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Neue RichterVereinigung Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten Landesverband Hessen Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit Strukturen einer unabhängigen und demokratischen Justiz – Beschluss vom 1.3.2003 3 Demokratische Legitimation und Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit 4 Interview mit Eva Koch und Horst Häuser Verkürzte Problemsicht von Jürgen Habel 6 Mythos der Bestenauslese von Werner Kannenberg 10 Vorfragen richterlicher Ethik – Zur gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung von Moral – von Horst Häuser 13 Duce Berlusconi – Presseerklärung vom 27. September 2003 20 Dresdner Plädoyer für eine unabhängige Staatsanwaltschaft 21 Richterspiegel – Gedanken der NRV Sachsen 22 Justiz in Hessen Ergebnisse der Wahlen zu den richterlichen Mitwirkungsgremien 24 Ergebnisse der Wahl zum Bezirksstaatsanwaltsrat – Gedanken und Kommentar von Klaus Pförtner 26 Ohne Herz und Verstand – Presseerklärung vom 22.09.03 zu den Mittelkürzungen im sozialen Bereich 27 Mentoring – Das Feigenblatt aus dem Justizministerium von Guido Kirchhoff 30 „Was nicht sein darf, das nicht sein kann“ – Von der richterlichen Flexibilität im Modernisierungsprozess von Karl Heinz Held 31 Freier Zugang zum Dienstzimmer – BGH-Urteil im Frankfurter Schlüsselstreit 32 Personalien Zum Tod von Carl Zuschlag von Guido Kirchhoff 33 Pädagoge, Jugendrichter, Supervisor – Interview mit Werner Sack 34 Rückblick auf einen Fall klassischer Ämterpatronage – Zum Tode von Rudolf Wirtz von Hans-Dietrich Teuchert 35 Über das Gemeinsame von Martin Walser 36 Veranstaltungen Recht als Ware – Von der Vermarktung des Rechts – Bericht über den 29. Richterratschlag von Guido Kirchhoff 37 Hessentag 2003 – Selbstbild/Fremdbild im Film – Ein Bericht von Werner Sack 39 Internationaler Erfahrungsaustausch über die aktuelle Asylpolitik in Europa von Jutta Wolters 40 ANSICHTEN und EINSICHTEN ausgewählt von Horst Häuser 42

HES-2004-01 Info

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Neue RichterVereinigungZusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten

Landesverband Hessen Januar 2004

Beförderung und UnabhängigkeitStrukturen einer unabhängigen und demokratischen Justiz – Beschluss vom 1.3.2003 3Demokratische Legitimation und Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit 4Interview mit Eva Koch und Horst HäuserVerkürzte Problemsicht von Jürgen Habel 6Mythos der Bestenauslese von Werner Kannenberg 10Vorfragen richterlicher Ethik – Zur gesellschaftlichen und individuellenEntwicklung von Moral – von Horst Häuser 13Duce Berlusconi – Presseerklärung vom 27. September 2003 20Dresdner Plädoyer für eine unabhängige Staatsanwaltschaft 21Richterspiegel – Gedanken der NRV Sachsen 22

Justiz in HessenErgebnisse der Wahlen zu den richterlichen Mitwirkungsgremien 24Ergebnisse der Wahl zum Bezirksstaatsanwaltsrat – Gedanken und Kommentar von Klaus Pförtner 26Ohne Herz und Verstand – Presseerklärung vom 22.09.03 zu den Mittelkürzungen im sozialen Bereich 27Mentoring – Das Feigenblatt aus dem Justizministerium von Guido Kirchhoff 30„Was nicht sein darf, das nicht sein kann“ – Von der richterlichen Flexibilitätim Modernisierungsprozess von Karl Heinz Held 31Freier Zugang zum Dienstzimmer – BGH-Urteil im Frankfurter Schlüsselstreit 32

PersonalienZum Tod von Carl Zuschlag von Guido Kirchhoff 33Pädagoge, Jugendrichter, Supervisor – Interview mit Werner Sack 34Rückblick auf einen Fall klassischer Ämterpatronage – Zum Tode von Rudolf Wirtzvon Hans-Dietrich Teuchert 35Über das Gemeinsame von Martin Walser 36

VeranstaltungenRecht als Ware – Von der Vermarktung des Rechts – Bericht über den 29. Richterratschlag von Guido Kirchhoff 37Hessentag 2003 – Selbstbild/Fremdbild im Film – Ein Bericht von Werner Sack 39Internationaler Erfahrungsaustausch über die aktuelle Asylpolitik in Europa von Jutta Wolters 40

ANSICHTEN und EINSICHTEN ausgewählt von Horst Häuser 42

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NRV Hessen-Info Januar 2004

Liebe Leserin, lieber Leser,

mal ganz ehrlich: fühlen Sie sich (noch) unabhängig?

Die Freiheit stirbt scheibchenweise, hat mal einer unserer Altvorderen gesagt, oft genug so

unmerklich, dass wir von Zeit zu Zeit innehalten und uns fragen sollten, wo wir gerade stehen. Der

Jahreswechsel ist eine schöne Gelegenheit zu der Frage: Hat sich da nicht was verändert? Und wenn ja – was?

Man muss nicht gerade in Berlusconi-Land leben, um zu spüren, wie die Macht der Exekutive Hand an die richterliche Un-

abhängigkeit legt (die NRV hat dazu deutlich Stellung bezogen – S. 20). Es reicht, Proberichter in Hessen zu sein, dessen Probezeit

mal einfach so um ein halbes Jahr verlängert wird – nicht weil er sich nicht bewährt hat, sondern weil er weiter als „Verfügungsmasse“

dienen muss. Genauso wie der Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der nach seiner Probezeit nicht als Richter am VG, sondern

in der ordentlichen Gerichtsbarkeit ernannt und gleichzeitig in die Verwaltungsgerichtsbarkeit abgeordnet wird und der dort gerne

bleiben möchte. Wie unabhängig sind sie wirklich, wenn sie von ihrem Dienstherrn etwas erwarten – so wie ein Richter, der sich noch

Hoffnung auf eine Beförderung macht und zusehen muss, wie selbstherrlich das Ministerium Auswahlentscheidungen trifft? Und lässt

es uns denn völlig kalt, dass durch den zunehmenden Einsatz der EDV immer mehr an Daten über unsere Arbeit gesammelt, unsere

Leistung dauernd an irgendwelchen Erledigungszahlen gemessen wird oder an zweifelhaften Anforderungsprofilen, wie sie jetzt wie-

der mit neuen Beurteilungsrichtlinien in Hessen eingeführt werden sollen?

Die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt ist – zum wiederholten Male – das Hauptthema des vorliegenden Heftes. Die NRV hat sich auf

der letzten Bundesmitgliederversammlung mit den Strukturen einer unabhängigen und demokratischen Justiz beschäftigt und ein

Grundsatzpapier hierzu verabschiedet (S. 3), Eva Koch und Horst Häuser geben in einem Interview mit Guido Kirchhoff auf Seite 4 f.

Erläuterungen hierzu. Wie wichtig es wäre, die hierarchischen Justizstrukturen durch demokratische Strukturen zu ersetzen, wird auch

durch die Anmerkungen von Jürgen Habel zu den Auswahlverfahren des Hessischen Justizministeriums (S. 6) deutlich.

Was nun aber, wenn uns niemand mehr sagen könnte, wie wir sein sollen? Keine Angst, auch darüber wurde nachgedacht! Vorfragen

richterlicher Ethik beantwortet Horst Häuser auf Seite 13, und auf Seite 22 gibt es einen Richterspiegel aus Sachsen. Erkennen Sie sich

darin wieder? Vielleicht schauen Sie auch mal auf die Seite 39 – der Bericht von Werner Sack über den NRV-Hessentag bietet viele Hin-

weise, wie wir uns sehen – und andere uns.

Und manchmal wird auch ein Stückchen Freiheit wiedergeboren – und sei es „nur“ als freier Zugang zum Dienstzimmer im „Frankfur-

ter Schlüsselstreit“. Wir waren so frei, das Türen öffnende Urteil des BGH auf Seite 32 abzudrucken.

Es beginnt ein arbeitsreiches Jahr – machen wir uns frei von dem Gedanken, dass alles noch schlechter wird...!

Mit optimistischen Grüßenzum Neuen JahrFür die RedaktionJürgen Bangert

In eigener S

ache...

In eigener S

ache...

V.i.S.d.P.: Guido Kirchhoff, Alte Darmstädter Str. 45, 64367 MühltalDruck und Gestaltung: Druckwerkstatt Kollektiv GmbH, Darmstadt-Arheilgen,Tel.: 06151/373986, Fax: 373786, E-Mail: [email protected]

Editorial

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Hessen-Info Januar 2004 NRVBeförderung und Unabhängigkeit

Strukturen einer unabhängigenund demokratischen Justiz

Beschluss der Bundesmitgliederversammlung derNeuen Richtervereinigung vom 01. März 2003

Zur Gewaltenteilung im demokratischenRechtsstaat gehört eine unabhängigerechtsprechende Gewalt. Sie ist nach Art.92 des Grundgesetzes den Richtern anver-traut.

Mit dem Anspruch der Bürgerinnen undBürger auf eine unabhängige Justiz ist esnicht vereinbar, dass derzeit in Deutsch-land die Judikative durch die Exekutivemaßgeblich gesteuert und beeinflusstwird. Die damit verbundene Beeinträchti-gung von Funktion und Qualität kann nurdurch eine umfassende

Selbstverwaltungder Dritten Gewalt

beseitigt werden.

In zahlreichen Staaten Europas ist dieSelbstverwaltung längst verwirklicht. Siewird auch vom Ministerkomitee des Euro-parats (Recommandation No. (94) 12 vom13.10.1994) als europäischer Standardempfohlen.Die Selbstverwaltung der Dritten Gewaltim demokratischen Rechtsstaat ist da-durch zu verwirklichen, dass1.) Richterwahlausschüsse in allen Bun-

desländern eingeführt werden,2.) Präsidien zu kollektiven Leitungs-

organen der Gerichte ausgebaut wer-den,

3.) Gerichtsbarkeitsräte auf Länder- undBundesebene eingerichtet werden.

zu 1.) RichterwahlausschüsseRichterinnen und Richter üben staatlicheGewalt aus, die demokratisch legitimiertsein muss. Diese Legitimation kann nurbei der Personalauswahl vermittelt wer-den, weil die Richterinnen und Richternach ihrer Ernennung unabhängig sind.Daher soll über ihre Einstellung nichtmehr der Personalreferent im Ministeri-um, sondern ein Richterwahlausschussentscheiden, der zu zwei Dritteln aus vomParlament gewählten Mitgliedern und zueinem Drittel aus von der Richterschaftgewählten Mitgliedern besteht.

zu 2.) PräsidienDie Selbstverwaltung in den Gerichten er-folgt durch die Präsidien.Das Präsidium regelt nicht nur dieGeschäftsverteilung, sondern es trifft –als kollektives Leitungsorgan – alle grund-legenden Entscheidungen für die Verwal-tung des Gerichts (Grundsatz der All-zuständigkeit). Diese Entscheidungen rei-chen von der Sachmittelverwaltung biszum Personalwesen und schließen dieHaushaltsverantwortung vor Ort mit ein.

Den Vorsitz im Präsidium führt die Präsi-dentin/der Präsident. Von den Richterin-nen und Richtern des Gerichts auf Zeit ge-wählt (4 Jahre), repräsentiert sie/er dasGericht nach außen. Eine Wiederwahl indirekter Folge ist nicht zulässig. Nach Ab-lauf der Amtszeit übt sie/er wieder aus-schließlich ihr/sein Richteramt aus.

Soweit in den Gerichten die Funktion ei-nes „Court-Managers“ geschaffen wird, istdieser – ebenso wie der Geschäftsleiter –dem Präsidium verantwortlich.

Das Präsidium tagt nicht nur richter-öffentlich, sondern gerichtsöffentlich.Die Interessen des nichtrichterlichenDienstes werden vom Personalrat ge-genüber dem Präsidium vertreten.Nach Einführung der richterlichen Selbst-verwaltung erübrigt sich die Mitbestimmungdurch die Richterräte. Die Einrichtung eineslandesweiten Konfliktmanagements, das anden Gerichten in Anspruch genommen wer-den kann, ist wünschenswert.

zu 3.) GerichtsbarkeitsräteAls Selbstverwaltungsorgan auf der über-gerichtlichen Ebene werden in Bund undLändern Gerichtsbarkeitsräte gebildet, diedie heute bestehende Verwaltung der Ge-richte durch ein Justiz- oder sonstiges Mi-nisterium ersetzen.Der Gerichtsbarkeitsrat übernimmt die Ver-waltung der personellen und sachlichen Res-sourcen einschließlich der Haushaltsmittelund ihrer Anforderung vom Parlament.Das Beförderungswesen wird abgeschafft.Funktionszuweisungen und Versetzungenvon Richterinnen und Richtern erfolgendurch den Gerichtsbarkeitsrat, der auchdie Dienstaufsicht ausübt und Disziplinar-befugnisse hat.

Der Gerichtsbarkeitsrat besteht zu zweiDritteln aus von der Richterschaft gewähl-ten Mitgliedern und zu einem Drittel ausvom Parlament gewählten Mitgliedern. Ihmsollen mindestens 15 Personen angehö-ren. Für eine angemessene Vertretung derFachgerichtsbarkeiten ist Sorge zu tragen.

Die Amtszeit beträgt 4 bis 5 Jahre, eineeinmalige Wiederwahl ist möglich.Die weitere Ausgestaltung soll wegen derunterschiedlichen Strukturen Bund undLändern überlassen bleiben.

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit

Interview mit Horst Häuser (Richter VGWiesbaden und Eva Koch (Richterin a.D.,lebt in Frankenthal) am 2.3.2003

Die Neue Richtervereinigung hat auf derBundesmitgliederversammlung 2003 einneues Papier zur Selbstverwaltung der Drit-ten Gewalt vorgestellt. Was ist darangrundlegend neu und wie verhält es sich zuden früheren Beschlüssen?

Horst Häuser: Eines der wichtigstenThemen der NRV ist die Ersetzung der bis-herigen hierarchischen Justizstrukturendurch demokratische Strukturen. Daranarbeiten wir seit unserer Gründung, wirhaben schon im Jahre 1991 den Beschluss„sine spe ac metu“ gefasst. Damals sindwir uns bereits über die grundsätzlich er-forderliche Umgestaltung der Dritten Ge-walt im Klaren gewesen. Wir wollten ins-besondere zwei Problemkreise in denGriff bekommen: zum einen sollten dieRichter wirklich demokratisch legitimiertsein, zum anderen sollte ihre Unabhängig-keit gestärkt werden.Die demokratische Legitimation stelltenwir dadurch sicher, dass nach unseremModell in allen Bundesländern die Einstel-lung der Richter, d.h. ihre vorläufige Ein-stellung auf Probe und ihre endgültige An-stellung auf Lebenszeit, durch einenRichterwahlausschuss erfolgt. Die bisherüberwiegende Praxis der Einstellungdurch den Personalreferenten im Ministe-rium ist eine „black box“.Niemand weiß, wen der Personalreferent,aus welchen Gründen auch immer, bevor-

Demokratische Legitimation und Stär-kung der richterlichen Unabhängigkeit

Die Einstellung und Beförderung der Richtermuss von der Exekutive abgekoppelt werden*

zugt. Niemand weiß, aus welchen Gründener Bewerber wieder wegschickt. Insofernerschien es uns sehr viel sinnvoller, vondieser undurchsichtigen Schaltstelle derExekutive zu einem möglichst transparen-ten Gremium zu kommen, das zu zwei Drit-teln mit Parlamentariern und zu einemDrittel mit Richtern besetzt ist. Bei die-sem Auswahl-verfahren istder Richterstärker demo-kratisch legi-timiert als beiallen anderenVerfahren.Den zweitenPunkt, die Stärkung der richterlichen Un-abhängigkeit, stellten wir dadurch sicher,dass die Verwaltung der Judikative nichtmehr durch eine andere Staatsgewalt, dieExekutive, erfolgt, sondern dass dafür einbesonderes Selbstverwaltungsorgan ge-schaffen wird, der Gerichtsbarkeitsrat. Erist für alle Aufgaben zuständig, die inner-halb der Justiz anfallen. Wichtig für unswar noch, dass wir uns damals entschlos-sen, auf das Beförderungswesen zu ver-zichten. Übrig blieben aber die Funktions-zuweisungen und die Versetzungen inner-halb der Gerichtsbarkeit. Dafür sollte derGerichtsbarkeitsrat zuständig sein, ebensowie für Disziplinarbefugnisse, Haushalts-wesen und sonstige Verwaltungsaufgaben.Er soll als Selbstverwaltungsorgan „umge-kehrt“ besetzt sein wie der Richterwahl-ausschuss, nämlich zu zwei Dritteln mitRichtern und einem Drittel mit Abgeord-neten.

Unser neues Positionspapier stellt eineWeiterentwicklung unserer bisherigen Be-schlüsse dar, indem es die Selbstverwal-tung in den Gerichten durch die Präsidienausbaut (Grundsatz der Allzuständigkeitdes Präsidiums).

Wie unterscheidet sich das Modell von demdes Deutschen Richterbunds?

Eva Koch: Der Deutsche Richterbund hatzwar auch nach vielen Jahren mittlerweiledas Problem erkannt, dass es einer Selbst-verwaltung der Gerichte bedarf und dassdie Unabhängigkeit der Dritten Gewalt ge-stärkt werden muss. Allerdings können wirfür uns in Anspruch nehmen, dass diese Er-

kenntnis ohneunsere ständi-ge Wiederho-lung der Re-formvorschlä-ge wahrschein-lich nicht indas Bewusst-sein des DRB

und überhaupt der Richterschaft eingegan-gen wäre. Es sind Defizite erkannt wordenund der DRB hat seine Mitglieder inzwi-schen weitgehend davon überzeugen kön-nen, dass man ein Selbstverwaltungsmodellbraucht. Aber das Modell des DRB ist ge-genüber unserem sehr unterschiedlich,weil darin die jetzt bestehende Hierarchiefestgeschrieben wird. Wir wollen die Gre-mien demokratisch durch Wahl besetzen,während im Modell des Richterbunds fürden Gerichtsbarkeits- bzw. Justizverwal-tungsrat geborene und nicht gekorene Mit-glieder vorgesehen sind, nämlich die soge-nannten Chefpräsidenten und der General-staatsanwalt. Die Hierarchen an höchsterSpitze sollen nach diesem Modell auchkünftig wieder das Sagen haben.

Wenn das Präsidium an die Stelle des Präsi-denten tritt, macht das für den einzelnenRichter doch keinen Unterschied. Bisher hat-Abdruck aus Betrifft JUSTIZ Nr. 73 (März 2003)

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Hessen-Info Januar 2004 NRVBeförderung und Unabhängigkeit

te er aber als Hilfe und Vertretungsgremiumden Richterrat. Der soll jetzt wegfallen.

Horst Häuser: Es ist ein großer Unter-schied, ob der Richter einem ernannten Prä-sidenten oder einem von der Richterschaftgewählten Gremium gegenübersteht. Bisherwird der Präsident im allgemeinen „von au-ßen“ eingesetzt, von einer Stelle außerhalbdes Gerichts, außerhalb der Gerichtsbarkeit,sogar außerhalb der Dritten Staatsgewalt,nämlich von der Exekutive.

Unser Modell der Selbstverwaltung geht ei-nen anderen Weg. Es gibt den Richterinnenund Richtern einen so weitgehenden Ein-fluss, dass sich daneben die Mitbestim-mung erübrigt. Wenn wir den Präsidentenneben den übrigen Mitgliedern des Präsidi-ums wählen und zugleich von der Allzustän-digkeit des Präsidiums ausgehen, dann istein weiteres gewähltes Gremium, wie derRichterrat, nicht mehr notwendig. Es kämesonst zu überflüssigen Schnittstellen zwi-schen zwei gewählten Gremien.

Eva Koch: Wenn ich mich ohnehin selbstverwalte, muss ich dabei nicht auch noch mit-bestimmen.

Der Präsident soll als Stelle weiter bestehenbleiben, er soll von den Richterinnen undRichtern gewählt werden. Ist es nicht unge-recht, wenn die nichtrichterlichen Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter an der Wahl nichtbeteiligt werden?

Horst Häuser: Hier müssen wir den grund-sätzlich anderen Ausgangspunkt der Diskussi-on im Auge behalten. Welche Gremien im öf-fentlichen Dienst ihre Behördenleiter selbstwählen können, ist eine Frage der Mitbestim-mung. Unser Ansatzpunkt ist die Gewaltentei-lung. Wir wenden uns dagegen, dass die DritteGewalt von der Zweiten Gewalt verwaltet wird.Es ist rechtsstaatlich nicht zu akzeptieren,dass eine Staatsgewalt von einer anderen da-durch massiv beeinflusst wird, dass diese an-dere Staatsgewalt alle wichtigen Verwaltungs-und Personalentscheidungen trifft. Deshalb

zielt unsere Argumentation in eine andereRichtung. Wir fordern die Selbstverwaltung alsAusfluss des Gewaltenteilungsprinzips. Dane-ben mag es gute Gründe geben, im öffentli-chen Dienst weitergehende Formen der Mit-bestimmung zu schaffen; unser Anliegen derGewaltenteilung sollte aber nicht dadurchüberfrachtet werden, dass wir gleichzeitignoch versuchen, eine Reform des öffentlichenDienstrechts in Gang zu bringen.

Das bedeutet nicht, dass an den Gerichten dieRichterinnen und Richter nicht im Teamworkmit anderen Bediensteten zusammenwirkenund dass insbesondere den Rechtspflegerneine hervorgehobene Funktion zukommt.

Das von der NRV beschlossene Papier er-scheint sehr schlagwortartig und lässt vieleEinzelfragen offen. So finden sich keine Rege-lungen über die Wahlmodi, Freistellung derPräsidiumsmitglieder etc.

Eva Koch: Unser Vorschlag ist durchaus ent-wicklungsfähig. Wir wollen damit nicht allesabschließend regeln. Er soll eine Grundlagesein für Verhandlungen mit den zuständigenPolitikern, um aufzuzeigen, auf welchemGrundkonzept wir uns eine demokratisch legi-timierte und unabhängige Dritte Gewalt vor-stellen. Nicht jedes Detail zu regeln hat natür-lich auch den Zweck, dieses Konzept über-sichtlich und verständlich zu gestalten. Es sollder erste Schritt auf unserem Weg sein.

Wieso glaubt die NRV, dass ein Gerichtsbar-keitsrat mehr ausrichten könnte als ein Ju-stizminister?

Horst Häuser: Für uns steht außer Frage,dass ein überwiegend aus Richtern bestehen-des Organ den Aufgaben, die sich der recht-sprechenden Gewalt stellen, viel offener undsachkundiger gegenübersteht.

Die bestehende Ministerialverwaltung istschwerfällig, bürokratisch und wenig effizi-ent. Sie denkt vorwiegend in Erledigungs-zahlen und vernachlässigt die notwendigeQualitätssicherung der richterlichen Arbeit.Sie bezieht die Richterschaft nicht in ihre

Planungen und Projekte ein und fordert den-noch widerspruchslose „Planerfüllung“. Siedemotiviert viele Richterinnen und Richter,anstatt sie zu motivieren.

Es gibt in vielen europäischen LändernSelbstverwaltungsmodelle, die im Einzelnensehr unterschiedlich ausgestaltet sind. InDeutschland hat es diese Tradition nicht ge-geben. Gibt es eine Chance, dass dieses Mo-dell auch hier in absehbarer Zeit umgesetztwerden könnte?

Horst Häuser: Der Zustand unserer Justizerfordert dringend eine grundlegende Re-form. Die bisher von der Justizverwaltung aufden Weg gebrachten Reformen sind zum ei-nen bloß bürokratisch-technischer Natur,zum anderen dienen sie – wie die NeuenSteuerungsmodelle – nur der weiteren Per-sonalsteuerung der Richter durch die Justiz-verwaltung. Deshalb glaube ich, dass der Re-formdruck so stark werden wird, dass mannicht umhin kommt, die Dritte Gewalt end-lich vom Kopf auf die Füße zu stellen: wirbrauchen keine bürokratische Ministerial-verwaltung, sondern eine selbstverwalteteJustiz mit motivierten und engagierten Rich-terinnen und Richtern.

Eva Koch: Es entspricht mittlerweile euro-päischem Standard, dass nicht mehr die Exe-kutive die Justiz verwaltet, sondern dass die-se Aufgabe – dem Gewaltenteilungsprinzipentsprechend – von einem Selbstverwal-tungsorgan der Dritten Gewalt geleistet wer-den muss. Den Beitrittskandidaten zur EUwird abverlangt, dass sie ein solches Systemmitbringen oder ihr vorhandenes Systementsprechend umgestalten. Deshalb liegt esauf der Hand, dass wir an unserem antiquier-ten System nicht länger festhalten können.

Horst Häuser: Ich wage zu behaupten,dass Deutschland als Beitrittskandidat mitseinen bestehenden exekutivfixierten hier-archischen Justizstrukturen nicht in die EUaufgenommen würde.

Das Interview führte Guido Kirchhoff.

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit

von Jürgen Habel

Mit Erstaunen las ich im Frühjahr in derNJW die Wiedergabe eines von Staatsse-kretär Landau bei einer Veranstaltung derDarmstädter Juristischen Gesellschaft ge-haltenen Vortrags, in dem larmoyant diegroße Zahl der Konkurrentenverfahren imrichterlichen Bereich in Hessen beklagtwurde. Erstaunlich schon, dass ein solcher„hessenspezifischer“ Text überhaupt inder NJW veröffentlicht wird. War für dieNJW-Schriftleitung die Prominenz des Ver-fassers oder die Bedeutung des Inhaltsmaßgeblich? Die Zugangsmöglichkeit zurNJW als Fast-Monopolistin ist ja schon län-ger eine kritische Sache. Dies gilt umsomehr, wenn wie hier einer Prozessparteieine Möglichkeit zur Artikulation einge-räumt wird, die der Gegenseite – den An-tragstellern – nicht zur Verfügung steht.

Mehr fasziniert hat mich aber noch, wieundifferenziert die Problemlage gesehenwird und wie gering die Sensibilität gegen-über der eigenen Doppelrolle als „Dienst-herr“ der entscheidenden Richter einer-seits und als „Prozesspartei“ andererseitsausgeprägt ist. Bemerkenswert ist dieChuzpe, mit der der Justizstaatssekretärseine Vorstellungen von der „richtigen“Verfahrensweise der Verwaltungsgerichteformuliert. Als Partei mag ihm dies zuste-hen. Als Dienstherr hätte er besser ge-schwiegen.

