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This article was downloaded by: [Moskow State Univ Bibliote]On: 07 December 2013, At: 17:42Publisher: RoutledgeInforma Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House,37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK
Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek andLatin StudiesPublication details, including instructions for authors and subscription information:http://www.tandfonline.com/loi/sosl20
“Herr der wilden Tiere”?Karl KerényiPublished online: 22 Jul 2008.
To cite this article: Karl Kerényi (1957) “Herr der wilden Tiere”?, Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek and LatinStudies, 33:1, 127-134, DOI: 10.1080/00397675708590492
To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00397675708590492
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„HERR DER WILDEN TIERE"?VON
KARL KERÉNYI
Franz Zimmermann zu seinem 65 Geburtstag
Seit einiger Zeit läuft dieses Sprachungeheuer in der Literatur über
die griechische Religion herum: πό-rvioç θηρών. Es soll die männ-
liche Entsprechung zur πότνια θηρών sein. So lesen wir bei Nilsson
noch in der neuen Ausgabe seiner Geschichte der griechischen Religion.1
Man denke nun, jemand wollte uns zum Partner der Iuno Regina
einen Iuppiter Reginus vorschlagen. Der Vorwurf der Fremdheit auf
lateinischem Sprachgebiet würde wohl sehr begründet sein. Das Wort
wrv ios ist als Neubildung sprachlich gleichwertig mit jenem reginus:
das eine ebenso wenig erlaubt, wie das andere. Das Masculinum zu
πότνια ist πόσις, oder genauer ausgedrückt: das Feminium zu πόσι$
ist ττότνια, wie im Altindischen patni zu pati. Die Bezeichnung πόσΐΐ
θηρών ergäbe natürlich einen Unsinn. Auch das wäre schon ein Grund
gewesen, über die Sache nachzudenken. Sprachlich wäre δεσπότης
θηρών richtig: SeoCrç yàp δεσπότες καλεΐν χρεών, sagt Eur. Hipp. 88.
Es ist indessen an der Zeit zu untersuchen, ob es überhaupt erlaubt
1 1, 1955, 296. PICARD, Éphèse et Claros, 1922, 509 ff. sprach noch vorsichtignur von einem dieu dompteur des animaux, NILSSON in der ersten Ausgabe desMinoan-mycenaean Religion 1927, 443 vom Master of Animals, P. DEMARGNE,
Mélanges Syriens offerts à René Dussaud, 1939, 121 ff. vom Maître des animaux,NILSSON in der ersten Ausgabe seiner Gesch. der griech. Rel. 1, 1941, 274 schonvon πότνιος ηρων, ebenso in der zweiten Ausgabe des Min.-myc. Rel. 1950, 513.Die Bezeichnung πότνια ηρων scheint STUDNICZKA, Kyrene, 1890, 153 ff. alserster in die wissenschaftliche Literatur eingeführt zu haben, auf Grund vonHorn. II. 21, 470, den er nicht zu zitieren brauchte. Da war alles in Ordnung.Wenn man freilich πότνιος schreibt, so kann man auch die einwandfreieGleichung von Ευκλόη (SO. 30, 1953, 90) oder Κλόη (SO. 31, 1955, 153),mit Ευκλεία (vgl. ευρροος : ευρρεής) für »extremely doubtful« halten.
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und notwendig ist, für eine antike Gottheit einen nicht-antiken grie-
chischen Namen zu erfinden.
