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Oissertationen I Habilitationen
Bernd Zimmermann Heuristik als ein Element mathematischer Oenk- und Lernprozesse. Fallstudien zur Stellung mathematischer Heuristik im Bild von Mathematik bei Lehrern und Schulern sowie in der Geschichte der Mathematik. Habilitationsschrift, Universitat Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, 13.1.1992.
Diese Fallstudien wurden im Rahmen des Bemuhens um ein Konzept fUr einen problem
orientierten Mathematikunterrichtes durchgefuhrt.
1m ersten Teil wird uber eine Fragebogenaktion berichtet, in der es um Vorstellungen
uber und Erfahrungen mit Mathematikunterricht von Lehrern und Schulern aus Hamburg
und Umgebung geht und hierbei insbesondere um den Stellenwert von Heuristik. U. a.
soillen Informalionen daruber gewonnen werden, wo Lehrer und Schuler ggf. auf einem
Weg zu einem problemorientierteren Mathematikunterricht "abzuholen" sind. Die Auswertung
bestand liberwiegend aus Clusteranalt,Jsen zur Bestimmung unterschiedlicher Meinungsprofi
Ie. Hierzu konnten Fragebogen von 107 Lehrern und uber 2600 Schulern von Haupt-,
Real- und Gesamtschulen sowie von Gymnasien verwendet werden. Die Schuler kamen
aus den Klassen 6 bis 10, uber 50% aus der 7ten Klasse. Die befragten Lehrer waren
uberwiegend die der befragten Schuler.
Bei den Schulern gab es 4 Cluster, die sich von den jeweils anderen primar durch eine
uberdurchschnittlich starke Orientierung am Lehrer, an Schemata, am selbstandigen Finden
von Vermutungen und schlieBlich an Spielen und an Gruppenarbeit unterschieden. Eine wei
tere Gruppe fiel durch ihren Realitatssinn auf (z. B. Verstandlichkeit und Lehrerhilfen ha
ben geringere Prioritat), in der groBten Gruppe (''Normalgruppe'', 964Schuler) wurde der
Orientierung an Problemen, dem prazisen Begrunden und der Vermittlung von Grundtechni
ken ungefahr gleiche positive Bedeutung beigemessen. Diese Gruppen unterschieden sich z.
T. stark in ihrer GroBe und Zusammensetzung nach Schulart, Alter oder Geschlecht.
Die Clusteranalyse bei den Lehrern ergab nur z. T. ahnliche Unterschiede. Die meisten
Lehrer befanden sich in der "Bourbakigruppe", in der u. a. das Beweisen, Logik und St,J
stematik dominieren. In der "problemorientierten Gruppe" stehen heuristischen Verfahren an
erster Stelle, wahrend die Orientierung an Routineaufgaben am starksten abgelehnt wird.
In der nur von Gesamtschullehrem gebildeten Gruppe dominiert die Schulerorientierung. In
der "kontrollierend-pragmatischen Gruppe" werden u. a. Veranschaulichungshilfen und eine
straffe UnterrichtsfUhrung betont. Globale/theoretische Leitideen fUr den Mathematikunterricht
werden hier eher abgelehnt. In der "Trichtergruppe" steht die Vermittlung grundlegender
Techniken durch Zerlegen in kleine Lernschritte im Vordergrund.
Der groBte Teil dieser Arbeit bestehl aus einer Untersuchung der Entstehungs-, Entwick
(JMD 15 (94) 1/2, S. 169-170)
170 DissertationenjHabilitationen
lungs- und Wirkungsgeschichte mathematischer Heuristik. Hierbei wurden exemplarisch "die"
Exhaustionsmethode, atomistische Methoden und die analytische Methode untersucht. Es in
teressierte hierbei im Zusammenhang mit der didaktischen Diskussion insbesondere auch
deren Nutzen und Fruchtbarkeit. Es wurde uberdies versucht, die vorfindlichen Zeugnisse,
die aus heutiger Sicht von mathematischen "Experten" erstellt wurden, unter kognitions
psychologischem Aspekt zu untersuchen, wobei das ''Bild von Mathematik" dieser Experten
bzw. das der jeweiligen Zeit wie auch das von hieruber berichtenden Historikern mit be
rucksichtigt und anal\jsiert wird.
Es ergaben sich u. a. folgende Resultate oder H\jpothesen:
1. Fur den produktiven Fortschritt innerhalb der Mathematik sind heuristische Verfahren
schon mindestens seit der Zeit der Babylonier durchgehend wichtig. Insbesondere de
ren reflektierter Einsatz und ganz bewuBte Weiterentwicklung wie z. B. durch Archime
des, al-Haytham, Vieta, Descartes und Leibniz waren mehrfach besonders erfolgreich.
2. Insbesondere die analytischen Methode erwies sich als besonders fruchtbar und weit
reich end. Sie ist moglicherweise orientalischen Ursprungs, wurde dann im griechischen
Altertum ausgebaut und bekam dort ihren Namen.
3. Fur den mathematischen Fortschritl ist uberdies von uberragender Bedeutung eine
Orientierung an (aus unterschiedlichen Grunden interessanten) zentralen Problemen (klas
sische Beispiele: Quadratur-, Wurfelverdopplungs- und Trisektionsprobleml. Die syste
matischen Darstellungen von Mathematik wie die von Euklid waren in dieser Hinsicht
weniger bedeutsam.
4. Die Wertschatzung heuristischer Verfahren gegenuber erkenntnissichernden und utilateri
stischen Methoden war immer wieder starken zeitlichen Schwankungen unterworfen.
5. Diese hing und hangt auch vom sich wandelnden Bild von Mathematik der jeweils do
minierenden "scientific community" zusammen, die natLirlich auch von der jeweiligen all
gemeinen gesellschaftlichen Situation beeinfluBt wird. Pragnante Beispiele sind etwa die
Platonische Akademie im Altertum und der "Bourbakismus" in der Neuzeit.
6. Standiges Beharren auf "strengen" Methoden und genauen begrifflichen Klarungen (z.
B.: Was sind "Indivisiblen"?) ist nicht nur oftmals padagogisch kontraproduktiv, sondern
konnte bisweilen auch in der Geschichte der Mathematik den Fortschritt behindern.
Diese Ergebnisse konnen das Anliegen stlHzen, sich um einen weiteren Ausbau eines
problemorientierten Mathematikunterrichtes zu bemuhen.
Eine uberarbeitete Version des zweiten Teils uber die Rolle von Heuristik in der Ge
schichte der Mathematik wird in der von N. KNOCHE und H. SCHEID herausgegebenen
BI-Reihe "Lehrbucher und Monographien zur Didaktik der Mathematik" erscheinen.
Bernd Zimmermann, An der Koppel 22, 21244 Buchholz in der Nordheide.