Selbstverständlich werden von Landau/Christ mögliche eigene Fehler geleugnet.Vielmehr sind die Vorgängerregierungenwegen der fehlenden Beurteilungsrichtli-

nien, die nachgeordneten Behördenlei-tungen wegen ihrer wohlwollenden Beur-teilungspraxis und vor allem die erstin-stanzlichen Verwaltungsgerichte wegen ih-rer zu hohen Kontrolldichte an der Misereschuld. Von einer seriösen Analyse ist diesalles weit entfernt. Wahrscheinlich wareine solche auch nicht beabsichtigt.

Deshalb einige ergänzende Anmerkungenvon einem in seiner Arbeit hiermit befass-ten Richter.

Entgegen einer häufig zu hörenden Auffas-sung ist die Durchführung eines den An-forderungen der verwaltungsgerichtlichenRechtsprechung genügenden Auswahlver-fahrens kein Hexenwerk. Kurz beschrie-ben geht es um Folgendes:

Der Bewerbungsverfahrensanspruch einesBewerbers umfasst eine faire, chancen-gleiche Behandlung mit rechtsfehlerfreierWahrnehmung der Beurteilungsermächti-gung und die Einhaltung des gesetzlichvorgeschriebenen Verfahrens einschließ-lich etwaiger Anhörungs- und Beteiligungs-rechte.

Nach der Rechtsprechung hat der Dienst-herr dem Bewerbungsverfahrensanspruchbei der Auswahlentscheidung dadurchRechnung zu tragen, dass er die persönli-che und fachliche Eignung der Bewerberauf der Basis aktueller Beurteilungen imHinblick auf das spezifische Anforderungs-profil des zu besetzenden Dienstpostenseinem Vergleich unterzieht und nach Fest-stellung der insoweit bedeutsamen Tatsa-chen eine wertende Abwägung und Zuord-

nung vornimmt, wobei diese Feststellun-gen und die wesentlichen Auswahlerwä-gungen schriftlich niederzulegen sind.Über dieses formelle Begründungserfor-dernis hinaus muss die Begründung derAuswahlentscheidung inhaltlich den Be-dingungen rationaler Abwägung genügen,das heißt vom Gericht nachvollziehbarsein (VGH Kassel, Beschluss vom 26.10.1993 – 1 TG 1585/93 –, HessVGRspr. 1994,34 ff.). Dies gilt grundsätzlich auch fürBesetzungsentscheidungen im richterli-chen Bereich.

Kernstück jedes Auswahlverfahrens ist dieAuswahlentscheidung. Wird hier der Sach-verhalt vollständig erfasst und abgewogenund werden diese Überlegungen sodannden Bewerbern auch mitgeteilt, so gehthiervon wohl die größte Befriedungswir-kung aus. Kann der unterlegene Mitbewer-ber erkennen, dass auch seine Bewerbungergebnisoffen und wohlwollend geprüftworden ist, so wird er es sich wohl überle-gen, ob er hiergegen zu Felde zieht. Solchebegründete Auswahlentscheidungen desDienstherrn gibt es im Bereich des Justiz-ministeriums seit Jahren nicht. Dokumen-tiert wird nur, dass man sich nach Vortragfür den Bewerber X entschieden habe.Warum man sich so entschieden hat,bleibt im Dunkeln. Dass dies rechtswidrigist, interessiert eine Ministerialbürokratienicht. Rechtmäßiges Verwaltungshandelnmacht ja Arbeit. Da wartet man dann lie-ber, ob sich einer wehrt, und schiebt danndie passenden Gründe nach. Der Vorteil:Man muss nur noch zwischen dem Antrag-steller und dem Ausgewählten abwägen.Über die Zahl der angestrengten Eilver-fahren darf man sich da nicht wundern.Der Hessische Verwaltungsgerichtshofrügt dieses Verhalten des Ministeriumsseit Jahren. So kann man in einem derletzten Beschlüsse (1 TG 2186/03) lesen:

„In formeller Hinsicht leidet das Auswahl-verfahren freilich an einem Mangel, den

Verkürzte ProblemsichtAnmerkungen zu Landau/Christ „Die Konkurrentenklage

im Spannungsfeld der Justiz“, NJW 03, 1648

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Hessen-Info Januar 2004 NRVBeförderung und Unabhängigkeit

der Senat seit geraumer Zeit regelmäßigbeanstandet hat, und zwar nahezu aus-schließlich bei Personalauswahlentschei-dungen im Bereich des Ministeriums derJustiz. Er besteht darin, dass die vom Mi-nister gebilligte Auswahlentscheidungvom 20. Februar 2003 entgegen dem ge-setzlichen Erfordernis des § 39 Abs. 1HessVwVfG und in Abweichung von derErlasslage (vgl. Erlass vom 11. Januar 1993– 201-I/1–1321/92-I/13 -; s. dazu Be-schluss des Senats vom 23. November1999 – 1 TZ 3058/99 –) nicht in gericht-lich überprüfbarer Weise schriftlich be-gründet worden ist. Dies ist erst im Laufdes Verwaltungsstreitverfahrens mit demvom Staatssekretär unterzeichnetenSchriftsatz vom 29. April 2003 nachgeholtworden. Damit macht sich der Antrags-gegner zu Nutze, dass die Rechtspre-chung ein solches Nachschieben vonAuswahlerwägungen aus prozessöko-nomischen Gründen für zulässig hält(vgl. Beschluss des Senats vom 18. Au-gust 1992 – 1 TG 1074/92 – HessVGRspr.1993, 19 = NVwZ 1993, 284) und von ei-ner Heilung des ursprünglichen Verfah-rensfehlers nach § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2HessVwVfG ausgeht. Vor dem Hinter-grund der seitens des Antragsgegnerskürzlich angestellten Überlegungen zuden Ursachen von Konkurrentenstreitver-fahren in seinem Bereich (vgl. Landau/Christ, NJW 2003, 1648 f. zu Ziff. IV, 1.Abs.) weist der Senat nochmals nach-drücklich darauf hin, dass die geschilder-te Verfahrensweise weder zur Akzeptanzvon Personalentscheidungen beiträgtnoch zukünftige ge-richtliche Verfahrenvermeiden hilft.“

Eine solche Ohrfei-ge sollte doch bitteendlich dazu führen,dass das Justizministerium seine Hausauf-gaben macht. Unverständlich ist mir aberauch, dass sich die Präsidialräte dies bie-

ten lassen und nichtgrundsätzlich die Vor-lage schriftlich be-gründeter Auswahl-entscheidungen for-dern. Denn nur so istja eine Aussage überdie Auswahl möglich.§ 47 HRiG suspendiertden Minister meinesErachtens hiervonnicht. Die Mitteilung,welchen Bewerber derMinister ernennenwill, erschöpft sichnicht in der bloßenNennung des Namensdes Bewerbers, son-dern umfasst auch diehierfür maßgeblichenGründe. Insoweit mussdas Gleiche wie fürden Personalrat nachdem HPVG gelten, bei dem dies anerkanntist.Ein weiterer Aspekt der fehlenden Be-gründung ist die Auswirkung auf die Dauerdes verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.Da eine schriftliche Auswahlentscheidungregelmäßig erst mit der Antragserwide-rung vorliegt, beginnt auch mit dieser erstdas eigentliche Verfahren. Denn nun erstweiß der Antragsteller, wogegen er sichwehrt. Bis dahin sind regelmäßig Wochenoder gar Monate ins Land gegangen.

Gerügt wird von Landau/Christ, die Gerich-te seien bei ihren formellen Anforderun-

gen zu penibel. Zutref-fend daran ist, dass dieEinhaltung aller Verfah-rensvorschriften einge-hend geprüft wird. Gera-de dann aber, wenn wiehier die materielle Rich-

tigkeit der Verwaltungsentscheidung nichtumfassend überprüft wird, vielmehr nurNachvollziehbarkeit verlangt wird, ist es

umso wichtiger, dass das Verfahren in kor-rekten Bahnen verläuft. Sonst würde dasBewerbungsverfahrensrecht der Bewer-ber wohl völlig leer laufen.

Richtig ist es sicher, wenn Landau/Christdie Gerichtsspitzen als Problemfeld insBlickfeld nehmen. So trifft es häufig zu,dass die Beurteilungen zu wenig differen-ziert sind. Dies ist allerdings keineswegsnur in der hessischen Justiz der Fall. DasProblem reicht aber weiter. Gerichtslei-tungen werden nach allen möglichen sach-lichen und unsachlichen Kriterien ausge-wählt, aber sehr selten nach ihren Verwal-tungs- und sozialen Kompetenzen. Den An-forderungen einer modernen Gerichts-verwaltung sind sie deshalb häufig nichtgewachsen. Dementsprechend sehen Be-urteilungen und Besetzungsberichte aus.Beurteilungen im alten Gutsherrenstilaber ohne Aussagekraft werden zwar lang-sam weniger. Die Besetzungsberichte, dieja die Vorarbeit für die Entscheidung imMinisterium beinhalten sollten, sind je-

Man darf aber nicht über-sehen, dass ein strengererBeurteilungsmaßstab zu einerhöheren Zahl von Klagen gegendie Beurteilungen führt

Zeichnung: Philipp Heinisch

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit

doch in hohem Maße defizitär. WederSachverhaltserfassung noch die Abwägung,der Vergleich der Bewerber untereinan-der, werden geleistet.

Landau/Christ meinen, das Fehlen vonBeurteilungsrichtlinien habe zu großerRechtsunsicherheitgeführt. Nun könnenBeurteilungsrichtli-nien zwar grundsätz-lich ein Mittel zu ei-ner besseren Beur-teilungspraxis sein. Ein Allheilmittel sindsie aber nicht. Auf die Kritik der Bezirks-richterräte an dem vorgelegten Entwurf seiverwiesen. Allerdings sind ausreichend dif-ferenzierte und an einem einheitlichenMaßstab ausgerichtete Beurteilungen eineForderung der Rechtsprechung seit vielenJahren. Man darf aber nicht übersehen,dass ein strengerer Beurteilungsmaßstabzu einer höheren Zahl von Klagen gegen dieBeurteilungen führt. Im Konkurrenten-streitverfahren muss die Rechtmäßigkeitder Beurteilungen dann inzident mitgeprüftwerden, da regelmäßig die Klageverfahrennoch nicht abgeschlossen sein werden.

Kritisch ist die informelle Aufstellung von„Ranglisten“, wie sie von Landau/Christ alswünschenswert angesehen wird. Grund-sätzlich sind solche Vorfestlegungenrechtswidrig. Die Bestenauslese hat sichnicht an langjährigen „Ranglisten“, son-dern an aktuellen Leistungsbewertungenzu orientieren.

Die Kritik der Verfasser an den geltendenAnforderungsprofilen ist berechtigt. Eshandelt sich um eine recht beliebige An-sammlung von allen möglichen netten Kri-terien. Die notwendige Gewichtung derMerkmale untereinander fehlt fast völlig.So ist der zur Auswahl Berufene hierdurcheinerseits überfordert. Andererseits kanner sich nach Gusto die ihm genehmenMerkmale nachträglich auswählen. Gerade

dies sollen Anforderungsprofile aber ver-hindern. Die neuere Rechtsprechung desHessischen Verwaltungsgerichtshofs hatdies unter Abkehr von der bisherigen Ent-scheidungspraxis leider insoweit gebilligt,als eine ausdrückliche Berücksichtigungaller wesentlichen Merkmale eines An-

forderungsprofils in der Aus-wahlentscheidung nicht mehr ge-fordert wird.

Grundsätzlich noch wäre zu fra-gen, welchen Stellenwert Anfor-

derungsprofile im richterlichen Bereichüberhaupt haben können. Anforderungs-profile beschreiben die Anforderungen, dienach Auffassung des Dienstherrn ein Be-werber für die Bewältigung der Aufgaben ei-nes Dienstpostens erfüllen muss. Dazu mö-gen noch die allgemeinen Anforderungendes statusrechtlichen Amtes treten (beimRichter z. B. die Befähigung zum Richteramtetc.). Bei Richtern unterliegt aber die Zu-weisung des Dienstpostens (des Dezerna-tes) dem Präsidium und ist dem Dienst-herrn entzogen. Zudem erfolgt diese Ent-scheidung des Präsidiums regelmäßig erstnach einer Beförderungsentscheidung.Dies bedeutet, dass richterliche Anforde-rungsprofile nur auf die allgemeinenstatusrechtlichen Anforderungen bezogensein können. Sie sind damit ganz erheblichin ihrem Wert gemindert. Nur angerissensei die Frage, ob sich die Justizverwaltungdie Richter nach ihren eigenen Vorstellun-gen aussuchen darf bzw. ob sie sich überAnforderungsprofile ein eigenes Richter-bild schaffen darf. Oder folgt nicht aus derSelbstständigkeit der 3. Gewalt und derrichterlichen Unabhängigkeit, dass eine Plu-ralität in der Richter-schaft gewährleistetsein muss?

Die von Landau ange-sprochene Entscheidung des Bundesver-waltungsgerichts vom 13.09.2001 (DVBl 02,203 ff), in der in einem obiter dictum

thematisiert wird, ob nicht im Hinblick aufArt. 19 Abs. 4 GG eine Ernennung zurückge-nommen werden darf, wenn ein Mitbewer-ber im Klageverfahren obsiegt, wird nachmeiner Einschätzung wohl kaum zu einerÄnderung im Bereich des Rechtsschutzesführen. Im Hinblick auf einen drohendenBewährungsvorsprung des ausgewähltenBewerbers wird jeder Konkurrent weiterhingut beraten sein, wenn er ein Eilverfahrenanstrengt. Ob ein solcher Bewährungsvor-sprung in einem erneuten Auswahl-verfahren auszublenden wäre (so wohl VGFrankfurt, NVwZ-RR 03, 375), ist höchstzweifelhaft. Außerdem wird doch niemandernsthaft glauben, nach einem langjährigenKlageverfahren werde dem ausgesuchtenKollegen zugemutet, seine Stelle wieder zuräumen. Einen Sinn vermag ich hierin auchnicht zu erkennen.

Gründe für die hohe Zahl der Konkurren-tenverfahren mögen auch in ganz anderenBereichen zu suchen sein. So führt derPersonalabbau zum Wegfall von Beförde-rungsstellen und zu einer „ungünstigen“Altersstruktur. Während man früher davonausgehen konnte, dass man mit 55 späte-stens zum engeren Kreis der Beförde-rungsbewerber gehörte, ist dies heute völ-lig ungewiss. Mag sein, dass manche Kolle-gen hier ihre Felle davonschwimmen se-hen. Zumal ja das Erreichen einer R-2-Stelle insgeheim immer noch Maßstab fürein erfolgreiches Berufsleben ist.

Nach meiner Wahrnehmung hat sich auchdie Richterschaft in den vergangenen Jahr-zehnten stark verändert. Dass sich dieheutigen, weniger autoritätsorientierten

Richter die derzeitigenmiserablen Auswahl-entscheidungen nichtbieten lassen, sprichtnur für sie. Insgesamt

ist die Landschaft heute eine andere undsogar um BGH-Stellen wird gerichtlich ge-fochten.

Beurteilungen im altenGutsherrenstil, aber ohneAussagekraft, werden langsam weniger

Welchen Stellenwerthaben Anforderungsprofileim richterlichen Bereich?

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Hessen-Info Januar 2004 NRVBeförderung und Unabhängigkeit

Auch wenn es von Landau/Christ heftig ge-leugnet wird, die Zahl der Eilverfahren istsicherlich auch dadurch bedingt, dass beiden Bewerbern der Eindruck besteht, dieAuswahlentscheidung beruhe auf sach-fremden Erwägungen. Verwiesen sei aufden Leserbrief von Dr. Unger in NJW-aktu-ell 2003, Heft 46, Seite XVII f, der den„Nachholbedarf“ nach dem Regierungs-wechsel anspricht (vgl. auch NRV Band VIII„Ämterpatronage“). Entsprechende Be-setzungsverfahren sind auch in früherenAusgaben des NRV-Landes-Infos bespro-chen worden. Auch die Besetzung mehre-rer R-3-Stellen beim Hessischen Verwal-tungsgerichtshof (beziehungsweise derenviele Monate lange Nichtbesetzung) sollsolche Gründe gehabt haben. Will man dieeigenen Kandidaten durchsetzen, so mussman ja andere, gut positionierte Bewerberanderweitig abfinden oder zumindest ent-sprechende Erwartungen wecken. Solcheaufeinander abgestimmte Folgeentschei-dungen mit zahlreichen Gesprächen imVorfeld scheinen immer mehr zuzuneh-men. Sachfremde Erwägungen könnenaber nicht nur aus Besetzungswünschenim Justizministerium resultieren, sondernauch aus den Seilschaften, die es mehroder weniger ausgeprägt an den meistengrößeren Gerichten gibt. Man sortiert sichin Kaffeerunden etc. Und es soll keiner sa-gen, dass die, die „am Tisch des Präsiden-ten (Direktors) sitzen“, hierdurch in ihrerKarriere keine Vorteile erlangen.

Die zweitinstanzliche Erfolgsquote des An-tragsgegners kann nicht zum Beleg desGegenteils herangezogen werden. Insbe-sondere, wenn bereits richtig beurteiltworden ist, kann die gewünschte Aus-wahlentscheidung gerichtsfest begründetwerden. Das Ergebnis muss eben nur ra-tional nachvollziehbar sein. Und dies er-möglicht in vielen Fällen verschiedeneEntscheidungen. Die höhere Erfolgsquotein der 2. Instanz gegenüber den erstin-stanzlichen Entscheidungen hat viele

Gründe. Im Einzelfall mag es auch eineenge Prüfungssicht der ersten Instanzsein, die vom Hessischen Verwaltungsge-richtshof nicht geteilt wird. Im wesentli-chen sind diese Prüfungsmaßstäbe geradevom HessVGH entwi-ckelt worden. In seinerneueren Rechtspre-chung verabschiedetsich der Senat schlei-chend von diesen Maßstäben, ohne diesals Aufgabe seiner bisherigen Rechtspre-chung zu kennzeichnen und zu begründen.Dies führt zur Zeit zu einem gewissen Aus-einanderklaffen der erst- und der zweitin-stanzlichen Entscheidungen. Für die Be-teiligten ist dies misslich, da der Prozess-ausgang schwer zu prognostizieren ist.Hier ist die weitere Entwicklung abzuwar-ten.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die „Er-folge“ des Justizministers in der Be-schwerdeinstanz sind die von der Recht-sprechung anerkannten umfassendenHeilungsmöglichkeiten des Dienstherrn.In Kenntnis der erstinstanzlichen Ent-scheidung kann der Dienstherr in der 2.Instanz weitere Erwägungen nachschiebenund damit bestehende Mängel korrigieren.

Zur Dauer der Besetzungsverfahren ist zu-nächst festzuhalten, dass der Abbau derBeteiligungsrechte zu Beginn der letztenLegislaturperiode zu keiner erkennbarenBeschleunigung der Verfahren geführt hat.

Die eigentlichen Zeitfresser liegen offen-sichtlich an anderer Stelle. Die Planstel-len werden nicht rechtzeitig ausgeschrie-ben (Die bewusste, vorübergehendeNichtbesetzung im Rahmen der Budge-tierung (Feinsteuerung) sei hier einmalaußer Betracht gelassen), Beurteilungenund Besetzungsberichte werden nicht un-verzüglich erstellt, die „Meinungsbil-dung“ im Ministerium dauert teilweiseMonate und schließlich zieht sich auch

manches verwaltungsgerichtliche Eil-verfahren über Gebühr in die Länge. Beijedem dieser Abschnitte scheinen dieVerantwortlichen im Hinblick darauf,dass die anderen Beteiligten auch nicht

schneller sind, das Verfahrennicht wirklich absolut vorrangigzu betreiben. Also eine Art kol-lektive Verantwortungslosig-keit. Wobei es natürlich je-

weils „gute Gründe“ für die langeBearbeitungsdauer gibt. Andere Aufgabensind vorrangig zu erledigen, Beteiligtesind in Urlaub, Anwälte überlastet, Ab-stimmungsprozesse in einem Ministeri-um brauchen ihre Zeit und auch der Rich-ter hat nicht genau dann, wenn der neueSchriftsatz endlich eingeht, die Zeit, denProzess noch am gleichen Tag weitestge-hend zu fördern. Längere Bearbeitungs-fristen in Serviceeinheiten treten zumTeil hinzu. Auch der Prüfungsumfang derGerichte trägt zur Verfahrensdauer bei.Ich meine aber, dass eine rein summari-sche Prüfung keine befriedigende Wir-kung hätte.

Die von den Verfassern beklagten Proble-me bei einer längeren Nichtbesetzung vonStellen sind aber auf einfache Weise ver-meidbar. Der Dienstherr hätte es bei einervorausschauenden Personalplanung in derHand, negative Auswirkungen durch einefrühzeitige Ausschreibung und Auswahl ab-zuwenden. Niemand hindert ihn an einerBesetzungsentscheidung vor dem Freiwer-den der Planstelle. Würde er dann nochdie Auswahlentscheidung schriftlich be-gründen, so wäre weitere Zeit gewonnen.Nach bisheriger Praxis werden viele Stel-len aber erst nach dem Freiwerden ausge-schrieben. Am Gericht des Verfassers wur-de unlängst eine Vorsitzendenstelle nacheineinhalb Jahren neu besetzt, ohne dassein Eilverfahren angestrengt worden wäre.Bei dieser Sachlage kann dem Justiz-staatssekretär nur geraten werden, zu-nächst im eigenen Hause zu kehren.

Planstellen werdennicht rechtzeitigausgeschrieben

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit

von Werner Kannenberg

Es ward August, als ich in den Richter-dienst eingestellt wurde. Es war tollesWetter, mein zweites Examen lag nichtweit hinter mir und war prima gelaufen. Esbescheinigte mir, gut gerüstet zu sein fürden Richterberuf. Ich war zwar überzeugt,noch viel lernen zu müssen, aber das Ex-amen und die Einstellung als Richter wa-ren nicht gerade eine Aufforderung zurBescheidenheit. Ich war gespannt auf dieArbeit im Verwaltungsgericht – das ichnoch nie von innen gesehen hatte –, froh,nicht zur Staatsanwaltschaft gehen zumüssen, fasziniert vom Beruf, irgendwieauch von der sich noch unklar abzeichnen-den Machtposition und der damit verbun-denen Unabhängigkeit, angetan von denKollegen und freute mich auf mein erstesGehalt. Mein Start in den Richterberufdürfte sich damit nicht wesentlich vondem der meisten Kolleginnen und Kolle-gen unterschieden haben.

Irgendwie komisch war das mit dem Status„auf Probe“. Jeder sagte mir, das sei nureine Formsache und ich war natürlich auchvoll davon überzeugt, dass nicht jederschwache Kollege zum Richter auf Lebens-zeit ernannt werden sollte und eine Probe-zeit daher ebenso nötig sei, wie sie in derfreien Wirtschaft (ohne Lebenszeiter-nennung!) üblich ist. Und schwach sind –wenn überhaupt – natürlich nur die ande-ren.

Es folgten ernüchternde Wochen, die mirzum Glück meinen Elan bis heute nicht ganz

genommen haben. Ich lernte die in der Re-ferendarzeit nur aus der Distanz erlebtenWiderstände von Verwaltungsmitarbeiternaus Beharrungsvermögen besser kennen,fand mich langsamer in die neue Materieein, als ich es mir gewünscht hatte, undhabe zu Beginn wohl eher zur Verlängerungder unbefriedigend langen Verfahrens-laufzeiten beigetragen. Natürlich wollte ichmein Amt so bald als möglich voll ausfüllenund mir die fehlende Fachkompetenz zügigerarbeiten. Aber wie das im Richterberuf soist, gibt es von den Beteiligten nach Ab-schluss des Verfahrens und Zustellung derintensiv durchdachten und eingehend be-gründeten Entscheidung eigentlich nur vondenjenigen Post, die aufwändig und mehroder weniger überzeugend darstellen, dasseigentlich alles an der Entscheidung falschsei. Positives Feedback gibt es eher nicht(das ändert sich erst mit der Zeit, wenn dieAnwälte mit dem zunächst noch neuen Na-men die Erinnerung an vertrauensvolle,konstruktive und zügige Zusammenarbeitverknüpfen). Der gute Zuspruch der Kolle-ginnen und Kollegen ist ebenso freundlichwie in der Sache unverbindlich und daherkein Gradmesser für die eigene Leistung.So keimte in mir – zunächst noch un-scharf, später klarer – die Frage auf, wieich mich denn „so mache“, ob und in wel-chem Maße ich meine Sache gut macheund den Anforderungen gerecht werde.Meiner ersten Beurteilung sah ich dahermit Interesse, fast schon mit Spannungentgegen, denn ich hoffte, etwas über mei-ne Leistungen zu erfahren und hoffteauch, Hinweise auf Verbesserungspoten-ziale zu erhalten.

Das Beurteilungsprozedere begann damit,dass der Kammervorsitzende um einenBeurteilungsbeitrag gebeten wurde. Dar-über informierte er mich mündlich undgab mir – vertrauensvoll und halb verstoh-len, eigentlich sei das seine Sache – Gele-genheit, ein paar Akten zu benennen, diefür die Vorbereitung der Beurteilung vonihm und später von dem Gerichtspräsiden-ten durchgesehen werden sollten. Urteilesollten darin sein – Vergleiche und mitausführlichen Hinweisen erarbeiteteRücknahmen waren weniger von Interes-se, was mich etwas überraschte. Er zeigtemir auch nicht nur seinen Beurteilungs-beitrag, sondern gab mir vor der Übersen-dung an den Präsidenten Gelegenheit zurStellungnahme und erörterte seinen Ent-wurf mit mir – eine, wie ich später selbsterfahren habe, nicht selbstverständlicheVorgehensweise. Es soll Bundesländer ge-ben, in denen der „Chefpräsident“ per-sönlich die Eröffnung der sog. Vorbeur-teilung generell untersagt. Es gewährenoffenbar nicht alle Kollegen bei ihrer Ver-fahrensführung rechtliches Gehör, weildies einem verinnerlichten Wertever-ständnis entspricht.

Die erste Beurteilung – um es vorweg zunehmen: auch noch die folgenden – lassich teils nett, teils gut, stellenweise auchganz toll. Das war im ersten Moment na-türlich ein gutes Gefühl, aber irgendwiebrachte mich das nicht weiter. Das magdaran gelegen haben, dass der Präsident,der die Beurteilung erstellt hat, von mei-ner Arbeit und meiner Leistung nach mei-ner Überzeugung herzlich wenig wusste.Gut, er hatte sich ein paar Akten vorlegenlassen. Das ist weniger als nichts, aberkonnte das genug sein?

