9
This article was downloaded by: [Moskow State Univ Bibliote] On: 07 December 2013, At: 17:42 Publisher: Routledge Informa Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek and Latin Studies Publication details, including instructions for authors and subscription information: http://www.tandfonline.com/loi/sosl20 “Herr der wilden Tiere”? Karl Kerényi Published online: 22 Jul 2008. To cite this article: Karl Kerényi (1957) “Herr der wilden Tiere”?, Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek and Latin Studies, 33:1, 127-134, DOI: 10.1080/00397675708590492 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00397675708590492 PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should be independently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content. This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Any substantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing, systematic supply, or distribution in any form to anyone is expressly forbidden. Terms & Conditions of access and use can be found at http:// www.tandfonline.com/page/terms-and-conditions

“Herr der wilden Tiere”?

  • Upload
    karl

  • View
    214

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: “Herr der wilden Tiere”?

This article was downloaded by: [Moskow State Univ Bibliote]On: 07 December 2013, At: 17:42Publisher: RoutledgeInforma Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House,37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK

Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek andLatin StudiesPublication details, including instructions for authors and subscription information:http://www.tandfonline.com/loi/sosl20

“Herr der wilden Tiere”?Karl KerényiPublished online: 22 Jul 2008.

To cite this article: Karl Kerényi (1957) “Herr der wilden Tiere”?, Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek and LatinStudies, 33:1, 127-134, DOI: 10.1080/00397675708590492

To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00397675708590492

PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE

Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in thepublications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representationsor warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Anyopinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not theviews of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should beindependently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses,actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoevercaused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content.

This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Any substantial or systematicreproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing, systematic supply, or distribution in anyform to anyone is expressly forbidden. Terms & Conditions of access and use can be found at http://www.tandfonline.com/page/terms-and-conditions

Page 2: “Herr der wilden Tiere”?

„HERR DER WILDEN TIERE"?VON

KARL KERÉNYI

Franz Zimmermann zu seinem 65 Geburtstag

Seit einiger Zeit läuft dieses Sprachungeheuer in der Literatur über

die griechische Religion herum: πό-rvioç θηρών. Es soll die männ-

liche Entsprechung zur πότνια θηρών sein. So lesen wir bei Nilsson

noch in der neuen Ausgabe seiner Geschichte der griechischen Religion.1

Man denke nun, jemand wollte uns zum Partner der Iuno Regina

einen Iuppiter Reginus vorschlagen. Der Vorwurf der Fremdheit auf

lateinischem Sprachgebiet würde wohl sehr begründet sein. Das Wort

wrv ios ist als Neubildung sprachlich gleichwertig mit jenem reginus:

das eine ebenso wenig erlaubt, wie das andere. Das Masculinum zu

πότνια ist πόσις, oder genauer ausgedrückt: das Feminium zu πόσι$

ist ττότνια, wie im Altindischen patni zu pati. Die Bezeichnung πόσΐΐ

θηρών ergäbe natürlich einen Unsinn. Auch das wäre schon ein Grund

gewesen, über die Sache nachzudenken. Sprachlich wäre δεσπότης

θηρών richtig: SeoCrç yàp δεσπότες καλεΐν χρεών, sagt Eur. Hipp. 88.

Es ist indessen an der Zeit zu untersuchen, ob es überhaupt erlaubt

1 1, 1955, 296. PICARD, Éphèse et Claros, 1922, 509 ff. sprach noch vorsichtignur von einem dieu dompteur des animaux, NILSSON in der ersten Ausgabe desMinoan-mycenaean Religion 1927, 443 vom Master of Animals, P. DEMARGNE,

Mélanges Syriens offerts à René Dussaud, 1939, 121 ff. vom Maître des animaux,NILSSON in der ersten Ausgabe seiner Gesch. der griech. Rel. 1, 1941, 274 schonvon πότνιος ηρων, ebenso in der zweiten Ausgabe des Min.-myc. Rel. 1950, 513.Die Bezeichnung πότνια ηρων scheint STUDNICZKA, Kyrene, 1890, 153 ff. alserster in die wissenschaftliche Literatur eingeführt zu haben, auf Grund vonHorn. II. 21, 470, den er nicht zu zitieren brauchte. Da war alles in Ordnung.Wenn man freilich πότνιος schreibt, so kann man auch die einwandfreieGleichung von Ευκλόη (SO. 30, 1953, 90) oder Κλόη (SO. 31, 1955, 153),mit Ευκλεία (vgl. ευρροος : ευρρεής) für »extremely doubtful« halten.

