette?

Tone Sie ist da draußen links.

Lisa Danke!

Tom Die Schuhe!

Lisa Was ist damit?

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Tom Willst du wirklich diesen wunderschönen Boden ruinieren?

Tone Das macht nichts. Behalten Sie sie ruhig an.

(LISA wirft die Schuhe von sich. Geht hinaus.)

Tom Sie hat ein (-) etwas heftiges Temperament, meine Frau. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich liebe meine Frau.

Tone Ist sie hier geboren? Ja, Verzeihung, das geht mich nichts an...

Tom Das macht nichts. Es ist besser, wenn Leute Fragen stellen, als sich Gedanken zu machen, ohne sie auszusprechen. Die Schweden neigen leicht zu zu verstecktem Rassismus. Nein, sie ist hier geboren. Der Teufel weiß, wo sie geboren wurde. (Ironisch.) Ich werde sie mal fragen müssen. Ich weiß es nicht. Obwohl ich mit ihr verheiratet bin. Kenia, glaube ich. Ich weiß es wirklich nicht. Wir haben uns in London kennen gelernt. Sie spricht nicht gerne von ihrer Kindheit. Sind Sie verheiratet?

Tone Nein.

Tom Ja, ja. Man liest ja in den Zeitungen, dass Aktienhändler rund um die Uhr arbeiten. Wie sollten Sie dann jemanden kennen lernen.

Tone Ich habe einen Freund. Aber ich habe nicht vor, über ihn zu reden.

Tom Ist er auch Aktienhändler?

(TONE geht hinaus, ohne zu antworten. TOM bleibt alleine zurück. Er entnimmt seiner Jacke ein Pillendöschen und schluckt eine Pille. LISA kommt zurück.)

Tom Das ging schnell.

Lisa Es gibt kein Toilettenpapier. Wo ist sie?

Tom Es sind vier Geschwister, die das Haus verkaufen. Macht für jeden eine halbe Million. Das ist nicht viel für eine Kindheit. Sie handelt mit Aktien. Sie ist hinausgegangen.

Lisa Dann hat sie wohl genügend Geld.

Tom Genau das sagte ich auch. Aber das schien sie nicht zu mögen. Dabei verdient die sicher hunderttausend pro Monat. Plus Bonus.

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Lisa (LISA wühlt in ihrer Tasche. Findet Papiertaschentücher.) Was ist eigentlich mit dir los?

Tom Mit mir? Nichts! Warum klingst du so böse?

Lisa Ich hasse es, dir hinterher zu rennen. Die ganze Zeit gehst du voran, und ich zwei Schritt hinter dir, wie ein beschissener Köter.

Tom Hör auf zu fluchen. Wir haben nicht die gleichen Geschwindigkeiten. Ich gehe schneller als du.

Lisa Aber wir sollten ein Ehepaar darstellen. Oder nicht?

Tom Hör auf zu streiten! Scheiße. Ich halte das nicht aus!

Lisa Dann geh langsamer. Und fluch nicht die ganze Zeit!

Tom Es ist ein schönes Haus, findest du nicht? Solche Böden macht man heute nicht mehr. Was glaubst du, kosten solche Dielen. Ein paar Tausender. Ist das Eiche? Es muss Eiche sein. Solche Böden gewinnen Jahr für Jahr an Wert. Das ist eine gute Geldanlage...

Lisa Es dreht sich hier nicht um ein Gemälde von Munch, sondern um ein Haus. Eine Wertsteigerung von 100 Prozent in zehn Jahren ist nicht das Wesentliche.

Tom In fünf Jahren. Die Gischt spritzt bis zu den Fenstern hinauf. Hier kann man im Wohnzimmer sitzen und sich ersäufen, wenn man Lust dazu hat. Was meinst du?

Lisa Darauf werde ich dir antworten, wenn ich auf der Toilette war. Und das ganze Haus besichtigt habe, nicht nur dieses Zimmer.

Tom Wie ist dein erster Eindruck.

Lisa Ich weiß nicht. Ich bin nicht sicher, ob du zu diesem Zimmer passt.

Tom Was meinst du damit?

Lisa Was ich sage. Du. Passt. Hier. Nicht. Hin. Es gibt nur einen Ort, der zu dir passt: Dein rauchiger Klub um vier Uhr in der Früh. Wie viel Uhr ist es? Zwei Uhr nachmittags. In deinem Leben zählt nur eine einzige Uhrzeit: Morgens um vier. Verstehst du, was ich meine?

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Tom Ich verstehe nichts.

Lisa Gar nichts?

Tom Nein! Nichts!

Lisa Dann kann ich dir nicht helfen.

Tom Ich will für uns nur ein Haus am Meer haben ... Sommernächte ... Ein wenig Frieden im Leben ... Mit den Fischen reden. Einfache Worte, einfache Gedanken. Die Zeit steht still. Ich mag dieses Hetzen durchs Leben nicht mehr. Ich habe vergessen, wie man eine Straße entlang schlendert. Verstehst du, was ich meine?

Lisa Ich werde das Haus ganz sicher anschauen. (Sie geht.)

Tom Wohin gehst du?

Lisa Was denkst du? Ich gehe auf die Toilette.

Tom Ist sie schön, oder muss sie neu gefliest werden? Erinnerst du dich an die spanischen Fliesen, in dem - wie hieß das noch, das Hotel in Madrid? - „Palace-Hotel“? Klar. „Palace“. Sie waren blau und im Relief erkannte man Menschen bei der Traubenlese. Ich habe nie wieder ein so schönes Badezimmer gesehen. Ich hatte auch reichlich Gelegenheit dazu, weil ich Durchfall hatte. Erinnerst du dich? Ich habe da zwei Tage lang nur geschissen. Ich konnte die Fliesen eingehend studieren. Am liebsten hätte ich sie abgenommen und mitgebracht. Hundert Kilo Übergewicht. Erinnerst du dich an die Fliesen vom Rebberg? Ja?

Lisa Darf ich dich etwas fragen?

Tom Wenn ich einen Kuss kriege.

(Er macht einen Versuch, sie zu umarmen.)

Lisa Lass das! Ich muss pinkeln! Fass mich nicht an...

Tom Was ist mit dir los?

Lisa Was ist mit dir los? Ich muss aufs Klo! Ist das so schwer zu begreifen?

Tom Was wolltest du mich fragen?

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Lisa Nichts. Darüber reden wir später!

Tom Nein. Ich will es jetzt wissen!

Lisa Hör auf zu schreien! Warum schreist du? Hör auf zu schreien! Lass mich los!

Tom Ich lass dich los. Aber ich will wissen, was du wissen willst!

Lisa Du hast rote Augen. Was hast du geschluckt?

Tom Nichts. Was sollte ich schlucken? Das kommt vom Wind. Es stürmt. Deshalb habe ich mich beeilt, ins Trockene zu kommen. Die Augen tun mir weh.

Lisa Du wirst nie lernen, so zu lügen, dass man dir glaubt! Selbst wenn du noch so übst.

Tom Ich lüge nicht. Es ist nur vom Sturm. Ich kriege immer rote Augen, wenn es windet. In der Schule haben sie mich dafür gehänselt, weil ich rote Augen hatte.

Lisa Langsam wird mir klar, warum ich mir nichts Schlimmeres vorstellen kann, als hier draußen auf dieser Insel zu sitzen, allein mit dir. Und einem Friedhof.

Tom Und die Kinder? Wir kaufen das hier für Lina! Damit sie Klippen und Tang und Nesselquallen und Teerklumpen und all die Dinge erleben darf, die zu einer Kindheit gehören.

Lisa Du musst mit ihr alleine hierher fahren.

Tom Wir haben das Haus noch gar nicht gesehen. Bloß dieses Zimmer. Es gibt einen Turm. Ist dir das nicht aufgefallen? Es gibt ein Turmzimmer!

(LISA geht. TOM wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er tastet nach seinem Puls. Er greift erneut nach der Pillendose. Zittert mit den Händen, so dass ein Teil des Inhaltes zu Boden fällt. Er flucht verzweifelt, kriecht auf den Knien und klaubt die Pillen zusammen. HANNA und ROLF kommen herein. Sie tragen beide gleich aussehende Regenkleidung. TOM bemerkt sie.)

Tom Mir ist da was runtergefallen. Hier ... (Er hebt die letzte Tablette auf und steht auf.)

Rolf Hallo.

Tom Tom Klarström.

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Rolf Rolf Bäckström. Das ist Hanna, meine Frau.

Hanna Hallo.

Rolf Sie waren auch auf dem Schiff, nicht wahr?

Tom Ja. Aber ich bin nicht der, der gekotzt hat.

Rolf Der interessiert sich wohl nicht für das Haus ... Es wirkt ziemlich verfallen.

Tom Ich habe mit der Verkäuferin geredet. Über die Insekten in den Wänden.

Rolf Im Inserat war die Rede von einem gepflegten Objekt mit Gutachten.

Tom Das sagte sie auch. Keine Insekten. Um sicher zu gehen, muss man die Wandtäfelung wegreißen und dahinter kontrollieren. Sonst kauft man die Katze im Sack.

Rolf

(Zu Hanna.) Was meinst du dazu? Du hast mich ja hier herausgezerrt.

Hanna Das habe ich nicht! Ich finde es schön hier.

Rolf Es riecht so.

Hanna Wirklich? Ja, es riecht nach Herbst.