An der angeführten Stelle hat Nilsson die Bezeichnung TTÓTVIOS
3ηρών für eine vorgriechische Götterfigur vorgeschlagen, die bei ihm
Taf. 20, 4 nach einer Gemme aus Kydonia in Kreta abgebildet ist:
ein jugendlicher Gott, die Hände über zwei Löwen ausgebreitet, die
ihn flankieren. Auf einem mykenischen Ring bei Evans1 zeigt die
gleiche Gottheit, die da die beiden Löwen vielmehr bekämpft, den
bärtigen »Gilgamesch-Typ«. Weitere Beispiele aus Kreta bieten sich
an.2 L. Curtius, der den orientalischen Vorbildern nachgegangen ist,
spricht3 von ihrer Einwirkung auf die orientalisierende griechische
Kunst mit der Annahme eines »untergelegten neuen mythologischen
Sinns«. Was dieser Sinn bereits in der »minoischen« Kreta war, soll
einstweilen dahingestellt bleiben. Nilsson rechnet die Beispiele in der
archaischen griechischen Kunst zum »Nachleben der minoischen
Religion«, ja zum Nachleben des UÓTVIOS θηρών.4 Er schlägt die Iden-
tifizierung mit Apollon vor, da es keinen anderen Gott gebe, an den
der minoische Gott Anschluss hätte finden können.5
Diesen anderen Gott hatte aber Langlotz mit Sicherheit bestimmt,'
nachdem B . Schweitzer den Gedanken an Apollon zurückgewiesen
hatte.7 Es kann kein anderer als Dionysos gemeint sein. Ich möchte
auf ein besonderes Element dieses Dionysos-Typs, auf seine Beflüge-
lung jetzt nicht eingehen. In bezug darauf müssen wir nach dem epo-
chalen Fund Kondoleons auf Tenos (8/7. Jahrhundert), einer grossen
mythologischen Szene mit lauter geflügelten Gottheiten als Teil-
nehmer8 völlig umlernen. Wir brauchen kaum mehr das Beflügeltsein
eines Gottes in der Frühzeit als Seltsamkeit besonders zu begründen.
Langlotz wies auf den in Amyklai verehrten Dionysos Psilax, den
»Geflügelten Dionysos« hin (Paus. 3.19.6), der wohl nur einen Einzel-
fall dieses alten und durch eine künstliche Archaistik in der hellenisti-
1 Palace of Minos 4, 584, fig. 573.2 Man findet sie an Hand von DEMARGNE'S eben angeführten Abhandlung.3 Sitz.-Ber. München 1912, 7, 70.4 Gesch. griech. Rel 12, 310.5 Gesch. griech. Rel. 12, 500.6 Du Antike 8, 1932, 177.7 Gnomon 4, 1928, 190.8 BCB 78, 1954, 145 und Am. Journ. Arch. 58, 1954, 240; Κυκλαδικά, 2,
1956, Abb. 5.
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sehen Zeit wieder erneuerten Typus darstellt.1 Für den Typus gebraucht
auch Langlotz den Namen »Herr der Tiere« und hält an der Meinung
fest, Dionysos sei erst im achten Jahrhundert zu den Griechen ge-
kommen: von jener Zeit an sei aber »Herr der Tiere« unzweifelhaft
Dionysos. Hatten aber die Griechen für diese Gestalt je einen anderen
Namen als Dionysos? Denn der mögliche δεσπότης δηρων wäre,
selbst wenn er belegt wäre, doch kein Name. ^
Vergegenwärtigen wir uns die Figur auf Grund der kretischen
Gemme, die Nilsson Taf. 20,4 abbildet, und des archaischen Goldreliefs,
einst in Berlin, das Langlotz als Abbildung 11 mitteilt. Beide stimmen
in der charakteristischen Handlung des Gottes völlig überein. Er
hält die Löwen fest, zwei lebendige Tiere, mit blosser Hand, ja er
zähmt sie gleichsam mit Handauflegung. Eine ganz mächtige Gottheit
ist er: ein dompteur wahrhaftig, wie ihn Picard genannt hat, ein Gott,
der die wilden Tiere in seinen Bann zieht und zähmt. Deutsch wäre
der »Gott Wildfang« der geeignete Name für ihn, wenn man das Wort
noch in seiner Grundbedeutung gebrauchen dürfte. Griechisch heisst
der lebendige Tiere fangende Jäger Ζαγρεύς. Nach dem Etymologicum
Gudianum soll das Wort zwar μεγάλω$ cV/ρεύων bedeuten. Der antike
Grammatiker dachte an jóSeos, anstatt an das Verbum, das im At-
tischen ein anderes Ergebnis der Zusammenziehung von ω und α
zeigt, als der nicht-attische Name. Wie σγρεύς zu aypsúcú, verhält
sich ZctypeOs zu 3ωγρεύω oder 3ωγρέω, dem Verbum des lebendigen
Fanges. Durch diese sichere Ableitung kommen wir zum ursprüng-
lichen Sinn, ohne ihn bereits mit der Orphik zu verknüpfen. Diesem
Sinn entspricht das Bild eines Gottes, der die wilden Tiere nicht etwa
nur zu erlegen, sondern wie durch einen Zauber in seinen Bann ein-
zufangen fähig ist. Seine erste Erwähnung in der Literatur spricht
von ihm wie von dem Allergrössten der Götter. Die Zeile stand in
der Alkmeonis, die im sechsten Jahrhundert, wenn nicht noch früher
gedichtet wurde: πότνια Γη ZaypsO τε 5εων ιτανυττέρτατε πάντων.