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 3: “Herr der wilden Tiere”?

128 KARL KERÉNYI

und notwendig ist, für eine antike Gottheit einen nicht-antiken grie-

chischen Namen zu erfinden.

An der angeführten Stelle hat Nilsson die Bezeichnung TTÓTVIOS

3ηρών für eine vorgriechische Götterfigur vorgeschlagen, die bei ihm

Taf. 20, 4 nach einer Gemme aus Kydonia in Kreta abgebildet ist:

ein jugendlicher Gott, die Hände über zwei Löwen ausgebreitet, die

ihn flankieren. Auf einem mykenischen Ring bei Evans1 zeigt die

gleiche Gottheit, die da die beiden Löwen vielmehr bekämpft, den

bärtigen »Gilgamesch-Typ«. Weitere Beispiele aus Kreta bieten sich

an.2 L. Curtius, der den orientalischen Vorbildern nachgegangen ist,

spricht3 von ihrer Einwirkung auf die orientalisierende griechische

Kunst mit der Annahme eines »untergelegten neuen mythologischen

Sinns«. Was dieser Sinn bereits in der »minoischen« Kreta war, soll

einstweilen dahingestellt bleiben. Nilsson rechnet die Beispiele in der

archaischen griechischen Kunst zum »Nachleben der minoischen

Religion«, ja zum Nachleben des UÓTVIOS θηρών.4 Er schlägt die Iden-

tifizierung mit Apollon vor, da es keinen anderen Gott gebe, an den

der minoische Gott Anschluss hätte finden können.5

Diesen anderen Gott hatte aber Langlotz mit Sicherheit bestimmt,'

nachdem B . Schweitzer den Gedanken an Apollon zurückgewiesen

hatte.7 Es kann kein anderer als Dionysos gemeint sein. Ich möchte

auf ein besonderes Element dieses Dionysos-Typs, auf seine Beflüge-

lung jetzt nicht eingehen. In bezug darauf müssen wir nach dem epo-

chalen Fund Kondoleons auf Tenos (8/7. Jahrhundert), einer grossen

mythologischen Szene mit lauter geflügelten Gottheiten als Teil-

nehmer8 völlig umlernen. Wir brauchen kaum mehr das Beflügeltsein

eines Gottes in der Frühzeit als Seltsamkeit besonders zu begründen.

Langlotz wies auf den in Amyklai verehrten Dionysos Psilax, den

»Geflügelten Dionysos« hin (Paus. 3.19.6), der wohl nur einen Einzel-

fall dieses alten und durch eine künstliche Archaistik in der hellenisti-

1 Palace of Minos 4, 584, fig. 573.2 Man findet sie an Hand von DEMARGNE'S eben angeführten Abhandlung.3 Sitz.-Ber. München 1912, 7, 70.4 Gesch. griech. Rel 12, 310.5 Gesch. griech. Rel. 12, 500.6 Du Antike 8, 1932, 177.7 Gnomon 4, 1928, 190.8 BCB 78, 1954, 145 und Am. Journ. Arch. 58, 1954, 240; Κυκλαδικά, 2,

1956, Abb. 5.

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 4: “Herr der wilden Tiere”?