Rolf Riechst du das nicht? Was ist das?

Hanna Vielleicht Salz?

Rolf Salz riecht nicht.

Hanna Das ist der Sturm.

Rolf Es riecht süßlich.

Tom Das rieche ich auch.

Rolf Es ist eine Leiche.

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Hanna Rolf.

Rolf Tote Ratten in den Zwischenböden.

Hanna Gibt es wirklich Ratten auf so einer kleinen Insel?

Rolf Das weiß man nie.

(LISA kommt zurück, ohne zu bemerken, dass TOM nicht mehr allein ist. Sie ist immer noch wütend.)

Lisa Ich finde, wir scheißen auf das hier und fahren weg. Ich will hier nicht bleiben. Wenn du mir nicht einmal erzählen kannst, was du da für Pillen nimmst.

Tom Ich nehme keine Pillen! Hör auf damit!

Lisa Dann zeig mir doch, was du schluckst!

(LISA stürzt sich auf TOM und wühlt in seinen Taschen. Es kommt zu einer unbeholfenen, groben Prügelei, ehe LISA ROLF und HANNA entdeckt.)

Tom Das ist meine Frau Lisa. Hanna und Rolf Backström.

Rolf Bäckström.

Lisa Sind wir Rivalen?

Rolf Ich weiß nicht, ob das ein interessantes Objekt ist. Es riecht hier nach Tod.

Tom Herr Backström glaubt, es gibt hier tote Mäuse in den Wänden. Das könnte stimmen.

Lisa Sind Sie hier aus der Gegend?

Rolf Nein. Aus Stockholm. Meine Frau ist hier aufgewachsen. Ich zieh die Städte vor. Oder die Riviera.

Lisa (Zu HANNA.) Sind sie von hier?

Hanna Nicht direkt. Ich bin weiter draußen aufgewachsen. In den Schären.

Lisa Kenne ich nicht. (Zu TOM.) Welche?

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Tom Frage nicht mich.

Rolf Es liegt draußen im Meer.

Tom Kennen Sie vielleicht die Verkäuferin? Tone Salén? Hier draußen auf den Inseln gibt es doch keine Salén. Ich dachte, das sei das Sommerhaus einer Reeder-Familie aus Stockholm oder Göteborg.

Tom Sie ist Börsenmaklerin. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist. Es werden sicher noch mehr Leute zu der Besichtigung kommen.

Rolf Unsere Tochter ist hier. Aber wo die steckt, weiß ich nicht. (Zu HANNA.) Hast du gesehen, wo die hin ist?

Hanna Sie wollte um die Insel spazieren.

Rolf Ich will hier nicht länger als nötig bleiben. Wie kommen wir an Land, wenn der Sturm zunimmt?

Hanna Der Mann von der Fähre sagte, es seien zur Zeit nicht mehr als zwölf Meter pro Sekunde.

Rolf Und wie kann er wissen, wie das Wetter sein wird?

Hanna Ich wiederhole nur, was er sagte.

(TONE betritt das Zimmer.)

Tone Da seid Ihr ja ... Ich habe mich schon gewundert, wohin alle verschwunden sind. Es kommt mindestens noch ein Interessent. Ist noch jemand im Haus?

Rolf Unsere Tochter Helen springt draußen irgendwo herum. Hier drin ist sonst niemand. Sind Sie die Gattin von Herrn Salèn?

Tone Ja. Salèn. Ich bin nicht verheiratet. Sie können mich Tone nennen.

Rolf Rolf Bäckström. Das ist meine Frau Hanna.

Hanna Guten Tag.

Rolf Ich dachte, die Saléns kommen aus Stockholm oder Göteborg?

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Tone Es gibt da einige. Aber ich bin nicht mit den Reedern verwandt. Mein Vater war hier draußen auf den Inseln Fischer. Zwei seiner Brüder ertranken.

Hanna Schrecklich ...

Rolf Sie sind Börsenmaklerin...

Tone Ja. Ich habe mich dafür entschieden.

Rolf Sie haben sich entschieden...?

Tone Nicht Fischerin zu werden oder etwas Anderes. Das hieß wählen zwischen Ärztin oder Ökonomin. Jetzt bin ich bei einer Fonds-Gesellschaft angestellt.

Hanna Warum wollen Sie das Haus ihrer Kindheit verkaufen. Das ist es doch?

Rolf Das geht uns kaum etwas an...

Tone Nein, durchaus nicht. Das ist kein Geheimnis. Wir sind vier Geschwister, die sich nicht einigen können.

Rolf So geht das. Ich nehme an, Ihre Geschwister handeln nicht alle mit Aktien.

Tone Die eine Schwester ist Hilfspflegerin in Bergen. Der eine Bruder ist Lastwagenfahrer. Der andere im vorzeitigen Ruhestand.

Lisa Ich darf mich vielleicht auch vorstellen. Lisa Klarström. Ich bin mit ihm verheiratet.

Tone Hallo. Ja. Dann willkommen. Willkommen für alle. (Zu LISA.) Sollten Sie nicht ein Kind mitbringen?

Lisa Lina hat eine Magenverstimmung.

Tone Es müsste noch jemand hier sein, außer ihrer Tochter. Ich würde gerne die Besichtigung mit allen gemeinsam machen. Danach können sie dann einzeln noch einmal das ganze in Augenschein nehmen. In Ordnung?

Rolf Ich habe eine Frage.

Tone Ja.

Rolf

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Eigentlich zwei!

Tone Ich beantworte auch gerne drei oder vier...

Rolf Zwei. Zwei Fragen. Das reicht. Wie wird das Wetter? Was geschieht, wenn der Sturm heftiger wird?

Tone Das wird es, glaube ich, nicht.

Rolf „Glauben“? Ist das so klug zu glauben, wenn man vom Wetter spricht?

Tone Ich vertraue da auf Sten, den Fährmann.

Rolf Dann vertraue ich ihm besser auch. Wenn Sie das so sehen.

Tom Sie hatten eine zweite Frage?

Rolf Es riecht. Wir fragen uns, wonach.

Tone Es gibt da sicher ein paar tote Mäuse. Weiter nichts. Ich gehe eben noch einmal hinaus, um zu sehen, ob die fehlende Person noch da draußen ist.

(TONE ab. Im Schweigen wird den Paaren klar, dass beide dieses Haus wollen. Musik. Die Atmosphäre hat etwas von einem Traum. Es lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wer spricht oder wer zuhört.)

Hanna Der Wind bläst aus West. Harter Westwind. Als Kinder spielten wir, eine Schatzkiste sei in der Abendsonne an den Strand geschwemmt worden. Wir rannten hinunter und suchten danach. Jedes Mal, wenn ich hier draußen eine Insel betrete, befällt mich die gleiche Lust: An den Strand zu rennen und zu suchen. Am deutlichsten erinnere ich, wie es war mit meinem Vater draußen Boot zu fahren. Er liebte es, zu rudern, wenn das Meer still war. Ich lag vorne über der Bugspitze und beobachtete die Sonnenstrahlen, die in der Tiefe im grünen Wasser spielten. Ein losgerissenes Netz trieb vorbei, in dem ein verendeter Seevogel sich verheddert hatte. So etwas bleibt einem. Als wäre ich Zeuge einer anderen Welt geworden. Als hätte das Meer in mir auch einen Platz. Ein Meer in meinem Hirn, in dem losgerissene Netze umhertreiben ... Ich habe das meinem Vater nie erzählt. Ich habe es noch nie jemandem erzählt ... Manchmal kommt es mir vor, als sei dies das wirkliche Leben. Dieser Drang, an den Strand zu rennen und nach einer Kiste zu suchen, die vom Licht der Abendsonne ausgespuckt wird ...

Tom Sollen wir hinaus gehen und eine rauchen?

Lisa Geh du. Ich habe keine Lust.

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Tom Nicht ohne dich.

Lisa Manchmal bist du richtig süß.

Tom Ich liebe dich.

Lisa Ich liebe dich. Verzeih mir meine Unbeherrschtheit.

Tom Schon vergessen. Weißt du, was passierte, als ich dieses Zimmer betreten habe, dieses Haus?

Lisa Ja.

Tom Das weißt du? Das kannst du nicht wissen!

Lisa Du wurdest geil. Du wolltest mich irgendwo die Wand hochficken. Spüren, dass ich nass bin und mich dann nehmen. Schnell und hart. Nicht wahr?

Tom Das will ich immer noch.

LISA Der Turm. Wenn wir es in einer Flugzeugtoilette zehntausend Meter über dem Boden hingekriegt haben, dann werden wir auch ein paar Treppen in einem Turm hinauf schaffen.

Tom Klar.

Lisa Warum machen wir es nicht?

Tom Wir gehen.

(TOM und LISA verlassen den Raum. Die Musik endet. ROLF und HANNA sind jetzt allein.)

Rolf Wo sind sie hin.

Hanna Nach oben.

Rolf Was sind das eigentlich für Leute? Hast du gesehen? Seine Augen sind ganz rot. Hat er getrunken?

Hanna

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Ich habe nichts gesehen.

Rolf Du musst lernen, solche Dinge genauer zu beobachten. Sonst kriegst du nie ein System in dein Leben. Was hat er in seinen Augenbrauen.

Hanna Ein Piercing.

Rolf Man hat doch keinen Ring im Auge. Den trägt man am Finger. Wo kommt denn der her? Aber sie spricht gut Schwedisch. Das ist wichtig. Das sagt immerhin etwas aus.

