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Hintergrund: Trkei Nr. 16 / Mrz 2014 | 1
Es geht um noch mehr als Brgermeistermter....
Die Trkei vor landesweiten Kommunalwahlen
Dr. Hans-Georg Fleck / Charlene Rossler
Nahezu tglich macht die Trkei derzeit meist negative Schlagzeilen. In hitziger politischer Atmosphre
werden die Kommunalwahlen nun zu einem Barometer fr die politische Stimmung im Lande.
Am kommenden Sonntag finden in der Trkei die 15. Kommunalwahlen seit Grndung der Republik
statt. Im Lande mehr als doppelt so gro wie Deutschland sind ca. 53 Mill. wahlberechtigte Brger
aufgerufen, die Parlamente der 81 Provinzen, die Brgermeister und Ortsvorsteher sowie die Stadt-
oder Gemeinderatsmitglieder neu zu bestimmen. Wahlen, die sonst sicher nur sehr bedingt internatio-
nale Aufmerksamkeit fnden, haben durch die Zuspitzung der politischen Lage in der Trkei nach den Gezi-Park-Protesten des Frhsommers 2013 und der Aufdeckung eines bis in hchste Regierungs-
kreise und das direkte, familire Umfeld des mchtigen Premiers Recep Tayyip Erdoan reichenden Korruptionsskandals im vorigen Dezember weit ber die Trkei hinausreichendes Interesse ausgelst.
Viele Beobachter erhoffen sich eindeutige Signale, ob die mit einer komfortablen parlamentarischen
Mehrheit ausgestattete Regierungspartei AKP auch weiterhin weitgehend unangefochten, ja rck-
sichtslos schalten und walten kann, oder ob es Anzeichen fr eine trkische Zeitenwende, eine ra nach Erdoan, geben knnte.
Die Kommunalwahlen stehen zudem am Beginn eines eineinhalbjhrigen Wahlzyklus: Schon im Au-
gust 2014 folgen turnusgem die Prsidentschafts-, im Frhsommer 2015 dann die Parlamentswah-
len. Insbesondere der Premier steht hier unter Druck. Das von ihm selbst eingefhrte Parteistatut der
AKP lsst fr Erdoan eine vierte Amtszeit als Ministerprsident eigentlich nicht zu. Daher hatte der
machtbewusste Realpolitiker schon des lngeren nicht nur seinen Umstieg ins Prsidentenamt vorbe-
reitet, sondern auch durch den intendierten konstitutionellen Wechsel von einem System parlamen-
tarischer zu einer prsidentiellen Demokratie eine entsprechende machtpolitische Aufwertung des Prsidentenamtes betrieben. Der Plan zu einer entsprechenden Verfassungsnderung musste 2013
allerdings (zumindest bis auf weiteres) ad acta gelegt werden mangels erforderlicher parlamentari-scher 2/3-Mehrheit. Nun erwarten viele politische Analysten, dass sich die weitere Zukunft Erdoans
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Trkei
Nr. 16 / 26. Mrz 2014
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auch an den nahezu 180.000 Wahlurnen des 30. Mrz entscheiden wird. Die Kommunalwahlen gelten
nmlich als Stimmungsbarometer, ob der Premier sich im August der mit Risiko behafteten Direktwahl
des Prsidenten unterziehen kann oder ob das vielbeschworene Parteistatut doch den politischen Opportunitten wird weichen mssen, d.h. Erdoan Regierungschef bleibt.
Rckblick
Bei den letzten Kommunalwahlen im Mrz 2009 hatten die Whler die Erwartungen der von ihrer
Gunst verwhnten AKP nur teilweise erfllt. Gegenber den Parlamentswahlen 2007 sank der AKP-
Whleranteil nmlich von 46,6 auf 38,4%. Die Opposition konnte ihren Stimmenanteil hingegen leicht
vergrern: Die Republikanische Volkspartei (CHP) erzielte 23,1% (statt 20,9%), die Partei der Natio-
nalistischen Bewegung (MHP) 16,0% (statt 14,3%). Zwei weitere Parteien lagen ber 5%, drei weitere
zwischen 2,4 und 3,9%. Die lndliche Bevlkerung, vor allem in Zentralanatolien, und Teile der neuen,
eher konservativen Mittelschichten blieben der AKP treu. Als ihre regionalen Hoch-burgen erwiesen
sich neben Zentralanatolien vor allem die Schwarzmeerkste sowie der Osten und der stark kur-
disch besiedelte Sdosten des Landes. Hier konkurrierte die AKP lediglich teil-weise ohne Erfolg mit kurdischen Bewerbern, insbes. der im Dezember 2009 wegen verfassungswidriger Aktivitten
verbotenen DTP. Die westlichen und sdwestlichen Kstenprovinzen neigten eher dem linken Spekt-
rum (CHP, DSP) zu.