Nachdem die Beurteilung nicht das war,worauf ich gehofft hatte, begann ich michdafür zu interessieren, was die Beurtei-lung denn wirklich war, was sie aussagteund wozu sie gut sei. Ich hatte das Glück,

Mythos der Bestenauslese- warum Beurteilungen für Richterinnen

und Richter eine tolle Sache sind -

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Hessen-Info Januar 2004 NRVBeförderung und Unabhängigkeit

mit einer Reihe anderer Berufsanfängereingestellt worden zu sein, so dass mehre-re Richterinnen und Richter auf Probe anmeinem Gericht waren. Wir standen in en-gem Austausch und beherzigten den Rateines erfahrenen Kollegen, uns die Beur-teilungen gegenseitig zu zeigen. Leider istdies selbst unter unabhängigen Lebens-zeit-Richterinnen und -Richtern nicht son-derlich üblich und stellte eher das Spielgegeneinander mit verdeckten Karten denRegelfall dar. Aus dem Vergleich der Be-urteilungen war jedenfalls zu ersehen,dass wir alle einen ganz wunderbaren Ein-stieg hatten und der Präsident volles (n.b.:nicht „vollstes“) Vertrauen hatte, dass wirweiter zu wertvollen Richterpersönlichkei-ten heranreifen würden. Dies gab ihm Ge-legenheit, in seinen nachfolgenden Beur-teilungen seine gewagte Prognose und da-mit sich selbst bestätigt zu sehen.

Nach der ersten Beurteilung ertappte ichmich gelegentlich dabei, dass mir – wil-lens, gute Ratschläge anzunehmen, aberauch mit Gedanken an die nächste Beur-teilung – durch den Kopf ging, ob ich imrichtigen Maße das juristische Schrifttumauswerte und ob ich wohl eine bestimmteschön vorbereitete größere Akte so recht-zeitig fertig bekommen würde (mit Urteil,nicht mit Vergleich), dass ich sie für dienächste Beurteilung vorlegen könne. Ichhoffe, mich stets daran erinnert zu haben,dass ich das Amt nicht für meine Beurtei-lung, sondern für die Rechtssuchendenausübte.

Währenddessen wurde dem Kreis derProberichterinnen und -richter im Hauselangsam klar, dass die Beurteilung einPflichtprogramm war, das mit lyrischenUmschreibungen die Persönlichkeit lobteund dabei sorgsam vermied, zu den Lei-stungen im Kernbereich der richterlichenTätigkeit Position zu beziehen. Das istnatürlich nicht verwunderlich, weil eineBeurteilung sich wegen der richterlichen

Unabhängigkeit grundsätzlich nicht damitbefassen darf, ob die Entscheidungen desBeurteilten richtig sind, die Entscheidun-gen angemessen ausführlich und schlüssigbegründet werden, die Rechtsbehelfsbe-lehrung zutrifft etc.. Beurteilungen vonRichtern kreisen daher grundsätzlich umden heißen Brei. Sie dürfen zu der Kern-frage, ob jemand im Stande ist, auch in derSituation der Berufspraxis die erlernteund im Examen punktuell unter Beweis ge-stellte (bewertete und benotete) Fähig-keit, einen Lebenssachverhalt korrektoder zumindest vertretbar einer Lösungzuzuführen, keine Aussage treffen. SindBeurteilungen also verzichtbar?

Beurteilungen sind in den gegenwärtigenStrukturen der Justiz nicht verzichtbar,denn sie enthalten (gute) Noten. Ichmöchte nicht auf die arbeitspsychologi-sche Binsenwahrheit eingehen, dass gele-gentliches Lob motivationsfördernd wirkt(ehrlich gesagt kann ich mir auch nichtvorstellen, dass irgendeine Justizverwal-tung den ganzen Aufwand für das Erstelleneiner Beurteilung mit dem Ziel betreibt,ein motivationssteigerndes Lob zu platzie-ren). Die Beurteilungsnoten leiden zwarunter der gleichen Schwäche wie der Be-urteilungstext, nämlich dass sie sich nichtauf den Kern der Leistung der Richterinoder des Richters beziehen können. AberBeurteilungsnoten sind für die Justizver-waltung ein äußerst praktisches und wert-volles Mittel zur Personalentwicklung. Mitden Beurteilungsnoten wird gesteuert,wer wann was wird. Das beruht auf demPrinzip der Bestenauslese, das mit Rück-sicht auf die verfassungsrechtlichen Vor-gaben festlegt, dass die Besetzung öffent-licher Ämter streng nach Eignung, Befähi-gung und fachlicher Leistung zu erfolgenhat. Wer besser beurteilt wurde, ist bes-ser und ist auszuwählen. Die bessere Noteergibt sich aus der Beurteilung, wobei z.T.strenge förmliche Maßstäbe anzulegensind (Aktualität der Beurteilung im Zeit-

punkt der Auswahlentscheidung). Woraufdie bessere Note inhaltlich beruht, istzwar fragwürdig (s.o.), aber irrelevant.

Ein Schelm, der meint, schon die Beurtei-lungsnoten würden nach unsachlichen Kri-terien oder gar mit Seitenblick auf inten-dierte Karrieresprünge vergeben. Abspra-chen unter den Gerichtspräsidenten, dieSpitzennote „hervorragend“ an solche Per-sonen nicht zu vergeben, die ein bestimm-tes Alter noch nicht erreicht haben bzw.noch nicht zur Erprobung an das Ober-landesgericht abgeordnet waren, entbeh-ren sicherlich jeder Grundlage. Erfindun-gen neuer Notenstufen, die in der offiziel-len Notenskala nicht vorkommen („beson-ders hervorragend, oberer Bereich“) kom-men bestimmt nur unerfahrenen Präsi-denten oder aus Versehen vor. Und wennz.B. ein Kollege, der gerade in der Oberin-stanz erprobt wurde und dort eine Beur-teilung erhalten hat, zwei Wochen späteraus Anlass einer Bewerbung um eine Be-förderung eine Anlassbeurteilung erhält,die eine halbe – entscheidende – Noten-stufe besser ausfällt, liegt das ganz be-stimmt daran, dass sich seine Eignung undBefähigung gerade in der ersten Woche(in der ich ein amtsrichterliches Dezernatwohl nicht einmal zur Kenntnis nehmenkönnte, geschweige denn zahlreiche Aktenbearbeiten und einen Gesamteindruckmeiner Qualifikation vermitteln könnte)sprungartig verbessert hat. Die zweite Wo-che wird wohl für das Erstellen der Beur-teilung (Auswahl der vorzulegenden Akten,Einholen des Beurteilungsbeitrages, Ent-wurf der Beurteilung und deren Eröff-nung) benötigt worden sein.

Nur für Karriere-Laien erscheint es selt-sam, dass Kollegen aufgefordert werden,aussichtslose Bewerbungen einzureichen.Der erfahrene Kollege sieht darin einewillkommene Gelegenheit, eine Anlassbe-urteilung zu erhalten, ohne dass der Anlass– die Bewerbung – als störend angesehen

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wird. Er weiß auch, dass nach einer gewis-sen ungefähren Anzahl von Beurteilungendie Note steigt und bestimmte Personal-entscheidungen sich dann aufdrängen.

Nun ist aber die Beurteilungsnote nochnicht alles. Vor die Beförderung hat dieJustizverwaltung noch den Besetzungs-bericht und die Beteiligung hochrangigerPräsidenten gesetzt, in den wenigstenBundesländern auch noch einen mit rele-vanten Befugnissen ausgestatteten Rich-terwahlausschuss. Die Berichte und Betei-ligungen entwerten zwar die Beurteilungs-note nicht, sind aber notwendiges Korrek-tiv in den Fällen, in denen das Gewolltenicht allein aus der Note herzuleiten ist.Manchmal kommt es vor, dass mit Blick aufdas Anforderungsprofil mehrerer Kandida-ten als gleich anzusehen sind. Das soll na-türlich nicht so sein und bei geschickterWahl des Anforderungsprofils lässt sich dasauch meist vermeiden. Ich erinnere mich

z.B. an eine Ausschreibung einer Präsi-dentenstelle, die im konkreten Anforde-rungsprofil „verwaltungspraktische Erfah-rungen bei dem Umbau des Amtsgerichts“forderte. In dem unangenehmen Fall glei-cher Eignung, Befähigung und fachlicherLeistung (gleicher Note) muss für die Be-setzungsentscheidung im Besetzungsbe-richt daher auf Hilfskriterien zurückgegrif-fen werden. Das ist der große Moment derBeurteilung. Jetzt kann aus dem Vollen ge-schöpft werden und jetzt erhalten alle Be-merkungen über die nicht im Kernbereichder richterlichen Tätigkeit liegenden Lei-stungen und Qualifikationen und die damitverbundenen Steigerungsformen – oderderen Auslassung – ihre wahre Bedeutungzurück. Oder auch nicht. Denn leider stehtnicht wirklich fest, welche Hilfskriteriendem Fortkommen eigentlich wirklich för-derlich sind. Eine Tennismeisterschaft inder Regionalliga kann Beleg dafür sein,dass der Arbeit nicht die ganze Energie

und insbesondere zu wenig Zeit geopfertwurde. Siege bei Segelregatten könnenaber auch zeigen, dass trotz des (weit)überdurchschnittlichen Erledigungspen-sums eine gereifte und im Leben stehen-de Persönlichkeit auch andere als einsei-tig juristische Interessen verfolgt und da-bei zu Höchstleistungen fähig ist.

So eine Beurteilung für Richter ist einetolle Sache. Könnte sie doch nur etwasüber die Qualität der Leistungen der Beur-teilten sagen!

P.S. Um Spekulationen von vornehereinentgegenzutreten: ich habe mich nie umein Beförderungsamt im Richterdienst be-worben und habe das auch nicht vor. AlleBeispiele zu Beurteilungen für Bewer-bungsverfahren entstammen der von mirbeobachteten Praxis des Richterdienstesverschiedener Bundesländer der letztenzehn Jahre.

� Über 200.000 Menschen leben in Deutschland in einer recht-lichen Grauzone: behördlich »geduldet« – aber ohne Aufenthalts-recht; über 150.000 bereits länger als fünf Jahre. Viele sindKriegsflüchtlinge, die kein Asyl erhielten, aber nicht abgeschobenwerden konnten. Inzwischen haben sie sich in Deutschland inte-griert. Für die hier aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen istDeutschland ihr Zuhause. Doch selbst nach jahrelangem Aufent-halt droht ihnen die Abschiebung.

� Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist eine unzu-mutbare Härte. Sie wird den humanitären Grundsätzen, zu denenwir uns immer wieder bekennen, nicht gerecht. Zu tragischen Fol-gen führt dies bei Einzelnen wie bei ganzen Familien.

� In diesen Wochen verhandelt der Vermittlungsausschuss dasZuwanderungsgesetz. Auch das Zuwanderungsgesetz bietet bis-lang für die langjährig Geduldeten keine Lösung. Eine Bleibe-rechtsregelung ist nicht vorgesehen. Es ist auch im Interesse derBundesrepublik Deutschland, dass Menschen, die sich integrierthaben, ihr Leben in Deutschland weiter gestalten können.

Wir appellieren an die Bundesregierung, die Bundesländer, dieMitglieder des Vermittlungsausschusses und die Fraktionen:

•Verankern Sie eine Bleiberechtsregelung im Zuwanderungsgesetz!

•Schaffen Sie erfüllbare Voraussetzungen für einen Übergang vonder Duldung zum Aufenthaltsrecht.

❑ Ich unterstütze diesen Aufruf mit meiner Unterschrift

Name, Vorname .................................................................................

Straße ...............................................................................................

PLZ / Wohnort ...................................................................................

✗ Datum, Unterschrift ....................................................................

V.i.S.d.P. Günter BurkhardtBitte zurücksenden an: PRO ASYL, Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.Stichwort: Hesseninfo, Fax: 069/23 06 50,E-Mail: [email protected] zur Finanzierung: FördervereinPRO ASYL e.V., Spendenkonto-Nr.8047300, Bank für SozialwirtschaftKöln, BLZ 370 205 00

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Vorfragen richterlicher Ethik– Zur gesellschaftlichen und individuellen

Entwicklung von Moral –*

von Horst Häuser

I.Am Beginn des neuen Jahrtausends stecktdie Gesellschaft in einer schweren ethi-schen Krise, denn der Konsens darüber,was gut und böse ist, schwindet mehr undmehr.In unserer Industriegesellschaft hat eingrundlegender Wertewandel stattgefunden.Marion Gräfin Dönhoff hat die tiefgreifen-den Veränderungen in wenigen Wortenzusammengefasst: „weg von den überkom-menen Werten wie Pflichterfüllung, Verant-wortung tragen, Gemeinsinn üben – hin zueiner individualistischen Orientierung aufEigennutz, Selbstverwirklichung und hedo-nistischen Materialismus“ („Zivilisiert denKapitalismus“, 1997, S. 7).

Die moderne Gesellschaft ist durch Säkula-risierung, Pluralisierung, Ökonomisierungund Individualisierung gekennzeichnet. Sobegrüßenswert die Emanzipation des Indi-viduums einerseits ist, so bedenklich ist an-dererseits der rücksichts- und grenzenloseEgozentrismus, der unsere Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung zunehmend be-stimmt. Ist das Pendel der Entwicklung zuweit in die andere Richtung ausgeschlagen?

Die neue Orientierung an Geld, Macht undEigennutz führt nicht nur zu sozialer Kälte,zu Isolation und Desintegration des Ein-zelnen, sondern auch zur Erosion der Fun-damente unserer Demokratie.

Wir stehen letztlich vor der Frage, wie eineGesellschaft, die die Selbstverwirklichungdes Individuums in den Mittelpunkt stellt,noch als solidarische Gemeinschaft zu-sammengehalten werden kann?

Auf der Suche nach Mitteln und Wegen desZusammenhalts reden viele von ETHIKund fordern eine n e u e MORAL.Moralische und ethische Grundsätze sindHandlungsanforderungen an andere undan uns selbst, die den Sinn haben, norma-tive Verpflichtungen sittlicher Art einzu-halten und dadurch das Verhalten ver-schiedener Individuen auf einer gemeinsa-men Ebene verbindlich zu koordinieren.

Diese Verbindlichkeit kann auf autoritä-rem Zwang und Gehorsam beruhen, aufIdeologie, auf Tradition oder – in unsererZeit – auf der grundsätzlichen Anerken-nung moralisch-ethischer Normen, die mitguten Gründen in einem ö f f e n t -l i c h e n D i s k u r s innerhalbder Gesellschaft ausgehandelt werden.Nachdem mit der Aufklärung die metaphysi-schen Weltbilder staatlicher und kirchlicherMacht in sich zusammenfielen, ist dieRechtfertigung moralisch-ethischer Grund-sätze in unserer heutigen Gesellschaft aufein „nachmetaphysisches Begründungs-niveau“ angewiesen, das – seit Kant – nurin der V e r n u n f t bestehen kann.

Die Diskussion um eine neue Moral ist vorallem für die 68er Generation nicht selbst-verständlich, da sie der „bürgerlichen Mo-ral“ bisher eher skeptisch gegenüberstand.

Ursache dieser kritischen Distanz war dieDoppelmoral der Nachkriegsgesellschaftund die fehlende Aufarbeitung der natio-nalsozialistischen Unrechtsmoral.Doch es geht heute nicht mehr um dieRückkehr zur sexualfeindlichen und auto-ritätsgläubigen Moral der 50er und 60erJahre des letzten Jahrhunderts, es gehtvielmehr um den öffentlichen Gebrauchvon Verantwortung und Vernunft in Staatund Gesellschaft.

Gerade in Deutschland sehen wir uns mitder These Adornos konfrontiert, Hitlerhabe den Menschen „einen neuen kate-gorischen Imperativ aufgezwungen: ihrDenken und Handeln so einzurichten,dass Auschwitz sich nicht wiederhole“.Insoweit kann der aktuelle Diskurs umWerte, Normen und Tugenden auch als einRingen um ein neues moralisches Selbst-verständnis verstanden werden, mit demwir Deutsche, die wir von unserer unseli-gen Untertanentradition geprägt sind,Anschluss an das demokratische Selbst-bewusstsein anderer Nationen gewinnenkönnen.

Moral gilt daher – auch innerhalb der kriti-schen Gesellschaftstheorie – nicht längerals herrschaftsstabilisierende, sondern alskritisch-emanzipatorische Kraft (Elbrecht/Wöll (Hrsg), „Psychoanalyse, Politik undMoral“, 1998, S. 7).

II.Einige Berufe haben in Deutschland für ih-ren Fachbereich ein B e r u f s e t h o sentwickelt. Sie haben – insb. wenn es umsensible Fragestellungen oder kritischeSituationen geht – Verfahren oder Stan-dards erarbeitet, mit denen moralischeAspekte berücksichtigt und ethisch reflek-tiert werden können (die Begriffe Ethikund Moral werden im Folgenden synonymverwandt, da unter Moral zumeist der In-begriff des ethisch-sittlichen Verhaltensverstanden wird).

Abdruck aus Betrifft JUSTIZ Nr. 76 (Dezem-ber 2003)

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit

Sollten wir Richterinnen und Richterebenfalls ein Berufsethos entwickeln?Die XVII. Mitwirkungskonferenz der NRV-Fachgruppe „Justizstruktur und Gerichts-verfassung“, die vom 26. - 28. September2003 in Fulda stattfand, hat sich mit demThema „Richterliche Ethik“ befasst. Dabeiging es uns um eine erste Annäherung anein komplexes Thema, das durch die In-itiativen der Vereinten Nationen und desEuroparats einen aktuellen Bezug bekom-men hat (vgl. Krix, „Richterliche Ethik –weltweit ein Thema“, DRiZ 2003, S. 149 ff).Vor drei Jahren ha-ben die VereintenNationen eine Ar-beitsgruppe vonRichterinnen und Richtern beauftragt,Standards richterlicher Ethik zu kodifizie-ren, um dadurch die Integrität der Justizund das Vertrauen der Bürger in sie zustärken.Die richterliche Arbeitsgruppe, die sichnach dem Ort ihres ersten Zusammentref-fens „Projekt Bangalore“ nennt, hat imJahre 2002 ein Grundsatzpapier vorgelegt.Diese „Prinzipien von Bangalore“ zurRichterethik beruhen weitgehend auf denVorstellungen der „common law“-Länder.

So enthält der Kodex das im anglo-ameri-kanischen Rechtsraum traditionelle Verbotfür Richter, Mitglied einer politischen Par-tei zu sein. Er enthält weiterhin Einschrän-kungen richterlicher Meinungsfreiheit undsogar Verhaltensregeln für das richterli-che Privatleben. Zudem sind Verstöße ge-gen Ethikregeln mit disziplinarischer Ahn-dung verknüpft.Dieser Kodex ist – wohl nicht zu Unrecht –in Europa auf Kritik gestoßen. Als „Ant-wort“ auf Bangalore hat der „Rat Europäi-scher Richter“ (Conseil Consultatif desJuges Européens – CCJE) im Auftrag desEuroparats zu Fragen der richterlichenUnabhängigkeit und Unparteilichkeit imNovember 2002 Stellung genommen(www.drb.de/ccje-richterethik. pdf). Der

CCJE-Entwurf knüpft an die kontinentaleu-ropäische Richtertradition an und will vorallem auf folgende Fragen Antwort geben:1. Welche Verhaltensstandards sollten für

Richter gelten?2. Wie sollten Verhaltensstandards formu-

liert werden?3. Welche Art disziplinarrechtlicher Haf-

tung sollte, wenn überhaupt, für Richtergelten?

Bisher hat das Thema in Deutschland kaumBeachtung gefunden. Doch es ist zweifel-

haft, ob man sich dieser Dis-kussion einfach entziehenkann. Im Rahmen unsererMitwirkungskonferenz woll-

ten wir daher zunächst die prinzipielle Fra-ge klären, ob wir uns an der aktuellen Dis-kussion beteiligen. Deshalb haben wir unsauch nicht mit konkreten Einzelfragenbefasst, sondern uns allgemein und grund-sätzlich mit dem Thema Moral beschäftigt.

Seit wann gibt es überhaupt eine individu-elle Moral des Menschen, wann trat sie zu-erst im gesellschaftlichen Bereich in Er-scheinung und wie ist ihr Verhältnis zumRecht?

Die GESELLSCHAFTLICHE ENTWICK-LUNG DER MORAL reicht nicht so weitzurück, wie man vermuten könnte.In vorstaatlichen Gesellschaften, die egali-tär organisiert waren und somit noch kei-ne institutionell verfestigte Autorität kann-ten, waren Moral, Sitte und sonstige Ge-wohnheiten noch nicht getrennt (vgl. dazuUwe Wesel, „Frühformen des Rechts invorstaatlichen Gesellschaften“, 1985, S.334 ff).

Damals gab es noch keine individuelle Mo-ral des Menschen, sondern nur kollektiveVerhaltensmuster. Das Verhalten der Men-schen war konformistisch und dement-sprechend gab es nur eine Allgemein-moral.

Die Individualmoral bildete sich erst mitdem Untergang der frühen egalitären Ge-sellschaften heraus. In dieser Zeit ent-stand auch das Recht als Steuerungs- undHerrschaftsinstrument der neuen kepha-len Gesellschaften (vom griechischen ke-phale = Kopf), also der Gesellschaften„mit Kopf“ in Gestalt eines Häuptlingsoder Königs (vgl. Betrifft JUSTIZ Nr. 66(2001) S. 92 ff).

Dennoch stimmte das Recht mit der Moralbzw. Ethik in der Antike noch weitgehendüberein. Schon die Worte weisen auf einenengen Zusammenhang hin: Ethik kommtvom griechischen ethos und Moral vom la-teinischen mos, beides bedeutet soviel wieSitte, Brauch, Gewohnheit.Die Moral des Individuums stand damalsweit mehr als heute mit den Sitten der Ge-meinschaft und dem Recht des Staates inEinklang.

Diese grundsätzliche Einheit von Rechtund Moral bestand bis ins Mittelalter fort.Die entscheidende Trennung erfolgte erstin der Neuzeit mit der Überwindung desAbsolutismus durch die Aufklärung, die zu-gleich auch den kirchlichen Einfluss zu-rückdrängte. Im Interesse der F r e i h e i tund der I n d i v i d u a l i t ä t werdenseitdem Recht einerseits und Moral/Ethik/Sittlichkeit andererseits unterschieden,wenn sie auch nicht völlig getrennt sind.Seit dieser Zeit – so ist in den meisten ju-ristischen Lehrbüchern zu lesen – be-stimmt das R e c h t das ä u ß e r eV e r h a l t e n des Menschen und dieM o r a l die i n n e r e E i n -s t e l l u n g .Doch diese Zweiteilung ist wenig reali-stisch. Meist wird – vor allem von Juristen– der Einfluss des Rechts als Instrumentder sozialen Steuerung ü b e r – und dieOrientierung des Menschen an anderensozialen Wert- und Ordnungssystemenu n t e r s c h ä t z t. Es gibt aber eineVielzahl von „nicht-rechtlichen“ Prinzipien

Welche Verhaltensstandardssollen für Richter gelten?

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und Werten, an denen sich Menschen ineiner Gesellschaft traditionell, emotionalund rational orientieren, „die rechtlicheErwägungen eher randständig erscheinenlassen“ (Rottleuthner, „Einführung in dieRechtssoziologie“, 1987, S. 80).Dabei geht es letztlich um die immer wie-der aufgeworfene und doch nie vollständigbeantwortete Frage nach dem Verhältnisvon rechtlichen zu außerrechtlichen Nor-men, die g e m e i n s a m das Leben derMenschen bestimmen, was sich einerseitsals E r g ä n z u n g, andererseits aberauch als K o n f l i k t darstellen kann.

Hier treffen wir auf den „nie verstummen-den Widerstreit zwischen dem Gewissenund dem Recht“ (Zippelius, „Recht und Ge-rechtigkeit in der offenen Gesellschaft“,Kapitel 13) und die damit verbundeneng r o ß e n F r a g e n nach den Mög-lichkeiten und Grenzen der Willensfrei-heit, der Werterkenntnis, des Rechtsge-fühls, der Gerechtigkeit, des Widerstands-und des Naturrechts.Während die „konkurrierende Normorien-tierung“ des Menschen (an rechtlichenund/oder an außerrechtlichen Normen) inder Vergangenheit sogar zu Glaubenskrie-gen geführt hat, ist sie in unserer heutigenGesellschaft, die eher von pluralistischerToleranz als von fundamentalistischen Ge-gensätzlichkeiten geprägt ist, nicht mehrso konflikthaft und damit auch nicht mehrso brisant (heute sind allenfalls noch Fälle„zivilen Ungehorsams“ denkbar). Das giltum so mehr, wenn außerrechtliche Nor-men – wie die einer neuen Ethik – in ei-nem öffentlichen Diskurs auf der Grundla-ge der Vernunft (s.o.) zustande kommen.Hier dürfte eher eine Ergänzung als einKonflikt das Verhältnis zu den rechtlichenNormen bestimmen. Zudem ist eineethisch-moralische Reflexion bei beson-ders sensiblen oder neu auftretendenProblemen oftmals die einzige Handlungs-orientierung überhaupt, da es hier meistan einer gesetzlichen Normierung fehlt.

In unserer Zeit des Werteverfalls, in derdie moralische Überzeugung des Individu-ums vom hedonistischen Materialismusmit seiner Konsumorientierung in denHintergrund gedrängt wird, liegt zugleichdie C h a n c e zur Entwicklung einern e u e n Moral. Es gibt auch erste An-zeichen für eine postmaterialistische Ein-stellung der Menschen, wie z.B. die zuneh-mende Berücksichtigung der Belange derUmwelt erkennen lässt. So scheint geradeim Umweltbereich eine „neue ökologischeMoral“ dem Recht voranzugehen (Röhl,„Rechtssoziologie“, 1987, § 32, 4 b).

Auch im Bereich der Dritten Gewalt könnteeine neue Moral – in Gestalt eines eigenenBerufsethos – nützlich, wenn nicht sogarnotwendig sein. Die bestehenden Mängelsind hinreichend bekannt: hierarchischestatt demokratische Strukturen, vielfältigeAbhängigkeiten von der Exekutive, Bürokra-tisierung und Rechtstechnokratisierung,Quantitäts- statt Qualitätsorientierung, Ver-nachlässigung der Einzelfallgerechtigkeit,Personalsteuerung und Ämterpatronage,Karrieredenken und vorauseilender Gehor-sam, mentale Verbeamtung und Resignati-on, „innere Kündigung“ und und und...