.Herr der wilden Tiere"? 129

sehen Zeit wieder erneuerten Typus darstellt.1 Für den Typus gebraucht

auch Langlotz den Namen »Herr der Tiere« und hält an der Meinung

fest, Dionysos sei erst im achten Jahrhundert zu den Griechen ge-

kommen: von jener Zeit an sei aber »Herr der Tiere« unzweifelhaft

Dionysos. Hatten aber die Griechen für diese Gestalt je einen anderen

Namen als Dionysos? Denn der mögliche δεσπότης δηρων wäre,

selbst wenn er belegt wäre, doch kein Name. ^

Vergegenwärtigen wir uns die Figur auf Grund der kretischen

Gemme, die Nilsson Taf. 20,4 abbildet, und des archaischen Goldreliefs,

einst in Berlin, das Langlotz als Abbildung 11 mitteilt. Beide stimmen

in der charakteristischen Handlung des Gottes völlig überein. Er

hält die Löwen fest, zwei lebendige Tiere, mit blosser Hand, ja er

zähmt sie gleichsam mit Handauflegung. Eine ganz mächtige Gottheit

ist er: ein dompteur wahrhaftig, wie ihn Picard genannt hat, ein Gott,

der die wilden Tiere in seinen Bann zieht und zähmt. Deutsch wäre

der »Gott Wildfang« der geeignete Name für ihn, wenn man das Wort

noch in seiner Grundbedeutung gebrauchen dürfte. Griechisch heisst

der lebendige Tiere fangende Jäger Ζαγρεύς. Nach dem Etymologicum

Gudianum soll das Wort zwar μεγάλω$ cV/ρεύων bedeuten. Der antike

Grammatiker dachte an jóSeos, anstatt an das Verbum, das im At-

tischen ein anderes Ergebnis der Zusammenziehung von ω und α

zeigt, als der nicht-attische Name. Wie σγρεύς zu aypsúcú, verhält

sich ZctypeOs zu 3ωγρεύω oder 3ωγρέω, dem Verbum des lebendigen

Fanges. Durch diese sichere Ableitung kommen wir zum ursprüng-

lichen Sinn, ohne ihn bereits mit der Orphik zu verknüpfen. Diesem

Sinn entspricht das Bild eines Gottes, der die wilden Tiere nicht etwa

nur zu erlegen, sondern wie durch einen Zauber in seinen Bann ein-

zufangen fähig ist. Seine erste Erwähnung in der Literatur spricht

von ihm wie von dem Allergrössten der Götter. Die Zeile stand in

der Alkmeonis, die im sechsten Jahrhundert, wenn nicht noch früher

gedichtet wurde: πότνια Γη ZaypsO τε 5εων ιτανυττέρτατε πάντων.

1 Der Aufsatz von LANGLOTZ war für ein grösseres Publikum bestimmt und daheretwas summarisch. Vgl. zur Ergänzung PICARD: Dionysos Psilax, MélangesNavarres 1935, 317 ff. und B . SEGALL, Am. Journ. Arch. 59, 1955, 212 ff. Dashellenistische Akroter aus Südrussland (SEGALL Taf. 59, 2 ; Ath. Mitt. 51, 1926,Taf. 19), das diese Monumentenreihe gewissermassen krönt, zeigt immer nochzwei flankierende Tiere, bezwungene Greife, die der geflügelte Dionysos an denHörnern anpackt. L. CURTIUS Jahrb. Inst. 43, 1928, 292 wollte in ihm unnötiger-und unbegründeterweise den Sabazios erkennen.

9

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 5: “Herr der wilden Tiere”?

130 KARL K E R É N Y I

Eine Invokation, die Zagreus auf diese Weise mit Ge verbindet

und ihn als über allen Göttern stehenden Gott nennt, kann ihn ent-

weder als den Gegenpol zur Erde, als den höchsten Himmelsgott

meinen, als Zeus - und das ist sicher nicht der Fall - oder als den

anderen Zeus in der Unterwelt. Für diesen kommt ausser dem Namen

Hades auch Dionysos in seinem unterweltlichen Aspekt in Betracht.