1 Der Aufsatz von LANGLOTZ war für ein grösseres Publikum bestimmt und daheretwas summarisch. Vgl. zur Ergänzung PICARD: Dionysos Psilax, MélangesNavarres 1935, 317 ff. und B . SEGALL, Am. Journ. Arch. 59, 1955, 212 ff. Dashellenistische Akroter aus Südrussland (SEGALL Taf. 59, 2 ; Ath. Mitt. 51, 1926,Taf. 19), das diese Monumentenreihe gewissermassen krönt, zeigt immer nochzwei flankierende Tiere, bezwungene Greife, die der geflügelte Dionysos an denHörnern anpackt. L. CURTIUS Jahrb. Inst. 43, 1928, 292 wollte in ihm unnötiger-und unbegründeterweise den Sabazios erkennen.
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Eine Invokation, die Zagreus auf diese Weise mit Ge verbindet
und ihn als über allen Göttern stehenden Gott nennt, kann ihn ent-
weder als den Gegenpol zur Erde, als den höchsten Himmelsgott
meinen, als Zeus - und das ist sicher nicht der Fall - oder als den
anderen Zeus in der Unterwelt. Für diesen kommt ausser dem Namen
Hades auch Dionysos in seinem unterweltlichen Aspekt in Betracht.
Nicht nur Heraklit Fr. 15 und Orphr. hymn. 53.1 weisen auf einen
unterweltlichen Dionysos hin, sondern auch Denkmäler, von denen
hier nur das Bild des Vasenmalers Xenokles erwähnt sei, auf dem
der Gott durch Kantharos und Weintrauben gekennzeichnet die Köre
empfängt oder entlässt.1 Dionysos ist der Einzige, von dem der Name
Zagreus überliefert wird, und dieser ist der einzige griechische
Name, der das Bild des »Herrn der wilden Tiere« vollkommen deckt.
"Beide Gleichungen: »Herr der Tiere« ikonographisch = Dionysos und
Zagreus sprachlich = »Herr der Tiere« sind einwandfrei und gehen
in der Gleichung Zagreus = Dionysos auf. Sagten die Orphiker für
Dionysos »Zagreus«, so archaisierten sie: das war doch orphischer
Stil.2 Es hatte sicher auch seinen Grund im ursprünglichen Mythos
und Kultus des Gottes, wenn sich der Name, der seinen eigentüm-
lichen Wildfang-Jägeraspekt festhielt, sich mit einem anderen Aspekt,
dem des zerrissenen Kindes, so verknüpfte, dass der Schein entstehen
konnte, Zagreus meine nur den leidenden Dionysos. Dass dem nicht
so war, habe ich anderswo gezeigt.3
Was Zagreus meint, sehen wir jetzt und vermögen den Jägeraspekt
des Dionysos, den ich gleichfalls schon früher, auf Grund späterer
Monumente, aufgewiesen habe,4 in seiner Eigentümlichkeit genauer zu
erfassen: konkreter, ursprünglicher und dionysischer. Auf späteren
Darstellungen deutete der Jagdstiefel5 seine Eigenschaft als Jägergott1 In meiner Mythologie der Griechen, 2. Ausg. Zürich 1956, Abb. 58.2 Vgl. darüber meine Ausführungen in den Zeitschriften Maia 4, 1951, 1 ff.
und Universitas 9, 1954 637 ff.3 Dramatische Gottesgegenwart in der griechischen Religion, im Eranos-
Jahrbuch 19, 1951, 22 ff. und Un sacrificio dionisiaco, in der Zeitschrift Dioniso14, 1951, Heft 3-4.
4 Il dio cacciatore, Dioniso 15, 1951, Heft 1-4.5 An der frühitaliotischen Vase aus Ceglie, in meiner Mythologie der Griechen
Abb. 63. Den gleichen Stiefel hat Dionysos am sog. Phaidrosberna des Dionysos-theaters in Athen an, von PICARD, L'Acropole (Erechtheion usw.) 76 und Am.Journ. Arch. 38, 1934, 138 auf die Ankunft des Gottes aus Thrakien gedeutet.Les rel. préhelléniques, Paris 1948, 114 hat auch PICARD schon das Dionysoskindunter die Gottheiten kretischen Ursprungs eingereiht.