Es ist mit den Vorgaben des Grundgesetzesund der Würde des richterlichen Amtes un-vereinbar, wie die Rich-terinnen und Richter imbestehenden Justizver-waltungssystem behan-delt werden, wie siesich behandeln lassenund wie sie oft auch selbst handeln. Hiergilt es, innerhalb der Richterschaft einentsprechendes Problembewusstsein zuwecken und ethische Standards zu entwik-keln, deren Einhaltung wir von uns selbstund von anderen erwarten. Es ist durchausdenkbar, dass eine neue, von der Richter-schaft entwickelte richterliche Ethik, dieVorbilds- und keinen Sanktionscharakterhat, dem Recht vorausgeht und später zur

Ausgestaltung oder Umgestaltung des ge-setzten Rechts führt.

III.Neben der gesellschaftlichen Entwicklungder Moral ist auch die INDIVIDUELLEENTWICKLUNG DER MORAL von beson-derer Bedeutung, also die Frage, wie sichdie moralische Entwicklung in der Persondes Menschen vollzieht.

Die Entwicklung der menschlichen Per-sönlichkeit verläuft in einem kontinuierli-chen Prozess, der sich über verschiedeneAltersstufen und Phasen erstreckt. DieE n t w i c k l u n g s p s y c h o l o g i ebefasst sich mit diesen Veränderungen,die durch körperliches Wachstum unddurch seelische Reifung, durch Anpassungan die Umwelt und durch Lernprozesse er-klärt werden können. Von besonderer Be-deutung sind die psychosexuelle und diepsychosoziale Entwicklung des Individu-ums, aber auch der kognitiven und morali-schen Entwicklung kommt ein besonderesGewicht zu. Unter der moralischen Entwick-lung versteht man jenen Teil desSozialisationsprozesses, der zur zunehmen-den Internalisierung grundlegender kultu-reller Werte und Regeln durch das Individu-um führt. Die Internalisierung solcher „kul-tureller Standards“ befähigt das Individu-

um, auf der Grundlage dieserStandards moralische Urteile zufällen und sowohl gegenübersich selbst als auch gegenüberanderen zu begründen, warumman diese Standards anerkennt.

Die STUFEN DER MORALISCHEN ENT-WICKLUNG des Menschen sind von demamerikanischen Psychologen LawrenceKohlberg (1927 - 1987) eingehend unter-sucht worden (vgl. z.B. Colby/Kohlberg,„Das moralische Urteil: der kognitions-zentrierte entwicklungspsychologische An-satz“, in Kindlers „Psychologie des zwan-zigsten Jahrhunderts“, 1980, Bd. VII, S. 348

Werteverfall bietet zu-gleich die Chance zurEntwicklung einerneuen Moral

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ff). Seine Erkenntnisse und Theorien,über die hier nur ein kurzer Überblick ge-geben werden kann, haben in den letzten40 Jahren zu einer enormen Expansiondieses Themenbereichs innerhalb der So-zialwissenschaften geführt.

Kohlberg, der zunächst Jura und dann Psy-chologie studiert hatte, war zeit seines Le-bens besonders an Fragen der Gerechtig-keit interessiert. Er baute auf dem Werkdes berühmten Schweizer PsychologenJean Piaget (1896 - 1986) auf, der bereits1932 ein Buch über „Das moralische Urteilbeim Kind“ geschrieben hatte. Piaget un-tersuchte schon damals, wie Kinder zumDenken und Urteilen gelangten. Er ent-deckte, dass die schon von Kant unter-schiedenen Formen der Moral – der anäußeren Regeln ausgerichteten h e t e -r o n o m e n Moral einerseits und dereigentlichen, von eigenen Grundsätzen be-stimmten a u t o n o m e n Moral ande-rerseits – sich im Menschen entwicklungs-psychologisch wiederfinden lassen: imÜbergang von der Fremdbestimmung desKindes durch die elterliche Autorität hinzur Selbstbestimmung des heranwachsen-den Menschen.Die Untersuchungsmethoden von Piagetwurden von Kohlberg weiterentwickelt. Erbefragte seine Versuchspersonen – begin-nend im Kindesalter – über Jahrzehnte hin-weg in mehrjährigen Intervallen zu morali-schen Konfliktsituationen. Zum Beispiel: istes in einer lebensbedrohlichen Situationbesser, einen bedeutenden oder zehn un-bedeutende Menschen zu retten? Oder:darf ein Mann für seine todkranke Frau einlebensrettendes Medikament stehlen,wenn der Erfinder dafür einen um ein Viel-faches über den Herstellungskosten liegen-den Betrag fordert, den der Mann unter kei-nen Umständen aufbringen kann?Dabei kam es Kohlberg weder darauf an,wie sich die Versuchspersonen im Ergeb-nis entschieden, noch ob die getroffenemoralische Entscheidung auch tatsächlich

in die Realität umgesetzt werden würde(was von einer Vielzahl weiterer Faktorenabhängig wäre).

Wie Piaget ist auch Kohlberg nicht an deräußerlichen Entwicklung des moralischenV e r h a l t e n s, sondern an der innerenEntwicklung des moralischen V e r -s t ä n d n i s s e s interessiert. Es gehtihm nicht darum, was eine Person in ei-nem moralischen Konflikt letztlich tatsäch-lich tun würde, sondern warum eine Per-son etwas für moralisch richtig oder falschhält. Kohlberg untersuchte also die Be-gründungsstrukturen, die unterschiedlichkomplex sein können und die er dement-sprechend bestimmten Begründungsni-veaus zuordnete.

Kohlberg unterscheidet 3 BEGRÜNDUNGS-NIVEAUS mit jeweils 2 Unterstufen (alsoinsgesamt 6 Entwicklungsstufen):

I. Präkonventionelles Niveau (mit denEntwicklungsstufen 1 und 2), auf demsich die meisten Kinder, einige Heran-wachsende und wenige Erwachsenebefinden.Hier ist man noch nicht wirklich in derLage, gesellschaftliche Regeln sinnhaftzu verstehen und zu billigen, sondernman befolgt sie lediglich aus Angst vorStrafe.

II. Konventionelles Niveau (mit den Ent-wicklungsstufen 3 und 4), auf dem sichdie Mehrzahl der Jugendlichen und diemeisten Erwachsenen bewegen.

Man verhält sich konformistisch. Re-geln werden eingehalten und gesell-schaftlichen Erwartungen wird ent-sprochen, ohne ihrerseits jedoch ei-ner hinterfragenden Bewertung unter-zogen zu werden.

III. Postkonventionelles Niveau (mit denEntwicklungsstufen 5 und 6), das nur

von einer kleinen Minderheit der Er-wachsenen erreicht wird.

Auf diesem Niveau versteht man diegesellschaftlichen Regeln und imGrunde akzeptiert man sie auch, aberdiese Anerkennung beruht nicht aufder Konvention, sondern auf dem derKonvention zugrunde liegenden mora-lischen Prinzip. Dabei ist es gelegent-lich möglich, dass das Prinzip mit derKonvention in Konflikt gerät. Dannrichtet sich das Individuum nicht nachder Konvention, sondern nach demmoralischen Prinzip. Das postkonven-tionelle Niveau beruht auf dem Ver-trauen in eine autonome Moral jen-seits von Autoritäten aller Art.

Kohlberg geht davon aus, dass das jeweili-ge Begründungsniveau in engem Zusam-menhang mit der s o z i a l e n P e r -s p e k t i v e steht, aus der das Indivi-duum die gesellschaftliche Wirklichkeitbeobachtet. Die soziale Perspektive be-zieht sich darauf, wie das Individuum an-dere Menschen wahrnimmt, wie es ihreGefühle und Gedanken interpretiert undwie es ihre Rolle oder Stellung in der Ge-sellschaft beurteilt.

Dem präkonventionellen Niveau (mit denEntwicklungsstufen 1 und 2) entspricht da-nach eine „konkret-individuelle“ sozialePerspektive, dem konventionellen Niveau(mit den Entwicklungsstufen 3 und 4) einePerspektive als „Mitglied der Gesellschaft“und dem postkonventionellen Niveau (mitden Entwicklungsstufen 5 und 6) eine Per-spektive, die „der Gesellschaft vorgeord-net“ ist.

IV.Betrachten wir die 6 ENTWICKLUNGSSTU-FEN etwas näher:Jede Stufe ist durch unterschiedliche An-sichten zu bestimmten Aspekten der Mo-ralität gekennzeichnet, durch unterschied-

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liche Einschätzungen bestimmter Werteund durch unterschiedliche Gründe mora-lisch zu handeln. Die Entwicklung beginntbei der Stufe 1 und verläuft in einer Rei-henfolge, bei der die soziale Perspektiveimmer allgemeiner und umfassender wird.Auf jeder höheren Stufe werden die Argu-mente und Prinzipien der vorhergehendenStufe integriert und differenziert. Dabeikann keine Stufe übersprungen werden.Die benötigte Zeit zur Erreichung dernächsten Stufe ist von Individuum zu Indi-viduum (von Gesellschaft zu Gesellschaft,von Kultur zu Kultur) verschieden. Ebensoist es möglich, dass die späteren Stufen –insbesondere die Stufen 5 und 6 des post-konventionellen Niveaus – nicht erreichtwerden. Eine nicht erreichte Stufe kannnur schwer von einer darunter liegendenEntwicklungsstufe aus verstanden werden.

1. Stufe: Orientierung an Strafeund GehorsamDas Kind geht von einem egozentrischenStandpunkt aus und berücksichtigt die In-teressen anderer nicht. Regeln sind einzu-halten, weil ihm sonst eine Bestrafungdroht. Insoweit reagiert das Kind zwar aufdie ihm als „gut“ oder „böse“ vorgeschrie-benen kulturellen Regeln, aber es verstehtdiese Forderungen nur im Hinblick auf de-ren physische Folgen. Die äußeren Konse-quenzen einer Handlung – also ihre Beloh-nung oder Bestrafung – bestimmen somitihr Gut- oder Bösesein, ohne Rücksichtauf einen dahinter liegenden Wert oderSinn. Man hält an unabänderlichen Regelnfest, denen blindlings zu folgen ist. Folg-samkeit und fragloses Nachgeben gegen-über der Macht der Personen, die dieseRegeln zur Geltung bringen (Eltern, Leh-rer), sind quasi ein Selbstzweck.

2. Stufe: Instrumentell-egoistischeOrientierungVon einer individualistischen Perspektiveaus erkennt das Kind, dass verschiedeneindividuelle Interessen miteinander im

Konflikt liegen. Es bleibt aber bei der nai-ven egoistischen Orientierung, wobei al-lerdings gelegentlich auch dem Egoismusdes anderen Rechnung getragen wird, al-lerdings nur als instrumentelles Mittel(„Ich kratz dir deinen Rücken – Du kratztmir meinen Rücken!“). Menschliche Bezie-hungen werden im Sinne von Austauschbe-ziehungen des Marktes verstanden, blei-ben aber auf die Wechselseitigkeit des „dout des“ beschränkt, ohne weitergehendeVorstellungen von Dankbarkeit oder garGerechtigkeit.

3. Stufe: Interpersonelle Konfor-mität oder „good boy – nice girl“-OrientierungDas Individuum steht nunmehr in Bezie-hungen zu anderen Individuen. Es ist sichder gemeinsamen Gefühle und Erwartun-gen bewusst, die nunmehr den Vorrang vorden egoistischen bzw. individuellen Inter-essen erhalten. Es herrscht weitgehendeEinigkeit über das wechselseitig erwarteteVerhalten mit stereotypen Vorstellungenüber „natürliche“ Rollen (Sohn, Bruder,Freund). Es ist dem Individuum wichtig,diesen Erwartungen und Rollen zu ent-sprechen. „Gut“ ist nunmehr, was anderen– vor allem nahestehenden – Personengefällt, ihnen hilft und ihren Beifall findet.Es ist die Moralität des „guten Kindes“,das durch Nett-Sein („being nice“) Ableh-nung vermeiden und Anerkennung findenwill. Man pflegt zwischenmenschliche Be-ziehungen und empfindet Wertschätzung,Vertrauen und Dankbarkeit.

4. Stufe: Orientierung an „Gesetzund Ordnung“Das Individuum übernimmt nun die „Sy-stem“-Perspektive, die sich weit über dieFamilie hinaus bis auf den Staat und dieNation erstreckt und in der alle Regelnund Rollen starr festgelegt sind. Man ori-entiert sich immer noch an der Autorität,die nunmehr aber eher prinzipiell verstan-den wird (Gesetz, Religion). Man tut seine

Pflicht, nimmt Rücksicht auf andere, zeigtRespekt vor der Autorität und will die so-ziale Ordnung um ihrer selbst willen erhal-ten, notfalls durch Strafe (law and order).Die Einstellung des Individuums gegen-über der gesellschaftlichen Ordnung gehtüber die bloße Anpassung hinaus und er-streckt sich auch auf die Rechtfertigungder Ordnung, einschließlich der Identifi-kation mit den Personen oder Gruppen,die als Träger der Ordnung auftreten.

5. Stufe: Orientierung am Gesell-schaftsvertragDas rationale Individuum geht von einerder Gesellschaft vorgeordneten Perspekti-ve aus.

Im Bewusstsein der Relativität persönli-cher und soziokultureller Wertungen wirdein Verfahren der Konsensbildung gefor-dert, das die Verletzung von allgemeinenIndividualrechten vermeidet und gleich-wohl dem Willen und Wohl der Mehrheitdient („Der größtmögliche Nutzen für diegrößtmögliche Zahl“). Daraus folgt einekontraktmäßige Orientierung am Gesell-schaftsvertrag (Sozialvertragsdenken),aber unter Berücksichtigung der Möglich-keit einer angemessenen Veränderung imSinne vernünftiger Erwägungen des gesell-schaftlichen Nutzens. Die Befolgung dergesellschaftlichen Regeln erfolgt letztlichim Interesse der Gerechtigkeit und weildiese Regeln den sozialen Kontrakt aus-machen.

Bestimmte absolute Werte und Rechte –wie Leben und Freiheit – müssen jedoch injeder Gesellschaft unabhängig von der Mei-nung der Mehrheit respektiert werden.

6. Stufe: Orientierung an univer-salen ethischen PrinzipienDas ist die Perspektive eines „morali-schen Standpunktes“, von dem sich allegesellschaftliche Ordnung herleitet. Dasrationale Individuum erkennt das Wesen

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der Moralität an und geht davon aus, dassjeder Mensch seinen (End-)Zweck in sichselbst trägt und daher nicht bloß als Mittelbehandelt und benutzt werden darf. DieOrientierung auf der letzten Stufe erfolgtaufgrund der Gewissensentscheidung desIndividuums im Einklang mit selbst-gewählten ethischen Prinzipien, die im lo-gischen Zusammenhang stehen und uni-versal gültig sind. Diese ethischen Prinzi-pien sind nicht konkreter Natur (wie z.B.die Zehn Gebote), sondern sie sind ab-strakt. Im Kern geht es um universale Prin-zipien der Gerechtigkeit, nach denen alleMenschen gleiche Rechte haben und wo-nach die Würde des Menschen als indivi-dueller Person zu achten ist. Da gesell-schaftliche Regeln im allgemeinen nurdeshalb gültig sind, weil sie auf diesenPrinzipien beruhen, sind Gesetze, wennsie gegen diese Prinzipien verstoßen,nicht verbindlich; in diesem Konfliktfallorientiert sich das Individuum an den ethi-schen Prinzipien.

V.Kohlberg ging von der t r a n s k u l t u -r e l l e n G e l t u n g seines Entwick-lungsmodells aus. Inzwischen haben empi-rische Untersuchungen aus fast allen Tei-len der Welt seine Theorie weitgehend be-stätigt.Allerdings wird in kleineren traditionellenKulturen (sog. „face to face“-Gesellschaf-ten) oft nur die Stufe 3 als höchste Ent-wicklungsstufe erreicht. Bei größerer ge-sellschaftlicher Komplexität (wie in denIndustriestaaten) gelangt man jedochmeist bis zur Stufe 4.

Dagegen wird auf der ganzen Welt die Stu-fe 5 nur selten und die Stufe 6 von nahezuniemandem erreicht. Kohlberg interpre-tierte die Stufe 6 später auch nicht mehrempirisch, verwies aber auf geschichtlichePersönlichkeiten (wie z.B. Sokrates), diefür ihre ethischen Maxime lebten undstarben. Während er sich früher zur For-

mulierung der abstrakten ethischen Prinzi-pien der Stufe 6 auf den „KategorischenImperativ“ von Kant bezog („Handle so,dass die Maxime deines Handelns jeder-zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinenGesetzgebung gelten könnte“), verwies erspäter auch auf die Gerechtigkeitstheorie(„A Theory of Justice“) von Rawls und aufdie „ideale Sprechsituation“ (Diskursthe-orie) von Habermas (vgl. Eckensberger inKeller (Hrsg), „Lehrbuch der Entwick-lungspsychologie“, 1998, S. 475 ff).

Es ist in der Tat beeindruckend, dass Kohl-bergs Modell nicht nur mit Kants kategori-schem Imperativ, sondern auch mit derwohl bedeutendsten Gerechtigkeitstheo-rie der Gegenwart (Rawls Fairness-Ethik)und mit der Diskurs-Ethik von Habermas(des meistgelesenen und meistdiskutier-ten Denkers der „Kritischen Theorie“)kompatibel ist.

John Rawls (1921 - 2002) war der Fragenachgegangen, wie eine Gesellschaft orga-nisiert sein muss, damit ihre Mitgliederfair miteinander umgehen. Er hatte folgen-des – an der Theorie des Gesellschafts-vertrags anknüpfendes – Gedankenexpe-riment vorgeschlagen: Angenommen, eineGruppe von Menschen könnte noch einmalganz von vorne anfangen und in einem ge-meinsamen Akt die Grundsätze wählen,nach denen eine faire und gerechte Ge-sellschaft gestaltet werden sollte („Urzu-stand“), wie würden sie über die Vertei-lung der Rechte und Pflichten entschei-den, wenn niemand wüsste („Schleier desNichtwissens“), welchen Platz er künftig inder Gesellschaft einnehmen wird, wedervon seinem Status her – wie z.B. seinerStellung, seiner Herkunft und seinem Be-sitz – noch von der Verteilung seinernatürlichen Gaben – wie z.B. seiner Intelli-genz, seiner Körperkraft und seiner Ge-sundheit?

Rawls geht davon aus, dass sich von derVernunft geleitete Menschen für Gerech-

tigkeitsvorstellungen entscheiden, die dieZufälligkeiten der gesellschaftlichen Ver-hältnisse einerseits und der natürlichenBegabungen andererseits nicht zu politi-schen und wirtschaftlichen Vorteilen füh-ren lassen.Er behauptet, dass die Menschen zweiGrundsätze wählen würden: zum einen dieGleichheit der Grundrechte und -pflich-ten, zum anderen den Grundsatz, dass ent-stehende soziale und wirtschaftliche Un-gleichheiten nur dann gerecht sind, wenndaraus Vorteile für jedermann entstehen,insbesondere für die schwächsten Mitglie-der der Gesellschaft.Mit der Betonung der gemeinschaftlichenEntscheidung der Individuen auf der Grund-lage der Vernunft kommt Rawls der Dis-kurstheorie von Habermas sehr nahe.Als Ziel der moralischen Entwicklung stehtbei Kohlberg – ebenso wie schon bei Kantund nunmehr bei Rawls und Habermas –das m ü n d i g e S u b j e k t, das diefaktische Verfasstheit der gesellschaftli-chen Regeln zutreffend immer auch alsAusdruck der Macht, als Niederschlag undStütze der gesellschaftlichen Kräftever-hältnisse zu erkennen vermag. Das mündi-ge Subjekt, das das postkonventionelle Ni-veau (ab Stufe 5) der moralischen Ent-wicklung erreicht hat, ist in der Lage, die-sen faktisch geltenden Regeln die V e r -n u n f t als Autorität überzuordnen. Aufdieser Ebene definieren nicht länger dieRegeln und Gesetze, was als vernünftig zugelten hat, sondern umgekehrt wird nundie wertsetzende Vernunft als Maßstabder Bewertung von Regeln und Gesetzenherangezogen.Vernunft ist dabei keinesfalls im Sinne ei-ner bloß instrumentellen Rationalität zuverstehen, sondern vielmehr als das Ver-mögen, begründete und begründendeethische Regeln zu setzen. Bestehende ge-sellschaftliche Regeln können und sollensich zwar der Vernunft verdanken, müssenes aber nicht und tun es in der Rechts-wirklichkeit auch keineswegs immer.

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Rawls und Habermas erweitern diese Vor-stellung noch um den A s p e k t d e rI n t e r s u b j e k t i v i t ä t, indemsie als Instanz, in der sich diese regel-setzende Vernunft realisiert, nicht das iso-lierte Subjekt, sondern den „Akt der Wahldurch die Gruppe“ (Rawls) bzw. den„herrschaftsfreien Diskurs in der Gruppe“(Habermas) setzen.

VI.Abschließend stellt sich die Frage, wieeine WEITERENTWICKLUNG der morali-schen Urteilsfähigkeit ermöglicht und un-terstützt werden kann.Kohlberg geht davon aus, dass bei ent-sprechenden A n r e g u n g s b e -d i n g u n g e n eine positive Entwick-lung möglich ist, dass es andererseits aberauch H e m m u n g s b e d i n g u n -g e n gibt, die einer weiteren Entwicklungim Wege stehen.Die moralische Entwicklung baut sich zu-nächst auf der Intelligenz und dem Bil-dungsniveau auf. Da das moralische Den-ken natürlich auch Denken ist, hängt dasfortgeschrittene moralische Denken vomfortgeschrittenen logischen Denken ab.Doch die Entwicklung des logischen Den-kens ist nur eine notwendige, aber keinehinreichende Bedingung für die Entwick-lung von Moralität. Es gibt viele Menschen,bei denen das logische Denken wesentlichweiter entwickelt ist als die Moralität.

Für die moralische Entwicklung sind so-mit weitere Faktoren aus der sozialenUmgebung maßgeblich, insbesondere dieder sozialen Erfahrung bzw. der sozialenPerspektive. Kohlberg nennt diese Fakto-ren „ M ö g l i c h k e i t e n z u rR o l l e n ü b e r n a h m e “ und ver-steht darunter, „dass man Rollen über-nimmt, sich die Einstellungen anderer zueigen macht, sich ihrer Gedanken und Ge-fühle bewusst und imstande ist, sichselbst an ihre Stelle zu versetzen“ (a.a.O.S. 362).

In diesem Zusammenhang erleben Mitglie-der einer Gruppe oder Institution „dieseselbst als in einem bestimmten Stadiummoralischer Entwicklung stehend“. Die„ m o r a l i s c h e A t m o s p h ä r ee i n e r I n s t i t u t i o n “ hat dabeieinen grundlegenden Einfluss auf die mo-ralische Entwicklung ihrer Mitglieder. Die-se moralische Atmosphäre wird entschei-dend durch die „Gerechtigkeitsstruktur“der Institution geprägt, also die Art undWeise, in der Rechte und Pflichten verteiltsind.

Entsprechende Anregungsbedingungenliegen auch hier in der „Gelegenheit zu ei-ner neuen Rollenübernahme“, darüberhinaus in der „Partizipation an kooperati-ven Entscheidungen“ und der „offenenKonfrontation mit sozialen Problemen“.Auch die von den Mitgliedern der Instituti-on subjektiv wahrgenommene „Fairness“der dort geltenden Regeln fördern dieEntwicklung der Moralität. Entwicklungs-hemmend wirken dagegen die „Verleug-nung und Verdrängung von Widersprü-chen“ sowie eine „mechanisierte undmachtorientierte Kommunikation“.

Die ins Auge fallenden Übereinstimmun-gen mit den Strukturen der deutschen Ju-stiz – sowohl was die fehlenden Anre-gungsbedingungen als auch was die vor-handenen Hemmungsbedingungen angeht– sind bezeichnend für das niedrige mora-lische Niveau unseres hierarchisch-autori-tären Justizsystems.Die deutsche Justiz ist fremdbestimmt.Sie wird von einer anderen Staatsgewalt –der Exekutive – gesteuert, an deren Spitzedie Regierung steht. Deren Interesse istprimär auf Machterhalt gerichtet. Ein aufMachterhalt gerichtetes Interesse birgt insich keine Anregungsbedingungen für dieEntwicklung richterlicher Moral. Im Ge-genteil, sie stellt eine Gefahr dar. Richtersind keine Diener der Macht, sondern Die-ner des Rechts. Deshalb müssen Richter

von Machtinteressen frei sein. In Deutsch-land sind sie es nicht.

Die „moralische Atmosphäre“ der recht-sprechenden Gewalt wird in Deutschlandmaßgeblich von der Justizverwaltung be-stimmt. Die von der Justizverwaltung ver-folgten Machtinteressen der Regierungliegen wie ein Fangnetz über der recht-sprechenden Gewalt. Das subaltern-büro-kratische Denken und Handeln der Exeku-tive lähmt jedes richterliche Engagement.Die quantitätsorientierte Fixierung anPensen- und Erledigungszahlen hat mitder Richtigkeit und Gerechtigkeit richterli-cher Entscheidungen nichts zu tun. EinBeurteilungs- und Beförderungswesen, indem die Lüge als Ritual allgemein akzep-tiert ist, korrumpiert Menschen und zer-stört ihre Moral. Fehlende Selbstverwal-tungs- oder Mitbestimmungsmöglichkei-ten demotivieren den Einzelnen und ver-hindern die für die Moralitätsentwicklungnotwendige Partizipation an kooperativenEntscheidungen.

Vielleicht ist eine Weiterentwicklung derrichterlichen m o r a l i s c h e n Ur-teilsfähigkeit aber auch gar nicht gewollt,führte sie doch (wenn auch erst auf Stufe5) zu einer „Emanzipation von Autoritätenaller Art“ (s.o.) und damit zur wahren rich-terlichen Unabhängigkeit.