Nicht nur Heraklit Fr. 15 und Orphr. hymn. 53.1 weisen auf einen

unterweltlichen Dionysos hin, sondern auch Denkmäler, von denen

hier nur das Bild des Vasenmalers Xenokles erwähnt sei, auf dem

der Gott durch Kantharos und Weintrauben gekennzeichnet die Köre

empfängt oder entlässt.1 Dionysos ist der Einzige, von dem der Name

Zagreus überliefert wird, und dieser ist der einzige griechische

Name, der das Bild des »Herrn der wilden Tiere« vollkommen deckt.

"Beide Gleichungen: »Herr der Tiere« ikonographisch = Dionysos und

Zagreus sprachlich = »Herr der Tiere« sind einwandfrei und gehen

in der Gleichung Zagreus = Dionysos auf. Sagten die Orphiker für

Dionysos »Zagreus«, so archaisierten sie: das war doch orphischer

Stil.2 Es hatte sicher auch seinen Grund im ursprünglichen Mythos

und Kultus des Gottes, wenn sich der Name, der seinen eigentüm-

lichen Wildfang-Jägeraspekt festhielt, sich mit einem anderen Aspekt,

dem des zerrissenen Kindes, so verknüpfte, dass der Schein entstehen

konnte, Zagreus meine nur den leidenden Dionysos. Dass dem nicht

so war, habe ich anderswo gezeigt.3

Was Zagreus meint, sehen wir jetzt und vermögen den Jägeraspekt

des Dionysos, den ich gleichfalls schon früher, auf Grund späterer

Monumente, aufgewiesen habe,4 in seiner Eigentümlichkeit genauer zu

erfassen: konkreter, ursprünglicher und dionysischer. Auf späteren

Darstellungen deutete der Jagdstiefel5 seine Eigenschaft als Jägergott1 In meiner Mythologie der Griechen, 2. Ausg. Zürich 1956, Abb. 58.2 Vgl. darüber meine Ausführungen in den Zeitschriften Maia 4, 1951, 1 ff.

und Universitas 9, 1954 637 ff.3 Dramatische Gottesgegenwart in der griechischen Religion, im Eranos-

Jahrbuch 19, 1951, 22 ff. und Un sacrificio dionisiaco, in der Zeitschrift Dioniso14, 1951, Heft 3-4.

4 Il dio cacciatore, Dioniso 15, 1951, Heft 1-4.5 An der frühitaliotischen Vase aus Ceglie, in meiner Mythologie der Griechen

Abb. 63. Den gleichen Stiefel hat Dionysos am sog. Phaidrosberna des Dionysos-theaters in Athen an, von PICARD, L'Acropole (Erechtheion usw.) 76 und Am.Journ. Arch. 38, 1934, 138 auf die Ankunft des Gottes aus Thrakien gedeutet.Les rel. préhelléniques, Paris 1948, 114 hat auch PICARD schon das Dionysoskindunter die Gottheiten kretischen Ursprungs eingereiht.

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 6: “Herr der wilden Tiere”?

.Herr der wilden Tiere"? 131

an, oder das Lagobolon und das Netz.1 Die ältesten Darstellungen

zeigen hingegen ohne Attribut oder Jagdgerät seine die wilden Tiere

bezwingende Macht. Wie später Greife, Panther oder Leoparde einen

Krater flankieren, um von der bezähmenden Macht des Weingottes

zu zeugen, flankieren da den Gott die Löwen, unter seinen ausgebrei-

teten Armen zahm geworden. Bei dem »Gilgamesch-Typ« ist das we-

niger so, doch gerade diese Darstellung entspricht dem griechischen

Mythos, in dem auch Grausamkeit gegen die Tiere eine Rolle spielt.

Kann aber dieser Mythos bereits auf einer minoischen Gemme aus

Kydonia dargestellt sein?