Hanna Ich fand sie süß.

Rolf Klar, ist sie süß! Warum sollte sie nicht süß sein? Was heißt das? Ich traue Leuten nicht, die Ringe in den Augenbrauen tragen, oder zwischen den Beinen.

Hanna Sei still. Du blamierst uns.

Tom Hier hört uns doch niemand. Oder meinst du, die haben hier Mikrofone in den Wänden. Ameisen mit Kopfhörern und Antennen ... Der Boden ist schön.

Hanna Wir hatten auch so einen bei mir zu Hause. Erinnerst du dich daran?

Rolf Der war sehr schön. Sehr gepflegt. Aber das Haus hat sich dein Bruder unter den Nagel gerissen. Die Frage ist einfach die: Ist das hier zwei Millionen wert? Und wie sieht das in zwei Jahren aus? Oder in zehn? Ich kann nicht zwei Millionen in ein Objekt investieren, das auf lange Sicht an Wert verliert. Das verstehst du doch?

Hanna Bei dem Wachstum werden sich immer mehr Menschen in Schweden ein Sommerhaus leisten können.

Rolf Aber vielleicht nicht hier an der Küste. Im Regen und im Wind. Es wird eine Zeit kommen, in der immer mehr Schweden sich eine Wohnung oder ein Haus in Mallorca leisten können, oder in Spanien oder in Frankreich. Man redet ja auch von, Thailand als kommendes, großes Reiseziel. Das mag glauben, wer will. Das ist zu weit weg und zu unsicher. Liegt zu nahe bei China. Aber hier zwei Millionen investieren, oder in der Nähe von Nizza - das ist nicht dasselbe. Obwohl ich bezweifle, dass dieser Tom mit seiner Schwarzen sich das leisten kann.

Hanna Warum?

Rolf Sie sahen nicht so aus! Ich meine die billige Qualität ihrer Regen-Kleider, und so weiter...

Hanna

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Das kannst du doch nicht daran messen...

Rolf Das kann ich wohl! Ich habe fünfundzwanzig Jahre lang Damen- und Herrenkonfektionen verkauft. Da weiß man gute von schlechter Qualität zu unterscheiden. Und wo zum Teufel ist jetzt Helen hin? (Sie treten zum Fenster.) Kannst du sie sehen?

Hanna Sie steht da unten bei der Landungsbrücke.

Rolf Da ist doch der Fährmann. Sten oder wie er hieß. Ich kann sie nicht sehen.

Hanna Sie wird doch nicht irgendwo ins Wasser gerutscht sein.

Rolf Mein Gott! Sie ist doch wasserscheu.

Hanna (Lauter.) Du weißt sehr wohl, was ich meine!

Rolf Schrei nicht ... Steht sie nicht da vorne, beim Leuchtturm?

Hanna Wo?

Rolf Dort! Schau über meinen Finger. Dort.

Hanna Jetzt sehe ich sie. Aber das ist sie nicht.

Rolf Bist du sicher? Ist das nicht eine orange Jacke.

Hanna Sie ist rot! (Helen betritt fast lautlos das Zimmer. Sie trägt eine Sonnenbrille und einen orangenen Regenmantel mit Kapuze. Sie bleibt stehen, und belauscht ihre Eltern.)

Rolf Mir ist schleierhaft, wie du rot und orange auf die Distanz unterscheiden willst. Bei all dem Salzwasser, das über die Fenster rinnt. Siehst du übrigens hier, wie die Fensterrahmen zerfressen sind? Zwei Millionen für ein zerfallenes Haus ...

Hanna Es steht in der Anzeige, dass ein gewisser Renovierungsbedarf besteht.

Rolf Was glaubst du, kann das kosten?

Hanna Das weiß ich nicht.

Rolf

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Klar weißt du das nicht. Aber ein schwedischer Handwerker im Jahre 1981 kostet, wenn man ihn nicht schwarz bezahlt, ein Vermögen. In Frankreich ist das anders. Da braucht man nicht diese unglaublichen Löhne zu bezahlen mit all den Abgaben, die man uns hier abknüpft. Dort ruft man einen Klempner an, der macht seinen Job, kriegt das Geld auf die Kralle: Et voilà! Merci! À bientôt! Wer repariert in unserem Land überhaupt noch Fensterrahmen?

Hanna Man muss es wohl wie in Deutschland machen?

Rolf Wie?

Hanna Wir lassen es von Einwanderern richten.

Rolf Wir? Gibt es nicht schon genug Araber, die hier mit fünf Pässen rumrennen und Drogen verkaufen? (Die Eltern entdecken ihre Tochter.)

Hanna Hallo ... Wir wollten eben nach dir suchen...

Rolf Wie lange stehst du da schon?

HELENE Ein Weilchen.

Hanna Wir haben uns Sorgen gemacht.

Rolf (Zu HANNA.) Du hast dir Sorgen gemacht. (Zu HELENE.) Wo bist du gewesen?

HELENE Warum bist du wütend? Wo soll ich schon gewesen sein? Auf der Insel. Ich habe einen Rundgang gemacht.

Rolf Wir hatten geplant, das Haus gemeinsam zu besichtigen.

HELENE Die Insel interessiert mich mehr. Es ist schön hier draußen. Mir ist, als würden die Klippen unter den Füßen vibrieren. Mit jeder Welle werden die Klippen durchgerüttelt. Auch die Böden hier. Spürt ihr das?

Hanna Ja, möglich ...

Rolf Das ist doch völlig absurd! Hier drin merkt man doch nicht, ob der Boden vibriert.

HELENE Das Licht ist besonders schön ... Das habe ich so nie gesehen ... Es flimmert wie in Leonardo Da Vincis „Abendmahl“, kaum erkennbar auf einer italienischen Kirchenmauer: Da gibt es ein Fenster hinter den Jüngern, da leuchtet das Licht

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genau wie hier ... Könnte man dieses Licht malen, würde man wohl verstehen, was - (Sie bricht ab, als wäre eine Sicherung durchgebrannt.)

Rolf Was?

(HELENE antwortet nicht. HANNA will etwa sagen, wird aber von Rolf daran gehindert.)

Rolf Was würde man verstehen?

HELENE Was?

Rolf Was “was”? Liebe Helene, du kannst doch nicht mitten im Satz abbrechen.

Hanna Geht es dir nicht gut?

HELENE Es geht mir gut. Warum sollte es mir nicht gut gehen? Geht es dir gut? Antworte! Auf der Stelle.

Rolf Hört auf zu streiten. Nimm deine Sonnenbrille ab.

HELENE Ich will wissen, warum du annimmst, es gehe mir nicht gut!

Rolf Ich kann nicht mit Menschen reden, ohne ihnen in die Augen zu schauen. Nimm die Brille ab.

HELENE Nein.

Rolf (Reißt ihr die Brille blitzschnell ab und gibt sie ihr.)

War das so schwer? Du hast doch schöne Augen! Lass uns nicht in einer unserer ständigen, bedeutungslosen Streitereien verheddern. Jetzt bist du da. Wir werden gemeinsam das Haus anschauen. Du wirst dir Gedanken machen, ob du dir vorstellen kannst, hier zu malen, dich auszuruhen, hier zu leben, dich nicht über alles aufzuregen ... Dann werden Mama und ich dieses Haus kaufen.

(HELENE ist nach ihrem plötzlichen Ausbruch wieder ruhig.)

HELENE Ich kann euch nie dankbar genug sein.

Hanna Du sollst nicht dankbar sein.

Rolf

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Wir tun das, weil wir dich lieben, Helene. Du musst nur sicher sein, dass es dir hier draußen im Meer nicht zu einsam wird.

HELENE Ich habe da draußen auf der Klippe etwas geschrieben. Wollt ihr es hören?

Hanna Aber Liebes, das versteht sich doch von selbst.

HELENE Willst du es hören, Papa?

Rolf Klar...

HELENE (Entnimmt ihrer Jacke ein paar feuchte, gefaltete Seiten.) Es ist zu nass. Ich kann es kaum lesen ... „Das Meer ist der Brustkorb, der sich im Atem hebt, ist ein Tier, das nie seine Haut verkauft. Aus seiner Tiefe dringt eine Stimme, sie klingt wie meine, ein Echo des Meeres, meine Meeresstimme ...“

Hanna Sehr schön.

Rolf Klar, ist das schön! Ich habe nie an deiner Begabung gezweifelt, Helene. Vielleicht solltest du dich mehr dem Schreiben von Lyrik widmen, anstatt Aquarelle zu malen. Ich meine, du kannst ja ebenso gut hier schreiben anstatt malen. „Echo des tiefen Meeres!“ - das ist verdammt noch mal schön! Richtige Poesie!

HELENE Wer sind die da oben?

Rolf Spekulanten.

HELENE Das ganze Haus ist in Bewegung.

Rolf Ach, was! Zieh die Jacke aus. Du erkältest dich noch. Und trockne die Haare. Sie sind nass. Du weißt, wie leicht du dich erkältest.

HELENE Hat dich das je gekümmert?

Rolf „Hat dich das je gekümmert?“ Was ist das für eine Antwort? Ich mag jetzt nicht streiten. Trockne dich ab, Kind. (Zu HANNA.) Hast du keine Papiertaschentücher?

(HANNA gibt ihm Taschentücher. Er reibt damit HELENE trocken. Sie lässt es erst geschehen, packt ihn dann unvermittelt an der Nase und dreht ihn weg.)