In einigen Metropolen gab es ein regelrechtes Kopf-an-Kopf-Rennen. So obsiegte die AKP in Ankara
mit dem sich um seine vierte Amtszeit bewerbenden Kandidaten Melih Gcek (38,5%) knapp vor den
Bewerbern von CHP und MHP (mit 31,5% bzw. 26,9%). Bei der Wahl des Oberbrgermeisters von
Gro-(Metropolitan-)Istanbul triumphierte AKP-Kandidat Kadir Topba mit 44,7% ber den damali-gen CHP-Kandidaten und heutigen Parteivorsitzenden Kemal Kldarolu (37%). Insgesamt gelang es
der AKP, 45 der 81 Brgermeisterpositionen in den Provinzhauptstdten des Landes zu besetzen. 13
fielen an die CHP, 10 an die MHP, 8 an die kurdische DTP, fnf an Bewerber kleiner Parteien oder Un-
abhngige. Von den damals bestehenden 16 Metropolitanstdten siegte die AKP in 10 (neben Ankara
und Istanbul: Bursa, Erzurum, Gaziantep, Izmit/Kocaeli, Kayseri, Konya, Sakarya und Samsun), die CHP
in 3 (Antalya, Izmir und Mersin), die MHP lediglich in Adana. Im kurdischen Diyarbakr konnte sich die
DTP, im westanatolischen Eskiehir der Amtsinhaber von der Partei des frheren Premiers Eevit (DSP) behaupten. Von den 2903 Brgermeistermtern in Stdten bzw. in Stadtbezirken der Metropolitan-
stdte fielen 1442 an die AKP, 503 an die CHP, 483 an die MHP, 148 an die konservative Demokrati-sche Partei des frheren Prsidenten Demirel, 96 an die DTP, 80 an die islamistische Glckseligkeits-
partei (Saadet), 60 an die DSP und 45 an parteilose Bewerber.
Die Kommunalwahlordnung der Trkei
Zur Wahl stehen am 30.03. wie alle fnf Jahre die Parlamente der 81 Provinzen, die Parlamente der inzwischen 30 Metropolitanstdte des Landes (Stdte ber 0,75 Mill. Einwohner) und von nahezu
3.000 weiteren Stdten und 34.000 Gemeinden. Zudem werden die Brgermeister, die Orts-vorsteher
stdtischer Bezirke und die Gemeinde- oder Dorfvorsteher direkt gewhlt. Bei den Wahlen 2009 sind
ca. 300.000 Funktionstrger gewhlt worden, unter ihnen lediglich 1,23% Frauen. Diese waren unter
den Stadtrten noch relativ gut vertreten (4,22%), stellten aber z. B. nur 65 der 34.275 Dorfvorste-her. Entsprechend der administrativen Gliederung haben die Stimmbrger zwischen drei drfliche Ge-
meinden und sieben Metropolitanstdte unterschiedliche Krperschaften zu whlen.
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Die Brgermeister, Orts- und Dorfvorsteher werden nach dem relativen Majorzsystem gewhlt, d.h.
der Bewerber mit der jeweils hchsten Stimmenzahl ist gewhlt. Fr die parlamentarischen Gremien
gilt hingegen wie bei den Parlamentswahlen der Trkei ein reines Proporzsystem mit einer 10%-Sperrklausel. Die Sitzzuteilung erfolgt nach dem DHondtschen Zuteilungsverfahren, das bekanntlich
ein zustzliches mehrheitsbildendes Element neben der in Europa einzigartig hohen Sperrklausel der Trkei in sich birgt. Die Kandidaten groer Parteien sind also mehrfach privilegiert, was generell den
berproportional hohen Anteil der AKP bei der Sitzzuteilung auch fr das zentralstaatliche Parlament
im zurckliegenden Jahrzehnt erklrt. Die AKP profitierte hier stets von einem Wahlsystem, dessen
Initiatoren stabile Mehrheiten schaffen wollten sicher jedoch nicht die weitgehende Alleinherrschaft einer islamisch-konservativen Partei vor Augen hatten.