Die Lautgestaltung des Namens Zagreus weist nach dem dorischen

Kreta.2 Das berühmte Chorlied der Kreter des Euripides (Fr. 472

Nauck) verbindet Zagreus nicht nur mit Kreta, sondern insbesondere

mit dem idäischen Kult. Von ebendaher stammt die eindrucksvollste

assyrisierende Darstellung des Tierbezwingers, der da auf den Kopf

eines Stieres tritt und einen Löwen in die Höhe haltend zu zerreissen

scheint. Es ist eben jener Aspekt des Dionysischen, der im griechischen

Mythos enthalten ist und im Chorlied der Kreter angedeutet wird.

Die künstlerische Darstellung wurde von Kunze hervorragend charak-

terisiert.3 Er verband sie mit dem idäischen Zeuskult, sicher richtig,

und doch ist damit zu wenig gesagt. Die ausserordentliche Bedeutung

dieses Denkmals für die griechische Religionsgeschichte besteht darin,

dass es uns im achten Jahrhundert auf Kreta in einen Mythos Ein-

blick gewährt, in dem das göttliche Kind, das zum Zeuskind der

Griechen wurde und das hier erwachsen als Tierbezwinger und -zer-

reisser hervorspringt, einen wilden dionysischen Aspekt trägt. Mild,

aber nicht weniger mächtig zeigt die Gemme aus Kydonia denselben

Gott. In beiden Aspekten ist er das, was der Name Zagreus bedeutet.

Über das achte Jahrhundert hinauszugehen, bis etwa in die Mitte

des zweiten Jahrtausends, in die II. spätminoische Periode, in der auf

Kreta noch nicht dorisch, sondern wenigstens in Knossos schon »alt-

südachäisch« gesprochen wurde, ist heute grundsätzlich möglich. Wir

verdanken diese Möglichkeit der Entzifferung der zweiten Linienschrift

durch M. Ventris.4 Es ist der Name Dionysos, der uns nunmehr weiter-1 An dem von mir im Dio cacciatore gedeuteten hadrianischen Sarkophag-

relief im Thermenmuseum, Rom, abgebildet Not. Scavi 1925, Taf. 24 oben.2 Vgl. πρατος, πράτιστos, E. FRAENKEL bei COLLITZ SGrD. 1, 4, 1057.3 Kretische Bronzereliefs 196 und 202, abgebildet Taf. 49.4 Vgl. VENTRIS und CHADWICK, Journ. Hell. Stud. 73, 1953, 84ff.; zum

Sprachwissenschaftlichen auch L. R. PALMER : Achaeans and Indo-Europeans,

9*

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 7: “Herr der wilden Tiere”?

132 KARL KERÉNYI

führt. Auf einer Tafel von Pylos erscheint er zwischen 1300 und 1200

v. Chr.1 Dass er 1) vom Norden her, 2) damals erst und 3) nur bis

zum »Palast des Nestor« vorgedrungen sei, wären drei unwahrscheinliche

Annahmen. Um so wahrscheinlicher ist, dass er vom Südosten her,

aus Kreta nach dem Peloponnes kam. Ich habe diese These - mindestens

als die heute nächstliegende Arbeitshypothese - anderswo auch all-

gemeiner begründet, hier lege ich die einzelnen Gründe in Kürze vor:

1) die Verbindung des Dionysos mit Ariadne, der kretischen »Herrin

des Labyrinthes«, wie sie auf einer knossischen Tafel bezeichnet wird;2

2) Kult des kretischen Dionysos in Argos nebst Grab der Ariadne,

verbunden mit einer Ankunftsage in Begleitung von Meerfrauen in

der gleichen Landschaft und mit Perseus als Gegner;3 3) vergessene

oder fast vergessene Geburtsorte des Dionysos auf dem Peloponnes:

am Alpheios (Horn. hymn. 1. 3 Allen) und am Inachos;4 4) Ankunft

des Dionysoskindes im lakonischen Hafenort Prasiai (Brasiai Paus.

3.24.3), wo die Anknüpfung an den kanonisch gewordenen Geburtsort

Theben gegen die geographische Situation und daher sicher sekundär

ist; 5) Verehrung des Dionysos Psilax in Amyklai und dionysische

Riten bei den Hyakinthien ebenda (Macr. Sat. 1.18.2): 3), 4) und 5)

bezeugen einen alten Dionysoskult auf dem Peloponnes, der weder

mit Thrakien noch mit Kleinasien in Verbindung steht.