Rolf Aua ... Lass los! Was machst du. Blöde Kuh! Was soll das. Scheiße. Lass los! (HELENE lässt los.) Wieso machst du so was? Ich schlage zu. Ich schlage zu. Das tut weh. Kapiert? Weh!

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HELENE Verzeih.

Hanna Warum machst du so was? Papa wollte dich trockenreiben!

HELENE Ich sage doch: Verzeihung.

Rolf (Zu HANNA.) Misch dich nicht ein!

HELENE Ich sage: Verzeihung, Papa. Ich meine das ernst!

Rolf Was Ernst ist, und was nicht, weiß man bei dir nie! (Greift nach einer Packung Zigaretten.) Darf man hier rauchen? Ich gehe hinaus. Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich gehe ... (Er geht hinaus.)

Hanna Du solltest nett sein zu Papa. Du weißt, wie schnell er sich aufregt. Das ist nicht gut für seinen Blutdruck!

HELENE Wie viel hat er?

Hanna Was meinst du?

HELENE Blutdruck! Wie hoch? Wie tief? Wie viel zu hoch? Wie viel zu tief?

Hanna Wenn er mit den Medikamenten nicht sorgfältig umgeht, kann er bei hundertsiebzig zu hundert liegen. Das ist viel zu hoch. Besonders der systolische Druck. Er sollte im Normalfall nicht über neunzig steigen, sondern eher darunter liegen. Doktor Petersen wollte ihn zu einem Spezialisten überweisen, aber er weigerte sich natürlich. Wenn er sich aufregt, muss ich immer befürchten, es könnte ein Blutgefäß in seinem Kopf platzen. Ich zittere vor Angst. Das kannst du verstehen.

HELENE Ich glaube nicht, dass das stimmt...

Hanna Was?

HELENE Sein Blutdruck. Hast du ihn gemessen?

Hanna Das macht doch Doktor Petersen.

HELENE Hast du mit dem Arzt gesprochen? Ich glaube, er lügt, nicht der Arzt, Papa, um uns zu erpressen. Ich glaube nicht, dass sein Blutdruck zu hoch ist.

Hanna

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Uns erpressen? Wozu?

HELENE Wozu, ja, wozu? Erinnerst du dich noch an Weihnachten vor vier Jahren, nein, vor fünf Jahren, nein, vor sechs Jahren. Wir sollten uns in Menton amüsieren. Nur wir drei. Du, er und ich. Ohne Bruder und ohne Schwester. Nur wir. Wir wollten mit dem Wagen nach Nizza fahren, nach Juan les Pins und Vence, die schöne Stadt, wo Papa als Jugendlicher gewandert war, wie er erzählte, und mit jedem Mal, da er davon erzählte, machte er sich ärmer und ärmer, bis er zum Schluss wie ein Bettler aus Assisi barfuß durch die Stadt strich. Wir drei wollten im Hotel wohnen, plaudern und in kleinen Restaurants essen. Wir wollten ohne jeden Stress entspannte Spaziergänge in der Sonne machen und auf der Terrasse Hummer essen. Unterwegs laberte er uns mit diesem Hummer voll, noch ehe wir die Brücke nach Schweden überquert hatten. Hummer, Hummer. Ich zerfetzte ein Tampon mit den Fingern und stopfte mir die Ohren voll, um all das Gerede nicht mehr hören zu müssen über diesen Scheißhummer! Und wie war es, als wir endlich in Menton ankamen? Ich versuchte wirklich, mit ihm zu reden: Über die Sinnlosigkeit unseres Daseins. Über seine Art nicht zuzuhören, wenn man nicht seiner Meinung war. Seine einzige Antwort war: „Willst du, dass ich mich aufrege und hier auf der Straße mit einer Hirnblutung zusammenbreche?“ Was soll man dazu sagen? Man hält den Mund. Du erinnerst dich sicher daran.

Hanna Nein, das weiß ich nicht mehr.

HELENE Du sagst nicht die Wahrheit.

Hanna Ich lüge wirklich nicht.

HELENE Du sagst auf jeden Fall nicht die Wahrheit.

Hanna Du machst mich traurig. Warum bist du so böse?

HELENE Ich bin nicht böse, Mama. Ich sage nur, wie es ist.

Hanna Soll ich hier mitten unter den Leuten losheulen?

HELENE Wenn dir danach ist, solltest du das vielleicht tun. Außerdem ist hier kein Mensch.

Hanna Wir machen doch das hier alles für dich!

HELENE Du redest Scheiße, Mama! Ihr macht es für euch! Damit ihr mich irgendwo unterbringen könnt, und es keinen Streit mehr gibt.

Hanna Achte bitte auf deine Sprache. Ich machte mir Sorgen, weil du verschwunden warst! Du hättest ins Wasser gerutscht sein können.

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HELENE Bin ich nicht. Mir fällt noch etwas aus Menton ein. Das Hotel, das vornehme Hotel, das wir bewohnten, weißt du noch, wie es hieß?

Hanna „Grand Hotel“, glaube ich. Obwohl es nur zwölf Zimmer hatte. Sie hatten süße, rote Bademützen im Badezimmer. Daran erinnere ich mich. Und an die wunderbare Aussicht - einfach phantastisch.

HELENE Daran erinnere ich mich nicht, dafür an etwas anderes.

Hanna Ich weiß. Der Nachtportier. Monsieur Simon. Er bewahrte seine Zahnprothese in einem Glas unter dem Tresen auf, und schaffte es, wann immer man überraschend unten auftauchte, sie in brutal kurzer Zeit perfekt im Mund einzusetzen. Wie groß war er? Zwei Meter?

HELENE Er tat mir nur leid. Er schämte sich wegen seiner Zähne. Genau wie du.

Hanna Was meinst du damit?

HELENE Nichts ...

Hanna Sag schon. Ich will wissen, was du damit sagen willst.

HELENE Das weißt du schon. Du öffnest nie deinen Mund, wenn du lächelst. Weil du glaubst, deine Zähne sind hässlich. Wie die der Mona Lisa. Du bist wie Mona Lisa, Mama. Du presst die Lippen zusammen, weil du glaubst, deine Zähne stehen schief. Ich verstehe nicht, warum Papa dir nicht Geld gibt, um das richten zu lassen, wenn das wirklich so ein Problem ist. Du kannst dir ja Kronen einsetzen lassen.

Hanna Wie kannst du dich so über mich lustig machen?

HELENE Ich mache mich nicht lustig. Ich liebe dich. Ich sage nur, wie es ist.

Hanna Und was soll daran lustig sein?

HELENE Nichts, wenn man so lebt wie du.

Hanna Ich will nichts mehr hören. Ich will mir diesen Tag nicht verderben lassen.

HELENE Ich auch nicht, verstehst du das nicht? Nicht ich verderbe dir den Tag, du selbst.

Hanna

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Warum können wir es uns nicht ein wenig gemütlich machen?

HELENE Wie damals auf der Hummerreisen nach Menton?

Hanna Es ist nicht meine Schuld, dass es dir schlecht geht. Ich habe getan, was ich konnte für dich.

HELENE Ich weiß. Deshalb liebe ich dich. Du hast viel getan, nur meist das Falsche.

Hanna Oh, Gott! Nimmt das nie ein Ende ....? Es ist nicht einfach. Mit einem Mal ist man sechzig, und weiß nicht, wohin all die Jahre verschwunden sind. Wie kann das sein, denkt man manchmal? War das schon alles? Es ist schrecklich. Ich habe drei wunderbare Kinder, eine tolle Arbeit, bin gesund und lebe in Wohlstand. War das schon alles?

HELENE Glaubst du, Papa denkt darüber nach?

Hanna Ich weiß nicht, worüber er so nachdenkt.

HELENE Es muss doch etwas gegeben haben, womit er dich überrascht hat.

Hanna Er besteht auf seiner Unantastbarkeit. Er lässt niemanden an sich ran. Er sendet Signale, die andere Menschen vertreiben. Mich auch.

HELENE Ich finde, er ist rührend. Er ist so einsam.

Hanna Ja, ich bin ja bei ihm.

HELENE Ich meine nicht diese Einsamkeit. Ich meine eine andere...

Hanna Das ist mir zu hoch.

HELENE Mein Gott, Mama. Niemand ist so einsam wie du. Du bist eine wahre Expertin der Einsamkeit, du kennst jede Form. Du lebst mit drei Psychos in der Familie zusammen.

Hanna Wer sollte das sein?

HELENE Ich, Papa und du.

Hanna

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Jetzt rege ich mich wirklich auf. Papa und ich haben wirklich keine psychischen Störungen! Und es bleibt die Frage, ob du welche hast! Einzig, weil du dich von den Menschen zurückziehst.

HELENE (Wird wieder wütend.) Ich will nicht darüber reden!

Hanna Ich will dir ja nur helfen.

HELENE Du hilfst am besten, indem du schweigst.

Hanna Ich sage nichts mehr. Ich werde dich nie mehr mit meiner Stimme belästigen.

HELENE Aber Mama, du brauchst mich jetzt nicht zu erpressen. Nicht du auch noch. Es reicht, wenn Papa es tut.

Hanna Was wolltest du von Menton erzählen?

HELENE Ich weiß es nicht mehr.

Hanna Lüg mich nicht an. Du weißt sehr wohl, was du sagen wolltest.