Schließlich soll noch einmal darauf hinge-wiesen werden, dass die Entwicklung derMoral nicht verordnet, nicht gelehrt undauch nicht rezepthaft angewandt werdenkann. Vielmehr entwickelt sich die morali-sche Kompetenz des Individuums in einemI n t e r a k t i o n s p r o z e s s zwi-schen der schon von ihm erreichten Stufeder Moralität und den fördernden Rah-menbedingungen der gesellschaftlichenUmwelt (von der stabilen emotionalen Ak-zeptanz durch die Eltern und Erzieher imJugendalter bis zur „moralischen Atmo-sphäre“ in einer Institution und zur Parti-

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zipation an kooperativen Entscheidungenim Erwachsenenalter). Letztlich setzt diemoralische Weiterentwicklung des Indivi-duums somit demokratische Strukturender Gesellschaft voraus!

Deshalb gilt es, sowohl auf der gesell-schaftlichen Ebene im Allgemeinen alsauch auf der institutionellen Ebene der Ju-stiz im Besonderen, an der Weiterentwick-lung demokratischer Strukturen zu arbei-ten. Es ist zu hoffen, dass sich mehr undmehr Richterinnen und Richter dazu mora-lisch veranlasst sehen oder sogar mora-lisch verpflichtet fühlen.

VII.Die Neue Richtervereinigung hat sich – of-fenbar als erster Richterverband in Deutsch-land – an das Thema herangetastet. Gleich-zeitig hat sie dabei auf die aktuellen Vorga-ben der internationalen Diskussion mit einerersten STELLUNGNAHME reagiert:

„Die NRV hat sich auf der XVII. Mitwirkungskonferenz der Fachgruppe„Justizstrukur und Gerichtsverfassung“ mit Fragen richterlicher Ethik befasst.

Nach unserer Überzeugung entsprechen „die Bangalore Prinzipien richterlichenVerhaltens“ mit ihrer erheblichen Einschränkung der Bürgerrechte und ihrer star-ken Reglementierung des Privatlebens nicht dem Richterbild der NRV.

Zudem ist die Verknüpfung von Verstößen gegen Ethikregeln mit disziplinarischenFolgen abzulehnen, weil durch ein System von Strafen kein ethisches Verhalten ver-innerlicht werden kann. Es gilt vielmehr, ein eigenes Berufsethos durch einen DIS-KURS innerhalb der Richterschaft (fort-) zu entwickeln. Durch eine entsprechendeSelbstreflexion wird eine fortlaufende Sensibilisierung der Richterinnen und Rich-ter eintreten, die zu einer Übernahme selbstgewählter ethischer Prinzipien führt.

In den Gerichten sind die Präsidien und die Richterräte aufgefordert, mit den Kolle-ginnen und Kollegen Fragen des Berufsethos zu diskutieren. Anlass hierzu geben al-lerorts anzutreffende Probleme, z.B. bei Eingriffen der Justiz- und Gerichts-verwaltung, bei der Zusammenarbeit der Mitarbeiter an einem Gericht, bei derGeschäftsverteilung.

Vor allem sind auch die Berufsverbände aufgerufen, den Diskussionsprozess überdas Berufsethos innerhalb der Mitgliedschaft voranzutreiben. Die Neue Richter-vereinigung will insoweit einen Anfang machen.“

„Ein Gespenst geht um in Europa“ –Berlusconi. Während an beitrittswilligeStaaten von der EU harte Anforderun-gen an die Schaffung einer unabhängi-gen Justiz gestellt werden, demontiertEU-Ratspräsident Berlusconi denRechtsstaat in Italien. Dies erklärte derSprecher der NRV Wilfried Hamm amRande einer Tagung in Fulda.Berlusconi hat kraft seines Regierungs-amtes in laufende Korruptions-verfahren gegen ihn eingegriffen undsich der drohenden Verurteilung letzt-lich entzogen. Nach dieser institutiona-lisierten Strafvereitelung will er nun

Presseerklärung der NRV vom 27. September 2003

Duce Berlusconi

die Richterschaft selbst mit Verfahrenüberziehen. Nach einem Beschluss derJustizkommission des italienischen Parla-ments sollen Richter und Richterinnen,die nicht genehme, sogenannte „kreative“Urteile sprechen, mit Disziplinarmaßnah-men bis hin zur Entlassung belangt werdenkönnen. Damit wird die Unabhängigkeitder Justiz in Italien abgeschafft, mithineine unverzichtbare Säule der Rechts-staatlichkeit.

Berlusconi will den Richtern und Richte-rinnen auch die allen zustehendenStaatsbürgerrechte nehmen. Sie dürfen

nicht mehr Mitglied in einer Gewerk-schaft sein oder in Vereinen und Ver-bänden mitarbeiten, die politischeZiele verfolgen. Kontakte mit den Me-dien werden ihnen untersagt;auskunftsberechtigt ist nur noch dieStaatsanwaltschaft. Hiermit stellt sichItalien in den Zeiten der EU-Ratspräsi-dentschaft gegen den EuropäischenStandard richterlicher Ethik.Berlusconi hat mit seinen kürzlichenAusbrüchen über die „doppelt wahn-sinnigen Richter“, die „anthropolo-gisch andersartig sind als der Rest dermenschlichen Rasse“, sich gegenüberder ganzen Welt bloßgestellt.

Wir fordern die deutschen Politiker auf,sich von dem Gesetzesvorhaben klarabzugrenzen und ihre Verantwortungals Partner in der EU wahrzunehmen.

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Gegenwärtig läuft die deutsche Staatsan-waltschaft Gefahr, den Kampf gegen dieWirtschafts- und die global organisierte Kri-minalität – und damit meinen wir auch im-mer wieder auftretende Fälle von Kriminali-tät durch oder mit Duldung der Politik – aufDauer zu verlieren.Die Strafverfolgung in der Bundesrepublikbedarf deshalb einer tiefgreifenden Umge-staltung. Die gegenwärtige Situation ist da-von geprägt, dass Kriminalität zum Teil nurverwaltet, aber in einigen wesentlichen Be-reichen nicht mehr verfolgt werden kann.Derzeit wird die Arbeitskraft der Staatsan-wälte mit der Bearbeitung von Bagatell-undMassendelikten zu stark gebunden.Eine wirksame Strafverfolgung findet dar-über hinaus allenfalls bei schweren Gewalt-taten statt. Eine nachhaltige Verbesserungder Situation kann nur durch die Einrichtungeiner von der Politik unabhängigen Staatsan-waltschaft erreicht werden. Die seit Mittedes 19. Jahrhunderts bestehende Eingliede-rung der Staatsanwaltschaft in die Exekutivewird ihrer Funktion als nur der Objektivitätverpflichtetes Organ der Rechtspflege undden sich in einem vereinten Europa ergeben-den neuen Herausforderungen nicht mehrgerecht. Die Eingliederung widerspricht auchden Anforderungen, die der Europarat in sei-ner Empfehlung ( Recommandation REC(2000) 19) an das Amtsrecht der Staatsan-waltschaften stellt. Die Dienstaufsicht undPersonalhoheit der Justizministerien sindmit beträchtlichem bürokratischen Aufwandund der Gefahr der Einmischung aus politi-schen und damit sachfremden Gründen ver-

Auf der Internationalen Tagung zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft vom am 20./21.9.2003 in Dresden (veranstaltet von der Neuen Richtervereinigung Sachsen, der

Europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie undMenschenrechte in der Welt e.V. und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und

Juristen e.V. ) haben die Teilnehmer folgende Erklärung verabschiedet:

Dresdner Plädoyer für eineunabhängige Staatsanwaltschaft

bunden. Die Staatsanwaltschaften müssensich daher in Zukunft in vollem Umfangselbst verwalten.

I.Die parlamentarische Verantwortung solltenicht mehr den Justizministern, sondernden Generalstaatsanwälten übertragen wer-den. Diese müssten durch einenWahlausschuss, zusammengesetzt aus Par-lamentariern und gewählten Vertretern derStaatsanwaltschaften, für eine legislatur-übergreifende Wahlperiode bestellt wer-den; auf diese Weise demokratisch legiti-miert, könnten die Generalstaatsanwältesämtliche Aufgaben, die bisher dieMinisterialverwaltung erfüllt hat, wahrneh-men.In den Einzelfall darf der Generalstaatsan-walt nur noch im Wege der Rechtsaufsichteingreifen.Des weiteren bedarf das Strafrecht ein-schneidender inhaltlicher Reformen.Da die personellen Kapazitäten der Staats-anwaltschaften in Zeiten leerer Kassennicht erhöht werden, kann die dringend ge-botene Konzentration auf die anwachsende,den Bestand des Gemeinwesens gefähr-dende Kriminalität nur durch Entkriminali-sierung von Bagatell-Tatbeständen erreichtwerden. Der notwendige Rechtsgüterschutzkönnte durch Übertragung von Sanktions-befugnissen auf ehrenamtliche Schieds-stellen o.ä. gewährleistet werden, die Scha-densersatzleistungen für die Betroffenenfestsetzen und sich durch von den Tätern zutragende Verfahrenskosten refinanzieren.

II.Im Einzelnen erheben wir folgende mittel-fristige Forderungen, die im wesentlichendurch Änderungen des Gerichtsverfas-sungsgesetzes, dessen landesrechtlichenAusgestaltungsbestimmungen, vor allemaber durch ein neu zu schaffendes„Staatsanwaltsgesetz“, realisiert werdenmüssen:1. Abschaffung des externen Weisungsrech-

tes der Justizminister;2. Ausübung der Fachaufsicht einzig durch

die Behörden- und Abteilungsleiter;3. Stärkung der individuellen Verantwortung

des einzelnen Staatsanwalts durch Beschränkung behördeninterner Wei-

sungsrechte.a)Die Geschäftsverteilung der Staatsan-

waltschaften ist durch ein gewähltes Gre-mium (Präsidium), dem der Behörden-leiter angehört, zu bestimmen.

b)Im Konfliktfall mit dem Vorgesetztenkann dem Sachbearbeiter ein Verfahrennur durch Entscheidung des Präsidiumsentzogen werden.

c)Bei Gefahr im Verzug verbleibt es beimWeisungsrecht des Behörden- und Abtei-lungsleiters.

d)Vor Gericht handelt jeder Staatsanwaltfrei von Weisungen.

4. Schaffung echter Mitbestimmungsrechteder Personalvertretungen. Versetzung,Abordnung und Funktionszuweisungdurch den Generalstaatsanwalt bedürfenihrer Zustimmung. Im Streitfalle ist einWahlausschuss (siehe I.) zur Entschei-dung berufen.

5. Über die Einstellung von Staatsanwältenentscheidet – genauso wie über dieEinstellung von Richtern – ein Wahlaus-schuss, der aus Parlamentariern, gewähl-ten Richtern, Staatsanwälten und Rechts-anwälten besteht.

6. Grundsätzlich gleiche Besoldung allerStaatsanwälte; Ausnahmen nur bei

Wahrnehmung von Sonderfunktionen.

Dresden, den 21. September 2003

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Beförderung und Unabhängigkeit

Die Richter und Staatsanwälte, die sich inder Neuen RichterVereinigung zusammengeschlossen hatten, wollten eine bessereJustiz, nämlich eine dem rechtsuchendenund rechtunterworfenen Bürger zugewand-te, eine das Recht erklärende und nichtbloß diktierende Justiz. Die Gründer sahensich am Erreichen dieses Ziels gehindert,durch eine autoritäre, hierarchische Justiz-verwaltung. Der Kampf um mehr Selbstver-waltung war nicht Selbstzweck, sondernsollte die Rahmenbedingungen schaffen, in-nerhalb derer eine solche, bessere Justizerst möglich sein würde. Am Fernziel: Bes-sere Justiz hat sich nichts geändert, wennauch in der Justiz die Zahl derunautoritären, antihierarchischen Richterund Staatsanwälte deutlich zugenommenhat. Dieses Fernziel sieht so aus:

1. RICHTER....

· Können zuhören· Sind neugierig, ohne sich einzumischen· Stehen mitten im Leben· Kennen die Realien, auf die sie die

Rechtsordnung anwenden· Sind jederzeit bereit, auch ein mühsam

erarbeitetes Bild vom Fall wegen neuerInformationen zu ändern

· Sind juristisch so kompetent, dass siedie herrschende Meinung und vertretba-re Gegenmeinungen jeweils richtig er-kennen und frei zwischen ihnen wählenkönnen

· Bilden sich weiter· Sind zäh und beharrlich· Finden das rechte Maß· Sind bedächtig· Kennen ihre Vorurteile so gut, dass sie

nicht von ihnen beherrscht werden

· Sind sich der Macht, die sie ausüben,bewusst und üben sie sparsam aus

· Schielen nicht auf Beförderung· Sind zwar fast immer juristisch fitter,

meistens gebildeter, oft sozial besser ge-stellt als die Rechtsuchenden, bleibenaber demütig und sagen sich nicht:.„Herr, ich danke dir, dass ich nicht so binwie jene“

· Freuen sich umgekehrt nicht darauf, denMächtigen und Reichen zu demonstrie-ren, wie wenig Ihnen das vor Gericht hilft

· Sind fast immer ärmer, meistens juri-stisch weniger beschlagen, oft provinziel-ler als erfolgreiche Anwälte, lassen sichdadurch aber weder einschüchtern nochprovozieren

· Haben den Mut, zur eigenen Meinung zustehen, auch gegen Widerstand undMissachtung aus dem Kollegenkreis undder Öffentlichkeit und der Obrigkeit

· Messen weder den eigenen noch den Er-folg der Kollegen am Maß der Überein-stimmung mit dem Rechtsmittelgericht

· Bürden nicht ohne Not den Parteien dieKosten eines Rechtsmittelverfahrens zurKorrektur der eigenen abweichendenMeinung auf

· Arbeiten rationell und effektiv· Haben keine Angst vor dem Umgang mit

Menschen, auch nicht vor deren emotio-nalen Ausbrüchen

· Bauen die Angst der Beteiligten vor demVerfahren ab

· Erklären die Rechtsordnung in ihrer An-wendung auf den einzelnen Fall den Be-teiligten und lassen sie am Entschei-dungsprozess teilnehmen

· Drücken sich verständlich aus· Resignieren nicht, wenn sich das eigene

Rechtsgefühl und die Rechtsordnung

nicht in Übereinstimmung bringen las-sen, sondern plädieren öffentlich füreine Änderung der Rechtsordnung in die-sem Punkt

ZIVILRICHTER ...

· Haben ein Herz für die nicht so gut ver-tretene, im Ausdruck nicht so gewandtePartei

· Sehen die Rechtsuchenden nicht als Stö-renfriede des Bürolebens

· Begreifen die Parteien als Menschen, diein einem Konflikt leben, den sie ohne Ju-stiz nicht lösen können

· Vergessen nicht, dass die Justiz der Preisist, den der Staat für sein Gewalt-monopol bezahlen muss

· Erwerben das Vertrauen der Parteien ineinen fairen Prozess, indem sie durch dieEinführung in den Sach- und Streitstandzeigen, dass sie die Akten gelesen haben

· Suchen einen für beide Parteien akzepta-blen Interessenausgleich, drohen aberweder mit Vertagung oder der unbere-chenbaren nächsten Instanz, mit einemWort: nötigen die Parteien nicht zu einemVergleich (70 % einer befragten Stich-probe in Baden-Württemberg empfandendie Vergleichsverhandlung als Nötigungdes Richters)

· Weisen die Parteien so rechtzeitig vor demersten Verhandlungstermin auf Lücken imVortrag hin, dass die Parteien bis zum Ter-min noch reagieren und das Gericht die nö-tigen Beweismittel herbeischaffen kann

· Rächen sich nicht an unbequemen Anwäl-ten, indem sie Terminverlegung undFristverlängerung verweigern

· Drücken sich nicht vor der Beweisauf-nahme, indem sie Behauptungen und Be-streiten als unsubstanziiert abtun

· Lassen sich aus Angst vor mächtigen undreichen Parteien, vertreten durch ver-sierte Anwälte, nicht dazu verleiten, aufdie schwächere Gegenpartei Druck aus-zuüben, um sie zum Einlenken/Nachge-ben zu bringen

RichterspiegelGedanken des NRV-Landesverbands Sachsen

zur richterlichen Ethik

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Hessen-Info Januar 2004 NRVBeförderung und Unabhängigkeit

Für alle Juristinnen und Juristen, die über den Tellerrand hinaussehen

Sie kennen „Betrifft JUSTIZ“ noch nicht?„Betrifft JUSTIZ“ ist eine Zeitschrift von und für Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Dort fin-

den Sie keine langatmigen akademischen Aufsätze, sondern Informationen und Erfah-

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STRAFRICHTER ...

· Begreifen auch den schlimmsten Täterals Mitmenschen (glückliche Umständemehr als eigene Verdienst haben uns da-vor bewahrt, auf der Anklagebank zu sit-zen)

· Verlieren das Opfer der Straftat auchdann nicht aus dem Blick, wenn es ohneBeistand oder Nebenklägervertreter auf-tritt, erkennen Verstrickungen zwischenTäter und Opfer, schützen die Zeugen vorDemontage durch Anwälte, lassen sichdurch Konfliktverteidiger nicht ein-schüchtern und zum Nachgeben bringen

· Achten beim Aushandeln von Strafmaßund Schuldbekenntnis darauf, dass die

Schöffen und die Öffentlichkeit von An-fang an einbezogen sind

· Sind beim Aushandeln immer bereit, dieAbsprache scheitern zu lassen und dasVerfahren durchzuführen, auch wenn esmühevoll wird

· Haben den Mut und die Kraft, überflüssi-gen Beweisanträgen nicht einfach nach-zugeben, sondern sie sorgfältig begrün-det abzulehnen

RICHTER ALS VORSITZENDE UNDBEHÖRDENCHEFS ...

· Begreifen, dass mit gutem Willen undVerständnis allein ihre Macht nicht zuentschärfen ist

· Erkennen Zeugnisse und Beurteilungenals Mittel der Machtausübung und Diszi-plinierung – und gehen entsprechendsorgsam damit um

· Erkennen den Interessenskonflikt zwi-schen Dienstherrn und Mitarbeitern –und verraten dabei die Mitarbeiter nicht.Das Interesse des Dienstherrn – Maxi-mum an erledigten Fällen mit Minimuman Personaleinsatz. Interesse der Mitar-beiter – Minimum an Arbeitseinsatz/opti-male Arbeitsbedingungen.

2. DIENSTZEUGNISSE

Diese Eigenschaften/Haltungen/Fähig-keiten lassen sich kaum operationa-lisieren. Sie lassen sich aber erkennen.Sowohl Kollegen wie Anwälte sind sichim Urteil über das Auftreten und dieKapazität der Richter ziemlich einig.Wenn man die genannten Fähigkeiten/Haltungen/Eigenschaften für Personal-entscheidungen fruchtbar machen will,sollte man zunächst die Anwälte befra-gen und dann diese Entscheidungendem Präsidium überantworten: Wennnämlich zwischen den bisherigen R 1 -bis R 3-Ämtern kein Statusunterschiedmehr besteht, wenn also die Vorsitzen-den und die Rechtsmittelrichter nichtmehr durch Beförderung zu ihren Aufga-ben kommen.

Dieses Bild kann als Maßstab dienen, umdie Justizwirklichkeit zu prüfen. Sind dieArbeitsbedingungen so, dass es Richternund Staatsanwälten überhaupt möglich ist,in diesem Sinn zu arbeiten? Ist die Justizso organisiert, dass Richter und Staatsan-wälte nicht anders können als so zu arbei-ten?

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Justiz in Hessen

Wahlen des Bezirksrichterrates, des Präsidialrates und des richterlichen Mitglieds des Richterwahl-ausschusses für die Amtszeit vom 1.7.2003 bis 30.6.2007

Ordentliche Gerichtsbarkeit (12.6.2003)Richterbund ver.di / NRV

Bezirksrichterrat 68,58 % 29,76 % (1999 30,9 %)Präsidialrat 68,23 % 29,98 % (1999 29,1 %)

Wahlergebnisse

Bezirksrichterrat

1. Ingolf Tiefmann LG Frankfurt DRiB2. Robert Opel AG Michelstadt DRiB3. Wolfgang Friedrich AG Kassel ver.di4. Peter-Alexander Pulch AG Frankfurt DRiB5. Joachim Bloch OLG Frankfurt DRiB

Vertreter

6. Manfred Althaus AG Wiesbaden DRiB7. Norbert Knapp LG Limburg DRiB8. Rüdiger Holtmannn AG Kassel NRV9. Carsta Pirlich-Kraus AG Gelnhausen DRiB10. Brigitte Blasek AG Lauterbach DRiB

Präsidialrat

1. Sylvia Schmitt-Michalowitz OLG Frankfurt DRiB2. Michael Baumgart LG Darmstadt DRiB3. Thomas Sagebiel LG Darmstadt NRV4. Hans Drapal LG Kassel DRiB5. Bärbel Stock LG Frankfurt DRiB6. Dieter Wagner AG Kassel ver.di

Vertreter

7. Ulrike Büger AG Gießen DRiB8. Marie-Luise Bogner LG Limburg DRiB9. Guido Kirchhoff AG Darmstadt NRV10. Jürgen Dembowski OLG Frankfurt DRiB11. Ingeborg Bäumer-Kurandt LG Wiesbaden DRiB12. Jürgen Juncker OLG Frankfurt ver.di

Richterliches Mitglied des Richterwahlausschusses

Diese Wahl fand als Persönlichkeitswahl statt, so dass gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt.

Das Wahlergebnis sieht wie folgt aus (die Zahlen in () sind die Stimmen 1999):

Stimmen Stimmen für ver.di/NRVMitglied Sieglinde Michalik OLG Frankfurt DRiB 586 (588) 214 (281)Stellv. Franz Jeßberger AG Königstein DRiB 482 (570) 286 (269)w. Stellv. Dr. Ulrike Hein LG Darmstadt DRiB 527 (547) 227 (286)

Der Ausgang dieser Wahlen belegt erneut, dass NRV und ver.di ein nicht zu unterschätzendes Gewicht in der hessischen Justiz zu-kommt. NRV und ver.di vertreten in der ordentlichen Gerichtsbarkeit – ausgehend von den Mitgliederzahlen – etwa ein 1/10 der organi-sierten Richter und Staatsanwälte*, während die übrigen 9/10 im Deutschen Richterbund organisiert sind. Der Anteil der Kollegen inden Staatsanwaltschaften und in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die wir aber offensichtlich mit unserer Arbeit überzeugen, liegt da-gegen unverändert seit Jahren bei ca. 30 %. Das zeigt, dass wir in der Gruppe der nicht organisierten Richter und Staatsanwälte* ein er-hebliches Potential uns unterstützender Kolleginnen und Kollegen haben, die wir – nicht nur, aber auch – durch die aktive Teilnahme inden oben genannten Gremien erreichen können. Weiter so.

Thomas Sagebiel* lies: Richterinnen und Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte

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Hessen-Info Januar 2004 NRVJustiz in Hessen

Bezirksrichterrat

DA F GI KS WI VGH GesamtVhV 25 8 17 13 14 25 102NRV/ver.di 8 36 17 12 13 15 101

In den Bezirksrichterrat sind demnach in der Reihenfolge der aufsie entfallenden Stimmen gewählt worden:

Lutz Schröder, Richter am VGH, VhVDr. Bernhard Burgholz, Richter am VG Frankfurt, NRV/ver.diJohanna Domann-Hessenauer, Richterin am VG Wiesbaden, VhV

Präsidialrat

DA F GI KS WI VGH GesamtVhV 25 13 11 12 12 27 100NRV/ver.di 8 31 23 13 16 14 105

In den Präsidialrat sind demnach in der Reihenfolge der auf sieentfallenden Stimmen gewählt worden:

Ferdinand Georgen, Richter am VG Wiesbaden, NRV/ver.diRainer Hepp, Vors. Richter am VG Frankfurt, VhVLu Henkel, Richterin am VG Gießen, NRV/ver.diDr. Bernd Wittkowski, Vors. Richter am VG Frankfurt, VhV

Richterliches Mitglied des RichterwahlausschussesReinhard Ruthsatz, VG Gießen, VhV, 108 Stimmen (Gegenkandidat Dr. Wolfgang Schäfer, Vors. Richter am VG Frankfurt, NRV/ver.di, 90 Stimmen)

Stellvertreter:Dr. Ingrid Tischbirek, Richterin am VG Darmstadt, VhV, 106 Stimmen (Gegenkandidat Dr. Paul Tiedemann, Richter am VG Frankfurt, NRV/ver.di, 83 Stimmen)

weiterer Stellvertreter:Alexander Birk, Richter am VG Wiesbaden, NRV/ver.di, 98 Stimmen (Gegenkandidat Dr. Manfred Kögel, Vors. Richter am VG Wiesbaden,VhV, 85 Stimmen)

SozialgerichtsbarkeitZu den Wahlen haben zwei Listen kandidiert:Liste 1: Richterbund – Liste 2: ver.di – eine gemeinsame Liste mit der NRV kam nicht zustande

Präsidialrat

Richterbund ver.di25 58

Hedwig Vogel, Direktorin des SG Fulda, ver.diDietrich Flach, Richter am SG, z.Zt. HLSG, ver.diDr. Elke Roos, Richterin am SG Gießen, RichterbundRandolf Sengler, Richter am SG Kassel, ver.di

Bezirksrichterrat

Richterbund ver.di30 51

Dietrich Flach, Richter am SG, z.Zt. HLSG, ver.diDr. Dirk Bieresborn, Richter am SG Kassel, RichterbundAlexander König, Richter am SG Kassel , ver.di

Richterliches Mitglied des Richterwahlausschusses Karl-Heinz Wagner, stv. Direktor des SG Gießen, ver.di (55:25 Stimmen)

StellvertreterBernhard Werner, Richter am HLSG, ver.di (49:30 Stimmen)

weiterer StellvertreterVasco Knickrehm, Richter am SG, z.Zt. HLSG, ver.di (50:27 Stimmen)

Verwaltungsgerichtsbarkeit (5. Juni 2003)

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Justiz in Hessen

Ein schöner Erfolg mit Beige-schmack.

Meine Thesen:1. Das Wahlverhalten ist unpoli-tischOffensichtlich wurden sehr viele KollegIn-nen von der Tatsache geleitet, dass die je-weilige Liste eine/n „ihrer“ Behörde auf-bot. Man glaubt die Eigeninteressen derBehörde und der Beförderungswilligenstützen zu müssen. Hier imponieren dieKollegInnen der STA Darmstadt, die na-hezu ausschließlich „ihre“ Liste gewählthaben, frei von justizpolitischer Überle-gung.Meines Erachtens ein Armutszeugnis.Dies könnte aber zum Teil auch für „unse-re“ Wähler gelten, die dort besonders vie-le Stimmen abgaben, wo „eigene“ Kandi-daten aufgestellt waren.