Das trkische Wahlrecht sieht generell die Wahlpflicht der Stimmbrger vor. Das unbegrndete Fern-
bleiben von der Wahlurne ist allerdings mit sehr geringen Geldstrafen bewehrt, die zudem aufgrund hoher Eintreibungskosten de facto kaum erhoben werden. Die hohe Kommunalwahlbeteiligung von deutlich ber 80% (2009: 85,1% bei der Wahl der Mitglieder der Provinzparlamente), die ber der
nahezu aller gegenwrtigen europischen Demokratien liegt, ist auch auf diesem Hintergrund zu se-
hen.
Parteien und wichtige Kandidaten
Die ein gutes Jahr nach ihrer Grndung (2001) vom trkischen Whler bereits erstmalig mit der politi-
schen Verantwortung betraute AKP (Adalet ve Kalknma Partisi, Partei fr Gerechtigkeit und Auf-schwung) versteht sich selbst als islamisch-konservativ und demokratisch und wird im politischen
Spektrum der Trkei rechts der Mitte eingeordnet. Seit 2002, und besttigt in zwei weiteren Parla-
mentswahlen, stellt die AKP und zwar mit wachsender Tendenz die bei weitem strkste Fraktion
des trkischen Parlaments (327 der 550 Abgeordneten). Der parteiintern kaum je angefochtene Partei-
vorsitzende Erdoan vertritt mit Nachdruck und in den letzten Jahren mit deutlich gesteigerter Vehe-menz traditionelle bzw. als islamisch verstandene Werte, so z.B. bzgl. des Frauen- und Familienbildes
oder des Alkoholkonsums.
Strkste Oppositionspartei ist die CHP (Cumhuriyet Halk Partisi / Republikanische Volkspartei). Diese 1923 von Republikgrnder Mustafa Kemal Atatrk formierte Institution fungierte bis 1945 als (de
facto) einzige politische Partei der trkischen Republik berhaupt und symbolisierte auch danach ber
viele Jahrzehnte den Geist der autoritren Modernisierung, des Nationalismus und des Laizismus, wie
er den Kemalismus traditionell ausgezeichnet hat. Heute bemht sich die intern zutiefst gespaltene,
einen starken links-nationalistisch-konservativen und einen um Modernisierung bemhten Flgel um-
fassende Partei, sich als sozialdemokratisch, kemalistisch, skular/laizistisch und (bedingt) pro-
europisch zu profilieren. Fr den bis dato nur sehr verhalten erfolgreichen Modernisierungskurs steht
der 2010 ins Amt gewhlte Parteivorsitzende Kemal Kldarolu.
Die Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyeti Haraket Partisi/MHP) bildet die dritte politi-sche Kraft im trkischen Parlament. Die 1969 gegrndete, zeitweilig verbotene rechts-nationalistische
Partei tritt fr die nationale Einheit und Identitt des trkischen Volkes, die Dominanz des Trkentums
gegenber anderen (ethnisch-religisen) Bevlkerungsgruppen, fr Unitarismus und fr Pantrkismus
ein. Als Nachfolger des MHP-Grnders und langjhrigen Fhrers Al-parslan Trke amtiert seit 1997 der Parteivorsitzende Devlet Baheli.
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Die BDP (Bar ve Demokrasi Partisi / Partei des Friedens und der Demokratie) wurde 2008 als politi-sche Formation der ethnisch kurdischen Bevlkerung der Trkei gegrndet. Sie ist de facto Nachfolge-
rin der 2009 verbotenen pro-kurdischen DTP (Partei der Demokratischen Gesellschaft), vertritt die Interessen insbesondere der kurdischen Minderheit der Trkei, fordert demokratische und kulturelle
Autonomie und ist dem linken Spektrum zuzurechnen. Aufgrund ihrer starken regionalen Hochburgen
ist die BDP im trkischen Parlament mit 26 Abgeordneten vertreten. Als ein Versuch des politischen
Outsourcing der BDP ist die 2012 speziell fr den westlichen Teil der Trkei gegrndete Partei HDP (Haklarn Demokratik Partisi / Demokratische Partei der Vlker) anzusehen. Gerade sie war whrend
des Kommunalwahlkampfes wiederholt den Angriffen ultra-nationalistischer Gruppen ausgesetzt, so
im lykischen Fethiye, im thrakischen Tekirda sowie an der Schwarzmeerkste. Die HDP will vor allem
auch nicht-kurdische Whler fr die demokratischen Anliegen der kurdischen Bewegung gewinnen.