HELENE Bist du sicher, dass du das hören willst?

Hanna Wenn du nicht vorhast, böse zu sein.

HELENE Dann sage ich besser nichts.

Hanna Ich habe deine ewigen Bosheiten so satt!

HELENE Ich habe die Absicht genau das zu sagen, was damals war. Aber du wirst einwenden, es seien bloß Bosheiten meinerseits.

Hanna Kannst du mir nicht sagen, was war, bevor Papa wieder hereinkommt.

HELENE Das Hotel hatte sehr dünne Wände, Mama. Und mein Zimmer lag genau neben euerm. Ich konnte jedes Wort verstehen, wenn ihr lauter wurdet. Im Kleiderschrank des Zimmers war die Wand noch dünner. Dort hörte ich jedes Wort, selbst das Geflüsterte.

Hanna Und?

HELENE Fällt dir nichts ein?

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Hanna Nein!

HELENE Ich konnte auch hören, was im Bett los war. Im Bett. Ich konnte hören, dass du nicht wolltest. Dass er nicht abließ, obwohl du ihn anflehtest. Das hörte ich.

(ROLF betritt das Zimmer. Es ist unklar, ob er gelauscht hat oder nicht.)

Rolf Was wird hier geflüstert? Kann man nicht einmal eine Zigarette rauchen, ohne dass ihr miteinander tuschelt.

HELENE Wir warten hier nur. Du hast nasse Haare? Willst du ein Taschentuch?

Hanna Windet es stärker? Ich finde, es klingt so.

Rolf Wäre es nicht an der Zeit, das Haus zu besichtigen?

(Man hört Laute, aus dem Obergeschoss. Lisa hat einen Orgasmus.)

Rolf Was war denn das?

Hanna Ich habe nichts gehört.

Rolf (Zu HELENE.) Hast du das nicht gehört?

HELENE Klar, habe ich das gehört.

Rolf Was war das? Warum lachst du?

HELENE Ich finde es lustig.

Rolf Dann kannst du mir vielleicht verraten, warum?

HELENE Ich kann es nicht beschwören. Aber falls ich mich nicht täusche, war das der Orgasmus einer Frau.

Hanna Helene ...

Rolf Was meinst du damit?

HELENE Ja, was meine ich damit? Was glaubst du wohl? Orgasmus? (Sie imitiert Orgasmus-Geräusche.) Einen solchen. Es klang, als käme es aus dem Turmzimmer.

Rolf

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Kannst du nicht die Klappe halten? Ein einziges Mal? Wir sind hier hinausgefahren, um ein Haus anzuschauen, aus Spaß -

HELENE Wie in Menton?

Rolf Unterbrich mich nicht! Wir sind hierher gefahren. Und du treibst mich in den Wahnsinn. Willst du das?

HELENE Nein. Verzeihung. Ich habe falsch gehört.

Rolf (Zu HANNA.) Weißt du, was mit ihr los ist? Worüber habt ihr geredet?

Hanna Nichts.

Rolf Man steckt aber nicht so die Köpfe zusammen und redet über nichts. Sie hat sich nicht so seltsam benommen, ehe ich hinaus ging, um eine zu rauchen.

(TONE tritt eilig ein. Sie ist nass.)

Tone Gott, wie das regnet. Vom offenen Meer kommt ein richtiger Sturm. (Sie sieht HELENE.) Da sind Sie ja. Ich habe draußen nach Ihnen gesucht. Lena Jarlgren?

HELENE Ich heiße Helene.

Rolf Das ist meine Tochter. Unsere Tochter.

Tone Ach, ja, du solltest ja auch dabei sein. Das hatte ich vergessen.

HELENE Das ist nichts Ungewöhnliches.

Tone Was?

HELENE Das man mich vergisst.

Rolf Vielleicht können wir jetzt endlich das Haus besichtigen?

Tone Es fehlt noch eine Lena Jarlgren. (Geht zum Fenster.) Da draußen auf der Landspitze vor dem Leuchtturm geht noch jemand. Das könnte sie sein. Sie wird wohl später kommen. Na ja, ich finde, es ist an der Zeit zu beginnen. War da nicht noch ein Paar?

Hanna Ich glaube, sie sind im Obergeschoss.

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(HELENE lacht, beruhigt sich aber schnell wieder.)

Tone Ich werde sie holen. Das sind Tom und Lisa Klarström. Haben Sie sie schon kennen gelernt?

Tom Ja. Danke ...

Hanna Rolf.

Rolf Und wie wird das Wetter?

Tone Kein Problem. Sten hätte es erwähnt, wenn Eile geboten wäre.

(TOM taucht in der Türe zum Obergeschoss auf.)

Tom Was für ein schönes Haus ... Wir haben uns oben ein wenig umgeschaut. Was für eine unglaubliche Aussicht. Man sieht bis hinüber zum Festland.

(LISA kommt herein. HELENE bricht in ein kurzes hysterisches Lachen aus.)

Lisa Was gibt es hier zu lachen?

Rolf Nichts. Wir sollten uns jetzt das Haus zeigen lassen, damit wir einschätzen können, worum es sich handelt.

Tone Ja, eigentlich fehlt noch eine Person, die da draußen irgendwo ist. Aber ich finde wir sollten jetzt anfangen. Also, willkommen. (TONE verteilt Unterlagen.) Hier sind allerlei Angaben wie Bauweise, Grundfläche, Grundstück, Kataster, welcher Bootssteg zum Eigentum gehört und so weiter. Sie können daraus auch ersehen, dass das Haus unbelastet ist.

Rolf Gibt es schon ein Angebot?

Hanna Wollten wir nicht erst das Haus besichtigen, ehe wir über Geld reden.

Rolf Ich will nur wissen, wovon wir ausgehen sollen.

Lisa Warum wird die Stimmung immer gleich schlecht, wenn die Rede auf Geld kommt?

Rolf Einverstanden. Die Stimmung wird schlecht, wenn die Lage unklar ist, wenn keiner weiß, was gilt.

Tone Wir fangen vielleicht oben an?

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Hanna Gerne.

(Alle gehen zur Türe zum Treppenaufgang. Die Bühne bleibt einen kurzen Augenblick leer. Danach kommt HELENE von oben zurück. Ihr folgt TONE.)

Tone Willst du nicht mitgehen?

HELENE Ich warte lieber, bis das Gedränge da oben im Zimmer ein Ende hat. Die wollen ja kaufen, nicht ich. Ich meine meine Eltern.

Tone Ist Ihnen etwa schlecht?

HELENE (Plötzlich aggressiv.) Warum sollte es mir schlecht gehen?

Tone Nein. Verzeihen Sie. Ich frage bloß. Sie waren ja ziemlich seekrank auf der Reise. Ich dachte, Ihnen graut vielleicht vor der Rückfahrt.

HELENE Mit mir ist alles in Ordnung.

Tone Ja, dann. Ich gehe wieder hinauf.

HELENE Waren Sie hier einmal allein? Im Herbst?

Tone Nein ... Doch. Einmal. Vor ein paar Jahren. Warum fragen Sie?

HELENE Es ist ein Haus, in dem man sehr einsam sein kann ... (Sie deutet auf eine Fotografie an der Wand.) Wer sind die?

Tone Meine Großmutter und mein Großvater. Er ertrank, lange bevor ich geboren wurde, und sie lebte bis vor ein paar Jahren. Jahrgang 1875. Sie wurde einhundertunddrei Jahre alt. Sie erzählte mir vor ihrem Tod von Erinnerungen an ihre eigene Großmutter, die im selben Jahr wie August Strindbergs Vater geboren wurde. So um 1820. Mit zwei Gedankensprüngen war man mitten in Napoleons Zeit.

HELENE Aber Sie sind hier aufgewachsen?

Tone Ja.

HELENE Waren Sie oft einsam?

Tone Immer stellen die Leute diese Frage. Warum sollte es hier so besonders einsam sein?

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HELENE Ich weiß nicht. Sie wirken recht einsam.

Tone Warum sagen Sie so etwas? Das stimmt nicht. Einsam? Nein. Ich nicht. Sehe ich so aus?

HELENE Menschen, die sich mit Geld beschäftigen, wirken immer einsam. Auch Menschen mit viel Geld.

Tone Das verstehe ich nicht! Außerdem bin ich nicht reich!

HELENE Aber sie wollen es sein?

Tone Das wollen wohl alle!

HELENE Ja!! Ich auch. Sie waren also glücklich damals, in diesem Haus?

Tone Ja. (Sie fasst sich an den Bauch, als hätte sie Schmerzen.)

HELENE Was ist los?

Tone Nichts. Bloß ein kleiner Stich. Ist schon vorbei.

HELENE Wie schön. Ich hasse Schmerzen.

Tone Wer nicht?

HELENE Wer anderen Schmerzen zufügt. Die lieben den Schmerz. Die züchten ihre Schmerzpflänzchen in Gewächshäusern, lassen wachsen, bis sie groß und kräftig sind, und vor allem giftig. Und dann schlagen sie zu.

Tone Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Am besten gehe ich jetzt wieder hinauf zu den anderen.

HELENE Gibt es hier Telefon?

Tone Es steht in der Küche. Müssen Sie jemanden anrufen?

HELENE Ich frage bloß.

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Tone Es gibt hier seit den Fünfzigerjahren Telefon. Aber bald wird man hier drahtlos telefonieren können, sagt man. Aber das muss sich erst noch herausstellen, ob da was dran ist.