Ergebnis der Wahl zumBezirksstaatsanwaltsrat

am 25. und. 26. 06.03

Gedanken und Kommentar

von Klaus Pförtner

Von 396 Wahlberechtigten gaben 313 ihre Stimme ab. Bei 1 Enthaltung und 3 ungültigenStimmen fielen

159 Stimmen auf die gemeinsame Liste von NRV und ver.di,90 Stimmen eroberte der Richterbund und60 die „Unabhängige Liste“ aus Darmstadt.

Mitglieder des Rats wurden dadurch von der Liste NRV/ver.diStaatsanwältin Christina Claus, Frankfurt,Oberstaatsanwalt Volkmar Kallenbach von der STA beim OLG undStaatsanwalt Karl-Heinz Ernst aus Kassel.

Der Richterbund stelltStaatsanwältin Kerstin Reckewell aus Hanau,

die Liste der UnabhängigenOberstaatsanwalt Klaus Reinhardt, selbstverständlich aus Darmstadt.

2. Es wird gegen den Minister ge-wähltDies ist im konkreten Fall erfreulich, abge-schwächt aber von der allgemeinen Tendenzsich vom jeweiligen Minister nicht gut ge-nug behandelt zu fühlen, zum großen Teilunabhängig von dessen justizpolitischenVorstellungen. Zugeben auch der grüne unddie roten Justizminister an der Macht ha-ben von einer „Unabhängigen Staatsanwalt-schaft“ nie viel gehalten. Die Staatsanwalt-schaft jedenfalls von externen Weisungenfreizuhalten, ist ein demokratischer Min-deststandard der Gewaltenteilung.

Dafür und um noch viel mehr kämpft dieNRV, zur Zeit angetrieben durch eine sehraktive Bundesfachgruppe, die ihre Detail-ergebnisse bei der Bundesmitgliederver-sammlung im März 04 in Weimar dem Ple-num vorstellen will.

Der „Spiegel“ hat das Thema im Sommer-loch nach der Vorstellung eines Gesetzes-entwurfs der Staatsanwaltschaftskommis-sion des DRB aufgenommen. Die Vor-schläge des DRB zeigen den Weg in Rich-tung Ziel, sind aber viel zu kurz geraten.Mehr dazu an anderer Stelle.

3. Das Wahlberechnungsverfahrenist problematischObwohl der Richterbund mit 90 Wählernweit mehr als die Hälfte unseres Stimmen-anteils errungen hat, stellt er nur eine Rä-tin, wir aber 3 ordentliche Ratsmitglieder.

Selbst bei den Nachrückern liegen wirnach dem Richterbund auf den Plätzen 7und 8.Wir haben insgesamt nur etwas über 51%der Stimmen, der Richterbund ca. 29 %,die anderen ca. 19 %.

Das liegt am geltenden Berechnungs-system, in welchem die Stimmzahlendurch 1,2,3 usw. geteilt werden und diehöchsten Quotienten die Sitze bestimmen(d’Hondt ). Dieses Verfahren begünstigtdie großen „Parteien“. Daher wird z.B. derBundestag seit der Gesetzesänderung von1985 nach „Hare/Niemeyer“ besetzt. DieseVerfahren begünstigt die Kleineren. Es istaber so kompliziert, dass ich es nicht fürunsere Wahl nachrechnen will. Es hättewohl auch nichts geändert.

Bei so wenigen Plätzen gibt es kein wirk-lich gerechtes System, denn die Sitze 2/2/1zu verteilen, entspräche auch nicht demStimmenverhältnis.

Nicht sachgerecht ist jedenfalls auch, dassbei Ausfall eines Ratsmitgliedes nicht derNächste seiner Liste nachrückt. Das könn-te den Listenwillen der Wähler konterka-rieren, aber auch die oben beschriebenen„Ungerechtigkeiten“ quasi umkehren.Soweit ein bisschen oberlehrerhafteStaatsbürgerkunde.

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Hessen-Info Januar 2004 NRVJustiz in Hessen

4. Eine eigene Liste kann nichtschadenIch spiele mit dem Gedanken, ob es ei-gentlich überhaupt Sinn macht, an Wahlenfür Gremien teilzunehmen, die letztlichnur den Schein von Mitwirkung herstellen/bewahren.

In seinem Vorstellungspapier hat der neueRat tatsächlich als konkrete Aufgabe auchnur die Beteiligung an Beförderungen ge-nannt. Das liegt sicher daran, dass in derPraxis kaum etwas anderes „Bedeutsa-mes“ im Rat geschieht. Wir alle wissenauch, dass Beförderungen in aller Regelim Beurteilungs(un)wesen vorbereitetund gesteuert werden. Was außer davonlosgelöster Willkür sollte für den Raternsthaft übrigbleiben?

Es ist also eigentlich nur folgerichtig, dieNotwendigkeit des Gremiums dadurch zubeseitigen, dass Beförderungen abge-schafft und die Macht des Ministers / derExekutive im Bereich der Rechtsdurch-setzung und -verwirklichung beschränktwird.

Meine Beobachtungen über Jahre habenfür mich schon sehr lange deutlich ge-macht, dass Veränderungen/Verbesse-rungen in den Staatsanwaltschaften niedurch Beteiligungsgremien oder verzwei-felte Lageberichte von Behördenleiternherbei geführt worden sind. Diese wer-den nahezu ignoriert. Nur öffentliche Kri-tik kann wirken. Ich kann die Fälle an ei-ner Hand abzählen, wo Räte oder Behör-denleiter offen oder auf Umwegen die

Öffentlichkeit suchten. Hierarchie undBeteiligungsrechte bewirken meines Er-achtens letztlich auch bei den Geschun-denen nur vornehm-beamtenmäßige Zu-rückhaltung.

Auch wenn ich inzwischen einer Wahlbe-teiligung deshalb grundsätzlich skeptischgegenüberstehe, bin ich dafür, das nächsteMal mit einer eigenen Liste anzutreten,um es den Wählern leichter zu machen,unsere rechtspolitischen Positionenanzuerkennen, ohne dass es uns auf einMandat wirklich ankommen sollte.

Beteiligung an der Macht korrumpiert, Be-teiligung an hilfslosen Beteiligungs-gremien kann meines Erachtens dazu nochlächerlich machen.

Presseerklärung der NRV vom 22.09.03

Ohne Herz und Verstand

Die vom hess. MinisterpräsidentenKoch auf den Weg gebrachten Mittel-kürzungen treffen direkt vor allem so-ziale Randgruppen, Kranke, Arme undSchwache.Für diese Menschen steht in Zeiten derEntsolidarisierung der Gesellschaft diepolitische Kaste ohne Herz nichtmehr im Wort.Die Maßnahme ist aber auch ohneVerstand. Sie verletzt ökonomischeund sicherheitspolitische Grundregeln.

Die Mittelkürzungen im Bereich z. B.• der sozialen Kriminalitätsprävention,

• der nachhaltigen Bewältigung straf-bewehrter Konflikte für die Beteiligtenzum Beispiel durch den Täter - Opfer -Ausgleich,

• der von Jugendgerichten angeordnetenErziehungsweisungen und -auflagen wieAnti-Gewalt-Seminare u.v.m.,

• der begleitenden und nachsorgendenBetreuung von Strafgefangenen, um ih-nen Hilfe für ein straffreies Leben zubieten,

werden kurzfristig viel mehr Geld zur Be-seitigung der Folgen erfordern, ja siesind vielmehr geradezu der deutliche

Hinweis jedenfalls im Bereich derkleinen und mittleren Kriminalität umdas vom Ministerpräsidenten immerwieder für seine Politik reklamierteZiel der Zurückdrängung der Krimina-lität und Stärkung der Inneren Sicher-heit als weiteres leeres Wahlverspre-chen aufzuzeigen.

Die Preisgabe des Inneren Friedes, dersoziale Ausgewogenheit zwingend er-fordert, ist nichts anderes als die Auf-gabe der Verfolgung des Ziels der Inne-ren Sicherheit mit anderen alsPolizeistaatsmaßnahmen.

Das aber geht alle etwas an, die nochDemokratie wagen wollen.

Klaus Pförtner,für die Fachgruppe und im

Auftrag des Landesverbandes

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Justiz in Hessen

Weiterer Abbau vonBeteiligungsrechten!

Das zweite Gesetz zur Beschleunigung von Entscheidungsprozessen innerhalb der öffent-lichen Verwaltung - Drucksache 16/317 - führt zu einer weiteren Reduzierung vonBeteiligungsrechten.Die Behauptung, „teilweise überzogene Beteiligungs- und Verfahrensregelungen imPersonalvertretungsrecht führten zu erheblichen Verzögerungen wichtiger personeller undorganisatorischer Maßnahmen“, die den Gesetzesentwurf der Fraktion der CDU begrün-den soll, ist ohne Nachweis geblieben. Vielmehr hat die Anhörung im Innenausschuss desHessischen Landtages am 10.10.2003 gezeigt, dass Verzögerungen insbesondere im perso-nellen Bereich bei Besetzungen von Leitungsfunktionen durch verzögerliche Entscheidun-gen der „öffentlichen Verwaltung“ verursacht werden.So ist beispielsweise eine Vorsitzendenstelle bei dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, dieseit dem 1.2.2002 vakant war, erst nach 21 Monaten zum 1.11.2003 neu besetzt worden. Beider Auswahlentscheidung ist der Präsidialrat aus rechtlich zweifelhaften Gründen nichtbeteiligt worden, auch hier lag die „erhebliche Verzögerung“ allein im Verantwortungsbe-reich des Hessischen Ministeriums der Justiz.Die ehemals rechtspolitische und jetzt innenpolitische Sprecherin der CDU Fraktion, FrauZeimetz-Lorz, hat zu rechtspolitischen Vorstellungen der CDU für diese Wahlperiode aus-geführt, dass angesichts der tiefen Einschnitte in die Mitbestimmungsrechte keine weite-ren Maßnahmen zu erwarten seien, das Gespräch wurde allerdings vor der Landtagswahlgeführt.

Nachfolgend ist die Stellungnahme zum Gesetzesentwurf abgedruckt.

Deutscher Richterbund, Landesverband HessenNeue Richtervereinigung, Landesverband Hessen

Wiesbaden, 25.09.2003

Anhörung zu dem Gesetzesentwurf der Fraktion der CDU für einzweites Gesetz zur Beschleunigung von Entscheidungsprozesseninnerhalb der öffentlichen Verwaltung - Drs. 16/317 -

Sehr geehrter Herr Haselbach,

der Entwurf für das o.a. Gesetz geht kon-sequent den bereits mit dem ersten „Be-schleunigungsgesetz“ eingeschrittenenWeg weiter, Beteiligungsrechte in wichti-gen Bereichen für die Beschäftigten im öf-fentlichen Dienst und auch in den Gerich-ten zu reduzieren.

gen die angeführte Problemstellung gera-de nicht.

Die geplanten Regelungen des Gesetzes-entwurfs verhindern eine Reform des öf-fentlichen Dienstes. Eine solche Reformsetzt die konstruktive Mitarbeit der Be-schäftigten des öffentlichen Dienstes undderen Personalvertretungen voraus. Allebetriebswirtschaftlichen Management-Theorien gehen davon aus, dass die Effek-tivität einer Verwaltungsorganisation inentscheidendem Maße von der Motivationder Beschäftigten abhängt. Es kommt da-her vor allem darauf an, ob sich die Mitar-beiter mit der Organisation identifizierenkönnen.

Durch den Abbau von Mitbestimmung unddamit Mitverantwortung wird jedoch dergegenteilige Effekt erreicht. Wie sich inder Vergangenheit gezeigt hat, sind diehierarchisch-bürokratischen Strukturender Verwaltung nicht geeignet, das En-gagement der im öffentlichen Dienst Be-schäftigten zu fördern. Die dem Gesetzes-entwurf zugrunde liegende Tendenz, die„gemeinsame Verantwortung“ von Behör-denleitung und Beschäftigten zu verrin-gern, wird sich daher kontraproduktiv aus-wirken. Die Motivation und das Engage-ment der Beschäftigten des öffentlichenDienstes wird nicht erhöht, sondern ver-mindert werden.Die erhoffte Beschleunigung und die Er-höhung der Effizienz wird sich somit nichteinstellen.

Der Gesetzesentwurf konterkariert auchdas Personalentwicklungskonzept desHessischen Ministeriums der Justiz. ImGegensatz zum „Beschleunigungsgesetz“stellt das Personalentwicklungskonzeptauf eine vertrauensvolle Zusammenarbeitab. Insoweit wird betont, „das Konzeptkonsensualer Personalentwicklung setztdabei zwingend voraus, die Einsicht in dieNotwendigkeit, verstärkte Aktivitäten im

Die Problemstellung des Gesetzesent-wurfs ist – zumindest im ersten Teil –eine nicht begründete Behauptung. DieErfahrungen der Kolleginnen und Kolle-gen aus allen Gerichtszweigen und derStaatsanwaltschaft, die im HessischenRichterbund, in ver.di und der NRV orga-nisiert sind und seit Jahren in den unter-schiedlichen Gremien tätig sind, bestäti-

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Hessen-Info Januar 2004 NRVJustiz in Hessen

Bereich der Personalentwicklung zu för-dern und mit Behördenleitungen, Richter-,Staatsanwalts- und Personalvertretungen,Frauenbeauftragten und Schwerbehinder-tenvertretern intensiv und vertrauensvollzusammenzuarbeiten.“ „Die einvernehmli-che Zusammenarbeit mit allen Personal-vertretern im weitesten Sinne ist unab-dingbare Voraussetzung für alle Moderni-sierungsbestrebungen der Hessischen Ju-stiz einschließlich der Bemühungen umPersonalentwicklung. Akzeptanz durchTransparenz und Konsens kennzeichnendie erfolgversprechende Strategieschlagwortartig.“

Gefragt ist demnach im Rahmen einersinnvollen Modernisierung eine „koopera-tive Führung“, die Zusammenarbeit als einMiteinander in Gegenseitigkeit verstehtund u.a. die Elemente Information undKommunikation, die eine umfassende undrechtzeitige Unterrichtung erfordern, undGrundlage jeder vertrauensvollen Zusam-menarbeit ist.

Das Personalentwicklungskonzept desHMdJ stellt insoweit fest: „Für den Erfolgder Modernisierungsbemühungen derHessischen Justiz wird es entscheidendsein, die gesamte Mitarbeiterschaft zu be-teiligen und zu aktiver und konstruktiverMitarbeit zu ermutigen.“ Trotz dieser„besseren Erkenntnisse“ geht der Geset-zesentwurf den gegenteiligen Weg, nichtvertrauensvolle Zusammenarbeit durch In-formation und Kommunikation steht imMittelpunkt der Gesetzesintention, viel-mehr sollen angeblich überzogene Rechteweiter beschränkt werden.

Zu den Bestimmungen im Einzelnen:

§ 40 In Abs. 3 dieser Vorschrift wirdnach dem Gesetzesentwurf ein neuerSatz 2 eingefügt. Da über den bisherigenSatz 2, der ein Benachteiligungsverbot beiFreistellung eines Mitglieds des Personal-

rats enthielt, keine Aussage getroffen ist,kann das als Hinweis verstanden werden,dass eine Freistellung auch zu beruflichenNachteilen führen kann.

§ 70 Die Vereinheitlichung der Fristensollte nicht zu deren Reduzierung von dreiauf zwei Wochen führen – wobei insoweitein Beschleunigungseffekt überhaupt frag-lich ist –, sondern eine Vereinheitlichungsollte eine generelle dreiwöchige Fristvorsehen. Gerade das Stufenverfahrenzeigt, dass eine hessenweite Beteiligungder Mitwirkungsgremien durch denBezirksrichterrat selbst bei drei Wochenknapp bemessen ist; dies gilt insbesonde-re bei der größten Gerichtsbarkeit, der or-dentlichen Gerichtsbarkeit.

§ 74 Beteiligungsrechte werden inwichtigen Bereichen reduziert, da nach§ 74 Abs. 1 Nr. 8 nicht mehr Grundsätze,sondern nur noch „allgemeine“ Grundsät-ze der Mitwirkung unterliegen.

§ 81 Entsprechendes gilt für § 81 Abs. 1Satz 1, da nicht die Einführung neuer Ar-beitsmethoden, sondern die Einführung„grundlegend“ neuer Arbeitsmethodenmitwirkungspflichtig ist.

§ 77 Entsprechendes gilt für den Aus-schluss der Mitwirkung, wenn „mindes-tens Rahmenbedingungen“ vorhandensind – § 77 Abs. 5 –, die die ureigene Auf-gabe der Personalvertretung, – auch – in-dividuelle Belange einzubeziehen, aufhebt.Abs. 5 hat zudem den vollständigen Aus-schluss der Richtervertretung zur Folge, so-weit an einem Umstrukturierungskonzeptdie zuständigen Personalräte beteiligt wa-ren. Die Vertretung richterlicher Belangekann nur durch deren Vertretung erfolgen.

Die Normierung der Prüfungskompetenzund die Beschränkung der Verweigerungs-möglichkeiten in § 77 Abs. 4 ist verfehlt.Ziffer 1 gestattet eine Verweigerung der

Zustimmung letztlich nur bei einerrechtswidrigen Maßnahme der Verwal-tung, die ihrerseits bereits dem Verfas-sungsgebot der Rechtsbindung der Exeku-tive – Art. 20 Abs. 3 GG – widerspricht. DieZiffern 2 und 3 enthalten eine Vielzahl un-bestimmter Begriffe, deren Feststellungsicher nicht zu einer Beschleunigung füh-ren wird.Insgesamt wird die Einführung einer Viel-zahl unbestimmter Begriffe nicht zu einemBeschleunigungseffekt beitragen, da dasVorliegen dieser Begriffe zu Streitigkeitenführen wird.

§ 81 Der Wegfall von § 81 Abs. 1 Satz 3 –umfassende Darlegung der personellen,gesundheitlichen und sozialen Auswirkun-gen bei Einführung technischer Rationali-sierungsmaßnahmen - konterkariert dasPrinzip der vertrauensvollen Zusammenar-beit – § 60 Abs. 1 – und entzieht der Per-sonalvertretung Grundlagen, im Interesseder Beschäftigen tätig werden zu können.

§ 83 Eine notwendige Interessenvertre-tung der Personalvertretung – der aufneh-menden Dienststelle - wird durch die Neu-fassung des § 83 Abs. 1 Satz 3 unmöglichgemacht.

Die Freistellung von Mitgliedern der Per-sonalvertretung kann sinnvollerweise nurdurch diese erfolgen, da sich die Freistel-lung dann an dem beabsichtigten Engage-ment der jeweiligen Mitglieder sowie anden demokratisch legitimierenden Wahler-gebnissen orientieren kann.

Die Verwaltung moderner, effektiver undkostengünstiger zu organisieren, ist gera-de nicht durch Verweigerung von Beteili-gungen, Transparenz und damit letztlichvon Akzeptanz zu erreichen, wie der vorlie-gende Gesetzesentwurf dies beabsichtigt.

Mit freundlichen GrüßenI. Tiefmann F. Georgen

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NRV Hessen-Info Januar 2004

von Guido Kirchhoff

Das KonzeptDie Arbeitsgruppe zur Einarbeitungs-begleitung im hessischen Justizministeri-um hat ein Konzept erarbeitet, das aufvier Säulen beruht:

1. Ausreichende Grundausstattung undInformationsmaterial

2. Erwartung der Teilnahme an den 3Grundseminaren Verhandlung im Zivil-und Strafprozess und Dezernats-organisation

3. Neuauflage eines praxisnäherenRichterhandbuchs

4. Einführung eines Mentorsystems

Jedem Berufsanfänger soll ein Mentor zurSeite gestellt werden, der für ein halbesJahr ihm mit Rat und Tat fachlich wie auchorganisatorisch, dienstrechtlich etc. hilft.Der Mentor ist nicht in die Bearbeitungder Akten eingebunden, er soll Kommuni-kations- und Organisationsstrukturen auf-zeigen, Kontakte schaffen und über ge-richtliche Gepflogenheiten informieren.Die Mentoren erhalten eine Fortbildung,werden aber weder zeitlich noch monetärentschädigt.

BewertungDas Konzept enthält in weiten Teilen Din-ge, bei denen man sich auf Grund ihrerSelbstverständlichkeit wundert, dass sieüberhaupt auftauchen. In den entschei-denden Teilen ist es allerdings unbrauch-bar.

Mentoring – Das Feigenblattaus dem Justizministerium

Die Einführung eines Mentorsystems für Berufsan-fänger krankt daran, dass es nichts kosten darf

Eine bessere Ausstattung der Arbeitszim-mer und Erstellung eines Infoblattes halteich für selbstverständlich.Die Erstellung eines praxisnäheren Richter-handbuches halte ich ebenfalls für sinnvoll,wobei darauf zu achten ist, dass es wirklichmanifeste Einarbeitungshilfen wie Checkli-sten, Formularbeispiele, Formulierungsbei-spiele etc. enthält und ausreichend dezer-natsspezifisch ausgerichtet ist.

Die vorgesehene Fortbildung stellt wie bis-her auch schon lediglich ein Feigenblatt dar,das den vorhandenen Mangel nur nochperpetuiert. Ohne die Qualität der vorgese-henen Seminare in Zweifel zu ziehen, kom-men diese doch oft viel zu spät und erfas-sen ohnehin nicht die fachspezifischen Be-sonderheiten der einzelnen Dezernate. Ins-besondere ist auch die Dauer von einer Wo-che Berufsanfängern angesichts ihrer Ar-beitsbelastung oft zu lang.Sehr viel sinnvoller und effektiver wäre es,wenn zweitägige ortsnahe fachbezogeneFortbildungsveranstaltungen stattfindenwürden, die ein Berufsanfänger oder auchDezernatswechsler kurzfristig, das heißtspätestens nach einem Monat, in Anspruchnehmen könnte. Solche Veranstaltungen

könnten ohne weiteres aus den Reihen derKollegen bestritten werden, da es nicht umwissenschaftlichen Hintergrund, sondernlediglich um praktische Alltagsfragen undFälle gehen sollte.Den Berufsanfängern fehlt es an prak-tisch/fachlichen, nicht an allgemeinen Ein-führungen.

MentoringHauptneuerung ist die Einführung desMentoring. So sehr ein solches Konzept zubegrüßen ist, halte ich die Einführung inder geplanten Form für unnütz.

Das Mentoring ist lediglich eine allgemei-ne Hilfestellung, sich in den Besonderhei-ten eines Gerichts oder allgemein einerBehörde zurecht zu finden, mehr nicht.Das ist deutlich zu wenig. In Schleswig-Holstein ist die Einführung eines solchenMentoring von den Proberichterinnen und-richtern abgelehnt worden, weil sie be-fürchten, dass die ansonsten vorhandeneallgemeine Hilfeleistung der Kollegen dar-unter leiden könnte.Eine sinnvolle Einarbeitungsbegleitungfindet dagegen statt, wenn in den erstenWochen und Monaten eine fachbezogene

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Hessen-Info Januar 2004 NRV

Einarbeitung erfolgt. Am AmtsgerichtDarmstadt gibt es auf freiwilliger Basisdazu verschiedene Ansätze:• Intensiver Kontakt des weiteren auf-

sichtführenden Richters zu den Berufs-anfängern, frühzeitiges Erkennen vonÜberlastungssymptomen und individuel-les Gegensteuern.

• Vierwöchiges Coaching beginnend mitdem ersten Tag, bei dem für jeden Tagein anderer Kollege zur Verfügung stehtund während der ersten beiden Wochen

jede Akte gemeinsam bearbeitet wird.• Regelmäßige Abteilungstreffen, bei de-

nen allgemeine Rechts- und Dezernats-fragen behandelt werden.

• Intensiver fachlicher Austausch, u.a.durch Umläufe zu allgemein interessie-renden Fragstellungen, betr. eigeneoder Berufungsurteile, Problem-recherchen oder Literatur.

• Gelegentliche gegenseitige Sitzungsbe-suche mit anschließender Diskussion überVerhandlungs- und Vergleichstechnik.

Justiz in Hessen

Die beste Einarbeitungsbegleitung wäreallerdings eine deutliche Verringerung desEingangsdezernats für das erste halbeJahr um mindestens 30% . Über viele Jahrehaben die Kolleginnen und Kollegen derZivilabteilung des Amtsgerichts DarmstadtAnfängerdezernate von 85% geschaffen, in-dem sie den Restanteil freiwillig selbstübernommen haben. Angesichts der ho-hen Anzahl von Berufsanfängern und dersteigenden Belastung ist das nicht mehrmöglich.

von Karl Heinz Held

Am Amtsgericht in W. (na wo denn ?) wur-de – wieder ohne die gesetzlich vorge-schriebene vorherige Zustimmung desRichterrats (§§ 25 Abs. 2 HRiG, 74 Abs. 1Nr. 17, 69 HPVG) – „EUREKA-Straf“ einge-führt.Zum Einstieg wurde von berufener Stellemitgeteilt, dass das Programm die Ge-schäftsverteilung der Strafabteilung nichtabbilden könne. Der Buchstabe „1“ ist ausguten Gründen vom Präsidium unter denRichterinnen und Richtern aufgeteilt wor-den. Das Programm könne aber nur „1“.nicht „1a-1k“ und „1l-1z“: Umstellen ? DieAuskunft der Administratorin: „Das gehtnicht !“.Also soll das Präsidium beschließen, dieGeschäftsverteilung so zu ändern, dass siedurch das Programm auch abgebildet wer-den kann. Wer will sich denn dem Fort-schritt entgegenstellen?All dies erfahre ich vor der Sitzung des

„Was nicht sein darf,das nicht sein kann“

– Von der richterlichen Flexibilität im Modernisierungsprozess

Präsidiums an meinem heimischen Ar-beitsplatz. Also sofort ein Email verfasst,(ungeduldiger, unpädagogischer Tonfallund schon deswegen vermutlich nutzlos):

Die Richterinnen und Richter beim AG W.würden schon noch merken, dass das Pro-gramm auch andere Sachen nicht „könne“.Würde dann die Rechtsprechung auch andas Programm angepasst ?Wer komme denn sonst noch (außer denRichtern) auf den Gedanken, dass ein Pro-gramm, das eine Geschäftsverteilung nichtabbilden könne, für den richterlichen Ar-beitsplatz tauglich wäre? Wer würde seineSteuererklärung mit einem Computer-programm machen, das nur Einkünfte über200.000 DM verarbeiten könne ? Die Präsi-diumsmitglieder des Amtsgerichts W.? Unddie Steuern bezahlen, denn wer wolle sichdem Fortschritt entgegenstellen?Hier werde das Haus teilweise abgerissenund umgebaut, weil der Küchenschranknicht durch die Tür passe!