Bei den Kommunalwahlen treten des Weiteren noch ca. zwanzig Parteien an, die aber wohl keine bzw.
allenfalls lokale Bedeutung fr den Wahlausgang haben werden.
Um die Oberbrgermeister-
funktion der Hauptstadt An-
kara bewirbt sich erneut der
seit 1994 amtierende AKP-
Oberbrgermeister Melih
Gkek. Die CHP hat Mansur
Yava nominiert, einen ur-
sprnglich aus der MHP
stammenden Politiker, der
neben den traditionellen
CHP-Sympathisanten auch
nationalistische Whler an-
sprechen knnte. In Istanbul
vertritt der weitgehend un-
bekannte 38jhrige Manager
Rasim Acar die MHP, was
dem charismatischen und
populistischen CHP-
Kandidaten Mustafa Sargl evtl. Stimmen aus dem MHP-Klientel zufhren knnte. Sargl ist seit 15
Jahren Brgermeister des Istanbuler Stadtbezirks ili, gilt allgemein als beliebt und volksnah, wenn-gleich seine Kandidatur Einwnde vor allem des nationalistischen CHP-Flgels hervorgerufen hatte.
Fr die HDP/BDP stehen in Istanbul die Musikerin Pnar Aydnlar und der Parlamentsabgeordnete Srr
Sreyya nder zur Wahl. Letzterer wird von vielen vor allem nach seinem Engagement im Gezi-Park als besonders sympathischer Vertreter der Linken betrachtet, was wiederum dem Stimmanteil der CHP abtrglich sein knnte. Nicht zuletzt aufgrund von Premierminister Erdoans Jahren als Oberbr-
germeister von Istanbul (1994-98) hat die Stadt einen besonderen Stellenwert fr die AKP; ihr Verlust
knnte zu erheblicher Entmutigung und Unruhe innerhalb der Partei fhren. Antreten fr die AKP wird
erneut Kadir Topba, der seit zehn Jahren als Oberbrgermeister amtiert.
In Izmir, der als CHP-Hochburg geltenden drittgrten Metropole des Landes, kandidiert der derzeitige
CHP-Amtsinhaber Aziz Kocaolu. Mit ihm konkurriert als AKP-Bewerber der ehemalige Verkehrsminis-
ter Binali Yldrm. In zahlreichen anderen Stdten schickt die AKP ebenfalls ehemalige Minister oder bekannte Parlamentarier ins Rennen um die Stadtspitze.
CHP-Oberbrgermeister-Kandidat Sargl und der CHP-Stadtbezirksbrgermeister-Kandidat fr Istanbul-Beikta
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Wie in der Trkei blich, sind gerade die Kandidaten fr als besonders wichtig erachtete Positionen
nicht von der jeweiligen lokalen oder regionalen Parteibasis, sondern zentralistisch, durch die Partei-
fhrungen in Ankara bestimmt worden. Auch wenn diese aus demokratischem Blickwinkel hchst eigenartige Nominierungspraxis wiederholt und auch vor den Wahlen vom 30. Mrz zu innerpar-
teilichen Konflikten und zahlreichen Parteiaustritten oder gar Parteiwechseln gefhrt hat, bleibt sie
dennoch Teil und Ausdruck der hchst volatilen trkischen Parteiendemokratie.