(TONE geht Richtung Tür, bleibt aber stehen, wenn Helen spricht.)

HELENE Sie haben gefickt.

Tone Was sagen Sie.

HELENE Oben. Gefickt. Die Schwarze und ihr Typ. Tom. Lisa. Die schwarze Lisa. Sie haben gefickt. Sie hat einen Orgasmus gekriegt. Man hat es bis hier unten gehört.

Tone Aha.

HELENE Ich wünsche, ich wäre es gewesen...

Tone Aha …

HELENE Bist du irgendwann mal in diesem Haus richtig geil gewesen?

Tone Ich weiß leider nicht, worüber wir uns genau unterhalten. Es ist wohl besser, wenn wir hier abbrechen.

(Sie geht ab.)

HELENE Entschuldigen Sie. Ich rede zu viel.

(Sie tritt zum Fenster öffnet es. Es windet stark. Die Gischt des Meeres spritzt ihr ins Gesicht. Die Übrigen kommen aus dem Obergeschoss nach unten.)

Hanna Mach das Fenster zu!

HELENE Ich mach ja schon. Ich mach ja schon. Entschuldige!

Hanna Und entschuldige dich nicht andauernd.

Tone (Zu HELENE.) Sie wollen sich vielleicht oben noch umschauen?

HELENE Ich gehe später.

Rolf Sie muss nicht, wenn sie nicht will. Aber ich sage dir, es ist schön. Helene. Sehr schön.

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Tone Wir sollten vielleicht erst Küche und Badezimmer besichtigen, danach den kleinen Keller. Da könnte man eine Sauna einrichten, wenn man will.

(Alle außer LISA verlassen den Raum. Sobald sie allein ist, geht sie zu TOMS Jacke, durchsucht eilig die Taschen, findet das Pillendöschen, tritt zum Fenster, um zu lesen, nimmt eine Pille und schmeckt daran. Schüttelt den Kopf und schreit laut auf.)

Lisa Scheiße!

Tom (Taucht bei der Tür auf.) Hast du etwas gesagt?

Lisa Nein.

Tom Willst du die Küche nicht sehen?

Lisa Ich habe sie mir auf dem Weg zur Toilette angeschaut.

Tom (Tritt zu ihr nach vorn und umfasst sie.) So gut war es schon lange nicht mehr.

Lisa Nein.

Tom Ich bin immer noch geil. Du auch.

Lisa Ja.

Tom Das klingt nicht glaubwürdig.

Lisa Ich sage immer, was ich denke.

Tom Ehrlich?

Lisa Verpiss dich.

Tom Draußen stürmt es und wir könnten hier am Fenster Liebe machen.

Lisa Ja.

Tom Hast du Lust.

Lisa Ja ...

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(Die anderen kommen zurück. TOM lässt Lisa los, ehe die anderen unter der Türöffnung aufstehen. LISA bleibt beim Fenster stehen.)

Tone Gut. Dann können wir uns vielleicht hier setzen und darüber reden. Sie haben ja sicher noch Fragen.

Lisa Jemand ist da draußen.

Tone (Tritt zum Fenster.) Das ist Sten. Ich will mich rasch erkundigen, was er will. (TONE geht hinaus.)

Rolf (Zu TOM.) Na, was halten Sie von dem Haus?

Tom Was finden Sie? Es ist sehr individuell, das muss man zugeben. Allerdings muss einiges renoviert werden. Das Meer nagt an einem Haus.

HELENE Und an den Menschen! Und dennoch würde ich gerne so wohnen ... Das Haus hier steht, als wäre es ... an Land gespült worden ... gekentert und gestrandet ... weil es sonst versunken wäre...

(HELENES Kommentar macht alle sprachlos. TONE kommt zurück.)

Tone Es sieht aus, als hätten wir ein Problem. Wie Sten, der Fährmann, mir eben mitteilte, hat der Wind gedreht, so dass es unmöglich sein wird, heute noch zurückzufahren. Wir müssen bis morgen hier warten. Es gibt hier genügend Essen im Kühlschrank, es gibt Betten, Bettwäsche. Sie haben gesehen, wie viele Zimmer da sind. Das sollte also kein Problem sein. Ich kann nur bedauern, dass es so gekommen ist. Aber es gibt hier auch ein Telefon, wenn sie anrufen wollen, um jemanden zu informieren. Sollte das Wetter umschlagen, ist Sten jederzeit bereit, uns überzusetzen. Ich glaube allerdings, wir sollten davon ausgehen, dass wir bleiben. Ich schlage vor, Sie wählen alle Ihre Zimmer und ich werde dafür sorgen, dass Sie sofort ihre Bettwäsche kriegen. Ich werde dann in der Küche etwas für uns alle kochen. Es gibt wohl auch noch einen Wein vom letzten Sommer. (TONE geht voran und die anderen folgen ihr. Die Bühne bleibt eine Weile leer. LENA tritt von außen kommend ein. Sie ist nass und presst ein blutiges Taschentuch gegen ihr Gesicht. Sie bleibt reglos unter Tür stehen, wirkt ermattet, vielleicht nahe der Ohnmacht. Sie sinkt zu Boden. Dann wird es dunkel.)

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Akt 2

(Das Licht geht an. Es ist Abend. Draußen ist es dunkel geworden. LISA steht vor einem Fenster und schaut hinaus. Das Licht eines Leuchtturmes streift in regelmäßigen Abständen ihr Gesicht. TOM betritt den Raum. Er bewegt sich lautlos. Er trägt ein Weinglas in der Hand, trinkt es leer, stellt es auf einen Tisch und nähert sich Lisa von hinten. Er packt sie, hält sie fest um die Brust, presst sich an sie. )

Lisa Lass es!

Tom Nein.

Lisa Lass es, sage ich!

Tom Nein.

Lisa Was nimmst du?

Tom Ich nehme dich.

Lisa Welche Tabletten? Die aus deiner Tasche? Was nimmst du?

Tom D - Vitamine. Die sind gut für die Augen.

Lisa Du lügst.

Tom Ja, ich lüge. Es ist Viagra. Merkst du das nicht? Ich könnte ficken, bis dieses Haus hier umfällt...

Lisa Lass mich los. Ich finde das nicht lustig.

Tom Ich verstehe nicht, wie einen ein Haus draußen auf einer Insel so geil machen kann...

Lisa Hör auf. Ich will nicht. Ich habe keine Lust...

(HANNA betritt den Raum, bleibt stehen, ohne dass die beiden sie bemerken.)

Tom Hör auf zu streiten!

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Lisa Scheiße, hör auf. Hör auf! Ich will nicht, sage ich.

Tom Es ist mir ehrlich gesagt völlig egal, was du willst und was nicht.

Lisa Ich schreie!

Tom Du schreist nicht! Wir sind verheiratet! Bis der Tod uns scheidet.

(Er zerrt an ihren Kleidern. Es gelingt ihr, sich loszureißen. Sie entdeckt HANNA. )

Hanna Ich will nicht stören. Ich wollte nur sehen, ob Helene hier ist…

Lisa Sie ist nicht hier. Zum Glück tauchen Sie hier auf. Ich habe hier einen Mann, der versucht, mich zu vergewaltigen.

Tom Hör auf!

Hanna Sie ist vielleicht nach draußen gegangen...

Lisa Bei dem Wetter? Ich finde es windet stärker als eben.

Tom Will noch jemand Wein. Da draußen stehen noch ein paar Flaschen. Chianti Classico. Jahrgang 79. Immerhin hat man hier draußen auf den Inseln Geschmack.

Hanna Nein, danke. Ich nicht.

Tom Lisa?

Lisa Nein.

Tom ”Nein, danke“, heißt das!

(TOM greift nach dem leeren Glas und geht. LISA richtet ihre Kleider. HANNA schaut ihr zu.)

LisA Ist was?

Hanna Nein. Nichts ...

Lisa Was schauen Sie?

Hanna Ich denke bloß nach.

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Lisa Was halten Sie von dem Haus?

Hanna Ich weiß nicht.

Lisa Sie sind immerhin die Einzige, der das Wohnen auf einer Insel vertraut ist, bis auf die Verkäuferin ... Tone...

Hanna Es ist ungewöhnlich, das Meer zu hören. Wohin man sich wendet. Ich habe vergessen, wie das ist. Von allen Seiten vom Meer umgeben zu sein.

Lisa Was meinen die anderen?

Hanna Rolf, mein Mann ...

Lisa (Unterbricht.) Ich weiß, dass er Ihr Mann ist. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen...

Hanna Er findet, wir sollten lieber ein Haus an der Riviera kaufen. In der Umgebung von Nizza. Er macht sich Sorgen wegen seiner Gelenke. Sein Vater hatte die Gicht. Da hat er jetzt Angst, dass...

Lisa (Unterbricht.) Und ihre Tochter?

Hanna Schwer zu sagen. Sie sagt nie viel.

Lisa Aber sie lacht viel! Und oft. Ich hoffe, unsere Tochter wird ein lachender Mensch. Ich hasse es, dauernd von Menschen mit düsteren Mienen umgeben zu sein. Ihr werdet ja natürlich dieses Haus kaufen?

Hanna Das ist nicht sicher!

Lisa Man braucht nicht lange zu rätseln, wer von den Anwesenden Geld hat. Was sagte Ihr Mann während des Essens? Ihr besitzt fünf Kleidergeschäfte im Norden und er hat vor zu expandieren. Da kann man es sich leisten, für so ein Haus zwei Millionen zu bezahlen.