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an, oder das Lagobolon und das Netz.1 Die ältesten Darstellungen
zeigen hingegen ohne Attribut oder Jagdgerät seine die wilden Tiere
bezwingende Macht. Wie später Greife, Panther oder Leoparde einen
Krater flankieren, um von der bezähmenden Macht des Weingottes
zu zeugen, flankieren da den Gott die Löwen, unter seinen ausgebrei-
teten Armen zahm geworden. Bei dem »Gilgamesch-Typ« ist das we-
niger so, doch gerade diese Darstellung entspricht dem griechischen
Mythos, in dem auch Grausamkeit gegen die Tiere eine Rolle spielt.
Kann aber dieser Mythos bereits auf einer minoischen Gemme aus
Kydonia dargestellt sein?
Die Lautgestaltung des Namens Zagreus weist nach dem dorischen
Kreta.2 Das berühmte Chorlied der Kreter des Euripides (Fr. 472
Nauck) verbindet Zagreus nicht nur mit Kreta, sondern insbesondere
mit dem idäischen Kult. Von ebendaher stammt die eindrucksvollste
assyrisierende Darstellung des Tierbezwingers, der da auf den Kopf
eines Stieres tritt und einen Löwen in die Höhe haltend zu zerreissen
scheint. Es ist eben jener Aspekt des Dionysischen, der im griechischen
Mythos enthalten ist und im Chorlied der Kreter angedeutet wird.
Die künstlerische Darstellung wurde von Kunze hervorragend charak-
terisiert.3 Er verband sie mit dem idäischen Zeuskult, sicher richtig,
und doch ist damit zu wenig gesagt. Die ausserordentliche Bedeutung
dieses Denkmals für die griechische Religionsgeschichte besteht darin,
dass es uns im achten Jahrhundert auf Kreta in einen Mythos Ein-
blick gewährt, in dem das göttliche Kind, das zum Zeuskind der
Griechen wurde und das hier erwachsen als Tierbezwinger und -zer-
reisser hervorspringt, einen wilden dionysischen Aspekt trägt. Mild,
aber nicht weniger mächtig zeigt die Gemme aus Kydonia denselben
Gott. In beiden Aspekten ist er das, was der Name Zagreus bedeutet.
Über das achte Jahrhundert hinauszugehen, bis etwa in die Mitte
des zweiten Jahrtausends, in die II. spätminoische Periode, in der auf
Kreta noch nicht dorisch, sondern wenigstens in Knossos schon »alt-
südachäisch« gesprochen wurde, ist heute grundsätzlich möglich. Wir
verdanken diese Möglichkeit der Entzifferung der zweiten Linienschrift
durch M. Ventris.4 Es ist der Name Dionysos, der uns nunmehr weiter-1 An dem von mir im Dio cacciatore gedeuteten hadrianischen Sarkophag-
relief im Thermenmuseum, Rom, abgebildet Not. Scavi 1925, Taf. 24 oben.2 Vgl. πρατος, πράτιστos, E. FRAENKEL bei COLLITZ SGrD. 1, 4, 1057.3 Kretische Bronzereliefs 196 und 202, abgebildet Taf. 49.4 Vgl. VENTRIS und CHADWICK, Journ. Hell. Stud. 73, 1953, 84ff.; zum
Sprachwissenschaftlichen auch L. R. PALMER : Achaeans and Indo-Europeans,
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führt. Auf einer Tafel von Pylos erscheint er zwischen 1300 und 1200
v. Chr.1 Dass er 1) vom Norden her, 2) damals erst und 3) nur bis
zum »Palast des Nestor« vorgedrungen sei, wären drei unwahrscheinliche
Annahmen. Um so wahrscheinlicher ist, dass er vom Südosten her,
aus Kreta nach dem Peloponnes kam. Ich habe diese These - mindestens
als die heute nächstliegende Arbeitshypothese - anderswo auch all-
gemeiner begründet, hier lege ich die einzelnen Gründe in Kürze vor:
1) die Verbindung des Dionysos mit Ariadne, der kretischen »Herrin
des Labyrinthes«, wie sie auf einer knossischen Tafel bezeichnet wird;2
2) Kult des kretischen Dionysos in Argos nebst Grab der Ariadne,
verbunden mit einer Ankunftsage in Begleitung von Meerfrauen in
der gleichen Landschaft und mit Perseus als Gegner;3 3) vergessene
oder fast vergessene Geburtsorte des Dionysos auf dem Peloponnes:
am Alpheios (Horn. hymn. 1. 3 Allen) und am Inachos;4 4) Ankunft
des Dionysoskindes im lakonischen Hafenort Prasiai (Brasiai Paus.