Der Wahlkampf und seine politischen Botschaften
Nach der auch fr Polarisierung gewhnte trkische Brger erstaunlichen politischen Zuspitzung des
Jahres 2013 war zu erwarten, dass der Wahlkampf, zumindest in den stdtischen Metropolen, vor
allem von Themen der groen Politik bestimmt werden wrde. Auslser der Gezi-Park-Ereignisse im Frhsommer 2013 war zwar ein eigentlich kommunalpolitisches Thema, nmlich die Flchennutzung
fr eine stdtische Grnanlage. Aber schon hier hatte sich dem Betrachter sehr deutlich gezeigt, was
Kommunalpolitik bzw. kommunalpolitische Entscheidungskompetenz in der Trkei bedeutet. Statt
eindeutiger, auf konstitutionellen Normen beruhender Rollenverteilung, also hier Zentralstaat, dort
Kommunalparlament und Stadtbehrden, wurde rasch offenbar, dass sich die Gezi-Park-
Demonstranten unmittelbar mit der unangefochten strksten politischen Autoritt im Lande angelegt
hatten: Premier Erdoan. Niemand wagte es, den
Regierungschef auf seine gegenwrtige verfassungs-
geme Aufgabe zu verweisen. Der ehemalige Ober-
brgermeister agierte, als sei die Metropole am
Bosporus noch immer sein Beritt. Wenn man diese
Zusammenhnge im Auge hat, berrascht es nicht
mehr, dass Kommunalwahlen in der Trkei eben auch
weniger vom Ausbau der stdtischen Wasserversor-
gung oder zuverlssiger Arbeit der kommunalen
Mllabfuhr als von den die Schlagzeilen der Medien
dominierenden innenpolitischen Themen bestimmt
werden.
Als in die ohnehin aufgeheizte innenpolitische Stim-
mung im Dezember 2013 die Offenlegung des Kor-
ruptionsskandals platzte, waren die wesentlichen
Kampflinien fr die bevorstehenden Wahlauseinan-
dersetzungen klar. Die Oppositionsparteien sahen
sich zunchst in ihrem schon immer gehegten Ver-
dacht besttigt, dass die Regierungspartei ihre Herr-
schaft durch korruptes Gebaren bei der Vergabe mil-
liardenschwerer Staatsauftrge, insbesondere bei
Grobau-Manahmen, alimentiere. Zudem wurde
deutlich, dass auch die Einflussnahme auf die Medien
nicht nur ohne Rcksicht auf politischen Anstand
und journalistische Freiheiten erfolgte, sondern dass
zwielichtig eingeworbene Bestechungsgelder aktiv
fr den Kauf von Medienimperien im Sinne der AKP
und ihres Fhrers eingesetzt worden waren. Fr die Opposition erhielten so gerade die Istanbuler
Gro-Infrastrukturprojekte (dritte Bosporus-Brcke, dritter, potentiell weltgrter Flughafen, Unter-
Wahlwerbung von AKP und CHP: Premier Erdogan arbeitet
"immer fr das Volk", ist "stndig im Dienst", der Istanbuler
CHP-Kandidat Sargl kndigt an, die "Zeit des Wechsels" fr Istanbul sei gekommen.
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tunnelung des Bosporus, grozgiger Ausbau des metropolitanen U-Bahn-Netzes), auf die sich
Erdoan und seine Partei soviel zugute halten, einen sehr schalen Beigeschmack.
Fr die AKP hingegen war mit dem Vorgehen der Istanbuler Justiz gegen einen dringend der Korrupti-
on verdchtigen Personenkreis (inkl. der Shne von drei amtierenden Ministern) ein fr allemal der
Beweis geliefert, dass die von ihr einst als politischer Verbndeter geschtzte Hizmet-Bewegung des
islamischen Predigers Fethullah Glen nicht nur die Fronten gewechselt, sondern sogar einen Paral-lelstaat im Staate aufgebaut habe, der gegen die Interessen des trkischen Volkes einem Virus
gleich seine Wirkung entfalte. Whrend der Premier diesem neuen Todfeind die Ausmerzung an-drohte, wurden in den Medien immer neue, zumeist in Form von Telefongesprch-Mittschnitten da-
herkommende Beweise dafr geliefert, wie tief der Korruptionssumpf reicht und wie tief Erdoan und seine Familie darin verstrickt sein drften. Statt wie in einem Rechtsstaat blich die Justiz im
Wissen um die eigene Unschuld und die Rankne der Feinde ihre Arbeit verrichten zu lassen, hatte der Premier seit dem 17. Dezember nichts anders zu tun, als die juristische Aufarbeitung durch Ein-
griffe in Justiz und Sicherheitsapparat zu hintertreiben bis hin zur Aushebelung der Gewaltenteilung
und Gefhrdung grundlegender Prinzipien des Rechtsstaates. Zugleich wurden die bereits whrend des
Gezi-Parks als Staatsfeinde erster Ordnung entlarvten elektronischen und sozialen Medien zur Ziel-
scheibe von hastigem politischem Aktionismus. Folge waren Eingriffe in die Nutzung des Internets, die
Ankndigung des Verbotes von Youtube und Facebook sowie vor wenigen Tagen das Verbot des
Nachrichtendienstes Twitter. Damit sollten vor allem Residuen der Meinungs- und Medienfreiheit in
der Trkei getroffen bzw. eliminiert werden.