Ferner: 6) Schiffskarrenprozession in Attika, die eine Parallele

in Smyrna hat, also von der Ankunft des Gottes über das Meer, nicht

Oxford 1955; Myc. Greek Texts from Pylos, Transactions of the Philol. Society1954; Observations, Bull. of the Inst. of Class. Stud. of the Univ. London, Nr. 2,1955, 36 ff.; zum Stilistischen: Τ. Β. L. W E B S T E R , Homer and the Myc. Tablets,Antiquity Nr. 113, 1955, 10 ff. Die Art der Schwierigkeiten, die zu überwindensind, zeigt am Besten die Abhandlung von E. L. BENNETT, J r . (mit längerentransskribierten Texten), Am. Journ. Arch. 60, 1956, 103 ff. Sie werden kurzcharakterisiert auch von J . FRIEDRICH, Minos 4, 1956, 6 ff. Die Zahl der Gelehrten,die zuerst zweifelten und jetzt überzeugt sind, ist bedeutend. Zu ihnen gehörtauch S. MARINATOS mit einer wichtigen Arbeit, Minos 4, 1956, 11 ff.

1 Xa0 6, VENTRIS und CHADWICK S. 95.

2 Gg 702.2, PALMER, Observations S. 40.3 Paus. 2.20.4; 22.1; 23.8; Schol.Towl. Il. 14, 319; Vasenbild mit KRETSCH-

MERS Erklärung Jahrb. Inst. 7, 1892, 33.4 Falls die Zuweisung von Pap. Ox. Nr. 2164 (XVIII 1931) durch LATTE,

Philol. 97, 1948, 47 ff. richtig ist, muss man, gegen Latte 56, an einen Ortin der Argolis denken. Diese notwendige Konsequenz zieht auch NILSSON nicht,seine Behandlung der Stelle L'ant. class. 24, 1955, 336 ff. geht fehl.

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 8: “Herr der wilden Tiere”?

„Herr der wilden Tiere"? 133

aber aus Kleinasien zeugt;1 7) Einführung der Weinkultur auf der

Insel Peparethos durch die Kreter, mit dem Dionysossohn Staphylos

als Anführer.2 Hinzukommt 8) die Gleichheit der Darstellungen des

Tierbezwingers in der kretischen und der archaischen griechischen

Kunst. Dies alles ist nicht einmal abhängig von den Ventrisschen

Entzifferungen. Die Evidenz besteht auch für sich. Man wird kaum

vermeiden können im sog. »Herrn der wilden Tiere« den kretischen

Dionysos zu erkennen.

NACHTRAG

Nach dem Abschluß meiner oben mitgeteilten Bemerkungen über

den »Herrn der wilden Tiere«, die in ihrem Kern so alt sind, wie meine

»Unwillkürlichen Kunstreisen« (Zürich 1954, S. 100) und die ich in

ihrer ursprünglichen Fassung belassen möchte, macht mich Professor

T. L. B . Webster (London) darauf aufmerksam, daß Michael Ventris

in seinem Wortverzeichnis (»Glossary«) von 1953, das nur in wenigen

Photokopien existiert, auf der Pylos-Tafel An 218 die Lesung Zagreus

versuchsweise vorgeschlagen hat. Die Zeile 3 in einem Verzeichnis

von Personen lautet:

ne-wo-ki-to i-je-re-u da-i-ja-ke-re-uDer Umsetzung des dritten Wortes in griechische Buchstaben als

3<xypeús steht heute entgegen, dass es einfachere Umschreibungen

von 2 gefunden wurden: vgl. bes. zo-wa und da-ko-ro, Ventris-

Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge 1956, Index;

Georgiev vermutet in sa-ke-re-u ZccypeOs, ebenda. Die Deutung von

Zagreus als »Jäger« und als Beiname eines Gottes würde es erlauben,

dass der Priester des Gottes dessen Beinamen.als Eigennamen trüge.