3.24.3), wo die Anknüpfung an den kanonisch gewordenen Geburtsort
Theben gegen die geographische Situation und daher sicher sekundär
ist; 5) Verehrung des Dionysos Psilax in Amyklai und dionysische
Riten bei den Hyakinthien ebenda (Macr. Sat. 1.18.2): 3), 4) und 5)
bezeugen einen alten Dionysoskult auf dem Peloponnes, der weder
mit Thrakien noch mit Kleinasien in Verbindung steht.
Ferner: 6) Schiffskarrenprozession in Attika, die eine Parallele
in Smyrna hat, also von der Ankunft des Gottes über das Meer, nicht
Oxford 1955; Myc. Greek Texts from Pylos, Transactions of the Philol. Society1954; Observations, Bull. of the Inst. of Class. Stud. of the Univ. London, Nr. 2,1955, 36 ff.; zum Stilistischen: Τ. Β. L. W E B S T E R , Homer and the Myc. Tablets,Antiquity Nr. 113, 1955, 10 ff. Die Art der Schwierigkeiten, die zu überwindensind, zeigt am Besten die Abhandlung von E. L. BENNETT, J r . (mit längerentransskribierten Texten), Am. Journ. Arch. 60, 1956, 103 ff. Sie werden kurzcharakterisiert auch von J . FRIEDRICH, Minos 4, 1956, 6 ff. Die Zahl der Gelehrten,die zuerst zweifelten und jetzt überzeugt sind, ist bedeutend. Zu ihnen gehörtauch S. MARINATOS mit einer wichtigen Arbeit, Minos 4, 1956, 11 ff.
1 Xa0 6, VENTRIS und CHADWICK S. 95.
2 Gg 702.2, PALMER, Observations S. 40.3 Paus. 2.20.4; 22.1; 23.8; Schol.Towl. Il. 14, 319; Vasenbild mit KRETSCH-
MERS Erklärung Jahrb. Inst. 7, 1892, 33.4 Falls die Zuweisung von Pap. Ox. Nr. 2164 (XVIII 1931) durch LATTE,
Philol. 97, 1948, 47 ff. richtig ist, muss man, gegen Latte 56, an einen Ortin der Argolis denken. Diese notwendige Konsequenz zieht auch NILSSON nicht,seine Behandlung der Stelle L'ant. class. 24, 1955, 336 ff. geht fehl.
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aber aus Kleinasien zeugt;1 7) Einführung der Weinkultur auf der
Insel Peparethos durch die Kreter, mit dem Dionysossohn Staphylos
als Anführer.2 Hinzukommt 8) die Gleichheit der Darstellungen des
Tierbezwingers in der kretischen und der archaischen griechischen
Kunst. Dies alles ist nicht einmal abhängig von den Ventrisschen
Entzifferungen. Die Evidenz besteht auch für sich. Man wird kaum
vermeiden können im sog. »Herrn der wilden Tiere« den kretischen
Dionysos zu erkennen.
NACHTRAG
Nach dem Abschluß meiner oben mitgeteilten Bemerkungen über
den »Herrn der wilden Tiere«, die in ihrem Kern so alt sind, wie meine
»Unwillkürlichen Kunstreisen« (Zürich 1954, S. 100) und die ich in
ihrer ursprünglichen Fassung belassen möchte, macht mich Professor
T. L. B . Webster (London) darauf aufmerksam, daß Michael Ventris
in seinem Wortverzeichnis (»Glossary«) von 1953, das nur in wenigen
Photokopien existiert, auf der Pylos-Tafel An 218 die Lesung Zagreus
versuchsweise vorgeschlagen hat. Die Zeile 3 in einem Verzeichnis
von Personen lautet:
ne-wo-ki-to i-je-re-u da-i-ja-ke-re-uDer Umsetzung des dritten Wortes in griechische Buchstaben als
3<xypeús steht heute entgegen, dass es einfachere Umschreibungen
von 2 gefunden wurden: vgl. bes. zo-wa und da-ko-ro, Ventris-
Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge 1956, Index;
Georgiev vermutet in sa-ke-re-u ZccypeOs, ebenda. Die Deutung von
Zagreus als »Jäger« und als Beiname eines Gottes würde es erlauben,
dass der Priester des Gottes dessen Beinamen.als Eigennamen trüge.