Im Wahlkampf spielt der Premier nun vermehrt auf der Klaviatur des Nationalismus und eines anti-
kemalistischen Traditionalismus. Die Feinde von der Glen-Bewegung werden als von auen, sprich: von fremden, antitrkischen Mchten gesteuert dargestellt. Neider, die der Trkei ihren konomi-
schen und machtpolitischen Aufstieg missgnnen, haben sich verschworen, um das Land und seine
erfolgreiche politische Fhrung herabzusetzen, ja konkret Groprojekte durch konomische Destabili-
sierung zu hintertreiben. In der Erwartung, dass seine islamisch-konservativen Stammwhler hierfr
besonders empfnglich sind, erinnert Erdoan immer wieder an persnliche Leiden zu Zeiten des sp-
ten Kemalismus (eine zehnmonatige Haftstrafe 1998/99) und betreibt vor allem die Selbststilisierung
als (potentielles) Opfer sinistrer (auswrtiger) Mchte, indem er an das Schicksal des ersten islamisch-
orientierten Ministerprsidenten Adnan Menderes erinnert, der 1960 durch einen Staatsstreich des
Militrs gestrzt und anschlieend und eher dubiosen Umstnden zum Tode verurteilt und gehngt
worden war. Offenkundig baut Erdoan darauf, dass diese Argumentations-linien zu einem bedin-gungslosen Schlieen der Reihen gegen die in- und auslndischen Feinde islamisch-trkischer Tradi-
tionen fhren werden, zu einer erneuten Besttigung seines politischen Fhrungsanspruches. Schon
lngst geht es nicht mehr um die AKP, sondern in erster Linie um seine Person, sein Handeln, sein
politisches berleben an den Hebeln der Macht.
In Anbetracht dieser Konfliktlinien treten wichtige anstehende Fragen trkischer Politik in den Hinter-
grund. Hierzu gehren sowohl das zuknftige Schicksal der kurdischen Lsung, die Frage, ob und wie ein Modus Vivendi mit den Interessen der kurdischen Minderheit und ihrer wesentlichen Reprsen-
tanz, der PKK, gefunden werden kann, aber auch die drngenden Probleme der trkischen Wirtschaft.
Sie ist aufgrund einer extrem negativen Zahlungsbilanz, der hohen Abhngigkeit von billigen ausln-
dischen Kapitalzuflssen bei geringer Sparbereitschaft im Inland, der Basierung von zeitweilig beein-
druckenden Wachstumsraten auf dem Binnenkonsum statt der exportorientierten Wertschpfung zu-
nehmend in eine Schieflage geraten. Der gravierende Wertverlust der Landeswhrung bei steigender
Inflation und weiterhin relativ hohen Arbeitslosenraten sind Anzeichen dafr, dass das konomische
Wunder am Bosporus und in Anatolien, dem der Premier und seine AKP ein Gutteil ihres politischen
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Erfolges verdanken, evtl. schon bald der Vergangenheit angehren knnte, wenn man nicht mit mak-
rokonomischen Steuerungsinstrument eingreift wozu Erdoan im Wissen um die machtverbrgende
Magie hoher Wachstumsraten bislang nicht bereit gewesen ist.
Die Kommunalwahlen 2014 sind also in ein hochpolitisches Fahrwasser geraten. Dies ist dem wichti-
gen Stellenwert der Kommunalpolitik in einer funktionierenden Demokratie abtrglich, dies schwcht
das ohnehin eher rudimentre Verstndnis der Brger fr die spezifischen Belange lokaler Demokratie
zustzlich lsst sich aber in Anbetracht der gravierenden innenpolitischen Konflikte und Spaltungs-
linien nicht umgehen. Von Beginn an hat der Premier die Kommunalwahlen zum Test der Brger fr
seine Politik stilisiert: Keine Ansprache Erdoans ohne den Hinweis, dass er durch das Votum der
Mehrheit des Volkes legitimiert sei, das zu tun, was er tue. Entsprechend wird das Wahlresultat in allererster Linie in diesem Kontext bewertet werden. Jedes Wahlresultat, was die AKP ber ihr Resultat
von 2009 hinaus, ja evtl. sogar in die Nhe des fabelhaften Wahlergebnisses der Parlamentswahlen
2011 ( 49%) fhrt, wird als eindeutige Besttigung des Erdoan-Kurses gewertet werden, inklusive bereits begangener oder angekndigter Verste gegen demokratische Grundfreiheiten und Prinzipien
des Rechtsstaates.