Man hätte dies eben noch hinzuzulernen, daß in mykenischer Zeit

auch sterbliche Verehrer des Dionysos dionysische Namen trugen.9

1 W. F. OTTO: Dionysos 62.2 Skymnos 581 und N. PLATON, Κρητικα Χρονικά 3, 1949, 534 ff. Vgl. zum

Ganzen meinen Vortrag: Die Herkunft der Dionysosreligion nach dem heutigenStand der Forschung, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 58, Köln und Opladen 1956, und meine Prolegomena zueiner Darstellung der Heroenmythologie der Griechen, Saeculum 7, 1956, 393.

2 Weitere mögliche Beispiele sind aus Knossos Sc 247 Pa-re: Phales, As 603Pe-te-u: Pentheus, As 1516 I-wa-ko: Iakchos, Lesungen von Ventris nach Prof.WEBSTER, unter anderen, nicht-dionysischen Namen, vgl. T. B. L. WEBSTER,Classica et mediaevalia, 47, 1956, 158 f. Die Möglichkeit der Gleichsetzung

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013

Page 9: “Herr der wilden Tiere”?

134 KARL KERÉNYI

Professor L. R. Palmer (Oxford), den ich über die Zeile befragthabe, teilte mir gleichfalls brieflich mit (21.10.1956), daß er ne-wo-ki-tofür den Personennamen hält und daß an letzter Stelle, wie auch inder 4. und 5. Zeile derselben Tafel ein Ortsname zu suchen sei (vgl.Bull. Instit. Class. Stud., London II, 1955, anders also als bei Ventris-Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Index). Da-i-ja-ke-re-ustellt er neben a-ke-re-rva, einen Stadtnamen in -e-wa. Diese Zu-sammenstellung erscheint mir als sehr beachtenswert. Als Stadtnamein -e-voa käme hier auch Akrea in Betracht, griechisch nicht unmöglich,doch es wäre in Griechenland eher Akraia zu erwarten. Auf der Handliegt hingegen Agrea von ccypsu- als »Jagdrevier«. Zur Bedeutungdenke man an Agrai am Ilissos, den Ort - und Jagdrevier - derArtemis Agra, oder an Therai am Taygetos (Paus. 3.20.5) und andie Insel Thera. Wir kommen also auch auf Grund der Zusammen-stellung von a-ke-re-wa und da-i-ja-ke-re-u dem namen Zagreus nah.Ich möchte nur meinen Dank an Prof. Webster und Prof. Palmeraussprechen und betonen, daß meine Auffassung von Zagreus zwarnicht von diesen Lesungen abhängt, daß sie aber unbedingt zubeachten sind. Ein Dionysos = Priester in Pylos, der in seinem Prie-steramt seinen Gott als lebendige Tiere fangenden Jäger nachahmt undsich eben darin von den übrigen Priestern unterscheidet, wäre an sichdurchaus denkbar.

Dem für Kreta und Griechenland anzunehmenden ältesten Bilddes Gottes als geflügeltem Dionysos Zagreus, kommt, soweit ich jetztsehe, die mächtige Darstellung auf einem hurritischen Siegel aus Nuzi,aus dem fünfzehnten Jahrhundert v. Chr. am nächsten, bei H. Frank-fort Cylinder Seals, London 1939, X V I I a nach R. H. Pfeiffer, Exca-vations at Nuzi, Cambridge Mass. 1932, pl. I, vgl. J . B . Pritchard,The ancient near East in Pictures 1954 fig. 705.

Pe-te-u: Pentheus, gegen den Vorbehalt von Ventris-Chadwick, Documents,Index, zeige ich in meiner Studie über die Bacchantinnen des Euripides, Griechi-sche Miniaturen, Zürich Rhein Verlag 1957.

Dow

nloa

ded

by [

Mos

kow

Sta

te U

niv

Bib

liote

] at

17:

42 0

7 D

ecem

ber

2013