Man hätte dies eben noch hinzuzulernen, daß in mykenischer Zeit
auch sterbliche Verehrer des Dionysos dionysische Namen trugen.9
1 W. F. OTTO: Dionysos 62.2 Skymnos 581 und N. PLATON, Κρητικα Χρονικά 3, 1949, 534 ff. Vgl. zum
Ganzen meinen Vortrag: Die Herkunft der Dionysosreligion nach dem heutigenStand der Forschung, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 58, Köln und Opladen 1956, und meine Prolegomena zueiner Darstellung der Heroenmythologie der Griechen, Saeculum 7, 1956, 393.
2 Weitere mögliche Beispiele sind aus Knossos Sc 247 Pa-re: Phales, As 603Pe-te-u: Pentheus, As 1516 I-wa-ko: Iakchos, Lesungen von Ventris nach Prof.WEBSTER, unter anderen, nicht-dionysischen Namen, vgl. T. B. L. WEBSTER,Classica et mediaevalia, 47, 1956, 158 f. Die Möglichkeit der Gleichsetzung
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Professor L. R. Palmer (Oxford), den ich über die Zeile befragthabe, teilte mir gleichfalls brieflich mit (21.10.1956), daß er ne-wo-ki-tofür den Personennamen hält und daß an letzter Stelle, wie auch inder 4. und 5. Zeile derselben Tafel ein Ortsname zu suchen sei (vgl.Bull. Instit. Class. Stud., London II, 1955, anders also als bei Ventris-Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Index). Da-i-ja-ke-re-ustellt er neben a-ke-re-rva, einen Stadtnamen in -e-wa. Diese Zu-sammenstellung erscheint mir als sehr beachtenswert. Als Stadtnamein -e-voa käme hier auch Akrea in Betracht, griechisch nicht unmöglich,doch es wäre in Griechenland eher Akraia zu erwarten. Auf der Handliegt hingegen Agrea von ccypsu- als »Jagdrevier«. Zur Bedeutungdenke man an Agrai am Ilissos, den Ort - und Jagdrevier - derArtemis Agra, oder an Therai am Taygetos (Paus. 3.20.5) und andie Insel Thera. Wir kommen also auch auf Grund der Zusammen-stellung von a-ke-re-wa und da-i-ja-ke-re-u dem namen Zagreus nah.Ich möchte nur meinen Dank an Prof. Webster und Prof. Palmeraussprechen und betonen, daß meine Auffassung von Zagreus zwarnicht von diesen Lesungen abhängt, daß sie aber unbedingt zubeachten sind. Ein Dionysos = Priester in Pylos, der in seinem Prie-steramt seinen Gott als lebendige Tiere fangenden Jäger nachahmt undsich eben darin von den übrigen Priestern unterscheidet, wäre an sichdurchaus denkbar.
Dem für Kreta und Griechenland anzunehmenden ältesten Bilddes Gottes als geflügeltem Dionysos Zagreus, kommt, soweit ich jetztsehe, die mächtige Darstellung auf einem hurritischen Siegel aus Nuzi,aus dem fünfzehnten Jahrhundert v. Chr. am nächsten, bei H. Frank-fort Cylinder Seals, London 1939, X V I I a nach R. H. Pfeiffer, Exca-vations at Nuzi, Cambridge Mass. 1932, pl. I, vgl. J . B . Pritchard,The ancient near East in Pictures 1954 fig. 705.
Pe-te-u: Pentheus, gegen den Vorbehalt von Ventris-Chadwick, Documents,Index, zeige ich in meiner Studie über die Bacchantinnen des Euripides, Griechi-sche Miniaturen, Zürich Rhein Verlag 1957.
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