Allenfalls wird sich in einigen
stdtischen Metropolen zeigen, ob
die gesellschaftliche Aufbruchbe-
wegung der Gezi-Tage wirklich
Spuren im politischen Leben des
Landes hinterlassen hat. Nur we-
nige unabhngige Listen deuten darauf hin, dass sich hier und da
Initiativen dieser Art formiert ha-
ben. Grosso modo erscheint das
politische Machtgefge der Trkei
aber zehn Monate nach den Mas-
sendemonstrationen, vor allem
junger Menschen, eher wieder in
den bekannten, viele Brger eher
demotivierenden Trott der Ver-
gangenheit zurckgefallen zu sein.
In jedem Falle hat der Wahlkampf
deutlich werden lassen, dass mgliche neue gesellschaftliche Konfrontationslinien weiterhin von den
traditionellen inneren Spaltungen und politischen Verhaltensmustern berlagert werden. Gesellschaft-
licher Autoritarismus gepaart mit neu-altem Fhrerkult drngt zumindest fr den Augenblick noch die Boten einer grundlegenden gesellschaftlichen Modernisierung und Er-neuerung der Trkei in den
Hintergrund.
Prognosen und Fazit
Die Ende Januar 2014 erhobenen Umfragewerte des Meinungsforschungsinstituts Veritas ergaben
36,4% Zustimmung fr die AKP, was einen deutlichen Rckgang, vor allem im Vergleich mit den Par-
lamentswahlen des Jahres 2011 bedeuten wrde. Die CHP erhielte demnach 28,8%, whrend die MHP
20,5%, die BDP 7,4% erreichen knnte. Ein Fnftel der Whler zeigte sich noch unentschlossen.
Wichtigste Themen sind laut dieser Umfrage fr die Whler: Wirtschaft (35,8%), Korruption (19,1%),
Wahlwerbung berall in Istanbul
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Bildung (9,6%) und Terrorismus (5,5%). Einer anderen Meinungsumfrage zufolge (von GENAR) nann-
ten 24,5% der Befragten Arbeitslosigkeit als grtes Problem der Trkei, gefolgt von der Wirtschafts-
lage (19,2%). Nur 13,3% sahen Korruption als Problem an. Das SONAR Research Center konstatiert
einen Stimmenrckgang von 4% fr die AKP aufgrund des Korruptionsskandals, womit die Regie-
rungspartei in etwa auf ihre Kernwhlerschaft von ca. 37% reduziert wrde. Erdrutschartige Vernde-
rungen zeichnen sich aber bisher nicht ab.
Die Ergebnisse vieler Meinungsumfragen ergaben eine hohe Unzufriedenheit mit den jngsten Ein-
griffen der Regierung in Medien und Internet sowie einen generellen Rckgang des Vertrauens in die
politische Fhrung der Trkei. Auch wenn es bei den Kommunalwahlen eigentlich um lokale oder regi-
onale Belange, lokale oder regionale Kandidaten gehen sollte, so brgt das extrem zentralisierte poli-
tische und administrative System der Trkei und das gegenwrtige politische Klima im Lande dafr,
dass auch die Kommunalwahl als eine Entscheidung verstanden wird, in der es um alles geht. Die Bevlkerung steht demnach vor der Wahl, ob sie einen dominanten und autoritren Fhrer dem kom-
plizierten und zumindest im trkischen Falle hchst instabilen System der checks and balances
und der Gewaltenteilung vorzieht. In gewisser Weise steht am 30. Mrz in der Tat die trkische Demo-
kratie auf dem Prfstand.
Dr. Hans-Georg Fleck ist Projektleiter der FNF fr die Trkei.
Charlene Rossler ist Politikwissenschaftlerin und Praktikantin im Projektbro Istanbul der FNF.
Impressum
Friedrich-Naumann-Stiftung fr die Freiheit (FNF)
Bereich Internationale Politik
Referat fr Querschnittsaufgaben
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D-14482 Potsdam