All dies habe weitreichende Konsequen-zen, die leider nicht zu einem Zeitpunkt inBetracht gezogen wurden, wo dies noch ei-nigermaßen kostengünstig behoben wer-den könnte !. Und so weiter...Nützt aber nichts. Das Präsidium passt dieGeschäftsverteilung dem Programm an.

Dann kommt die Wende: Das Programm kanndas doch, nur die Administratorin hat diesvorübergehend nicht wissen wollen (hierfällt mir ein Zitat von Karl Valentin ein).Die gezeigte Flexibilität war also umsonst.

Was lernen wir daraus:Flexibiliät kann Wissen nicht immer erset-zen. Wie lernen Richter aber ihre Arbeits-mittel kennen ?Die späte Einsicht des Kollegen X.: „Daspassiert uns nicht wieder !“, hilft nochnicht.Wie wäre es (siehe oben) mit der Durch-führung des gesetzlich vorgesehenenBeteiligungsverfahrens, wo diese Kennt-nisse den Richtern zu vermitteln sind ?

Der Richterrat des OberlandesgerichtsFrankfurt am Main hat jetzt die (nachträg-liche) Durchführung des Beteiligungs-verfahrens wegen EUREKA von der Justiz-verwaltung eingefordert, der Personalrathat sich der Forderung angeschlossen.

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Justiz in Hessen

Eine Maßnahme des Dienstherren, die denZugang des Richters zu seinem Dienstzim-mer außerhalb der üblichen Bürozeiten be-schränkt, verstößt gegen dessen richterli-che Unabhängigkeit, wenn die Beschrän-kung nicht durch die Notwendigkeit einesgeregelten und finanzierbaren Dienst-betriebs gerechtfertigt ist.

Aus den Gründen:II. In der Sache selbst hat das Berufungs-gericht dem Prüfungsantrag zu Recht statt-gegeben. Die Zugangsbeschränkung beein-trächtigt den Antragsteller in seiner rich-terlichen Unabhängigkeit und ist deshalbunzulässig.

1. Nach der Rechtsprechung des Dienst-gerichts des Bundes ist der Richter zurEinhaltung allgemein festgesetzter Dienst-stunden nicht verpflichtet. Aus seiner Un-abhängigkeit – Art. 97 GG – folgt, dass erseine Arbeit nicht innerhalb fester Dienst-zeiten zu erledigen braucht, sondern sieim Interesse einer sachgerechten Bear-beitung der seiner Entscheidung unterlie-genden Fälle entsprechend seinem indivi-duellen Arbeitsrhythmus selbst einteilenkann. ... Es ist Sache der Justizverwaltung,ihm hierfür die sachlichen Voraussetzun-gen – etwa ein Dienstzimmer – zur Verfü-gung zu stellen (Kissel , GVG 3. Aufl., § 1Rdn. 155, § 22 Rdn. 36).

2. Für die Frage, zu welchen Zeiten ihmdieses Dienstzimmer zur Verfügung ste-hen muß, ist zunächst wiederum der ausder richterlichen Unabhängigkeit folgendeGrundsatz maßgeblich, dass der Richterseine Arbeit nicht innerhalb fester Dienst-

Freier Zugang zum DienstzimmerBGH-Urteil vom 25. September 2002 – RiZ(R) 2/01 – im

Frankfurter Schlüsselstreit (BJ Nr. 65, 18 und 66, 84)

zeiten zur erledigenbraucht und zur Einhal-tung allgemein festge-setzter Dienststundennicht verpflichtet ist(BGH, Urteil vom 16. No-vember 1990 aaO m. w.Nachw.). Die Befugnisdes Richters, sich dieArbeitszeit entspre-chend seinem individu-ellen Arbeitsrhythmuseinzuteilen, bestehtgrundsätzlich auch dann,wenn der Richter seine Arbeit an Gerichts-stelle erledigt. Allerdings weist der An-tragsgegner zu Recht darauf hin, dass derRichter in diesem Fall bei der Erledigungseiner Aufgaben in gewisser Weise in dieBehördenorganisation eingebunden istund daher auch auf dieEigengesetzlichkeiten des allgemeinenGerichtsbetriebs (Dienststunden der Be-diensteten, Arbeitsschutz, Überstunden-regelung, allgemeine Personalausstat-tung) Rücksicht nehmen muss (Kissel aaO§ 22 Rdn. 36).

Der Revision ist daher darin beizupflich-ten, dass nicht jede Maßnahme desDienstherrn, die den Zugang des Richterszu den ihm zur Verfügung gestellten Ar-beitsmitteln außerhalb der üblichen Büro-zeiten beschränkt, eine in unzulässigerWeise in die richterliche Unabhängigkeiteingreifende Maßnahme der Dienstauf-sicht ist. Ein unzulässiger Eingriff in dierichterliche Unabhängigkeit liegt viel mehrnur dann vor, wenn die Beschränkung nichtdurch die Notwendigkeit eines geregelten

und finanzierbaren Dienstbetriebs ge-rechtfertigt ist.

3. Das Berufungsgericht hat danach zuRecht einen Eingriff in die richterliche Un-abhängigkeit bejaht. Das Interesse an ei-nem geregelten und finanzierbarenDienstbetrieb rechtfertigt die vom Antrag-steller beanstandete Zugangsbeschrän-kung nicht. ...

b) Der Richter hat einen Anspruch darauf,dass er bei der Zuteilung der vorhande-nen, für die Arbeit erforderlichen perso-nellen und sächlichen Mittel in ermes-sensfehlerfreier Weise berücksichtigtwird (Kissel aaO § 1 Rdn. 155) ... (wirdausgeführt).

aa) Das Berufungsgericht hat zu Recht dar-auf hingewiesen, dass die Zugangsmöglich-keit zum Gerichtsgebäude für 78,5 Stundenpro Woche für den Antragsteller entgegender Auffassung des Antragsgegners nichtausreichend ist, da sie es ihm nicht ermög-licht, sich entsprechend seinem Arbeits-

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Hessen-Info Januar 2004 NRVJustiz in Hessen

rhythmus zeitnah und intensiv auf die mon-täglichen Sitzungen vorzubereiten. SeineSitzungsvorbereitung wird viel mehr durchdie an den Wochenenden geltenden Be-schränkungen der Zugangsmöglichkeit zumGericht erheblich erschwert.

bb) Zutreffend ist auch, dass dem Antrag-steller der uneingeschränkte Zutritt zuseinem Dienstzimmer ohne technischenund finanziellen Aufwand durch eine bloßeUmprogrammierung der Codekarte ge-währt werden kann.

cc) Gesichtspunkte, die einem uneinge-schränkten Zutrittsrecht des Antragstel-lers entgegenstehen, hat das Berufungs-gericht zu Recht nicht feststellen können.... Was die Sicherheits- und Brandschutz-gesichtspunkte anbelangt, hat das Beru-fungsgericht zu Recht darauf hingewiesen,es sei nichts dafür ersichtlich, dass durchdie Anwesenheit eines auch nach Auffas-sung des Antragsgegners verantwortungs-bewussten Richters im Gebäude eine Stei-gerung der Gefährdungslage eintritt. ...

Wenn sich der Richter außerhalb der übli-chen Zutrittszeiten im Gebäude aufhält, ister im Falle einer Notfallsituation auf dieüblichen Möglichkeiten, Hilfe herbeizuho-len, verwiesen. Mit seinen Einwänden be-rücksichtigt der Antragsgegner nicht aus-reichend, dass es nicht darum geht, dieÖffnungszeiten des Gerichtsgebäudes ge-nerell zu erweitern, sondern nur darum,dem Antragsteller auch außerhalb der Öff-nungszeiten die Möglichkeit zu geben, zuseinem Dienstzimmer zu gelangen.

dd) Dass die Gewährung uneingeschränk-ten Zutritts zum Gerichtsgebäude hiermöglich ist, wird schließlich auch durchdie für die Staatsanwälte getroffene Rege-lung belegt. Ihnen hat der Präsident desLandgerichts als Hausherr ein solches Zu-trittsrecht für ihr Gebäude eingeräumt.Weshalb für Richter und den Zutritt zumAmtsgerichtsgebäude etwas anderes gel-ten soll, ist nicht ersichtlich.

Nobbe Solin-Stojanovic Joeres Mayen Kniffka

Klammheimliche Änderungen

Die BGH-Entscheidung wurde von derSpitze des Landgerichts Frankfurt amMain zur Kenntnis genommen, ohnedass offiziell konkrete Umsetzungen er-folgten. Eher zufällig erfuhr der Kläger,Claus-Michael Ullrich, im Februar/März2003, dass bereits seit 4 Wochen seineCode-Karte unbegrenzt freigeschaltetsei. So ist es seines Wissens auch allenanderen Antragstellern ergangen. Es gabweder einen Umlauf noch eine sonstigeBekanntmachung, in der die Richterin-nen und Richter darauf hingewiesenwurden, dass sie die Code-Karte freischalten lassen konnten.Ein großer Schritt für die Richter, einkleiner für die Technik: die Code-Kar-ten lassen sich aktuell durch Knopf-druck von der Zentrale frei schalten,für einzelne Terminals (Tiefgarage)auch zeitlich individuell, etc.Also, alles kein Problem... Warum nichtgleich so, Herr Wagner!

Guido Kirchhoff

Zum Tod von Carl ZuschlagAm 21.6.2003 ist unser Kollege am Amtsgericht Darmstadt und MitstreiterCarl Zuschlag nach überraschender schwerer Erkrankung im Alter von 61Jahren gestorben.Nachdem er ab 1975 kurz in Michelstadt und dann am Landgericht Darm-stadt tätig war, arbeitete er seit 1989 am Amtsgericht Darmstadt über langeJahre als Vormundschafts- und Betreuungsrichter.Dieser Bereich wurde sein beruflicher Lebensinhalt, und er hat bei allenBeteiligten durch sein pragmatisches Gespür, großes Engagement und tie-fes Einfühlungsvermögen bleibende Eindrücke hinterlassen.

Carl Zuschlag war ein in jeder Hinsicht aufrechter Richter, der kein Blattvor den Mund nahm und falsche Autoritäten nicht akzeptierte. Seine Mi-schung aus beruflichem Engagement und genießender Lebensfreude waransteckend. Die NRV-Mitglieder im Darmstädter Raum vermissen ihn, sei-nen trockenen Humor und seine gute Küche sehr.

Guido Kirchhoff

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NRV Hessen-Info Januar 2004

Werner Sack ist Gründungsmitglied derNRV, er war langjähriges Mitglied desSprechergremiums des Landesverbandesder NRV-Hessen und zuletzt sechs JahreMitglied des Bundesvorstandes der NRV.

Werner, wie war Dein beruflicher Werde-gang?Nach der Referendarzeit war ich zunächstein Jahr Richter in einer Jugendstrafkam-mer bei dem Landgericht Frankfurt, an-schließend habe ich zwei Jahre am Amtsge-richt Königstein gearbeitet. Meine Ernen-nung zum Richter auf Lebenszeit erfolgteam Amtsgericht Frankfurt, ich war zunächstZivilrichter, habe dann aber ca. 17 Jahre langals Strafrichter gearbeitet und war bis kurzvor meinem Ausscheiden aus dem Dienstim August 2000 als Jugendrichter tätig. DerTod meines jüngsten Sohns, kurz vor einererforderlichen Herz-Lungentransplantation,hat meinen ohnehin vorhandenen Bluthoch-druck entarten lassen, diese Erkrankunghat dann zur letztendlich zur vorzeitigenPensionierung geführt.

Welche Interessen gab und gibt es nebender richterlichen Tätigkeit?Meine Ausbildung zum Diplompädagogenvor meiner richterlichen Tätigkeit hat auchzu meinen Interessen neben der juristi-schen Tätigkeit geführt; so habe ich inFrankfurt eine Balintgruppe für Jugendrich-ter und Jugendstaatsanwälte mit initiiert,die über einen längeren Zeitraum durchge-führt wurde. Weiterhin habe ich an Super-visionen und auch an Einzelsupervisionenteilgenommen. Bei den Treffen der Mitglie-der des Landesverbandes Hessen der NRV,den „Hessentagen“, hat sich vor diesemHintergrund eine Tagung mit einem Erfah-rungsaustausch von Familienrichtern mitBalintgruppen befasst, wobei die Einfüh-

Pädagoge, Jugendrichter, SupervisorWas macht eigentlich Werner Sack?

rung durch einen Juristen erfolgte, der ineiner seltenen Kombination auch Psycho-analytiker ist. Mehrere „Hessentage“ sindunter dem Titel „Selbst- und Fremdbild“veranstaltet worden, die sich mit Selbster-fahrungen bzw. dem Bild von Richtern imMedium Film beschäftigt haben. Der letzte„Hessentag“ Anfang September 2003 hatdieses Thema wieder zum Gegenstand ge-habt. An all diesen Veranstaltungen habeich teilgenommen und sie im Wesentlicheninitiiert. Aus meinen beruflichen Erfahrun-gen bin ich der Überzeugung, dass Richterund Staatsanwälte dringend Supervisionbrauchen, ich weiß aber auch, dass geradediese Berufsgruppen besonders resistentgegen die Beschäftigung mit der eigenenPerson und den eigenen Emotionen sind.Wir, gerade die Richter, sind so sehr daraufgetrimmt, unabhängig und unparteilich zusein, dass es schwer fällt, Kritik an der eige-nen Person und der eigenen Emotionalitätwahrzunehmen und Auswirkung auf die Ar-beit zu akzeptieren. Gegenstand der Super-vision ist die Arbeit, Aufgabe des Supervi-sors ist es hierbei emotionale Vorgänge desSupervisanden sichtbar zu machen und be-arbeiten zu helfen.

Wie sieht nach der vorzeitigen Pensionie-rung Dein Leben aus?Eigentlich wollte ich schon lange auchSupervisor werden, da ich davon ausging,dass sich Justizjuristen am ehesten von je-mand supervidieren lassen, der die ent-sprechende Feldkompetenz hat. Daherwollte ich zunächst – d.h. noch vor dem Ru-hestand – eine Ausbildung zum Supervisoran einem privaten Institut parallel zur rich-terlichen Tätigkeit absolvieren. Die Pensio-nierung hat mir dann aber die Möglichkeiteröffnet, die einzige universitäre Ausbil-

dung zum Diplomsupervisor an der Univer-sität / Gesamthochschule Kassel zu ergrei-fen. Die Aufnahme dort war nur möglich, daich auch Diplompädagoge bin, meine vorheri-ge juristische Tätigkeit allein hätte nicht zueiner Aufnahme ausgereicht, obwohl sich ausdieser Tätigkeit dann aber die erforderlichefünf jährige Berufserfahrung ergab. Von mei-nen Interessen und Vorerfahrungen her wardie Zulassung zu dieser Ausbildung ein gro-ßer Erfolg und erwies sich gleichzeitig alsBefreiung. Mir wurde inzwischen bewusst,dass die Tätigkeit als Richter die Ausübungabgeleiteter staatlicher Macht ist, mit allensich daraus ergebenden emotionalen Vor-gängen. Erst jetzt kann ich spüren, was esbedeutet, sie nicht mehr zu haben – undnicht mehr damit belastet zu sein.

Welche Ziele und Vorstellungen ergebensich aus dieser zusätzlichen Ausbildungund Qualifikation?Richtern und Staatsanwälten im Amt, ein-zeln oder in Gruppen, will ich meine vor-handene Feldkompetenz und meinen Er-fahrungen aus bereits durchgeführtenSupervisionen anbieten. Mir ist bewusst,dass für mich erst der zeitliche Abstandzum Richterberuf notwendig war, um dieerforderliche Freiheit zu erlangen, zuhö-ren zu können und nicht die eigene Kennt-nis statt der Wahrheit des Supervisandeneinzubringen. Ich kann mir auch vorstel-len in Anspruch genommen zu werden,wenn Kollegen ausscheiden, insbesonde-re, wenn dies vorzeitig erfolgt. Ich glaube,die dabei entstehenden Gefühle anhandmeiner eigenen Erfahrung, aufbereitetdurch die Ausbildung, auffangen zu können.In einem durch meine Gesundheit begrenz-ten Rahmen will ich Kolleginnen und Kolle-gen hierzu zur Verfügung stehen und haltedies für eine sinnvolle Ergänzung meinerbisherigen Erfahrungen und Tätigkeiten.

Hierzu wünschen wir Dir alles Gute undviel Erfolg.

Das Gespräch führte Ferdinand Georgen

Personalien

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Hessen-Info Januar 2004 NRVPersonalien

Rückblick auf einen Fallklassischer Ämterpatronage

Zum Tode von Rudolf Wirtz, der von Ministerpräsident Wallmann1988 grundlos zugunsten eines Parteifreundes versetzt wurde *

von Hans-Dietrich Teuchert

Prägnante biografische Erfahrungen derKindheit liefern oft eine Erklärung fürkünftige persönliche Entwicklungen. Dieswohl auch hier.„Als ein am letzten Maitag des Jahres 1931Geborener gehörte ich soeben noch zumSchuljahrgang 1930/31. Dieser Jahrgang zogam 01. April 1937 als erstes Schuljahr indie katholische Horst-Wessel-Volksschuleein. Der Rektor der Schule hieß Herstrass.Er hatte einen ebenso roten wie großenGlatzkopf, war etwas dick und eher kleinals groß, kam aber stramm daher. Wennwir bei nationalen Anlässen und vor Beginnder Schulferien am Fahnenmast in Reihund Glied angetreten und nach Herstrass’Rede das Deutschlandlied und direkt hin-terher das Horst-Wessel-Lied schmetter-ten, achtete er scharf darauf, dass keiner– jedenfalls keiner der Jungen – mit demlinken den zum Deutschen Gruß erhobe-nen rechten Arm stützte. Rektor Herstrasswar ein Anhänger der Prügelstrafe. Erschlug mit einem Stock auf den Hintern.Mich hat es auch einmal erwischt. Es tatweh.“So beginnen – die bislang nicht veröffent-lichten – Lebenserinnungen von RudolfWirtz. Er fährt darin fort:„Wir wohnten im eigenen Haus mit Garten,unweit der Wupper in Opladen, waren ka-tholisch und mit fünf Kindern kinderreich.Der Vater war Studienrat, Reserveoffiziernicht aber Parteigenosse.

Ein wohl deutsch-nationales, dem Zeit-(un)geist gegenüber verlässlich kritischesElternhaus. Ein solcher biografischer Aus-gangspunkt prägt lebenslang.Die Angst vor den Bomben, die Not nachKriegsende und das Bangen zwischen Le-ben und Tod während der langen Zeit sei-nes Leidens an einer offenen Tuberkulose– auch dies prägt lebenslang.

Rudolf Wirtz studierte Rechtswissenschaf-ten in Köln und Freiburg, verbrachte einenTeil seiner Referendarzeit in Israel undwar von 1971 bis zu seiner Pensionierung1996 im hessischen Staatsdienst tätig, da-von annähernd 20 Jahre in der hessischenStaatskanzlei als Leiter der Verbindungs-stelle zu den Kirchen und Religionsge-meinschaften im Rang eines Ltd. Ministe-rialrats.

Seine Verdienste in dieser Funktion ste-hen außer Frage. Das komplexe Bezugs-geflecht zwischen dem zur religiös-weltan-schaulichen Neutralität verpflichtetenStaat und den Kirchen/Religionsgemein-schaften verlangte im Interesse einer „ba-lancierten Trennung von Staat und Kirche“ein hohes Maß an staatskirchenrechtlicherKompetenz, Sensibilität und Verhand-lungsgeschick. Rudolf Wirtz war gleicher-maßen bei den Repräsentanten von Staatund Kirche/Religionsgemeinschaften einangesehener Fachbeamter in Kirchenfra-gen, hochgeschätzt und genoss deren Ver-trauen, was sich auch in diversen Aus-zeichnungen ausdrückte. Der Staatsvertragzwischen dem Land Hessen und der Jüdi-schen Gemeinde war sein Werk.

Dies sollte sich ändern. Nach dem Wech-sel zur CDU-geführten Landesregierungunter Ministerpräsident Wallmann wurdeRudolf Wirtz Ende 1988 unverhofft aufeine unbedeutende Stelle umgesetzt, umseinen bisherigen Dienstposten für einenFraktionsassistenten und Parteifreunddes Ministerpräsidenten freizumachen.Ein klassischer Fall von Ämterpatronage!Begründet wurde dieser Schritt mit an-geblichen massiven Beschwerden von Re-präsentanten der Kirchen/Religionsge-meinschaften, die es in Wirklichkeit nichtgab. Bekräftigt wurden diese unwahrenund seine Berufsehre verletzenden Vor-würfe durch eine entsprechende eides-stattliche Versicherung des damaligenChefs der Hessischen Staatskanzlei, Alex-ander Gauland, der überdies für seineWeigerung, die angeblichen Beschwerde-führer zu benennen, gar noch das „Wohldes Landes Hessen“ (§ 99 Abs. 1 VwGO)bemühte)1.Rudolf Wirtz wehrte sich gegen das ihmzugefügte Unrecht. „Sich gegen Unrechtverteidigen ist eine Rechtsverpflichtunggegen sich selbst“, zitierte er einmalJhering in einem Gespräch. Dies gereicht

* Martin Walser hat die Auseinanderset-zung in „Finks Krieg“ verarbeitet

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Personalien

ihm zur Ehre. Sein Kampf zielte aber auchgegen den offenkundigen Mißbrauch staat-licher Macht und er gewann für ihn einezusätzlich politische Dimension, als dierechtslastige Vergangenheit (Vitiko-Bund)des „Günstlings“ öffentlich bekannt wur-de. Es gab bei Rudolf Wirtz einen antifa-schistischen Affekt.

Diesen ungleichen, sich über Jahre hinzie-henden und auch seine Familie höchst be-lastenden Kampf, in dem die „Mächtigenimmer mächtiger“ und die Freunde immerweniger wurden, überschrieb er in derihm eigenen Selbstironie mit dem Kampfvon „David gegen Goliath“.Und er gewann! Nach dem Wechsel dernun SPD-geführten Landesregierung unterMinisterpräsident Eichel wurde ihm An-fang 1992 unter Aufhebung der Umset-zungsverfügung seine frühere Aufgabe alsLeiter der Verbindungsstelle zu den Kir-chen/Religionsgemeinschaften beim Mini-sterpräsidenten wieder übertragen. Zu-sammen mit der Entscheidung des Petiti-onsausschusses des Hessischen Landtagswar er damit in vollem Umfang rehabili-tiert. Ein höchst seltener Erfolg im Fallevon Ämterpatronage)2.

„Kann es die Gesundheit und das Lebenkosten, in einem Rechtsstaat sein Recht zuwollen?“)3. Martin Walser geht dem an-hand dieses Falles in seinem Schlüsselro-man „Finks Krieg“ nach. Wir, in derenBlickfeld Rudolf Wirtz erst spät trat, habenseinen „Kampf ums Recht“ mit innerer An-teilnahme und mit Respekt begleitet undwerden ihm ein ehrendes und auch unsverpflichtendes Andenken bewahren.Was Rudolf Wirtz am Grabe seines Freun-des Manfred Ranft)4 sagte, gilt für ihnselbst: „Er tat das, was er für richtig hielt,mit beachtlicher – mit existenzieller Kon-sequenz. Das war das Ungewöhnliche“auch an Rudolf Wirtz.

Er starb am 01. Mai 2003 in Wiesbaden.

Anmerkungen1 Zur Pflicht des Dienstherren zur Nennung von

Denunzianten vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Februar

2003 – 2 C 10.02 –; zur Gewichtung der in hier in

Rede stehenden eidesstattlichen Versicherung

vgl. HessVGH, Beschluss vom 29. Juli 1989 – 1 TG

916/89 –.2 Eine kenntnisreiche Darstellung dieses Falls von

Gerhard Strauch findet sich in: Neue Richter-

vereinigung e.V. (Hrsg), Ämterpatronage, 1997,

Seite 43 ff.3 Rainer Wahl, Überlegungen zu Martin Walser:

„Finks Krieg“ in NJW 1999 S. 1920 ff.4 Manfred Ranft ist der Protagonist in Martin

Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit“,

der Rudolf Wirtz gewidmet ist.

Martin Walser

Über das Gemeinsame.Es ist anmaßend, aber unvermeidlich, dassman den Tod eines Mitmenschen als per-sönlichen Verlust empfindet. Er ist mir ge-storben. Ich habe ihn so und so erlebt,habe das und das von ihm gehabt, war sound so mit ihm verbunden, oder habe michdoch so und so mit ihm verbunden gefühlt,und das ist jetzt alles weg, zerstört. Ich be-ziehe mich auf mein Gefühl von ihm, wennich sage, dass er freundlich und kritischund sehr genau wahrgenommen hat, wieman auf ihn reagierte. Er hat von Anfang anund wahrscheinlich bis an sein Ende einLeidensmaß hinzunehmen gehabt, dasman nur mit Innenleben beantwortenkann. Ich auf jeden Fall wurde eher Zeugedessen, was ihm zugefügt wurde und habealso seine Freudenfähigkeit weniger er-lebt als eben die seinem Lebenslauf an-getane Unbill, um es sehr summarisch zusagen. So wird auch der Humor scharf unddie Freundlichkeit kritisch und der Blickmaßnehmend und das Wesen vorsichtig.Aber nicht mißtrauisch. Das heißt, er blieboffen, zugewandt, bereit, teilzunehmen.Seine Erfahrung hat ihn streitbar gemacht.Mich hat er für sich eingenommen undganz und gar gewonnen, weil er eine Emp-findlichkeit entwickelt hatte gegen ihn be-treffende Machtausübung. Machtausübungdurch alles, was in unserer Gesellschaftdie Werte verwaltet oder repräsentiertoder schafft. Staat, Politik, Kirche, Rechtund Öffentlichkeit -, er konnte sich nicht

damit abfinden, herrschenden Interessenzu dienen, wenn das gegen sein Gefühlging. Ein religiös erzogenes und durch Bil-dung und Ausbildung und Praxis entwickel-tes Gefühl, das nicht mehr täuschbar wardurch diese und jene saisonale Macht-gebärde. Eine innerste Unbeirrbarkeit, diesich mit Sarkasmus wappnete. Eine Zart-heit, die einem eher verborgen als offe-riert wurde. Ein immerwacher Witz, zurRelativierung des Unzumutbaren. Und dieBedingung für gar alles: die Würde desMenschen müsste unantastbar sein. Undda die Mächtigen das entweder nicht wis-sen oder nicht wissen wollen, wird dasbloße Dasein, wird der Anspruch auf dasEigenleben etwas, wofür man zu streitenhat. Andauernd. Das war, glaube ich, eineErfahrung, die wir gemeinsam hatten. Diemussten wir nicht in Programmen formu-lieren, aber was wir zusammen gemachthaben, hatte diesen Grund. Ich habe michnoch mit keinem Menschen in dieser al-les andere bestimmenden Erfahrung undEmpfindung so verwandt gefunden wiemit Rudolf Wirtz. In diesem Verlustgefühlrührt sich auch ein Protest. Mehr als dasübliche Sichnichtabfindenkönnen mitdem Zugefügten. Spürbar wird eineMachtausübung der anderen Art. Die hö-here Art der Gemeinheit, die höchste, ge-nannt Tod. Und man sieht sich unfähig,sich damit abzufinden. Dem entsprichtdie Trauer.