Hanna Ich weiß nicht viel über seine Geschäfte.

Lisa „Seine?“ Es ist doch gewiss Euer gemeinsames Eigentum.

Hanna Ja. Trotzdem weiß ich nicht, was er für Geschäfte macht. Das mit dem Haus hängt von Helenes Meinung ab. Wir kaufen es vielleicht für sie.

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Lisa Soll sie hier wohnen?

Hanna So ist es geplant. Wenn sie es will. Sie lebt nicht gerne in der Stadt. Sie will aufs Land ziehen. Sie bildet es sich zumindest ein...

Lisa Aber sie kann doch hier nicht alleine wohnen? Lebt sie allein?

Hanna Sie bleibt meist für sich allein. Wenn sie will, ist sie nicht einsam. Aber sie will. Obwohl ich nicht wirklich weiß, was sie eigentlich will. Sie auch nicht.

Lisa Was macht sie?

Hanna Sie versucht, Künstlerin zu werden. Sie malt Aquarelle. Manchmal schreibt sie auch. Gedichte. Schöne Gedichte. Rolf mag sie.

Lisa Und Sie?

Hanna Ich bin mir nicht sicher, ob ich immer verstehe, was sie sagen will.

Lisa Aber er versteht es? Ihr Mann?

Hanna Sicher.

Lisa Es geht mich ja nichts an. Ich will mich da nicht einmischen. Ist sie krank?

Hanna Helene?

Lisa Reden wir nicht über sie?

Hanna Sie ist nicht krank. Warum auch? Sie lacht! Das haben sie selbst gesagt!

Lisa Ich kenne viele Menschen, die lachen, denen es nicht besonders gut geht. Ich hatte einen Freund, der immer fröhlich war, oft lachte, von einer Zukunft träumte, geradezu phantasievoll war, bis er eines morgens aus dem Bett stieg, einen Kaffee trank, die Tasse abwusch, auf den Dachboden stieg und sich dort erschoss.

Hanna Rolf mag es nicht, wenn ich mit Fremden über Helene rede. Sie ist unruhig, so viel kann man sagen. Sie hat ihre Schwierigkeiten mit dem Leben. Aber es ist besser geworden, viel, viel besser...

Lisa Darf ich etwas fragen?

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Hanna (Plötzlich aggressiv.) Nein. Das dürfen Sie nicht! Ich möchte, dass Sie Helene in Ruhe lassen.

Lisa Ich habe mit ihr kaum ein Wort gewechselt.

Hanna Trotzdem will ich, dass Sie sie in Ruhe lassen! Haben Sie verstanden, was ich Ihnen sage?

Lisa Sie brauchen mich nicht anzuschreien! Blöde Ziege.

Hanna Sie nennen mich nicht noch einmal Ziege! Von Einer wie Ihnen muss ich mich nicht beleidigen lassen!

Lisa „Eine wie ich?“ Was wollen Sie damit sagen?

Hanna Ich rede nicht mehr mit Ihnen.

Lisa „Eine wie ich“? Was zum Teufel soll das heißen?

Hanna Eine, die sich einbildet, etwas Besseres zu sein. Sie wissen von meiner Tochter gar nichts.

Lisa Sie wollten gewiss etwas anderes sagen, oder nicht? Ein schwarzer Arsch, der in das weiße Land hier eingedrungen ist. Wollten Sie das sagen? Oder täusche ich mich?

Hanna Beschuldigen Sie mich, ich sei Rassistin?

Lisa Ja, ja, Genau das tue ich.

Hanna Ein Glück, hört Helene nicht, was sie da von sich geben.

Lisa Was wäre, wenn?

Hanna Sie würde Ihnen schon beibringen, wer ich bin.

Lisa Wer sind Sie denn, Schätzchen? Wer?

(Pause.)

Lisa Verzeih mir. Ich bin wütend geworden...

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Hanna Macht nichts. Ich auch. Das ist dumm.

Lisa Ich glaube, alle sind hier genervt. Alle sind unerwartet auf dieser Insel. Niemand will die Nacht hier verbringen.

Hanna Was ist mit der Frau, die später kam? Die mit dem blutigen Gesicht?

Lisa Das Fotomodell?

Hanna Sie ist Fotomodell?

Lisa Das sagte dein Mann beim Essen. Hast du das nicht gehört? Sie war Mannequin. Er erkannte sie wieder. Er kannte sie aus irgendwelchen Modezeitschriften. Sie sagte zu der Salén, sie sei auf den Klippen ausgerutscht und habe sich das Gesicht zerkratzt.

Hanna Sie sah schrecklich aus.

Lisa Ich glaube, sie schläft. Sie hat kaum gegessen.

(TONE kommt herein. Sie trägt eine Schürze. Sie bringt eine Flasche Wein mit.)

Tone Will noch jemand Wein?

Lisa Ja, gerne.

Hanna Nein, danke.

Tom Ich habe noch Tee und Kaffee aufgesetzt. Der Wein ist bald alle. Dann gibt es nur noch Kognak.

Lisa Wie geht es dem Model?

Tom Sie ruht sich aus. Es sah schlimmer aus, als es war. Es waren nur Schürfungen im Gesicht. Das hat sie sehr erschreckt.

Hanna Sie sollte etwas essen.

Tone Sie sagte, sie sei nicht hungrig.

Hanna Vielleicht sollte man ihr einen Teller bringen? Du hast sehr gut gekocht.

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Tone Tiefgefrorener Fisch, tellerfertiges Gemüse und Kartoffelflocken. War das etwas Besonderes?

Lisa Und der Mann, der uns übersetzte? Kriegt der nichts zu essen?

Tone Er bleibt unten im Boot. Er hat immer sein Essen dabei, für den Fall eines Wetterumschlages.

Lisa Was hat die, die auf die Schnauze fiel, sich dabei wohl gedacht? Sie sei auf Besuch in einem Nachtklub? Wie kann man in hochhackigen Schuhen auf den Klippen spazieren gehen?

Tone Sie sagte, sie habe sie ausgezogen und getragen...

Lisa Sie ist da draußen in Strümpfen gegangen? Bei der Kälte! Bei der Nässe?

Tone Die Leute sind nicht alle gleich.

Lisa Das kann man wohl sagen.

Hanna Ich mache ihr rasch einen Teller bereit.

Tone Es gibt noch Reste im Kühlschrank. Klopfe an, bevor du hinein gehst. Sie schämt sich. Sie will nicht, dass jemand ihr Gesicht sieht.

Hanna Ich klopfe immer an Türen von anderen.

(HANNA geht.)

Lisa „Ich klopfe immer an Türen von anderen“. Die hat zu gar nichts eine eigene Meinung...

Tone Ihr Mann ist äußerst dominierend.

Lisa Und die Tochter ist bescheuert.

Tone Warum sagst du das?

Lisa Das sagtest du doch selbst?

Tone Solche Eltern sind sicherlich nicht einfach auszuhalten.

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Lisa Ja. Genau. Weißt du, was die Mutter sagte? Sie wollen ihrer Tochter dieses Haus kaufen. Sie soll hier alleine wohnen? Wollen die sie umbringen?

Tone Das wäre vielleicht nicht das Schlechteste für sie?

LISA Aber sicher. Da braucht es keine Psychologen, um das zu erkennen. Die wollen sie loswerden. Wenn die hier draußen alleine lebt, nimmt sie sich spätestens im Herbst das Leben.

Tone Sie haben das Haus noch nicht gekauft. Das Mannequin hat sicher Geld.

Lisa Vielleicht. Jede Menge Geld. Und Probleme.

TONE Welche?

Lisa Ist dir doch sicher aufgefallen.

Tone Nein. Ich habe nichts bemerkt.

Lisa Mein Gott. Sie war besoffen.

Tone Als ich sie fragte, ob sie ein Glas Wein wolle, sagte sie, nein, danke, sie würde nie trinken.

Lisa Ich war die erste bei ihr. Wie ich mich hier am Boden über sie beugte, konnte ich es riechen. Dann habe ich euch gerufen.

Tone Was? Mir ist nichts aufgefallen.

Lisa Wodka.

Tone Wodka? Das riecht man doch nicht?

Lisa Aber sicher riecht man das. Nicht wie Whisky oder Bier. Aber man riecht es.

Tone Das glaube ich nicht.

Lisa Glaub, was du willst. Sie war besoffen. Sie hatte Wodka getrunken.

Tone Es hat sonst niemand etwas gesagt.

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Lisa Gesagt? In diesem Land sagt man nichts. Was nicht bedeutet, dass einem bei einer, die draußen in den Klippen hinfällt und mit blutigem Gesicht hier auftaucht, nicht auffallen würde, dass sie besoffen ist. Hast du in ihrer Tasche nachgeschaut.

Tone Nein. Du?

LISA Ich schnüffle nicht. Aber ich würde wetten, dass da drin Schnapsflaschen sind, in Kleidungsstücke eingewickelt.

Tone Es ist wirklich ihre Sache, ob sie trinkt oder nicht.

Lisa Habe ich etwas anderes behauptet?

Tone Du klingst so verächtlich.

Lisa Ich habe vielleicht Menschen satt, die verbergen wollen, was sie vorhaben. Schenkst du mir noch ein wenig Wein ein. Ich trinke immerhin nicht im Verborgenen. Aber ich renne nicht in den Klippen herum, wenn ich besoffen bin. Außerdem habe ich eine Tochter. Ich muss noch leben, bis sie zwanzig ist.

Tone (Schenkt LISA Wein ein.) Das Fotomodell hat auch Kinder. Zwei, glaube ich, wenn nicht drei. Sie war mit einem Prominenten-Friseur verheiratet, der wegen Kokain eingebuchtet wurde, ehe es zur Scheidung kam.

Lisa (Ironisch.) Was du alles weißt...

Tone Das weiß doch jeder! Man kann doch diesem Prominenten-Klatsch kaum mehr entkommen. Da müsste man schon mit geschlossenen Augen durch die Welt rennen.

Lisa Ich habe von den beiden nie etwas gehört. Sagtest du nicht, du wüsstest gar nichts über sie.

Tone Weiß ich auch nicht. Es muss ja nicht so sein, wie es in diesen Klatschblättern steht.

Lisa Es verhält sich eher umgekehrt. Was die Klatschjournaille und diese TV-Soapdokus berichten, ist längst wirklicher als das Leben, in dem wir uns bewegen. Vielleicht stecken dort die Wahrheiten, die uns wirklich berühren. Jugendliche haben heute nur noch ein Ziel. Weißt du welches

Tone Schön und reich zu werden. Und die Mädchen wollen noch einen großen Busen.

Lisa Aber bitte nicht zu groß.

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Tone Ich habe für den Börsengang eines Implantate-Herstellers Präsentation und Prospekt betreut. Die Aktie war nach einem Tag überzeichnet, weil die eine neue silikonfreie Implanatat-Methode anbieten. Das sagt etwas über unsere Zeit. Über die Vergeblichkeit ...

Lisa Stimmt das, dass bei einer Kremation das Implantat übrig bleibt? Die Frau wird zu Asche. Aber wenn man die Überreste in eine Urne füllen will, liegen ihre Plastikbrüste noch im Ofen.

Tone Weiß ich nicht.

Lisa Du hast sicher darüber nach gedacht.

Tone Worüber?

Lisa Über deiner Brüste.

Tone Was meinst du?

Lisa Mein Gott. Das liegt doch auf der Hand! Du bist flachbusig, wenn ich das so sagen darf. Man muss die Dinge beim Namen nennen. Bei mir ist es umgekehrt. Ich habe überlegt, ob ich meine verkleinern lasse, ein wenig Fett absaugen, unter Narkose, eine Körbchengröße weniger. Früher waren die Männer brustfixiert. Heute sind wir es auch.

Tone Ich würde meine Brüste nie korrigieren lassen.

Lisa Na, vielleicht. Man kann heutzutage immerhin darüber reden. Ich habe eine Tochter. Sie wird in diesem Jahr drei. Im Jahr Zweitausend ist sie zweiundzwanzig. Ich wüsste nur zu gerne, wohin diese Welt unterwegs ist. Wo wird Schweden in zwanzig Jahren stehen? In welchem Land werden wir leben? Ich muss zugeben, das macht mir Angst.

Tone Mir nicht. Wir gehen vorwärts. Alles wird besser.

Lisa Alles?

Tone Alles. Wir werden länger leben, gesünder sein, stärker, sportlicher, reicher. Ich glaube nicht, dass die Menschen in diesem Land begreifen, was der ökonomische Fortschritt alles mit sich bringt.

Lisa Das klingt gut.

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Tone Das ist gut!

Lisa Darf ich trotzdem meine Hand erheben und eine Frage stellen?

Tone Ja!

Lisa Wird das Leben für meine Tochter besser? Erhält sie Antworten auf ihre wichtigste Frage?

Tone Welche wäre?

Lisa Welchen Sinn hat ihr Leben?

Tone Darauf muss sie wohl selber eine Antwort finden.

Lisa Ja. Aber sie muss das mit anderen zusammen herausfinden. Sonst funktioniert das nicht.

Tone Wir leben in einer freien Welt. Der Markt steuert die Politiker, die versuchen unsere Freiheiten zu beschneiden. Freiheit erhielt für mich in dem Augenblick eine neue Bedeutung, als ich diese Insel verließ. Die Freiheit auf dieser Insel war längst keine mehr. Sie war es vielleicht vor hundert oder fünfzig Jahren gewesen, als die Menschen sich hier noch selber versorgen konnten. Aber die Zeiten sind vorbei. Man kann hier nicht mehr überleben. Man hängt hier von den Bestimmungen anderer ab. Man kann hier nicht einmal mehr einen Bootssteg reparieren, ohne dass der Staat das reglementiert und subventioniert. Um Freiheit zu erleben, musste ich diese Insel verlassen. Was hätte ich hier draußen für ein Leben? Ich verabscheue all die Sentimentalitäten. Was sagtest du? Wir seien auf dieser Insel gefangen. Kann sein. Es macht mich jedes Mal glücklich hier anzukommen, aber immer noch glücklicher, hier wieder wegzukommen.

Lisa Du hast sicherlich recht. Ich habe nie in anderen Städten gelebt. Eigentlich stehe ich Todesängste aus an solchen Orten wie dieser Insel, wo es keinen Quadratmeter Asphalt gibt, keine asphaltierten Wege, nicht einen einzigen Bürgersteig.

Tone Bist du in Schweden geboren?

Lisa Kenia. Nairobi. Du kannst dir keine Vorstellung davon machen, wie die Slums da aussehen. Die Hütten standen an einer Kloake aus Pisse und Scheiße und Abfall und Tierkadavern, die an Ihnen vorbeizog. Ich habe noch vage Erinnerungen an den Gestank jener Zeit. Irgendwie schaffte es Papa, uns nach England zu bringen, nach London. Aber der Gestank blieb tief in mir drin, von aufgeschwollenen toten Hunden und Dreck. Der wird mich immer verfolgen, bis in die Träume, wo die Jauche mir bis

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ans Kinn steigt und ich mit Lina mitten in dem Gestank liege und... Nein. Ich bin nicht in Schweden geboren. Ich bin in einer Scheißkloake geboren. Du würdest kotzen, wenn ich mehr davon erzählen würde.

Tone Ich bin ziemlich hart im Nehmen.

Lisa (Mit lauter Stimme.) Aber du hast keinen Schimmer, wie es ist!

Tone Du brauchst nicht zu schreien!

Lisa Verzeih. Ich sollte besser den Mund halten.

Tone Das habe ich nicht gesagt.

Lisa Es war nicht so gemeint. Ich weiß. Wie soll man verstehen können, was Armut mit Menschen macht, wenn man sein Leben damit verbringt, steigende Kurse von Silikonbrust-Aktien zu verfolgen?

Tone Verscheißerst du mich?

Lisa Warum sollte ich?

Tone Die Kurse von Silikonbrüsten sacken manchmal auch ab.

Lisa Ja, das mag sein. Aber ist es nicht ein Wahnsinn, in einer Welt zu leben, in der Teenager von ihren Eltern schönheitschirurgische Eingriffe geschenkt erhalten? Ticken die Kinder falsch? Oder die scheiß Eltern, die ihre Kinder wie Tomaten züchten, ohne jede Skrupel. Ich habe von einem Mädchen gehört, dessen Eltern ihr Kind für ein Tennis-Talent halten. Es hat in einer Woche 70 000 Rückhand-Bälle geschlagen. Seine Mutter trainiert seine Rückhand und der Vater seine Vorhand. Das Kind wird sich irgendwann das Leben nehmen. 70 000 Schläge.

Tone Einverstanden. Klar. Aber das sind nur Ausnahmen.

Lisa Nein. Die Antwort lautet leider nein.

Tone Was wollen die Jugendlichen werden?

Lisa Rate mal!

Tone Tennisstar?

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Lisa Nein.

Tone Schauspieler?

Lisa Nein.

Tone Dann weiß ich es nicht.

Lisa Moderatoren. Heute träumt man davon seine eigene halbe Stunde Fernsehen zu haben, nicht etwa um Wissen zu verbreiten, einfach nur um berühmt zu sein. Wir nähern uns Zeiten, da nur noch Geld zählt, und Prominenz. Ich glaube die Achtzigerjahre werden die Hölle.

Tone Waren denn die Siebziger so viel besser?

Lisa Ich finde ja. Da gab es noch eine Art Willenskraft. Ich weiß nicht ... Ich trinke noch einen Schluck ... Das ist ein guter Wein ... Du hast einen guten Geschmack ... Also, ich würde es so formulieren: Wenn man vor ein paar Jahren zu Hause saß, und man hörte im Treppenhaus jemanden schreien, spürte man eine Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Man konnte entweder den Fernseher lauter stellen, um die Schreie nicht zu hören, oder man erkundigte sich im Treppenhaus, ob man helfen könne. Ich schwöre dir, in zehn Jahren wird niemand mehr hinaus ins Treppenhaus gehen.

Tone Niemand kann sagen, wie es in zehn Jahren sein wird.

Lisa Warum sollte die Zukunft nicht voraus zu sagen sein? Man muss sich nur umschauen. Man muss nur sehen, was zu sehen ist. Das reicht.

Tone Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Es geht alles so schwindelerregend schnell. Ich verkrafte nur Tag auf Tag.

Lisa Und bei dir dreht sich alles, was du tust, um Geld?

Tone Ja.

Lisa Viel Geld?

Tone Mehr als du dir vorstellen kannst.

LISA Das glaube ich dir auf der Stelle.