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Hessen-Info Januar 2004 NRVVeranstaltungen

von Guido Kirchhoff

190 Richterinnen und Richter aller Ge-richtsbarkeiten, Staatsanwältinnen undStaatsanwälte trafen sich am Allerheiligen-Wochenende zum 29. Richterratschlag.

Seit dem ersten Richterratschlag 1980 inHeiligkreuzsteinach hat sich dieser rechts-politische Kongress mit zahlreichenrechts- und justizpolitischen Themenbefasst. Er hat keine feste Organisations-form, ist verbands-unabhängig und findetjedes Jahr in einem anderen Bundeslandstatt. Er hat Züge eines großen Familien-festes - viele Teilnehmer kennen sich seitJahren, Neue werden warm und herzlichaufgenommen. Es gibt Kabarett, Tanz,Show – und viele inhaltliche Diskussionenund Vorträge.

Der Richterratschlag war Wegbereiter fürzahlreiche Ideen und Projekte, z.B. die Be-wegung „Richter und Staatsanwälte fürden Frieden“, das Hamburger Richter-theater, den Sozialrichterratschlag, dieZeitschrift „Betrifft JUSTIZ“, den Deut-schen Vormundschaftsgerichtstag undauch die Neue Richtervereinigung (NRV).Der nächste Richterratschlag findet inPotsdam vom 29.-31.10.2004 statt.

Diesmal ging es um Facetten des Themas„Recht als Ware“. Auch Bundesjustizminis-terin Brigitte Zypries nahm teil und stelltesich sehr offen der Diskussion über Fra-gen der Justizreform. Richter am Amtsge-richt Guido Kirchhoff aus Darmstadt be-

Recht als Ware –Von der Vermarktung des Rechts

Bericht über den 29. Richterratschlagvom 31.10.2003 –2.11.2003 in Weilburg/Lahn

leuchtete in seinem Eröffnungsreferat dieZusammenhänge zwischen Recht undMarkt und forderte die Bundesjustizmi-nisterin dazu auf, die Justiz nicht zum„Billigheimer“ der Nation verkommen zulassen. Die Justiz müsse an ihrer Bedeu-tung als sittenbildende Kraft und Beispielfür Streitkultur in der Gesellschaft gemes-sen werden und nicht der bloßen Fall-bearbeitung.

Die Arbeitsgruppen beschäftigten sich mitfolgenden Themen1 :In der Arbeitsgruppe 1 – Handel mit Ar-beitnehmerrechten – wurde die Fragediskutiert, inwieweit der Druck durch dieweltweite Globalisierung und schlechteKonjunktur zu einer Verhandelbarkeitgrundlegender und sicher geglaubterRechtspositionen geführt habe. Sowohlindividual- als auch kollektivrechtlich kom-me es zu immer mehr zu einer Aushöhlungoder freiwilligen Aufgabe von Rechten, de-ren Nutzen im Hinblick auf Arbeitsplatzer-haltung fraglich sei.

In der Arbeitsgruppe 2 – Verkauf vonRechtswissen – ging es um richterlicheNebentätigkeiten. Je nach Art und Umfangwurden sie als problematisch eingestuftund eine höhere Transparenz gefordert.Als beispielhaft wurde die hessischeNebentätigkeitsregelung vorgestellt, dieu.a. ein Nebentätigkeitsregister vorsieht.Die auf internationaler Ebene bereits er-arbeiteten richterlichen Verhaltens-standards sollten ebenfalls stärker be-rücksichtigt werden.

Die Arbeitsgruppe 3 – Justiz in der Ba-nanenrepublik – beschäftigte sich mitder Vielfalt der Korruption. Sie forderte,dass die Bestechungsvorschriften auch aufdeutsche Parlamentarier erstreckt werdenmüssen. Korruption könne außerdem nurwirksam bekämpft werden, wenn dieStaatsanwaltschaften personell besserausgestattet würden. Dies sei auch in Zei-ten knapper Kassen möglich, da sichKorruptionsbekämpfung selbst finanziere.Die Möglichkeit aktiver Prävention wurdeam Beispiel des Ombudsmanns bei derDeutschen Bahn AG vorgestellt.

Die Arbeitsgruppe 4 – Gerichtsshowsund Selbstdarstellung der Justiz –fragte nach Pro und Contra der täglichenGerichtsshows. Sie bedienen ein großesInteresse an Rechtsfragen, setzen bei Fäl-len und Darstellern aber stark aufVoyerismus und stellen insgesamt nur ei-nen kleinen Ausschnitt der Gerichts-wirklichkeit verzerrt dar. Andererseits kor-rigieren sie das von amerikanische Spiel-filmen geprägte Bild und führen die Zu-schauer an die Justiz heran. Dies müsseauch Aufgabe einer besseren, offensivenund bedarfsgerechteren Öffentlichkeitsar-beit jedes einzelnen Gerichts sein. Die Ju-stiz baue noch zu wenig Grundlagen dervertrauensvollen Zusammenarbeit mit denMedien auf und das Verhältnis sei oft vonAngst und Unverständnis geprägt.

Die Arbeitsgruppe 5 – Rechtsprechungals Produkt – beschäftigte sich mitder Umsetzung der Neuen Verwaltungs-steuerung in der Justizverwaltung und derRechtsprechung. Die Arbeitsgruppe warntdavor, für die Rechtsprechung „Produkte“definieren zu wollen. Auch eine Steuerung– Controlling – ist aus verfassungsmäßi-gen Gründen nicht möglich. Sie würde un-mittelbar in die richterliche Unabhängig-keit eingreifen. Die Rechtsprechung liegtallein im Verantwortungsbereich der ein-zelnen Richterinnen und Richter.

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NRV Hessen-Info Januar 2004

Die Arbeitsgruppe 6 beschäftigte sich mitdem – Schutz von Whistleblowern –Menschen, die mit Insider-Kenntnissenschwere Missstände an die Öffentlichkeitbringen und dabei erhebliche Nachteileerleiden können (Beispiele: AlexanderNikitin, Paul von Buitenen, DanielEllsberg, Dr. Margit Herbst). Die Arbeits-gruppe begrüßte die bisher in Hamburg

und Nordrhein-Westfalen bestehendenErlasse, wonach den Bediensteten unterbestimmten Voraussetzungen Offen-barungspflichten obliegen, und die Arbeitdes nordrhein-westfälischen Innenmini-steriums an einer gesetzlichen Regelung.Der nordrhein-westfälische Innenmini-ster hatte im Mai 2003 den Schutz vonWhistleblowern gefordert. Die Arbeits-

gruppe forderte darüber hinaus ein bun-desweites Gesetz.

Anmerkungen1 Die vollständigen Ergebnisse können in der De-

zemberausgabe der Zeitschrift Betrifft JUSTIZ

nachgelesen werden (www.betrifftjustiz.de);

Probehefte bei Renoservice GmbH, Mommsenstr.

34, 10629 Berlin, Tel. 030/3277550

Deutschland sucht den SuperrichterDie Casting-Show beim 29. Richterratschlag

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Hessen-Info Januar 2004 NRVVeranstaltungen

von Werner Sack

Es ist nicht einfach, sich filmisch dem The-ma zu nähern. Zwar gibt es eine Fülle vonDarstellungen in Film und Fernsehen, beidenen Gerichtszenen eine Rolle spielen,aber das ist in der Mehrzahl leichte Kost,die eher so ausfällt, wie sich „kleinFritzchen“ das Richten so vorstellt. Dieprivaten Fernsehsender – und leider eini-ge unserer Kollegen – tun das ihre, dieseTendenz auch noch zu verstärken. Mit demfür uns wichtigen Problem, „wie nimmtuns der Rechtsuchende wahr und erken-nen wir uns wieder“, befassen sich dieseMachwerke leider überhaupt nicht. Um soverdienstvoller war die Arbeit der Film-publizistin Sonja Toepfer, der es wiedergelang, uns Spiegel vorzuhalten, die nach-denklich machen konnten.

Als Einführung brachte sie einen Zeichen-trickfilm mit fünf Puppen auf einer schwe-benden Plattform, die sich im Gleichge-wicht befindet, weil alle Beteiligten sichüber die Notwendigkeit eines aufeinanderabgestimmten Verhaltens im Konsens be-finden. Sie werfen Angeln aus. Als einereine Kiste herauszieht, wandelt sich dasBlatt: Es entstehen verschiedene Interes-sen, es kommt zur Gewaltanwendung. DiePlattform – ihre Welt – gerät aus demGleichgewicht. Am Ende bleibt einer mitder Kiste zurück, die er aber auch nicht er-reichen kann, ohne seinen eigenen Ab-sturz oder den der Kiste zu riskieren.Und wir, die Richter, die immer auf Inte-ressenausgleich aus sind, ja, dazu ange-halten werden, wir blieben zurück, waren

Hessentag 2003Gedanken und Eindrücke zum Thema

„Selbstbild/Fremdbild im Film“

ziemlich still und waren ratlos. Wir hattenein atemberaubendes Beispiel für dieNotwendigkeit von Ausgleich und das Zu-rückschrauben von Partikularinteressengesehen. Der Film heißt übrigens: Balan-ce.

Der nächste Film war ein abendfüllenderSpielfilm aus dem Jahr 2000, dessen Dreh-buch nach einer Novelle von Anna Seghersentstanden war und der im Anfang der50er Jahre in der DDR spielt. Die Haupt-person des Films ist ein junger Jurist, dergerade zum Untersuchungsrichter ernanntworden ist. Er ist ein überzeugter Anhän-ger des um Sozialismus bemühten Sys-tems und soll in einem schwierigen Fallmöglichst schnell Anklage erheben. So-wohl seine Vorgesetzten als auch die Stasihalten den Fall für klar und seine zügigeBehandlung für das Funktionieren des sta-linistischen Systems für notwendig. Derjunge Richter ist jedoch von der Schulddes Gefangenen nicht überzeugt undwehrt sich gegen eine schnelle Abhand-lung. Er gerät zunehmend unter Druck.Schließlich wird ihm der Fall entzogen, erwird selbst zum Angeklagten und landetschließlich im Gefängnis, zusammen mitdem Mann, den er einer Verurteilung hättezuführen sollen.

Zu spüren war neben Betroffenheit auchErleichterung: Derart kommt keiner vonuns unter Druck. Eine vergleichbareEinflussnahme ist bei uns nicht möglich.So klang es aus den meisten Äußerungender Teilnehmer. Aber stimmt das wirklich?Okay, derartigen Drucksituationen wird

keiner von uns ausgesetzt sein oder wer-den, aber was geschieht mit uns subtiler?Ist es das Beförderungssystem? Haben wirnicht selbst eine Schere im Kopf, so dassmanche Entscheidung selbstverständlicherscheint, obwohl sie genau genommennicht gerecht ist? Wir sollten uns nicht sattzurücklehnen und den Kollegen im Filmnur bedauern. Die Gefahr der Anpassungdes Nachgebens gegenüber den „Sach-zwängen“ ist groß. Es bedarf solcher Fil-me, um uns wach zu halten.

Als drittes kam ein Film zur Vorführung,der eine ganz ausgefallene Entstehungsge-schichte hat: „Akte Felix“. Er ist in der JVAWiesbaden entstanden, einer Jugend-anstalt, in der vorwiegend Heranwachsen-de untergebracht sind, die teilweise langeStrafen zu verbüßen haben. Er ist einervon bis dahin vier Filmen eines Projektsder Uni-Kassel, bei dem mit Gefangenenprofessionell Filme nach deren Drehbü-chern gedreht wurden. D.h. die Geschich-ten, die verarbeitet wurden stammen allevon den Gefangenen und geben deren ei-gene Erlebnisse wieder. Der Film ist ca. 22Minuten lang und wurde in zwei jeweilseinwöchigen Workshops gedreht. Die Ge-fangenen hatten den Kinofilm „Die zwölfGeschworenen“ gesehen und nahmen dasdortige Geschehen als Vorlage. Da sie nursieben Aktive waren, kam ein unmittelba-res Nachmachen nicht in Frage. Sie erfan-den ein fiktives Juristenseminar, in demsie einen Fall bis zur Einigkeit über ein Er-gebnis behandeln mussten. Wie im Origi-nal enthält die Anklage einen Tötungsvor-wurf. Das Verfahren endet schließlich miteinem Freispruch. Ich selbst bin mit die-sem Film sehr verbunden, denn zum einenwar ich während des gesamten Projektsder Supervisor des Kasseler Filmteams,zum anderen hatte ich mit den Gefange-nen – die allerdings nichts von meinerSupervisionstätigkeit wussten – ihren Textim Hinblick auf juristische Termini geglät-tet. Um so gespannter war ich auf die Re-

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NRV Hessen-Info Januar 2004 Veranstaltungen

aktion der Kollegen. Gab es zu Anfang nochgelegentliche Erheiterung über das eherLaienhafte der Darsteller, so wurde esschon nach kurzer Zeit immer ruhiger.Man war richtig betroffen. Was uns die

jungen Gefangenen da vormachten, warunsere Art zu denken und zu argumentie-ren. Das heißt nicht, dass wir etwas falschmachen würden, es ist und war im Film al-les sauber subsumiert, aber dass Betrof-

fene, Laien, so genau mitbekommen, wieJuristen sprechen und herleiten, war ein-drucksvoll. Ein Teilnehmer meinte: „Diereden ja im Plädoyerstil!“ – aber das istes, was sie von uns hören.

von Jutta Wolters

Am 23.Mai 2003 fand eine Tagung der „In-ternational Association of Refugee LawJudges“ – European Chapter – in Trierstatt.

Die 1997 in Warschau gegründete Vereini-gung hat sich zum Ziel gesetzt, insbeson-dere durch einen internationalen Erfah-rungsaustausch, weltweit zu einem rechts-staatlichen Umgang mit Flüchtlingen, u.a.auf der Grundlage der Genfer Flüchtlings-konvention, beizutragen. Zusammen mitdem UNHCR führte die IARLJ beispiels-weise das „Asylum Judges Support Pro-ject“ (AJSP) durch. Dabei ging es um dieFortbildung osteuropäischer Asylrichter.Die Europäische Sektion hat darüber hin-aus im Rahmen des „Odysseus“ Pro-gramms der EU ein Austausch – undSchulungsprogramm für Asylrichter inEuropa erarbeitet.

Tagungsthema in Trier war zunächst derneueste Stand der Asylpolitik in Europaund insbesondere die Gesetzgebung zum

Internationaler Erfahrungs-austausch über die aktuelle

Asylpolitik in EuropaBericht über die Teilnahme an einer

Tagung der IARLJ – European Chapter –

Asylrecht in der Europäischen Union. Fer-ner ging es u.a. um den subsidiären Schutzfür Flüchtlinge und die Frage, ob Regelun-gen über Asylgewährung bei einer Fluchtauf Grund politischer Verfolgung und Re-gelungen zum subsidiären Schutz aus hu-manitären Gründen in einem einheitlichenVerfahren geregelt werden sollten. Gegen-wärtig bestehen diesbezüglich innerhalbder Europäischen Union ganz unterschied-liche Ansätze.

Diskutiert wurde insbesondere auch dieFrage, ob und inwieweit mit einem Para-digmenwechsel im Asylrecht zu rechensein wird: Anlässlich des Frühjahrsgipfelsam 21./22.März 2003 hatte der britischePremier Blair den Vorschlag unterbreitet,Asylbewerber künftig extraterritorial in La-gern in der Nähe ihrer Herkunftsstaatenunterzubringen und dort auch das Asyl-verfahren durchzuführen.

In einem weiteren Schwerpunktthema ginges um die Rolle des Richters im Asyl-verfahren. Richter aus Polen, Holland,Schweden, Deutschland, England und

Frankreich legten jeweils ihre Rechtslagedar.Dabei wurde deutlich, dass die Verwal-tungsentscheidungen von den Gerichtender verschiedenen Länder jeweils mit ei-ner unterschiedlichen Prüfungstiefe über-prüft werden können. So sind beispiels-weise die holländischen Richter darauf be-schränkt, die Verwaltungsentscheidungenauf mögliche „Ermessensfehler“ hin zuüberprüfen. In der Regel sind sie deshalbu.a. an die Tatsachenfeststellungen überdie Situation in den Herkunftsländern, wiesie von der Verwaltung getroffen wurden,gebunden.

Die Tagung fand in der in unmittelbarerNähe der Richterakademie in Trier gelege-nen Europäischen Rechtsakademie statt.Der eintägigen Veranstaltung vorangegan-gen war ein dreitägiges Seminar für Asyl-richter aus osteuropäischen Ländern. DieTeilnehmer beider Veranstaltungen warensich darüber einig, dass es zu einem pro-duktiven Gedankenaustausch gekommenist, der unbedingt fortgesetzt werdenmuss.

Einen passenden Abschluss fand die Ver-anstaltung am Abend, als eine große An-zahl von Teilnehmern bei sommerlichenTemperaturen den Tag in einem Weinlokalam Trier Dom ausklingen ließen. Hier wur-den Pläne konkretisiert, künftig auch au-ßerhalb des Rahmens der offiziellen grö-ßeren Veranstaltungen der EuropäischenSektion eher informelle „Nachbarländer-treffen“ zu organisieren.

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Hessen-Info Januar 2004 NRVVeranstaltungen

Landes-MitgliederversammlungDonnerstag, 12. Februar 2004, 16:00 UhrLandgericht Frankfurt, Geb. E, Raum 6109

Tagesordnung:– Berichte des Sprechergremiums– Kassenbericht, Entlastung des Kassierers– Entlastung des Sprechergremiums– Neuwahl des Sprechergremiums– Neuwahl des Kassierers und des Kassenprüfers– Verschiedenes

Hessen/Rheinland-Pfalz-Tag24. bis 26. September 2004auf der Marienburg in Zell/Mosel-Bullay

Gewalt in sozialen Beziehungen und ihre Auswirkungenauf die Gesellschaft

Wir haben die Anreise am Freitag ab 16.00 Uhr vorgesehen und wollen mitdem Programm um 18.00 Uhr beginnen.

Kosten: ca. 85,- €Anmeldung:

Jürgen Rudolph, Tel. 02671 / 988014; [email protected] Pförtner, Tel. 069 / 1367-8234; [email protected]

Zur Erinnerung: Rein zufällig findet zeitgleich das Pündericher Weinfest statt.

Einladung zur FilmvorführungAm 26.2.2004 wird die Filmpublizistin Sonja Töpfer uns erneut in die Welt desFilms entführen, um uns anhand eines von ihr ausgewählten Werkes zu zeigen,wie Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte mit den Au-gen Filmschaffender wahrgenommen werden.

Donnerstag, den 26.2.2004, 18:00 Uhr,Friedrich-Dessau-HausFriedrich-Wilhelm-von Steuben-Str. 9060488 Frankfurt am Main

Kolloquium„Richterliche Ethik“Freitag, 12.3.2004,14.30 Uhr

Landgericht Bremen

MEDELMagistrats Européens pour laDémocratie et les libertés

Kontakt: Dr. Sabine Stuth (NRV),VG Bremen, Tel. [email protected]

Bundes-Mitglieder-

versammlung5. - 7. März 2004 in Weimar

Gegen das Vergessen

Aus der Tagesordnung:

Freitag, 5. März16.00 Dr. Hans-Jochen Vogel

Gegen das Vergessen19.30 Berichte der Landesverbände

und Fachgruppen

Samstag, 6. März09.30 Prof. Dr. Christoph Gusy

Wie politisch neutral könnenRichter und Staatsanwälte sein?

14.00 Stadtführung und Gedanken-austausch

20.00 Tonnengewölbe des Neuen Mu-seums WeimarNRV-Kabarett mit anschließen-der Disco

Sonntag, 7. März09.00 Regularien13.00 Besuch der Gedenkstätte

Buchenwald

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NRV Hessen-Info Januar 2004

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Hessen-Info Januar 2004 NRV

An die

Neue Richtervereinigung

Greifswalder Str.4

10405 Berlin

❑ Ich beantrage die Mitgliedschaft in der Neuen Richtervereinigung.

❑ Ich bitte zunächst um weitere Informationen und Einladungen.

Vorname:

Name: geb.:

Straße:

PLZ, Ort: Bundesland:

beruflicher Status,

Dienststelle:

Tel./Fax. privat:

Tel./Fax dienstlich:

e-mail:

Selbsteinstufung Monatsbeitrag*:

Ich erteile hiermit die Ermächtigung, meinen Mitgliedsbeitrag von folgendem Konto einzuziehen:

Kto.Nr.:

BLZ, Bank:

Datum, Unterschrift

* Die Mitgliederversammlung hat den Beitrag auf 12,50 bis 30,- € monatlich festgesetzt.

Der Mindestbeitrag ist herabgesetzt auf

5,– € mtl. für Referendare, teilzeitbeschäftigte sowie nicht voll besoldete Mitglieder

2,50 € mtl. für Mitglieder ohne eigene Bezüge.

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NRV Hessen-Info Januar 2004

Die Neue Richtervereinigung wurde am 07. März 1987 in Frankfurt am Main gegründet. Sie will gesellschaftskritischen Richterinnen undRichtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten als Berufsvereinigung dienen.Die Gründung der Neuen Richtervereinigung wurde möglich, weil die Justiz in der Bundesrepublik in ihrer Zusammensetzung pluralisti-scher wurde und nun in der Justiz – obwohl immer noch überwiegend konservativ – alle Richtungen und Lebenshaltungen vertretensind. Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen sind in Bürgerinitiativen, Hilfsorganisationen, Verbänden und Parteien tätig, beispielsweiseum Hochrüstung und Zerstörung der natürlichen Umwelt, Folter und politische Verfolgung zu bekämpfen.Die Gründung der Neuen Richtervereinigung wurde nötig, weil die traditionellen richterlichen und staatsanwaltlichen Standesvereini-gungen, wiewohl verjüngt und flexibler, in konservative Bündnisse eingebettet und nicht selten vor Ort unkritische Stützen der Justiz-verwaltungen sind.Die NRV tritt namentlich ein für- die innere Demokratisierung von Gesellschaft und Justiz,- den Schutz von Minderheiten und die Bewahrung der Lebensgrundlagen,- die Beachtung der Menschenrechte und Grundrechte,- sozial ausgewogene Lösungen im materiellen und Verfahrensrecht im Interesse der Rechtssuchenden.Insbesondere engagiert sich die NRV für die Unabhängigkeit der Justiz von Einflüssen, die die Justizgewährung für die Bürger beein-trächtigen könnten. Darauf bauen auf- die grundlegenden Entwürfe der NRV für eine möglichst hierarchiefreie Justizstruktur als eigenständige dritte Staatsgewalt,- die Forderung nach hinreichenden Arbeitsbedingungen,- die Konzepte zum Richterbild mit Konsequenzen für Ausbildung und Einstellungsverfahren.Mitglieder der Neuen Richtervereinigung engagieren sich daher oft justizintern in Gremien (Richterräten, Präsidialräten). Nach anfangsnicht unerheblichen Widerständen aus den Reihen der Justizverwaltungen wird die Neue Richtervereinigung mittlerweile als Berufsver-einigung anerkannt und auf Bundes- und Landesebene bei Gesetzgebungsvorhaben gehört. So ist es unter anderem der nachdrücklichenEinflussnahme der NRV zuzuschreiben, dass mit dem Gesetz zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit zum Jahreswechsel 1999/2000 das Vorsitzendenquorum in den Präsidien entfallen ist und die Geschäftsverteilung in den Spruchkörpern nicht mehr durch denVorsitzenden, sondern durch Mehrheitsentscheidung geregelt wird.

OrganisatorischesDie Neue Richtervereinigung ist auf Bundesebene als eingetragener Verein (mit Sitz in Frankfurt am Main, VR 9017) organisiert und wirdnach außen durch seinen Vorstand vertreten (Bundesvorstand).In den Bundesländern tritt die NRV nach außen durch Landesverbände auf, die durch Landessprechergremien repräsentiert werden, diein Landesmitgliederversammlungen gewählt werden.Für bestimmte Themenbereiche hat die NRV für sachbezogene Arbeit bundesweite Fachgruppen gebildet.Jährlich – meist Anfang März – findet eine Bundesmitgliederversammlung statt, alle zwei Jahre wird der Bundesvorstand gewählt. DemBundesvorstand ist ein in Berlin eingerichtetes Sekretariat zugeordnet, das für Außenstehende wie für Mitglieder als Anlaufadressedient und verbandsinterne administrative Aufgaben erledigt. Die Mitglieder- und Finanzverwaltung liegt bei Frau Seidel in Lübeck.

Sprecher des Landesverbandes:

Ferdinand Georgen (VG Wiesbaden), Mühlgasse 2, 65183 Wiesbaden, Tel.: 0611/323-132Fax: -111; e-mail: [email protected]

Miriam Gruß (LG Marburg), Universitätsstraße 48, 35037 Marburg, Tel.: 06421/290-152

Joachim Kern (LSG Darmstadt), Steubenplatz 14, 64290 Darmstadt, Tel.: 06151/804-338 Fax:-350

Renate Metzger-Carl (AG Bensheim), Wilhelmstraße 26, 64625 Bensheim, Tel.: 06251/100271

Doris Möller-Scheu (StA Frankfurt am Main), Konrad-Adenauer-Straße 20,60313 Frankfurt am Main, Tel.: 069/1367-8331

Thomas Sagebiel (LG Darmstadt), Mathildenplatz 14, 64283 Darmstadt, Tel.: 06151/12-5867

Bundes-Sekretariat:

Greifswalder Str. 410405 Berlin

Tel. 030/420223-49

Fax: -50

[email protected]

Sparkasse zu LübeckBLZ 230 501 01Konto-Nr. 9-912346

NRVLandesverband Hessen

Neue RichtervereinigungZusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten