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Literaturausgabe 1 1

Hinz und Kunzt

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Das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt erscheint seit 16 Jahren einmal im Monat. Geschrieben und gestaltet wird es von professionellen Journalisten, Fotografen und Grafikern. Das Straßenmagazin versteht sich als Lobby für Sozialschwache. Neben Sozialreportagen finden sich im Magazin zum Beispiel Hamburg Geschichten, Veranstaltungstipps, Kulturelles und Verkäufer Porträts. Immer wieder werden Themen von Verkäufern und Journalisten gemeinsam erarbeitet.

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Literaturausgabe

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Das Titelblatt sowie sämtliche Geschichten in dieser Ausgabe wurden von Angela Giorgi illustriert. Wer sie ist, lesen Sie auf Seite 54

Die Literaturausgabe: tolle Autoren, viele Buchpreise

Siegfried Lenz, Martin Suter, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Karen Duve und Brigitte Kronauer – sie alle und noch viele andere Schriftsteller machen mit bei der ersten Literatur-ausgabe der Straßenmagazine in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Die Autoren haben jeweils eine Geschichte gespendet, die die Straßenmagazine zwischen Juli und De-zember abdrucken dürfen. Einige Publikationen, wie etwa Trott-war (Stuttgart), Apropos (Salzburg), Surprise aus der Schweiz und wir, widmen die komplette Juli-Ausgabe der Literatur. Andere Straßenmagazine wollen ein paar Mo-nate lang jeweils eine Geschichte abdrucken. Sicher ist also: Überall werden die Literaturausgaben anders aussehen.

Nicht nur die Geschichten dürfen die Magazine kos-tenlos verwenden, auch die Illustrationen. Die wurden – gesponsert vom Internationalen Netzwerk der Straßenma-gazine (INSP) – exklusiv gestaltet von Angela Giorgi. Wir sind sehr stolz, dass sie den Auftrag bekommen hat, denn wir arbeiten seit geraumer Zeit mit ihr zusammen. Mehr über sie auf Seite 54.

„Wir sind begeistert und überrascht, wie viele hoch-karätige Schriftsteller sofort zugesagt haben, dass sie uns mit einer Geschichte unterstützen wollen“, so Beatrice Gerst von Trott-war, Koordinatorin der deutschsprachigen INSP-Plattform. Wir Straßenzeitungsprojekte in deutscher Sprache wollen mit dieser ersten gemeinsamen Aktion ein größeres Bewusstsein für unsere Arbeit und unsere Verkäu-fer schaffen. Insgesamt haben die 30 Straßenzeitungspro-jekte in den drei Ländern eine Auflage von bis zu 500.000 Exemplaren.

Noch etwas zum Thema Rechtschreibung: Manche Geschichten sind in alter, manche in neuer, andere in Schweizer Rechtschreibung verfasst. Wir haben uns dabei nach dem Autor gerichtet.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre. Und wenn Sie Lust auf mehr bekommen haben, machen Sie mit bei unseren Buchverlosungen. Hinweise finden Sie unter einigen Kurzgeschichten.

Meldungen 4

Wolfgang Schorlau 6Die Datenbank Gottes

Feridun Zaimoglu 20Gottesanrufung I Juli Zeh 30Heiraten

Martin Suter 34Decision Making

Rebecca Gablé 44Heilsbotschaft

Sibylle Berg 48Wunder

Daniel Glattauer 52Sich-tum Austria

Siegfried Lenz 24Der sechste Geburtstag

Karen Duve 10Die Strumpfhose Gunter Gerlach 14Sauber bleiben

Brigitte Kronauer 16Der Bote

John von Düffel 40Die Frau am Fenster

Rainer Moritz 18Bücher für alle Fälle

Andere Seiten 36Die Hinz&Kunzt-Lieblingsbücher

Leserbriefe/Impressum 51Momentaufnahme: Angela Giorgi 54

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freund- schaft und mit neuer Energie. E.ON Hanse

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Keine weitere Yuppisierung von St. Pauli?

Explodierende Mieten, Verdrängung alteingesessener Bewohner, Abriss historischer Häuser: Solche Fehlentwicklungen will die Bezirksver-sammlung Mitte in St. Pauli verhindern. Mit den Stimmen der SPD-GAL-Mehrheit beschloss das Lokalparlament deshalb, sich beim Senat für die Einführung einer sogenannten Sozialen Erhaltungsverordnung einzusetzen. „Wir wollen damit ganz klar einer Yuppisierung von St. Pauli entgegenwirken“, so Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD).

Eine entsprechende Verordnung gilt derzeit in der südlichen Neu-stadt. Sie kann etwa die Umwandlung von Miet- in Eigentumswoh-nungen verbieten. Bevor eine Erhaltungsverordnung für St. Pauli in Kraft treten kann, muss deren Notwendigkeit wissenschaftlich unter-sucht werden. Das könne bis Mitte 2011 dauern, so die Stadtentwick-lungsbehörde.

Mieterinitiativen begrüßten den Beschluss, erklärten aber, er komme zu spät und sei halbherzig. Durch eine Soziale Erhaltungsver-ordnung würden beispielsweise Mieterhöhungen nicht genehmigungs-pflichtig, erklärte der Arbeitskreis MieterInnenRat. Deshalb müssten weitere Maßnahmen eingeleitet werden.

Endlich: Heroin auf Rezept ganz legal

Nach langen, von Parteipolitik geprägten Auseinandersetzungen hat der Bundestag im Mai endlich ein Gesetz verabschiedet, das die Vergabe von Heroin an Schwerstabhängige auf Rezept ermöglicht. „Eine wichtige und längst überfällige Entscheidung und ein großer Erfolg für alle, die sich seit Jahren dafür eingesetzt haben“, erklärte Frank Ulrich Mont-gomery, Präsident der Ärztekammer Hamburg. Die Lebensqualität der Betroffenen werde sich entscheidend verbessern, wie Studien eindeutig gezeigt hätten.

Bis zuletzt sperrte sich die CDU-Fraktion – auch gegen den Rat ih-rer Gesundheitsexperten – gegen die kontrollierte Heroinvergabe. Der Gesetzentwurf wurde mit Stimmen von SPD, Grünen, FDP und Linken beschlossen.

Brutaler Überfall auf Obdachlosen

Drei Jugendliche haben Ende Mai auf der Veddel einen schlafenden Ob-dachlosen überfallen und ausgeraubt. Wie die Polizei mitteilte, werden ein 15-, ein 16- und ein 17-Jähriger der Tat verdächtigt. Die Ermitt-lungen dauerten bei Redaktionsschluss an.

Nach Polizeiangaben schlief der 52-jährige Obdachlose auf einer Matratze unter einer Autobahnbrücke, als die drei auf den Wehrlosen eintraten und -schlugen. Einer habe dem Mann, der leicht verletzt wur-de, seine Geldbörse mit etwa zehn Euro weggenommen.

Ein Spaziergänger hatte den Überfall bemerkt und die Polizei geru-fen. Diese nahm kurz darauf den 16-Jährigen in einem Gebüsch in der Nähe des Tatorts fest. Weil er offenkundig alkoholisiert war, wurde ihm eine Blutprobe entnommen, so die Polizeipressestelle.

Mitte Mai teilte der Senat in einer Antwort auf eine SPD-Bürger-schaftsanfrage mit, es habe in Hamburg seit 2001 keine politisch moti-vierten Gewalttaten gegen Obdachlose gegeben.

WARUM OBDACHLOSE immer wieder Opfer von Gewalt werden, erklärt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer im Video-Interview, im Internet zu sehen unter blog.hinzundkunzt.de, Kategorie Straßenmagazin

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Betreuung ist mehr wert

Angemessene Bezahlung ihrer Arbeit und die Anerkennung als freien Beruf fordern bundesweit Berufsbetreuer. Sie werden nach gesetzlich festgelegten Stundensätzen bezahlt. Zwei bis dreieinhalb Stunden im Monat stehen ihnen pro Klient zur Verfügung. „Das ist entwürdigend für die Menschen, die wir rechtlich und im Alltag betreuen“, sagt Petra Schikowski, Landesgruppensprecherin des Verbands der Berufsbetreuer. Viele Betreuer bemühten sich, ihren Klienten gerecht zu werden, doch die Zeit reiche oft nur aus, sie zu verwalten. „Immer wieder geben Kolle-gen den Beruf auf. Manche haben sogar Existenzängste“, sagt Schikow-ski. Auf den Nachwuchs wirkten die Arbeitsbedingungen abschreckend. In Hamburg gibt es mehr als 400 Berufsbetreuer, bundesweit 11.000. Sie betreuten 2007 (neuere Zahlen liegen nicht vor) mehr als 1,2 Millionen Menschen.

MEHR INFOS im Internet unter www.bdb-ev.de

„Gefangene helfen Jugendlichen“ ausgezeichnet

Der Hamburger Verein Gefangene helfen Jugendlichen (GhJ) ist vom Bündnis für Demokratie und Toleranz als vorbildliches Projekt ausge-zeichnet worden.

Das Preisgeld beträgt 5000 Euro. Mit 10.000 Euro wird GhJ außer-dem als eins von 66 Hamburger Projekten bei der Initiative „Anstiften!“ der Körber-Stiftung gefördert. „Nun können wir noch mehr Präven-tionsarbeit leisten und Jugendliche auch längerfristig begleiten“, sagt GhJ-Vorsitzender Volkert Ruhe.

Knast: Offener Vollzug wird ausgebaut

Hamburgs Gefängnisse werden neu sortiert. Das haben CDU und GAL beschlossen. Ihr Kompromiss: Der offene Vollzug wandert von Glasmoor nach Santa Fu in einen Neubau, die Zahl der Plätze soll von 185 auf 300 steigen. Die GAL hatte auf 400 Plätze gedrängt und sich diese in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder gewünscht. Die CDU wollte den offenen Vollzug nicht so stark ausbauen und sie vom geschlossenen Vollzug getrennt halten.

Die Linke begrüßte die Schließung der JVA Glasmoor. Die Unter-bringung dort in Sechser- und Achter-Sälen sei „unzumutbar“. 300 Plätze im offenen Vollzug seien jedoch „absolut enttäuschend“. Ende der 1990er-Jahre, als Rot-Grün Hamburg regierte, waren es mal rund 700.

Auslöser der Veränderungen sind unter anderem die großen Über-kapazitäten in Hamburgs Gefängnissen. Rund ein Drittel der 2867 Haftplätze ist derzeit nicht belegt.

Berater gegen verdeckte Armut

Jeder Dritte verzichtet auf Hilfe vom Staat, obwohl er Anspruch darauf hätte. Das haben Armutsforscher herausgefunden. Um Menschen zu ermutigen, die ihnen zustehende Hilfe zu beantragen, schicken Ham-burger Wohlfahrtsverbände und Mietervereine am Donnerstag, den 9. Juli, ihre Berater auf die Straße. In zehn Stadtteilen laden diese zur öffentlichen und kostenlosen Beratung ein. Am 7. Juli geht es bei einer Veranstaltung um Kinderarmut.

INFOS IM INTERNET unter www.fehlt-ihnen-etwas.de/hamburg

Hoffnungsschimmer für Banken-Opfer

Mit einem Urteilsspruch hat das Landgericht Hamburg geschädigten Anlegern Hoffnung gemacht: Das Gericht sprach einem pensionierten Lehrer 10.000 Euro Schadenersatz zu. Dem Kläger war im Dezember 2006 von der Hamburger Sparkasse (Haspa) der Kauf von hochris-kanten Lehman-Brothers-Zertifikaten empfohlen worden. Die US-amerikanische Investmentbank ging vergangenes Jahr jedoch pleite. Die Haspa habe ihre Beratungspflicht verletzt, urteilte das Gericht. Sie habe es „pflichtwidrig unterlassen, den Kläger über die fehlende Einlagensi-cherung und die Höhe der Gewinnmarge sowie ihr eigenes wirtschaft-liches Risiko … aufzuklären“. Die Haspa kündigte Berufung an.

Jugendämter: Keine Entlastung in Sicht

Allen Mitarbeiter-Protesten zum Trotz: Hamburgs Jugendämter bekom-men keine neuen Mitarbeiter. Das hat Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) erklärt. Seine Begründung: Die Finanzlage lasse das nicht zu.

322 der 349 Mitarbeiter der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) hatten in einem Brief an Bürgermeister Ole von Beust (CDU) geklagt: „Es gibt zu wenig Personal, es kommen ständig neue Aufgaben hinzu.“

Tatsächlich hat sich allein die Zahl der sogenannten Hilfen zur Erziehung von 5150 im Jahr 2001 auf 8150 im vergangenen Jahr erhöht. Allerdings, so der Senat, seien in diesem Zeitraum auch mehr als 100 neue Stellen eingerichtet worden. Ein Problem jedoch ist die im Verhält-nis zur großen Verantwortung schlechte Bezahlung. Laut Sozialbehörde sind zwölf ASD-Stellen derzeit nicht besetzt.

Die Gewerkschaft verdi hat errechnet, dass ein Hamburger Jugend-amts-Mitarbeiter im Schnitt 57 Familien betreut. Darin enthalten sind Beratungsgespräche, die nicht zu einer Hilfemaßnahme führen. Eine Studie des Instituts für soziale Arbeit habe jedoch ergeben, dass ein Mitarbeiter maximal 27 Fälle verantwortungsvoll betreuen könne.

Keine Qualifizierung für Kurzarbeiter

Hamburgs Unternehmen nutzen fast alle nicht die Möglichkeit, ihre Kurzarbeiter zu qualifizieren. Das beklagten erneut Wirtschaftssenator Axel Gedaschko (CDU) und der Chef der Arbeitsagentur Rolf Steil. „In Boomphasen haben alle Firmen gesagt, sie hätten keine Zeit für die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter. Jetzt, wo sowohl Zeit als auch die Mittel vorhanden sind, tun sie es trotzdem nicht“, klagte Steil. Derzeit befinden sich rund 20.000 Beschäftigte in Hamburg in Kurzarbeit. Nur 338 nehmen an einer Qualifizierung teil, deren Kosten der Bund voll-ständig übernimmt.

Hartz IV: ein paar Euro mehr

Wer von Arbeitslosengeld II leben muss, hat ab diesem Monat etwas mehr Geld in der Tasche: Alleinstehende Langzeitarbeitslose bekommen nun 359 Euro pro Monat, volljährige Partner 323 Euro. Im Haushalt lebenden Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren stehen ab sofort 287 Euro zu, Kindern zwischen 7 und 14 Jahren 251 Euro, Kindern bis 6 Jahre 215 Euro. Die Einführung der neuen Altersstufe zwischen 7 und 14 Jahren hatte die Bundesregierung im Konjunkturpaket II beschlossen.

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Die Datenbank GottesEin Märchen

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1.

Alt werden ist nichts für Feiglinge, sagt Eriks Vater und reibt sich das Knie. Vor ein paar Tagen war er bei einem Orthopäden, und der stellte eine Abnutzung des Kniegelenks fest. Seither joggt er morgens nicht mehr um die Bärenseen, sondern lärmt schon früh in der Küche. Alt werden ist wirklich nichts für Feiglinge, sagt Eriks Mutter, und zieht sich vor dem Spiegel im Bad die Haut rund um die Augenpartie zurück, sodass sie, für einen Moment, die kleinen Falten nicht mehr sieht, die von dort ihren Ausgang nehmen. Die Sorgen der Erwachsenen sind lächerlich. Das ist der Grund, warum sie mich quälen, denkt Erik. Der Junge sitzt zu viel vor dem Computer, sagt der Vater zur Mutter, und es klingt wie ein Vorwurf. Er hat Über-gewicht und zu wenig Bewegung. Mit diesen Noten wird er das Abitur nicht schaffen. Warum spielst du diese scheußlichen Killerspiele und liest nicht mal ein Buch?, fragt die Mutter. Warum gehst du nicht an die Luft, machst Sport?Er ist ihnen peinlich. Sie sagen das nicht. Nicht direkt jedenfalls. Er will ihnen keine Schande machen. Aber in Mathe fühlt er sich schon richtig abgehängt. Erik bemüht sich, aber er versteht einfach nicht, was der Lehrer erklärt. Und was heißt Killerspiele? Die Counterstrike-Phase hat er längst hinter sich gelassen. Jens und er dringen in ganz andere Welten vor. Aber darü-ber können sie nicht reden. Erik kennt die Akten, die Fälle, die sein Vater im Büro bearbeitet. Sie haben sich schon lange in den Server der Kanzlei eingenistet, in der er Seniorpartner ist. Aber das ist noch harmlos. Der Hit war der Rechner der Kommandozentrale der Bundeswehr in Pots-dam – auch die haben von ihrem Besuch nichts bemerkt.Was heißt schon: Alt werden ist nichts für Feiglinge. Erwachsen werden, das ist wirklich tragisch. Jeder meckert rum. Erik weiß, wie bescheuert er aussieht. Er ist zu dick. Und Muskeln sind es nicht, die er da mit sich herumschleppt. Den Pickel auf der Nase hat er schon seit sechs Tagen, und als er ihn ausgedrückt hat, entfaltete er sich zu einem regelrechten Krater. Die Haare sehen nicht nur aus wie Spaghetti, sondern hängen auch so rum. Dünn, glatt, fad. Nur am Kinn wachsen sie nicht. Dort ist nur dieser peinliche dünne Flaum zu sehen. Er rasiert sich heim-lich, auch die Beine und noch eine andere Stelle, aber es nützt nichts. Seine Mutter sagt, er solle rausgehen, unter die Leute, und – das ist der schlimmste Satz – mal nach den Mädchen sehen. Er würde gern tanzen, aber er kann es nicht. Und die Mädchen wollen nichts von ihm wissen.

Dazu kommt der Hass der Erwachsenen auf die Computerspiele, die vorsintf lutlichen Politiker, die sie verbieten wollen, aber noch nie selbst gespielt haben, also null Ahnung davon haben. Was sollte er auf die Meinung von Leuten geben, die Vorkriegsbands wie die Rolling Stones hören. Er kennt die Leier: Er soll Obst und Gemüse essen, diesen schrecklichen Ökoschlamm, Sport machen, wo schon das morgendliche Aufstehen sinnlos und quälend ist. Und er soll Bücher lesen, früh ins Bett gehen, für die Schule und die unqualifizierten Lehrer lernen, nicht so viel fernsehen und mal wieder zum Frisör gehen. Schlimmer als die ewigen Vorwürfe ist nur, dass er weiß, dass er keine Talente hat, nicht einmal das Zeug zum Popstar, dass er kein Womanizer werden wird und auch kein Supersportler.

Wenn wirklich irgendjemand in dieser Familie Anlass zum Klagen hat, dann ich, denkt Erik.Der einzige Erwachsene, den er kennt, der sich nicht dauernd beklagt, ist Eriks Großvater. Dabei hätte der wirklich Grund. Seit der letzten Ope-ration kann er kaum noch schlucken. Bei jedem Bissen würgt er. Und manchmal scheint er von inneren Krämpfen geschüttelt, so schlimm, dass Erik die Tränen kommen. Er ist so dünn geworden, dass man fast durch ihn hindurchsehen kann.Zwei oder dreimal in der Woche besucht Erik seinen Großvater. Sie gehen manchmal zusammen in den Zoo. Das haben sie früher immer gemacht. Früher, als Erik noch klein war. Nun ist es der Großvater, der langsam geht und oft stehen bleibt. Manchmal nimmt Frau Dreyer Erik mit hinunter in die Stadt. Die Dreyers wohnen im Haus nebenan. Sie haben eine Tochter, die vor ei-nigen Wochen ausgezogen ist, weil sie nun in Zürich Betriebswirtschaft studiert. Erik soll später einmal Jura studieren und Anwalt werden wie sein Vater. Aber im Augenblick sieht es nicht nach Jura aus und vielleicht nicht einmal nach Abitur.„Meine Eltern halten mich für ein Problemkind“, sagt er zu Frau Dreyer. Er findet sie attraktiv, gleichzeitig gibt sie ihm das Gefühl, doch nicht so verkehrt zu sein. Sie wirkt unabhängiger als seine Eltern. Anders. Sie sitzen zusammen in ihrem flotten Zweisitzer. Frau Dreyer sieht ihn an, lacht und gibt Gas. Der Wagen macht einen Satz nach vorne. Sie hat das Verdeck abgenommen und der Fahrtwind kühlt ihn. Er mag das.

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2.

Beinahe hätte er mit ihr sogar über Katja gesprochen. Katja ist mit Abstand die schlimmste Sache in seinem Leben. Er sitzt in der Klasse schräg hinter ihr und kann sie sehen. Acht Unterrichtsstunden am Tag, und jede davon schmerzt. Umgekehrt ist es leider so, dass sie ihn nicht sieht. Selbst wenn er auf sie zugeht, im Schulflur, im Klassenzimmer, egal wo. Noch nie hat sie ihn angeschaut. Ihr Blick geht durch ihn durch. Er ist für sie nicht vorhanden. Er existiert nicht. Er hat keine Chance. Dieser Schmerz ist der wahre Schmerz. Da kann Vater mit seinem Knie einpacken.

Sie ist die Schönste in der Klasse. Schwarze Haare, die lang und glatt ihr Gesicht einrahmen. Immer ernst, rätselhaft, beinahe traurig. Wenn er Katja nicht sieht, dann denkt er an sie. Es gibt nur eine Mög-lichkeit, sie zu vergessen: wenn er am Schreibtisch sitzt und mit Com-puter die Welt erkundet. Und im Augenblick sind er und Jens an einer richtig dicken Sache dran.Sie waren schon in einigen fremden Rechnern. Aber jetzt! Es ist eine Da-tenbank, die so riesengroß ist, dass selbst die Rechnerfarm von Google einpacken kann. Jens sagt, dass der Verfassungsschutz dahinterstecken muss, oder die CIA, vielleicht der KGB. Es ist schon spät in der Nacht, als sie den Code knacken. Und als sie verstehen, was sie da vor sich sehen, bekommt Erik eine Gänsehaut. Sie machen Stichproben, aber es stimmt: In dieser Datenbank sind alle Menschen dieser Welt verzeichnet. Sie vergleichen die Daten mit japanischen Telefonbüchern und nehmen Stichproben von Personen aus Rio de Janeiro, aus Madrid und Beijing. Alle stehen in dieser Datei. Das ist die Datenbank Gottes, flüstert Jens, als hätte er Angst, die himmlischen Heerscharen würden ihn hören. Irgendwie müssen die da oben ihre Arbeit ja auch organisieren.Es ist fast schon Morgen, als Jens geht. Zum Glück sind die Eltern auf einem Fest im Tennisclub und haben nichts gemerkt. Als er allein ist, sucht Erik Katjas Namen in der Datei. Er küsst den Bildschirm, als der ihre Daten anzeigt. Das meiste, das da steht, versteht er nicht. Aber direkt hinter ihrem Namen sind das morgige Datum und eine Uhrzeit eingetragen: 13:46. Erik hat keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Um diese Zeit wird sie auf dem Weg nach Hause sein. Bevor er den Rechner runterfährt, beschließt er, ihr morgen nach der Schule heimlich zu folgen. Er will wissen, was diese Datenbank bedeutet.

3.

Katja ist an diesem Morgen noch stiller und niedergeschlagener als sonst. Sie hört dem Unterricht nicht zu. Als Frau Gregor sie in Deutsch einmal aufruft, bekommt sie das nicht mit, und alle lachen. Erik zerreißt es fast das Herz. Er würde ihr gern helfen. Er würde gern irgendetwas für sie tun, aber er weiß nicht, was.Nach der Schule folgt er ihr. Sie nimmt heute nicht den üblichen Weg, die Heugasse hinauf, sondern sie steigt in die Straßenbahn. Erik schafft es gerade noch in den hinteren Wagen, aber er ist sich sicher, dass sie ihn nicht bemerkt hat. Zwei Stationen weiter, an der Neckarbrücke, steigt sie aus. Katja geht unter der Unterführung hindurch. Als er selbst auf der anderen Seite ankommt, sieht er sie am Brückengeländer stehen. Sie blickt kurz auf und starrt dann in die braune Brühe, die sich unter der Brücke hindurchwälzt. Erik erschrickt, denn in diesem Augenblick weiß er, was Datum und Uhrzeit bedeuten: Es sind Datum und Uhrzeit ihres Todes. Er dreht sich um und rennt. Er rennt so schnell er kann. Seine Lungen werden mit glühenden Nadeln durchlöchert. Er rennt weiter. Er schwört, dass er Sport treiben wird,

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5.

Als die Schmerzen des Großvaters unerträglich werden und der alte Mann sich im Bett windet und schreit, öffnet Erik die Datenbank ein paar Tage später zum zweiten und letzten Mal. Noch zwei Jahre wird er mit den Schmerzen zu leben haben, sieht er auf der schier endlosen Liste mit Namen und Daten. Er überlegt lange, bevor er das Datum herabsetzt. Dann schließt er die Seite, um sie nie mehr zu öffnen. Sein eigenes Sterbedatum hat er besser nicht aufgerufen.Als es soweit ist, sitzt die Familie um das Sterbebett des Großvaters. Erik hält seine Hand, und der Vater wischt die Stirn des Sterbenden mit einem feuchten Tuch.

6.

Katja verzeiht ihm nicht. Mehr als einmal überlegt er, wie er ihr die Wahrheit sagen kann, aber die Wahrheit kommt ihm so unglaubwürdig vor, und eine bessere Geschichte fällt ihm nicht ein.Er will sitzen bleiben. Noch ein Jahr mit der unnahbaren Katja im selben Klassenzimmer wird er nicht überleben. Und so fängt er an, absichtlich schlechte Noten zu schrei-ben. Es ist einfacher als er dachte.Es legt sich eine Trauer, ein Grundton der Verzweiflung über sein Leben, von dem die Eltern glauben, es hinge mit dem Tod des Großvaters zusammen. Sie machen ihm nur noch selten Vorwürfe, obwohl klar ist, dass er in diesem Jahr die Versetzung nicht schaffen wird.Irgendwann hält er es nicht mehr aus. Er atmet einmal kräf-tig ein und aus und setzt sich in der Pause neben sie.„Ich habe dein Leben gerettet“, sagt er und erzählt von der Datenbank.„Gute Geschichte“, sagt sie.„Wenn du mir nicht glaubst, ich kann sie dir zeigen. An meinem Rechner.“Sie sieht ihn durch halb geschlossene Lider an.„O.K.“, sagt sie gedehnt.„Meine Eltern sind heute Nachmittag nicht zu Hause.“„Hab ich mir gedacht.“In seinem Zimmer setzt sie sich auf sein Bett und wartet. Erik fährt den Rechner hoch, ruft den Browser auf und gibt die Adresse der Gottesbeweis-Datei ein.Nichts.Er probiert es noch einmal.„Das versteh ich nicht“, sagt er.Sie steht auf, kommt zu ihm herüber, sieht ihm über die Schulter zu, wie er verzweifelt auf der Tastatur herum-hackt.„Du denkst bestimmt, ich habe das alles bloß erfunden.“„Nein, ich wundere mich, warum du nicht ein einziges Mal gefragt hast, warum ich eigentlich auf die Brücke gegangen bin.“Eriks Finger stehen abrupt still. Er dreht sich auf seinem Stuhl um und sieht sie an.Sie hatte recht. Dann redeten sie das erste Mal miteinander.

Bisher unveröffentlichter Text, © by Wolfgang Schorlau 2009

WOLFGANG SCHORLAU, geboren 1951, lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. 2006 erhielt er den Deutschen Krimipreis für „Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall“. Im Mai 2009 erhielt er die Herzogenrather Handschelle. Mit diesem Preis werden Autoren geehrt, deren Krimis sich vor allem durch die besonders dichte Schilderung eines Milieus auszeichnen.

dass er abnehmen wird. Erik bekommt keine Luft mehr. Er rennt weiter. Es sind nur ein paar Minuten bis nach Hause.Zu Hause wirft er die Schultasche in den Flur.„Erik, das Essen ist fertig“, ruft seine Mutter.„Gleich“, ruft er und sprintet zur Treppe, die in den ersten Stock führt.Seine Mutter hält ihn am Arm.„Das Essen wird kalt“, ruft sie.Er reißt sich los und stürmt in langen Schritten die Treppe hinauf. Die Mutter läuft hinter ihm her.In seinem Zimmer drückt er den On-Knopf des Computers, noch bevor er sich in den Schreibtischsessel fallen lässt.Die Mutter zieht ihn am Arm und schreit ihn an: Jetzt sei wirklich Schluss! Wenn er ohne Essen und ohne Gruß sofort zum Computer rennen würde. Sie fasst ihn am Arm – er merkt es kaum.Er denkt nur, wie lange die Kiste mal wieder braucht.Die Mutter zerrt am Stromkabel.Er öffnet Firefox, um ins Internet zu kommen.Erik sieht auf die Uhr. Noch zwei Minuten.

Der Bildschirm erlischt mit einem kurzen Knistern.Die Mutter verlässt zufrieden sein Zimmer.Erik sprintet zur Steckdose und steckt das Stromkabel des Bildschirms erneut in die Steckdose. Zurück an die Tastatur. Die Adresse der Daten-bank aufrufen.Nichts geschieht.Noch eine Minute.Der Befehl war falsch. Er wiederholt ihn.Nun lädt der Rechner die riesige Datei.Wie lange das alles dauert.Er wird es nicht schaffen. Nur noch eine halbe Minute.Er sucht ihren Datensatz. Jetzt, endlich hat er ihn gefunden. Aber wo steht das verdammte Datum? Hier! Erik ändert es. Speichert. Lässt sich erschöpft in den Sessel zurückfallen.Katja wird nun steinalt werden.

4.

Am nächsten Morgen spricht er sie zum ersten Mal an. Die Euphorie hat ihn fast die ganze Nacht wach gehalten. Er hat das Geheimnis dieser Datenbank entschlüsselt. Und, was noch viel wichtiger ist: Er hat sie gerettet. Es ist belanglos, dass der Vater am Abend seinen Computer abmontiert und im Keller eingeschlossen hat. So zufrieden war er noch nie.„Hallo, Katja.“Er hat diese beiden Worte geübt wie ein Schauspieler. Sie sollten normal klingen. Lässig, wie eben mal so hingeworfen. Trotzdem ist der Mund trocken, und die Stimme klingt brüchig.Sie sieht ihn an. Zum ersten Mal, seit er denken kann. Und er möchte am liebsten verschwinden in dem wunderbaren Glanz ihrer Augen.„Gestern hätte ich dich gebraucht, Erik. Ich habe bemerkt, dass du mir bis zur Neckarbrücke gefolgt bist. Vielleicht habe ich mich sogar darüber gefreut. Du bist ja so schüchtern. Aber dann, als du da sein solltest, bist du weggelaufen, wie ein Angsthase. So jemand interessiert mich nicht.“Dann dreht sie sich um und geht davon.Es ist ein Absturz aus großer Höhe. Erik schleppt sich mühsam den Schulweg nach Hause. Er ist allein und geht selbst Jens aus dem Weg. Auch als die Reifen neben ihm quietschen und Frau Dreyer mit ihrem Flitzer neben ihm hält, schüttelt er den Kopf. Er will niemanden sehen, keinen sprechen. Nur mit dem Großvater telefoniert er. Sein Vater denkt, es hänge mit dem Computer zusammen und stellt ihm am nächsten Tag das Gerät wieder ins Zimmer.

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Die Strumpfhose

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Als ich fünf Jahre alt war, habe ich einmal bei Breisigs auf den Teppich gepinkelt. Heute fällt es mir nicht mehr schwer, davon zu erzählen. Aber in dem Augenblick, als es passierte, als mir der Urin nass und heiß die Beine herun-terlief, da war es überhaupt kein Trost, erst fünf Jahre alt zu sein. Dieser Vorfall hat mir mein ganzes Leben bis zum Ende der Grund-schulzeit vergällt. Noch in der vierten Klasse, wenn ich einfach bloß so auf dem Pausenhof stand und an meinem Schulbrot kaute oder mit Marina Hase und Gundula Driest Gummitwist sprang, kam plötzlich meine ältere Schwester vorbei, sagte unvermittelt: „Weißt du noch, wie du bei Breisigs auf den Teppich gepinkelt hast?“, und schlenderte weiter. Der Tag war dann natürlich gelaufen.Meine Schwester hatte mich damals mitge-nommen zu Breisigs. Das muss eine absolute Ausnahme gewesen sein. Eigentlich hasste mich meine Schwester. Bloß wenn sie mit Stef-fi von Ackeren Prinzessin spielte, durfte ich dabei sein. Einmal hat uns jemand in unseren Kostümen fotografiert. Auf dem Foto trägt Steffi von Ackeren einen mit einer Schärpe ge-rafften Rock und eine um den Kopf gewickelte Gardine. Meine Schwester trägt ein Kleid mei-ner Mutter, das bis auf den Boden schleppt. Als Schleier hat sie einen Unterrock genommen, dessen Gummizug sich um ihre Stirn spannt. Ich stehe zwischen ihnen und habe so eine Art Kittel an. Ein Herrenoberhemd. Ich war der Sklave. Meistens spielten wir in Steffis Kinder-zimmer. Wenn meine Schwester nach Hause ging, behielt Steffi von Ackeren mich noch eine halbe Stunde da, um mich mit einer Hundelei-ne zu fesseln und mir Stecknadeln in die Hand

zu stechen. Meine Aufgabe dabei war es, nicht das Gesicht zu verziehen und nicht zu weinen. Darin wurde ich mit der Zeit richtig gut.Meine Schwester hatte mich also mitgenom-men zu Sabine Breisig, wo noch einige andere Kinder waren, alle schon sieben oder acht Jahre alt. Wenn du fünf bist, sind Siebenjäh-rige so etwas wie der Hochadel. Wahnsinnig interessante Leute. Die gingen ja schon zur Schule. Vor lauter Ehrfurcht wagte ich nicht, nach der Toilette zu fragen. Ich kreuzte die Knie und litt und wartete auf den Moment, wo meine Schwester mich zufällig ansehen und es merken würde. Aber meine Schwester hasste es, mich anzusehen. Und dann war ich nicht mehr imstande, es zurückzuhalten, und sagte schnell:„Ich glaube, ich muss mal aufs Klo.“„Ich glaube, das ist wohl schon zu spät“, sagte jemand, und alle sahen dorthin, wo es unter meinem kurzen Faltenrock heraustropfte. Ich trug eine Wollstrumpfhose. Sie war weiß und kratzig. Diese Strumpfhosen waren wirklich die Pest. Ständig rutschten sie auf halb acht, und der Schritt saß in der Höhe der Kniekeh-len. Wenn ich mit meiner Mutter unterwegs war, hob sie mir in regelmäßigen Abständen den Rock über die Hüften – völlig egal, wo wir gerade waren –, klappte den Rock hoch, raffte mit beiden Händen den Wollstoff und zerrte mir die Strumpfhose bis unter die Achseln. Und dann waren die Dinger auch noch teuer, und man durfte auf keinen Fall ein Loch hi-neinmachen.Ich erinnere mich, wie ich einmal mit meiner Schwester und Andreas Lohmeyer, das war der Nachbarssohn, unten an der Alster spielte.

Noch so eine Ausnahmesituation. Vermutlich musste meine Schwester auf mich aufpassen. Die Strumpfhose, die ich anhatte, war ganz neu. Ich war entsprechend instruiert worden, und ich hatte mich wirklich vorgesehen. Aber einmal hatte ich mich durch ein Brombeerge-büsch schlagen müssen, und einmal hatte ich mich einen Abhang hinuntergerollt, und schon war ein Loch in der Hose gewesen.„Du gehst sofort nach Hause und zeigst es Ma-ma!“, sagte meine Schwester.Während ich nach Hause ging, überlegte ich, wie ich noch aus der Geschichte herauskom-men könnte, und als meine Mutter mir die Tür öffnete, sagte ich:

„Andreas Lohmeyer hat mir mit der Nagelschere ein Loch in die Strumpfhose geschnitten.“Meine Mutter fragte mich zweimal, ob das auch wirklich wahr sei. Ich nickte jedes Mal heftig mit dem Kopf. Ja, ganz genauso hatte es sich abgespielt. Meine Mutter glaubte mir nicht und sperrte mich in mein Zimmer, wo ich war-ten musste, bis Andreas Lohmeyer und meine Schwester vom Spielen heimkehrten, um mei-ne Aussage zu bestätigen. Oder auch nicht. Mir war ganz schön mulmig. Ich setzte mich auf mein Schaukelpferd, galoppierte ein bisschen vor mich hin und hoffte die ganze Zeit instän-dig, Andreas Lohmeyer würde zugeben, dass er die Strumpfhose zerschnitten hatte.„Ja“, würde er sagen, „ja, ich wollte ausprobie-ren, wie das aussieht.“

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Ich hielt es tatsächlich für möglich, dass er das sagen würde, einfach weil ich es mir so sehr wünschte. Solchen Denkfehlern gab ich mich auch später immer wieder hin, selbst dann noch, als ich schon viel zu alt dafür war. Zum Beispiel füllte ich eine Zeit lang Lottoscheine aus. Ich spielte immer nur, wenn meine finanzielle Lage so katas-trophal war, dass ich nicht mehr aus und ein wusste, oder wenn der Jackpot über 10 Millionen lag. Aber so funktioniert das nicht. Du gewinnst nicht im Lotto, bloß weil das deine letzte Chance ist, und du kriegst auch kein Pony zum Geburtstag, bloß weil du dir das so sehr gewünscht hast, und du wirst auch nicht wiedergeliebt, bloß weil du selbst so sehr liebst, und du wirst auch nicht verlegt, bloß weil du drei Jahre lang nichts anderes getan hast, als dieses eine Buch zu schreiben, und Andreas Lohmeyer sagte natürlich, dass er meine Strumpfhose überhaupt nicht angerührt hätte. Das war dann die zweitgrößte Tracht Prügel, die ich als Kind kassierte. Andreas Lohmeyer ging ich danach zehn Jahre lang aus dem Weg. Das war eigentlich schade, weil ich ihn ungeheuer bewunderte, seit er einmal von zu Hause weggelaufen war, um König der Tiere zu werden. Er blieb bloß einen halben Tag lang verschwun-den, aber die Idee hatte mich damals ziemlich beeindruckt.

Als ich bei Breisigs auf den Teppich pinkelte, hing mir die Strumpfhose natürlich gerade wieder in den Kniekehlen, und der Urin lief mir teilweise die Beine herunter, und teilweise sammelte er sich in dem eingewebten Keilstück im Schritt und tropfte von dort gelb auf den Fusselteppich. Meine Schwester und die Freunde meiner Schwester starrten schweigend auf diese Lache, und ich wäre am liebsten tot oder gar nicht geboren gewesen, als ein Junge sagte: „Wir müssen sie nach Hause bringen, damit sie sich nicht erkältet. Ich kann sie hinten auf meinem Gepäckträger mitneh-men.“Das vergess ich ihm nie. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Er kann nicht älter als acht oder höchstens neun Jahre gewesen sein, aber in meiner Erinnerung ist er einen Meter neunzig groß, und sein Mund ist von Ernst und Entschlossenheit geprägt.Jedenfalls saß ich dann auf seinem Gepäckträger, was wegen der verrutschten Strumpfhose nicht ganz einfach war, und hielt mich an seinen Hüften fest. Ich ver-liebte mich, fünfjährig, natürlich in diesen Achtjährigen, verliebte mich in den Glanz von Märchen und Männlichkeit, der ihn umgab.

Doch während ich diese Geschichte aufschreibe, mich zu erinnern bemühe und meine Fahrt auf dem Gepäckträger noch einmal vor mein inneres Auge rufe, da sehe ich den Jungen und mich allerdings durch eine Straße fahren, die eindeutig nicht auf dem direkten Weg zu meinem nur fünfhundert Meter entfernten Elternhaus liegt. Er hätte linksrum fahren müssen, durch den Weidenredder; er ist die Olendeelskoppel aber rechtsrum gefahren und dann durch den Bargweg und den ganzen Treudelberg hinunter. Jetzt, nach dreißig Jahren, fällt mir das auf. Der Junge ist einen riesigen Umweg gefahren. Nimmt ihm das etwas von seinem Glanz? Wohl kaum.

KAREN DUVE wurde 1961 in Hamburg geboren und lebt mit ihrer englischen Bulldogge und anderen Tieren auf dem Lande bei Brunsbüttel. Ihre Geschichten „Weihnachten mit Thomas Müller“ und „Thomas Müller und der Zirkusbär“ aus den Jahren 2003 und 2006 sind inzwischen Klassiker. Der „Regenroman“ (1999), „Dies ist kein Liebeslied“ (2002) und „Die entführte Prinzessin“ (2005) sind Bestseller und in 14 Sprachen übersetzt. Im Mai 2008 ist Karen Duves Roman „Taxi“ erschienen. Die Frankfurter Allgemeine Sonn-tagszeitung schrieb dazu: „Große Duve-Kunst. Lachen und Verzweiflung. Das wahre Leben als Horror und großer Spaß … Rasant, gefährlich, sonderbar, wie das ganze schöne Buch!“

Wir verlosen dreimal Karen Duves Erzählband „Keine Ahnung“. In diesem Suhrkamp-Taschenbuch ist auch die Kurzgeschichte „Die Strumpfhose“ erschie-nen. Die ersten drei Anrufer gewinnen! Telefon: 32 10 83 10.

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Wir freuen uns auf Sieund Ihre Mitgliedschaft!

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Sauber bleiben

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Mittwochs Fensterputzen. Aber von der Straße aus sind meine Scheiben doch nicht so blank geworden wie die anderen. Ein Trupp der Stadtreinigung marschiert in orangefar-benen Uniformen vorbei. In der Hauptstraße werden die Fußwege gebohnert und die Häuser gewaschen.Alles glänzt. Der Himmel ist frisch gestri-chen. Die Menschen tragen weiße Kleidung, das ist jetzt Vorschrift. Aus der Tür meiner Lieblingskneipe quillt Seifenschaum.„He, halt!“, brüllt der Wirt. Ich bleibe stehen, folge mit dem Blick der Richtung seines ausgestreckten Arms. Meine Schuhe. Sie hinterlassen klebrige Abdrücke auf dem feuchten Fußboden. Der Wirt wirft mir einen Lappen zu, und ich verwische meine Spuren, putze meine Schuhe ab. Der Wirt ist nicht zufrieden, sein Blick ist Verachtung.Blitz sitzt am Tresen. Er heißt so, weil die blon-den Haarsträhnen im Zickzack von seinem Kopf abstehen. Er betreibt eine chemische Rei-nigung. „Du siehst fertig aus“, stellt er fest.„Ja, ich schaffe es nicht, meine Wohnung sauber zu halten. Kaum bin ich fertig, kann ich schon wieder von vorn anfangen.“ Ich ziehe mich auf einen Barhocker hinauf. In einer Ecke sitzt ein letzter Raucher unter einer Glaskuppel.„Du brauchst eine Putzfrau“, sagt Blitz.Der Wirt grinst. Freie Putzfrauen gibt es schon lange nicht mehr. Er beugt sich über den Tresen und schnüffelt in meine Richtung. Dann stellt er den Luftreiniger auf eine höhere Stufe. „Ein Bier, bitte“, sage ich.Zögernd nimmt der Wirt ein Glas. Er schnippt mit dem Fingernagel dagegen. „Muss ich dann wieder abwaschen und polieren.“ Er stellt es trotzdem unter den Zapfhahn. Blitz neigt sich mir zu. „Ich hätte vielleicht eine Putzfrau für dich“, flüstert er.„Ehrlich? Was muss ich tun?“Der Wirt klopft auf das blank gescheuerte Messing des Tresens. „Hier wird nicht geflüs-tert. Keine dreckigen Witze, keine schmutzigen Gedanken! Ist das klar?“Wir nicken. Ich kriege mein Bier. Wir wagen nicht mit den Gläsern anzustoßen, heben sie nur hoch, nicken uns zu. „Sauber bleiben.“ Das ist der offizielle Trinkspruch. An der Außenseite unserer Gläser laufen eilig Tropfen herab. Mit einem Lappen, den uns der Wirt dafür gegeben hat, fangen wir sie auf.

Im Radio kommt eine Durchsage der Stadtrei-nigung. Namen und Adressen. Mein Name ist dabei. Mir rutscht das Glas aus der Hand.

Ich komme zu spät. Der Wirt bestand darauf, dass ich das Bier aufwische, mein Glas abwa-sche und poliere. Zum Glück war es heil geblie-ben. Vier Männer in leuchtend orangefarbenen Uniformen sind schon in meiner Wohnung. Sie gucken unter das Bett, fahren mit dem Finger an der Oberkante der Türen entlang, klopfen Staubwolken aus den Sesselpolstern, holen kleine dunkle Teile aus den Fußbodenritzen, nehmen Proben für Laboruntersuchungen. Die Bedenken lassen ihre Köpfe schwanken. Plötzlich entdecken sie meine im Schritt nasse Hose.

„Bier“, erkläre ich mit ausgebreiteten Händen und hochgezogenen Schultern.

Ekel treibt ihnen die Magensäfte in den Mund. Sie zücken die roten Kontrolllisten für Kleidung und Körper. Am Ende ihrer Unter-suchung zahle ich Bußgelder und bekomme einen Termin zur Nachkontrolle. Kaum sind sie gegangen, steht Blitz in der Tür. Er presst einen Finger gegen die Lippen, dann winkt er jemandem, der auf dem oberen Trep-penabsatz wartet. Es ist ein junges Mädchen in einem dieser modernen weißen Overalls, dessen Ärmel als Putzlappen enden. „Sie kommt aus dem Regenwald“, sagt Blitz. „Da gibt’s ja keine Arbeit.“Sie beginnt sofort zu putzen. Wir sitzen auf dem Sofa, sehen ihr zu und bewundern ihre Beweglichkeit. „Kann ich mir die leisten?“„Taschengeld, Unterkunft und Verpflegung.“„Die wohnt bei mir?“„Ab sofort.“Als Blitz gegangen ist, zieht mich das Mädchen aus, stopft meine Kleidung in die Waschma-schine und lässt Wasser in die Badewanne. Dann schrubbt sie mich, schneidet meine Haare ab, rasiert meinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Schließlich bringt sie mich ins Bett. Sie kommt mit einem Saft, in den sie ein weißes Pulver schüttet.„Trinken für sauber innen.“ Die Worte gleiten ihr von der glatten Zunge. Ich hebe die Bett-decke für sie an, aber sie will nicht mit hinein.

„Sauber bleiben“, sagt sie. „Noch Arbeit.“ Ich bin müde von ihrer Behandlung. Tage später wache ich wieder auf. Die Wohnung ist leer. Kein Mädchen mehr, kein Fernseher, kein Computer. Kein einziges Möbelstück. Selbst das Bett hat sie unter mir abgebaut. Ich liege nur noch auf der Matratze.

Ich schnuppere an meinen Achselhöhlen, dann betrete ich die Kneipe. Ein künstlicher Sonnenstrahl quer durch den Raum zeigt die Staubdichte der Luft an. Praktisch null. Der Wirt hat den Schädel rasiert. Er grinst, poliert mit dem Ärmel die Bierfilze. Auch Blitz hat eine Schädelrasur hinter sich. Ich streiche mir selbst über den blanken Kopf. „Mal ehrlich, Haare sind doch bloß Staubfän-ger“, sagt der Wirt.Ich kriege ein Bier ohne Schaum.„Schaum ist doch ekelhaft“, beantwortet der Wirt meinen Blick.In der Ecke sitzt der letzte Raucher unter einer Glasglocke, aber er raucht nicht mehr. Der Wirt zieht die Mundwinkel herab, öffnet seine Hand in Richtung des Rauchers. „Der dunstet nur noch aus.“„Das Mädchen ist weg“, sage ich zu Blitz.Er nickt. „Ich weiß. Die ist auch nichts für immer.“„Sie hat aber alle meine Möbel und Wertsachen mitgenommen.“„Ich weiß“, sagt Blitz.„Musst du so sehen“, sagt der Wirt. „Die haben da ja auch nichts im Regenwald. Wir tun ein gutes Werk.“Draußen marschiert ein Trupp in orangefar-benen Uniformen vorbei. Schichtwechsel.„Hat auch Vorteile“, sagt Blitz.Ich nicke. Der Gedanke an meine leere Woh-nung gefällt mir. Leicht sauber zu halten.

GUNTER GERLACH, in Leipzig geboren, studierte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Er ist Veranstalter der kürzesten Lesung der Welt, des Literatur-Quickies, jeden Mittwoch in der Bar „439“ in Hamburg. Er hat mehrere Romane und Krimis veröffentlicht und mehrere Literaturpreise gewonnen (Deutscher Krimipreis, Friedrich-Glauser-Preis). Zuletzt, im Jahr 2008, erschien „Jäger des Alphabets“ im Rotbuch Verlag. www.gunter-gerlach.de

Wir verlosen drei Exemplare des Krimis „Jäger des Alphabets“. Die ersten drei Anru-fer gewinnen! Telefon: 32 10 83 10.

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„Sagt mir an, ihr stillen GeisterfalterAuf der Lichtung: Wieviel ZeitenalterIhr im Banne laget bei den Toten, Eh ihr wurdet solche Wunderboten?“ (Christian Wagner: Auf der Lichtung)

In einer der glücklichen Nächte seiner Hochzeitsreise durch die Schweiz trat Herr Schöffel (richtig, derjenige, der seit der Volksschule die Spitznamen „Naturschöf-fel“, „Naturstoffel“, „Naturtrottel“ trug, und der, viele Jahre später und lange Zeit schon Witwer, bei einem schweren Unwetter die Kellertreppe außerhalb des Hauses hinuntergestürzt und dort unten in Finsternis und Einsamkeit, ohne es zu wissen, gestorben ist) in seinem direkt gegenüber dem hohen Berg gelegenen und nach ihm benannten Hotel nackt ans Fenster. Schöffels Frau schlief fest.Noch am Nachmittag waren an ihr auf einem Waldweg Eichhörnchen bis zur Hüf-te hochgeklettert und Tannenhäher hatten ihr auf der Hand gesessen. Bei seinem nächtlichen Aufstehen aber überlegte er plötzlich, ob sie ihn wohl verachten würde, wenn er ihr gestände, daß er an seinen gepachteten Garten wie an eine Person, wie an seine Eltern oder ein treues Hündchen aus der Kindheit dachte. Erst recht wollte er ihr vorsichtshalber fürs Erste keinesfalls von seiner Fähigkeit erzählen, die vergangenen Landschaften, die alten Wälder und Moose, die Wildnisse und Teiche unter der stählernen Zivilisation zu erkennen wie noch vorhanden, wie noch nicht überwältigt. Und das zu seinem Schmerz, da er parteiisch war.Nun aber sah er im Eislicht des Mondes unmittelbar den Berg vor sich aufragen, auf Armeslänge herangerückt, so daß Herr Schöffel zunächst ein Stück zurückfuhr, dann allerdings auf den Balkon hinaustrat und die Tür hinter sich zuzog, ganz allein auf der Welt mit dem schrundigen Koloß und vielleicht sogar hochheiligen Ungetüm.In diesem Moment geschah etwas, von dem Schöffel am ehesten hätte sagen können: Der Berg hat sein Lid hochgeklappt! Man ahnt ja nicht, daß er das Auge bisher ge-schlossen hielt. Es ist jetzt aufgeschlagen und starrt mich an. Starrt? Glotzt!Die versöhnliche Oberfläche war beiseitegeräumt und darunter die Pupille blanker Materie, nichts als roher und reiner Stoff. Schöffel begann im Freien zu schlottern. Wäre dieses Nein bloß nicht so riesig gewesen, von derart unvorstellbarem Gewicht! Er duckte sich im sehr ungleichen Kampf.„Ich bin weder Freund noch Widersacher!“ brüllte der Berg, „Wicht! Ich werde dein bißchen Seelengeflatter zermalmen, Wurm!“ donnerte er. „Ich bin der wahre Furcht- und Schreckenbringer. Ich bin der aus der Tiefe gestülpte Abgrund des Garnichts!“„Nicht verwandt“, flüsterte Schöffel.„Nicht verwandt?“ lachte der Berg. „Ich nicht mit dir, schwärmendes Staubkorn, aber du, alberner Schuttkegel, du ab sofort mit mir. Komm her! Her mit dir, damit ich dich fresse!“„Ich werde es ihr nicht sagen“, schwor sich Schöffel. Er zitterte im Frosthauch und blinzelte, während er zu der in ihrem Vanilleparfum friedlich Träumenden auf Ze-henspitzen flüchtete. Er floh rückwärts, behutsam, um niemanden da draußen zu reizen. Blinzelte sehr, damit der Berg abtauchte, dorthin, wo er jeder Beschreibung spottete und auch für ihn, Schöffel, und den Rest seines Lebens das malerisch faltige Lid wieder schlösse.

BRIGITTE KRONAUER, 1940 in Essen geboren, lebt in Hamburg. Sie gilt als eine der bedeu-tendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Unter anderem wurde sie mit dem Fontane-Preis, dem Heinrich-Böll- und dem Büchner-Preis ausgezeichnet. 2007 erschien ihr Roman „Errö-tende Mörder“, über den die „Zeit“ schrieb: „Mehr denn je bewundern wir in diesem abgrün-digen Epos die Schwebetricks der dichtenden Diva.“ Die vorliegende Geschichte ist ein Kapitel aus ihrem im Herbst bei Klett-Cotta erscheinenden Roman „Zwei Schwarze Jäger“.

Wir verlosen den Roman „Errötende Mörder“ (Verlag Klett-Cotta). Die ersten drei Anrufer gewinnen! Telefon: 32 10 83 10.

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Bücher für alle Fälle

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Lesen macht glücklich – so lautet eine eingängige Formulierung, mit der Lektüreenthusiasten Lust auf Romane oder Erzählungen wecken wollen. Und natürlich stimmt es, dass Lesen zu Momenten des Glücks führen kann, wie man sie anderswo kaum erleben darf. Trotzdem ist Vorsicht angesagt: Nicht jedes Buch führt zu Wohlergehen, und manchmal ist es ratsam, vor der Literatur zu warnen. Erinnert sei an Emma Bova-ry, jene unglückliche Frauengestalt aus Gustave Flauberts „Madame Bovary“ (1857). Deren Liebe zu überspannten Liebesromanen mehrt ihr Wohlbefinden keineswegs, ja, letztlich trägt Emmas falsch verstandene Lektüre dazu bei, dass sie sich in Traumschlösser zurückzieht und am Ende jämmerlich, im Selbstmord, endet. So warnend Emma Bovarys Fall sein mag: Wer zu Romanen greift, hofft insgeheim darauf, dass diese für eine klarere Sicht auf seelische Konflikte sorgen. Die sprachlichen Zaubermittel, die faszinierende Bücher einsetzen, schaffen bisweilen eine Gegenwelt, die uns hilft, die reale Welt leichter zu ertragen. Deshalb empfehle ich im Folgenden vier Bücher, die für den einen oder anderen in der einen oder anderen Lebenssituation hilfreich sein könnten…

Wer nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll, lese Karen Duves „Taxi“ (Eichborn Verlag): Die Autorin weiß, wovon sie spricht. Jahrelang kutschierte sie ein Taxi durch die Hamburger Nächte und erregte nicht nur das Aufsehen ihrer männlichen Kollegen. Aus die-sem Fundus schöpft sie in ihrem Roman. Alex Herwig heißt Karen Duves Heldin am Steuer. Die lapidare Erkenntnis „So ging das nicht weiter“ bringt die junge Frau auf den Gedanken, bei dem dubiosen Taxiunter-nehmer Mergolan anzuheuern und sich künftig fahrend die Nächte um die Ohren zu schlagen. Von 1984 bis 1990 reichen die beiden Romanteile, sechs Jahre, die als Endlosfahrt verstreichen, sechs Jahre, in denen Alex in ihrem Wagen mit der Nummer 244 reichhaltige Erfahrungen mit der menschlichen Spezies macht: „Wer kein Taxifahrer ist, ahnt ja gar nicht, wie viele Verrückte und ambulant Schizophrene frei herumlaufen.“ Durchsetzungsschwach, unflexibel, geldgierig – so sieht sich Alex selbst, und das von endlosen Wiederholungen geprägte Taxi fahrerdasein erlaubt es ihr, diese Charakterzüge auszuleben und vor Entscheidungen zurück-zuschrecken, die über die Frage „Über Winterhude oder Eppendorf zum Flughafen?“ hinausgehen. Wiewohl sie bis zuletzt Mühe hat, Straßen korrekt zu orten, eignet sie sich einen berufsbedingten Kennerblick für die Psyche ihrer Fahrgäste an. Alte Omis (eine beliebte Kundschaft), gewalttätige Zuhälter, lallende Sturzbetrunkene, verklemmte Lüstlinge, bebrillte Feuilletonredakteure (eine unbeliebte Kundschaft) oder wan-kelmütige Selbstmordkandidaten – nichts ist gestandenen Taxifahrern fremd. „Taxi“ ist ein komisches Buch, das viel vom Beob achtungstalent der Autorin verrät, und ein Buch, das zeigt, wie die Jahre vergehen, wenn Antriebslosigkeit zu einem ewigen Durchwurs teln führt. Erst ganz am Ende rafft sich Alex auf, ihr Taxifahrerdasein zu beenden – Licht am Ende des (Elb-)Tunnels.

Wer Monarchen für unsensible Gemüter hält,

der lese Alan Bennetts „Die souveräne Leserin“ (Wagenbach Verlag): Lesen Politiker, Wirtschschaftsbosse und Könige richtige Bücher? Man möchte daran zweifeln … gäbe einem der Engländer Alan Bennett

nicht den Glauben daran zurück. Seine fein erfundene Geschichte „Die souveräne Leserin“ schmiegt sich in die Gedankenwelt der uns allen seit Jahrzehnten vertrauten Königin Elisabeth ein, die, so Bennett, nichts und niemals liest. Doch dann gerät sie zufällig in einen Bücherei-bus, der in Palastnähe Station macht, leiht sich ein Buch aus und wird nach und nach zur begeisterten Leserin. Ihre Berater zeigen sich darüber nicht amüsiert, da die Königin ihre royalen Pflichten zusehends ver-nachlässigt und mit einem Mal zu unkonventionellen Entscheidungen neigt – sogar auf ihrem 80. Geburtstag, als sie die ehrwürdige Festge-meinde zutiefst verblüfft. Alan Bennett erzählt mit beschwingter Feder von den Möglichkeiten der Literatur, und plötzlich hält man es für wahrscheinlich, dass selbst Politiker, Wirtschaftsbosse und Könige von den Segnungen der Literatur erfasst werden können.

Wer seinen Liebeskummer für einzigartig hält,

lese Colettes „Erwachende Herzen“ (Manesse Verlag): Was für eine leise, was für eine traurige Geschichte, die die französische Schriftstel-lerin Colette da 1923 veröffentlichte! Ein schmales Sommerbuch, das in der Bretagne spielt und von der erwachenden Liebe zweier pubertie-render Jugendlicher erzählt. Philippe und Vinca scheinen füreinander bestimmt, bis eines Sommers eine in Weiß gekleidete Dame die Sinne des halb so alten Jungen verwirrt. Wie Gefühle durcheinanderwirbeln, wie sich Enttäuschungen einstellen, wie sinnliche Reize den Seelenhaus-halt in Wallung bringen – das alles baut Colette in ihre feine Erzählung ein, vor einer bretonischen Sommerkulisse, die einem Meer und Sand nahe bringen. Wer „Erwachende Herzen“ gelesen hat, weiß endgültig, dass gegen Liebeskummer kein Kraut gewachsen ist, weder 1923 noch 2009. Und das tröstet ein wenig.

Wer darunter leidet, dass er nicht Sky Du Mont heißt oder Vanessa Redgrave, lese Gudrun Schurys „Wir heißen Müller“ (Eichborn Verlag): Manch-mal möchte man wehmütig darüber werden, dass einem das Schicksal keinen klangvollen Nachnamen mit auf den Weg gegeben hat. Wäre es nicht viel attraktiver, wenn man zu Guttenberg, di Lorenzo, Labbadia oder von der Leyen hieße? Gegen das Hadern mit dem eigenen Namen hilft vielleicht der Hinweis auf so erfolgreiche Allerweltsvertreter wie Helmut Schmidt oder Michael Schumacher – oder ein Blättern in „Wir heißen Müller“, dem nützlichen Nachschlagewerk der Bamberger Literaturwissenschaftlerin Gudrun Schury, die alles über diesen so weit verbreiteten Namen weiß. Was es mit seiner Herkunft auf sich hat und welche bedeutenden Menschen sich mit ihm schmücken: Fußballer Gerd Müller, Milchunternehmer Theo Müller, Ministerpräsident Peter Müller, Musiker Marius Müller-Westernhagen, Loriots Badewannen-held Müller-Lüdenscheid… Und heißt nicht auch die „Hinz&Kunzt“-Chefredakteurin Müller?

RAINER MORITZ, 1958 in Heilbronn geboren, leitet das Literaturhaus Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er „Ich Wirtschaftswunderkind. Mein famoses Leben mit Peggy March, Petar Radenkovic und Schmelzkäseecken“ (Piper Verlag). Wer weitere 66 Leseempfehlungen von ihm haben möchte, lese seine „Überlebensbibliothek. Bücher für alle Lebenslagen“ (Piper Verlag).

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Gottesanrufung I

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Er hatte mich in das Kreuzberger Café bestellt und ei-ne Geschichte versprochen, die ich in den Grenzen der Schicklichkeit verwerten könne. Sein Anruf kam ungele-gen, ich wollte an meinem freien Tag einfach nur zu Hause sitzen und Videofilme ansehen. Doch er ließ sich nicht auf später vertrösten. Seine Cousine, so viel wollte er mir schon verraten, war von einem anständigen Jungen „sehr ange-tan“, sie konnte jedoch als gläubige Muslimin keine nor-male Liebesbeziehung eingehen. Das heilige Buch gebietet Enthaltsamkeit für Jungfrauen und Junggesellen. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß ich noch nie etwas von männ-lichen Liebeskupplern gehört hätte. Es war ihm ernst, und ich mochte seine Bitte nicht abschlagen, wir verabredeten uns für den frühen Nachmittag in einem Kaffeehaus, das von arrivierten Jungtürken frequentiert wird. Sie führen ih-re Freundinnen aus und verhalten sich wie frisch graduierte Bildungsbürger, die gelernt haben, daß man sprechenden Frauen nicht auf die Lippen, aber in die Augen schaut. In dieser Enklave der guten Umgangsformen finden sich aber auch deutsche Pärchen ein. Die Deutschen entspannen sich in fremden Milieus bemerkenswert schnell, und es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wieso der Anblick von banalem kalten Hirtensalat sie in eine derart gute Laune versetzen kann.Ich bin vor der Zeit gekommen und sitze ohne große Emp-findungen auf meinem Platz. Die Kellnerinnen laufen in weißen Schürzen von einem Tisch zum anderen, sie lassen sich gern in einen Plausch verwickeln. Eine besonders schö-ne Frau an einem Fensterplatz zieht ihren Lidstrich nach, unsere Blicke treffen sich, und sie lacht sich von mir los und nippt an ihrem Tee, in den sie einen Zuckerwürfel hat fal-len lassen. Vielleicht, denke ich, werde ich im Laufe dieses Tages gute Laune bekommen, und aus Übermut klaube ich eine Münze aus meiner Hosentasche und balanciere sie auf meinem Zeigefinger. Als ich aufschaue, steht Osman vor mir, er besitzt die Gabe, sich lautlos anzuschleichen oder ganz plötzlich zu verschwinden. Wir begrüßen uns auf althergebrachte Weise, wir besiegeln den Handschlag mit einer kurzen Umarmung. Ich will wissen, was seine Geschäfte machen und ob er seinen Frieden mit den Ange-stellten in seiner Videothek gemacht habe. Die Einnahmen seien lausig, türkische Filme würden nicht mehr ausge-liehen, und die Clubmitgliedschaft in einem der großen Videoverleihläden sei um einiges attraktiver. Im Gegenzug fragt er mich nach den Verkaufszahlen meiner Bücher, ich

verspreche, den Verlagsbetrieb davon zu überzeugen, daß man Osman einen Stapel zukommen läßt. Er hält es für ei-ne zündende Geschäftsidee, meine Bücher neben der Kasse zu plazieren – bestimmt würden sie besser weggehen als in einer Buchhandlung. Als ein Hund an seinem Hosenbein schnüffeln will, gibt er ihm einen Tritt in die Flanke und achtet nicht auf den bösen Blick der Besitzerin.Das sind unreine Tiere. Wo sie hausen, ist den Engeln der Eintritt verwehrt.

Ich glaube nicht, daß die Engel sich von Promenadenmischungen aufhalten lassen, sage ich.

Unser Prophet, Friede sei mit ihm, leitet uns an, die Gegen-wart von Hunden zu meiden, sagt Osman. Wenn sich ein Köter an dir reibt, mußt du die rituelle Waschung für die Gottesanbetung noch einmal vornehmen. Ein Hund ist ein Flohbeutel und steckt dich mit Krankheiten an.Du lebst im falschen Land, Osman.

Den Eindruck habe ich auch, sagt er.

Langsam füllt sich das Café mit jungen Pärchen, es ist die sogenannte Stunde des Liebesschwurs. Es heißt, der Mann solle nach der Schattenfarbe der Abenddämmerung gehen: wenn sich ein weißer Faden von einem schwarzen nur mit Mühe scheiden lasse, seien die Frauenherzen für Anrufungen besonders empfänglich. Beim Anblick der abtrünnigen Orientalen überkommt mich für einen Mo-ment das Gefühl, es werde ein schlimmes Ende mit uns allen nehmen. Vielleicht bin ich einfach nur verstimmt über diesen störrischen Feierabendgläubigen, der mir ge-genübersitzt und glaubt, Hunde gehörten aus Gründen der Hygiene gesteinigt.Also, deine Cousine hat sich verliebt, und ich freue mich für sie. Was verlangt sie aber von mir?Du sollst über die rechte Wahl der Worte räsonieren und einen Brief an diesen Jungen aufsetzen. Sie möchte, daß der Junge versteht, wie es um ihre Liebe steht. Der Brief darf ihn natürlich nicht ermutigen, sich gewisse Freiheiten zu nehmen. Diese Art von Liebe würde unter einem Unstern stehen.Was soll das heißen?

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Kein Sex. Keine körperliche Annäherung. Meine Cousine legt Wert darauf, daß du dem Jungen eine wichtige Regel klarmachst: Sie ist unberührbar, bis sie auf den richtigen Mann trifft.Er ist also nicht unbedingt ihre große Liebe.Nein, ich denke nicht.Wieso ist deine Cousine nicht selber erschienen und hat dich vorgeschickt?Sie ist kein schamloses Mädchen!Das habe ich auch nicht behauptet, sage ich schnell, aber du mußt zugeben, daß wir uns in einer komischen Situation befinden. Zwei Männer stecken die Köpfe zusammen, um einem dritten Mann – dem Liebhaber, der keiner sein darf – eine Mitteilung über die platonische Liebe einer Frau zu machen. Das nennt man Gruppenbild ohne Dame.Meine Cousine ist eben ein anständiges Mädchen.Ist in Ordnung, sage ich. Es würde mir nicht einfallen, das in Zweifel zu ziehen. Deine Cousine hätte doch auch einer Freundin die Rolle der Liebesbotin antragen können.Die Zeiten ändern sich, sagt Osman. Die Frauen klatschen gerne, und das Gerücht macht schnell die Runde. Sie setzt großes Vertrauen in mich – und auch in dich, mein Freund!

Ich werde das Beichtgeheimnis hüten, sage ich.Am liebsten würde ich es hinausschreien, ich möchte mich nicht für eine Frau verwenden, die ich, wenn mich nicht alles täuscht, nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen habe. Osman hatte mich zum Opferfest nach Hause einge-laden, seine Eltern, beide Analphabeten, sollten einen ech-ten Schriftsteller kennenlernen und bitte schön aus meinem Munde erfahren, daß man nicht nur als Kfz-Mechaniker-Meister oder Fließbandarbeiter gutes Geld verdiente. Die Wohnung war voll mit Verwandten beider Elternteile, die Kinder tollten herum und wurden halbherzig zur Ord-nung gerufen. Zur Begrüßung gab ich Osmans Cousine die Hand, sie schlug die Augen nieder, und ich kam mir vor wie Dreck. Unter strenggläubigen Moslems ist es nicht üblich, Frauen die Grußhand entgegenzustrecken. Sie hatte mir erklärt, daß das animalische Wesen des Mannes sehr reizbar sei, daher habe sie auch nach einem sündigen Leben den Schleier angelegt und einen bedingten Triebverzicht akzeptiert. Sie konvertierte zur Orthodoxie, weil sie vom Hurendekor loskommen und die Gotteszeichen entziffern wollte. Es hörte sich jedenfalls sehr poetisch an, damals, ich prägte mir ihre Worte genau ein, und da sie auf offene Oh-ren stieß, erzählte sie, daß sie sogar eine Wallfahrt zu einem heiligen Mann unternommen und an dessen Grabstelle ei-nen Fetzen Stoff mehrfach geknotet habe. Weil die Seele des in Sünde verstrickten Menschen wie ein Hundemaul stinke, weil es auch ihr nicht anders gegangen sei, habe sie einen radikalen Schnitt gemacht: weg vom Fleisch, hin zu Gott.Willst du uns jetzt den Gefallen tun?, sagte Osman, ich möchte eigentlich ungern zur Eile antreiben.

Was kannst du mir über den Jungen sagen?Er wohnt in derselben Straße wie meine Cousine. Er will hoch hinaus, er studiert Betriebswirtschaft und hält auch die Regelstudienzeit ein …

Ein Streber also, sage ich.

Nicht unbedingt. Er hat eben keine Lust, in die Fußstap-fen seines Vaters zu treten. Oder findest du es besonders fortschrittlich, dich in einer verdammten Montagehalle kaputtzumachen?Da ist was Wahres dran. Wie haben sich die beiden ken-nengelernt?Gar nicht. Sie haben vielleicht vielsagende Blicke ausge-tauscht. Meine Cousine ist sich sicher, daß auch er ent-brannt ist. Er wird rot, wenn ihn Frauen ansprechen.Ach, du meine Güte.Außerdem hat er zur Zeit keine Freundin, ich habe mich schon erkundigt.Osman, du weißt, ich halte schüchterne Studenten für Spie-ßer. Deine Cousine in allen Ehren, aber kann sie sich, sagen wir einmal, nicht einen reiferen Mann aussuchen?Sie schwört auf die Romantik …Na, wir doch auch, sage ich.Sie hat sich aber nun mal in diesen Anfänger verknallt. Sie sagt, der Mann darf seine Jungfräulichkeit nicht bei dem erstbesten Luder verlieren. Die Konkubinen leben in Schan-de, ob Mann oder Frau, das ist egal.Sie ist aber sehr schnell zur Hand mit dem Vorwurf, dieser oder jener Mensch sei lasterhaft, sage ich.Die Geschichte nimmt eine unangenehme Wendung, was soll der ganze Unsinn. Ich wünschte, Osmans Cousine säße mir gegenüber und ich könnte ihr ins Gesicht schreien, daß sie als bigotte Jungfer eher in Dämonenspeichel badete, als den Geboten des Herrn zu folgen. Diese Sprache würde sie verstehen und im Geiste ihren Sündenkatalog durchgehen, um mich vielleicht einen Unentschiedenen zwischen Gut und Böse zu schimpfen.Wie wär’s denn damit: Deine Blicke gingen mir durch Mark und Bein. Ich weiß, du liebst mich, und ich hege für dich ähnliche Gefühle. Wir wollen uns treffen und ansehen, doch mehr kann ich auch für später nicht versprechen …Das geht nicht, sagt Osman. Es müssen Worte sein, die ihn sofort verhexen. Außerdem muß der Brief mehr Harmo-nien enthalten.Harmonien? Wir stellen dem armen Kerl eine Falle! Sie verlangt von ihm, daß er sich in das Schicksal eines Harem-eunuchen freudig fügen soll. Ich glaube, deine Cousine möchte einfach angeschmachtet werden, sie hat zu viele Groschenhefte gelesen.

Du magst sie nicht besonders, oder?

Osman, Hand aufs Herz. Wie würdest du reagieren, wenn du einen solch frommen Antrag bekämest? Eine Liebe mit Spielregeln, zwei unberührbare Körper, die einander Ge-

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dichte aufsagen, aber verschlüsselt sprechen, damit auch ja kein sündiger Gedanke aufkommt. Was würdest du machen?Ich würde durchdrehen. Das habe ich ihr aber auch gesagt.Und?Sie meinte, ich würde nicht in ihrem Körper stecken, und nicht die Frauen, sondern die Männer müßten gezähmt werden. Sie sagte: Ich will mich an den Männern rächen, daß ich meine Haare verstecken muß und keinen auffäl-ligen Nagellack auftragen kann.Der Junge kann doch nichts dafür. So, wie du ihn mir beschrieben hast, wird er keine Einwände haben, wenn sie barhäuptig herumläuft.Es ist aber nun mal so verfügt worden. Sie befürchtet, daß die Ehrbaren ihr die Achtung versagen, wenn sie den Schlei-er wieder ablegt. Ihre Ungunst kann töten.Ich schreibe gern Liebesbriefe. Oder Bittbriefe an die deut-schen Behörden. Aber beides in einem Federstrich, das ist mir unmöglich.Osman verschränkt die Hände auf dem Tisch und scheint über meine Worte nachzudenken. Schließlich ringt er sich zu einer Entscheidung durch.Ich werde meiner Cousine von dir ausrichten, daß du die Informationen aus erster Hand haben möchtest. Wenn sie weiter auf diesem komischen Brief besteht, kommen wir wieder zu dritt zusammen. Vielleicht treffen wir uns das nächste Mal bei mir, das ist ein neutrales Gelände, und ihr Vater kommt nicht auf falsche Gedanken. Soll mir recht sein, sage ich.Bestimmt hat sie sich dann entliebt, sagt Osman, oder es ist ihr klargeworden, daß sie ihn auch gleich persönlich ansprechen sollte.

Und was ist, wenn es für den Jungen kein Zurück mehr gibt?Dann hat er eben Pech gehabt, sagt Osman, Pech macht reif, und seine nächste Freundin wird davon profitieren. Später kann er sich damit brüsten, daß eine Frau, die vor die Wahl gestellt wurde, sich für Gott oder die Liebe zu entscheiden, ihm den Laufpaß gab. Damit wird er bei den Frauen punk-ten und das Pech in Glück verwandeln. Eigentlich ist er in einer beneidenswerten Situation.

aus: Feridun Zaimoglus Erzählband „Zwölf Gramm Glück“ © 2004/2005 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

FERIDUN ZAIMOGLU, 1964 im anatolischen Bolu geboren, kam 1965 mit seiner Familie nach Deutschland und lebt in Kiel. Der Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist wurde mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet. Für seinen 2008 erschienenen Roman „Liebesbrand“ erhielt er den Corine-Preis.

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Der sechste Geburtstag

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Alfred hatte den Vorschuß bekommen. Er hatte ihn mir nicht gleich gegeben, als er von der Arbeit kam; er hatte das Geld bei sich behalten bis zum nächsten Morgen, und da erst, als ich ihn zur Tür brachte und er mich zum Abschied küßte wie früher, gab er mir den offenen Umschlag. Ich spreizte den Umschlag mit zwei Fingern auseinander, sah rasch, daß es lauter kleine Scheine waren, wollte ihm einen Schein davon geben, doch er schüttelte lächelnd den Kopf, klopfte mit den Fingerkuppen auf seine Brusttasche, als ob er auf ein Geheimnis anspielte, auf eine geheime Barschaft. Ich wußte, daß er log, und ich wollte ihm einen Schein in die Jackentasche stecken. Er fing meine Hand ab, schob sie zurück und sagte ruhig: „Kauf ihm ein Geschenk, Maria, das schönste, das du findest. Frag ihn noch einmal, was er sich wünscht, und dann kauf es ihm. Ich laß mir die letzten Stunden freigeben.“ Ich versprach es ihm, und ich versprach, nichts zu trinken an diesem achtzehnten April, den wir uns auserwählt hatten, um Richards sechsten Geburtstag zu feiern. Zuerst hatten wir den Geburtstag Anfang Mai feiern wollen, wenn Alfred sein Gehalt bekommen hätte, doch der Arzt meinte, je früher, desto besser, und so hatten wir Richard an einem Mittwoch damit überrascht, daß wir am Freitag seinen Geburtstag feiern wollten, und natürlich geriet der Junge außer sich, redete nur noch in Wünschen, die er wachsen und wachsen ließ, ohne einen einzigen zu verwerfen. Ich staunte manchmal darüber, woher er wußte, was alles man sich wünschen konnte, mir wären so viele Wünsche nicht eingefallen, ich komme immer in Verlegenheit, wenn ich Wünsche äußern soll. Nachdem Alfred gegangen war, räumte ich die Wohnung auf, duschte, zog das blaue Kostüm an und ging ins Kin-derzimmer, wo Jutta am Fußende von Richards Bett stand und schweigend die Bewegung von Tieren nachmachte, die sie ihn raten ließ; natürlich versuchte Jutta, ihn seine Un-terlegenheit spüren zu lassen, indem sie darauf achtete, daß ihre Bewegungen nicht eindeutig, unmittelbar bezeichnend waren, weswegen es ihm auch nicht gelang, das gemeinte Tier zu nennen. Ich unterbrach ihr Spiel. Ich zog Jutta an mich, spürte ihren drängenden unwillkürlichen Wider-stand, doch ich ließ sie nicht los, zog sie zum Kopfende des Bettes. Alles an ihr verriet eine unerhörte Aufmerksamkeit,

eine fast feindliche Wachsamkeit, und wenn ich manchmal ihr elfjähriges Gesicht sah, erkannte ich das Alter in ihm. Ich hielt sie sehr fest und hörte Richard fragen: „Wann geht der Geburtstag los?“, und ich hörte mich antworten: „Am Nachmittag, wenn wir alle zusammen sind.“ „Gut“, sagte er, „dann paß bloß auf, daß ’n rotes Tischtelephon dabei ist: das wünsch ich mir nämlich auch noch. Wenn das nicht dabei ist, will ich auch nichts anderes.“ Ich nickte und ließ alles offen, glaubte sicher zu sein, daß er die früher geäu-ßerten Wünsche längst vergessen hatte, und ich bat Jutta, bei ihm zu bleiben, und ging, um für die Geburtstagsfeier einzukaufen.

Die Straßenbahn war überfüllt, aber ich mußte sie nehmen, denn der Bus war fort, und ein kleiner Alter mit Igelgesicht und Knopfaugen drängte mich durch den Gang nach vorn.

Er sabberte und saugte an einer Zigarre, die er nie aus dem Mund nahm, paffte stoßweise kleine Wolken in meinen Nacken, drückte seine Aktentasche gegen mein Gesäß. Die Luft war warm und verbraucht. Beim Anfahren ruckte die Bahn so stark, daß die Stehenden gegeneinandergeschubst wurden, und dabei stemmte der Alte seinen Ellenbogen gegen meine Hüfte. Ich hatte Mühe, mein Gesicht vor einer Berührung mit einem feuchten, stark riechenden Feder-gewirr zu bewahren, das eine Frau vor mir auf ihrem Hut trug. Meine Knöchel schwollen, meine Lippen brannten. Auf einem Plakat empfahl ein genußerfahrener Kahlkopf die Vorzüge einer Matratze. Ich sah auf meine Hand hinab, sah, daß sie zitterte, und wußte, warum ich dieser Fahrt sowenig gewachsen war; mit einem einzigen Schluck hätte ich sie leichter ertragen. Ich stieg nicht vorzeitig aus, fuhr durch bis zum Haupt-bahnhof und verließ dort die Straßenbahn und prüfte mein Gesicht im Spiegel eines Pfefferminzautomaten, flüchtig, nicht unzufrieden, da flogen Sandspritzer gegen meine Beine, gelber, ganz und gar künstlich anmutender Sand, den ein junger Arbeiter geworfen hatte. Der Junge lag auf

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den Knien in seiner schwarzen Manchesterhose, er verlegte dort Platten, zementfarbene Rhomboide, die er behutsam festklopfte. Er lächelte mir zu, schnell und gemein, und fuhr augenblicklich in seiner Arbeit fort. Ich ging zu den großen Kaufhäusern hinüber, sah mich auf mich selbst zukommen in der Schaufensterscheibe und mußte die Augen schließen in dem Strom von warmer Luft, der aus dem Eingang der WUKA herausdrang. Ein festlich gekleideter, scharf gekämmter Mann trat auf mich zu, ich verstand kaum ein Wort, blickte nur auf seine belegte Zun-ge: er wies mir den Weg zur Spielwarenabteilung. Er hielt mir die Tür zum Lift auf, der mich in den dritten Stock brachte, in dem die Stimmen, die Schritte und Bewegungen mich weniger verwirrten, erträglicher waren. Das Licht bil-dete glänzende Lachen auf dem Fußboden des sehr großen Raumes. Eine Verkäuferin schritt langsam auf mich zu, musterte mich herablassend.

„Bitte?“ fragte sie in einem Ton, als sei mein Besuch ihr lästig, und ich sagte: „Ich weiß noch nicht. Darf ich mich mal umsehn?“ – Mit einem hochmütigen Nicken teilte sie mir ihr Einver-ständnis mit und schritt würdevoll zu ihrer Kollegin zu-rück. Sie schenkte mir keinen Blick, als ich an den Ständern mit Bällen vorbeiging, weiter zur Puppenabteilung und zu den Regalen mit Stofftieren. Achtzig Mark lagen in dem weißen Umschlag, ich war entschlossen, sie auszugeben, und ich wußte, daß dies in Alfreds Sinne war. Die erste Schwäche trat in dem Augenblick auf, als ich die Sheriff-Uniform sah, den Pistolengurt, die ärmellose Jacke und den goldenen Stern; es war die Uniform, die er sich gewünscht hatte, doch ich sah ihn darin keine Viehdiebe zuhauf treiben oder schulpflichtige Bankräuber durch das Treppenhaus verfolgen, vielmehr sah ich Richard in der Uniform im Bett liegen, ein sehr leichter, regloser und sehr apathischer Sheriff, so geschwächt durch die Leukämie, daß er nicht einmal die Pistole halten konnte. Ich kaufte die Uniform nicht. Ich hielt mich an der Tonbank fest und kaufte sie nicht.

Die Verkäuferin beobachtete mich jetzt.

Ich bat sie herüber, ließ mir ein Xylophon zeigen mit gol-denen und silbernen Scheiben, fragte, nur um etwas zu fragen, ob man das Instrument einem sechsjährigen Jungen schenken könnte, der seinem Alter voraus sei, worauf die Verkäuferin mir wortlos die Klöpfel gab und mich auffor-derte, den Klang auszuprobieren. Ich ließ die Klöpfel auf die

Scheiben fallen, lauschte der schwebenden Heiterkeit der Töne, und konnte mich nicht zum Kauf entschließen. Die Verkäuferin zeigte mir lustlos einen Modellbaukasten, der Richard angeleitet hätte, ein Schiff, den ersten atomgetrie-benen Frachter der Welt, auszuschneiden, maßstabgerecht zu leimen, und wieder wagte ich nicht den Kauf: ich sah das zusammengeleimte Pappmodell in seinem Zimmer stehen, sinnlos und ohne Eigentümer, nur eine zusätzliche Erinne-rung, und so winkte ich ab. Ich wußte, unter welchen Umständen mir ein Kauf leichter gefallen wäre. Die Schwäche kehrte wieder, eine kleine un-bestimmte Übelkeit. Meine Haut sträubte sich gegen etwas oder verlangte etwas. Ich spürte ein wohlvertrautes Schwin-delgefühl. Ungeduldig wandte die Verkäuferin sich ab, und ich blickte zur Galerie der Stofftiere, und auf einmal hatte ich tatsächlich den Eindruck, als duckten sie sich, kauerten sich zusammen aus Furcht, von mir gekauft zu werden. Plötzlich fragte die Verkäuferin: „Wie wär’s mit einer Ei-senbahn? Davon wurde noch kein Junge enttäuscht.“ „Er hat sie sich sogar gewünscht“, sagte ich, und das zurecht-weisende Lächeln der Verkäuferin besagte: Warum-denn-nicht-gleich-so? Sie führte mich zu einer Tischplatte, auf der eine Eisenbahn montiert war, drückte gleichgültig auf einen Knopf, und darauf setzten sich Züge in Bewegung, Signale schnellten hoch, kleine Birnen flammten auf, doch da hatte ich schon das Interesse verloren: die Bahn kostete über zweihundert Mark. Und ich dachte daran, daß in einem halben oder einem dreiviertel Jahr, wenn geschehen wäre, was der Arzt vorausgesagt hatte, die ganze Apparatur in eine Kiste und auf den Boden wandern würde, in eine endgültige Dämmerung, in ein ungestörtes Vergessen. Ein billigeres Modell, das nur zweiundsiebzig Mark kosten sollte, wollte ich nicht kaufen, ich weiß nicht mehr, wa-rum. Ich dachte an Richard, an die Arglosigkeit, mit der er darauf eingegangen war, seinen Geburtstag, der auf den zweiten September fiel, am achtzehnten April zu feiern; kein Zögern, kein Bedenken, kein Mißtrauen waren auf seiner Seite gewesen, im Gegenteil; als wir sagten, Freitag hast du Geburtstag, da rechnete er so mit planlosem Eifer an seinen Fingern, blickte auf und nickte, als müsse er das Datum bestätigen. Nur Jutta war eingeweiht; wir hatten ihr nicht gesagt, warum wir den Geburtstag um Monate vorverlegt hatten, wir hatten ihr nur zu erkennen gegeben, daß es sehr notwendig sei, und sie war bereit, zu schweigen und mitzuspielen. Auf einmal erschien es mir zweifelhaft, ob ich mich über-haupt für einen Kauf würde entscheiden können, und ich erwog, Alfred in seinem Übersetzerbüro anzurufen und ihn zu bitten, herüberzukommen. Die Uniformen, Mu-sikinstrumente, Modellbaukästen und Eisenbahnen – sie

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kamen mir als Geschenk ungeeignet vor, sinnlos, nicht dem Zustand des Jungen angemessen. Etwas hinderte mich daran, zu kaufen, was Richard sich selbst gewünscht hatte, ein Gefühl, ein jäher Argwohn, wir könnten uns bloßstel-len mit einem ungeeigneten Geschenk. Da Alfred sich den Nachmittag freinehmen wollte, gab ich den Plan wieder auf, ihn jetzt herüberzubitten, und ich ging an den Ständern und Regalen entlang, prüfte, verwarf, erwog und verwarf abermals, bis ich in einem Holzkasten das rote Tischtele-phon entdeckte. Ich kaufte es, ohne nach dem Preis zu fra-gen, zum Telephon gehörte eine fünf Meter lange, rot-weiß geflochtene Schnur, es lief über Batterien, und man konnte wirklich mit ihm von Zimmer zu Zimmer telephonieren. Es kostete zweiundvierzig Mark. Ich spürte eine unerwartete Erleichterung, nun, nachdem ich das erste Geschenk, das wichtigste Geschenk, besorgt hatte. Die schmerzhafte Spannung ließ nach, die Emp-findlichkeit meiner Haut, und es gelang mir mühelos, ein Zeichenbuch, einen Farbkasten und ein Spiel – „Der klei-ne Bergsteiger“ – auszuwählen. Während die Geschenke eingepackt wurden, bezahlte ich und behielt zwölf Mark zurück und beschloß, einen Kaffee zu trinken, bevor ich nach Hause fuhr.

Im achten Stock hat die WUKA ein Restaurant, ich fuhr mit dem Lift hinauf, wunderte mich, wie gut das Restaurant schon am Vormittag besucht war, wie viele Leute schon am Vormittag warme Mahlzeiten aßen.

Ich fand nur noch einen leeren Tisch in der Mitte, setzte mich und wartete auf den Kellner, indem ich die Getränke-karte las, las bis zu dem Augenblick, in dem ich mich dringend beobachtet fühlte. Was war denn geschehen, was wollten sie alle von mir? Wodurch erregte ich ihr Interes-se? Alle an den Nebentischen, kleine untersetzte Frauen, alte Männer, selbst Kinder musterten mich, nicht lächelnd oder beiläufig, sondern befremdet fast, mit interessiertem Befremden. Ich konnte ihr Interesse weder erklären noch zurückweisen, ich mußte schlucken, mein Gesicht brannte. Da kam der Kellner, und ich hörte mich sagen: „Kaffee-Kognak“, hörte ihn diese Worte gleichgültig wiederholen, und ich hob die Tasche mit den Geschenken auf meinen Schoß, machte mich sinnlos, für die andern unerkennbar, an den Päckchen zu schaffen. Die Blicke wurden noch strenger, das Interesse noch for-dernder, als der Kellner mir auf einem Kunststoff-Tablett Kaffee, Kognak servierte: was wollten sie nur von mir? Mei-

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12. Juli 2009

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ne Hand bewegte sich zur Tasse, sie zitterte, doch ich konnte die Bewegung nicht widerrufen. In kurzen Schlucken trank ich von dem heißen Kaffee, setzte die Tasse ab, sah auf das Kognakglas, auf dessen Rand die leicht schwappende Flüssigkeit eine Spur hinterlassen hatte wie von langsamen, öligen Tropfen. Ich berührte das Glas nicht. Ich zahlte und ging; fuhr mit dem Lift hinab, prüfte in einem beschrifteten Spiegel mein Gesicht und fand keinen Grund für die Aufmerksamkeit, die ich hervorgerufen hat-te. Im Bus, der mich nach Hause brachte, nahm niemand Notiz von mir, und auch Jutta, die mich bei meiner Rück-kehr mit ihrer stumm befragenden Skepsis empfing, fiel nichts an mir auf. Sie nahm mir die Tasche ab, verschwand damit in der Küche, wo gleich darauf Papier knisterte, woher ein unterdrückter Ausruf zu hören war und besagte, daß sie dabei war, die Geschenke für Richard auszupacken. Sie war mit den Geschenken einverstanden. Sie gefielen ihr so sehr, daß sie mich bat, ihr zum Geburtstag die gleichen Dinge zu schenken, einschließlich des Würfelspiels „Der kleine Bergsteiger“.

Ich versprach es ihr, und dann bereiteten wir gemeinsam das Essen vor.

Alfred kam pünktlich. Er hatte etwas von sich aus gekauft, eine Taschenlampe mit Gummikanten, die Jutta sogleich zu den andern Geschen-ken legte. Er küßte mich an der Tür, so wie früher. Er schien mir anzusehen, daß ich mein Versprechen gehalten hatte, jedenfalls unterließ er es, sich zu vergewissern. Vieles an seiner Art und an seiner Haltung erinnerte mich an früher, half mir in vieler Hinsicht, um diesem Tag, diesem sechsten Geburtstag gewachsen zu sein. Nach dem Essen zog Richard sich an und wurde aus dem Kinderzimmer verbannt. Alfred war bei ihm, während ich mit Jutta die Vorbereitungen zur Feier traf: wir machten aus der Lampe einen Lampion, zogen Konfettischlangen durch das Zimmer, deckten den Tisch und legten einen Halbbogen aus Blumenköpfen dort, wo Richard sitzen würde. Jutta stand viel herum und beobachtete mich bei den Vorbereitungen, und auf einmal sagte sie: „Vielleicht freut er sich gar nicht.“ „Warum“, sagte ich, „warum soll er sich nicht freuen?“ „Wenn er merkt, daß heute gar kein Geburtstag ist.“ „Er hat selbst nachgerechnet“, sagte ich, „und deshalb wird er nichts dagegen haben.“ „Aber der Tag stimmt nicht“, sagte sie, „eigentlich muß er noch warten bis zum September.“ „Er kann nicht warten“, sagte ich. „Und wir?“ fragte sie. „Wir tun, was er sich gewünscht hat“, sagte ich, „wir feiern seinen Geburtstag.“

Ich merkte, daß Jutta mit unserer Entscheidung nicht ein-verstanden war, daß sie einen Vorbehalt machte und sich am liebsten geweigert hätte mitzufeiern, nicht weil es ihr schwerfiel, Richard diesen Tag zuzugestehen, als vielmehr deshalb, weil wir diesen Tag nicht an seinem ordentlichen Datum feiern wollten. Ich mußte sie bitten, mußte sie sogar verwarnen, in unserem Sinne mitzuspielen. Danach spürte ich solch ein Schwindelgefühl, daß ich ins Badezimmer ging, Wasser über meine Handgelenke laufen ließ. Ich ver-sicherte mich, daß mein heimlicher Vorrat noch in seinem Versteck war, rührte jedoch nichts an. Bevor die Feier begann, steckte Jutta die Kerzen an, und wir holten Richard und Alfred herüber, und Alfred mußte vor unseren Augen, unter dem Gelächter des Jungen, zunächst eine Blume essen, weil er eine Wette verloren hatte. Er aß sie unter fröhlichen Krümmungen und Verrenkungen. Richard klatschte dazu. Dann gab es die Geschenke, das heißt, wir führten Richard zu einem Stuhl, und er fetzte das Papier nur so herunter, sagte kein Wort, sah sich nicht um, arbeitete hastig und verbissen, hielt sich mit keinem Ge-schenk, das er ausgewickelt hatte, auf, sondern nahm gleich das nächste Päckchen zur Hand. Mit zufriedenem Nicken legte er die Geschenke auf den Fußboden, schnell, aber nicht achtlos, und zuletzt packte er das rote Tischtelephon aus: jetzt sah er sich zum ersten Mal um. Er setzte sich auf den Boden, hob den Hörer ans Ohr, lauschte, winkte uns, ganz still zu sein, verzog sein Gesicht, lächelte und sagte: „Ich höre ihn. Ich höre ihn genau.“ „Was sagt er denn?“ fragte Alfred. „Es geht ihm gut“, sagte Richard. Alfred bückte sich, nahm den Hörer, lauschte und sagte: „Er meint, wir sollten jetzt den Geburtstagskuchen pro-bieren; er will sich erst wieder melden, wenn wir gegessen haben“, worauf Richard nur einmal kurz lauschte und die Auskunft bestätigte.

„Ich möchte ihn auch einmal hören“, sagte Jutta. „Jetzt nicht“, sagte Richard, „er ist fort. Jetzt sagt er nichts.“

Mit einer unduldsamen Bewegung verbot er ihr, den Hörer aufzunehmen, und wir setzten uns an den Tisch, aßen Apfelkuchen und tranken Kaffee, und Alfred zwinkerte mir zu wie einst. „Ich werde die Schnur verlegen“, sagte er, „ich ziehe sie von hier bis zur Küche, und dann werden wir sprechen.“ „Nicht nötig“, sagte Richard, „ich höre ihn auch so. Ich hör ganz genau, was er sagt.“ „Du kannst gar nichts hören“, sagte Jutta, „denn zuerst muß das Telephon ange-schlossen werden. Und es muß jemand mit dir sprechen.“ „Mit mir hat jemand gesprochen“, sagte Richard, „er hat ge-sagt, es geht ihm gut.“ Eine heimliche Erregung ergriff ihn,

er weigerte sich zu essen, wartete widerwillig, bis wir fertig waren und er zu seinem Telephon zurückkehren konnte. Alfred und er verlegten sodann die rot-weiße Schnur, sie reichte über den Korridor in die Küche, und wir hatten kei-ne Möglichkeit, das Geschirr hinauszutragen: wir durften uns nicht bewegen, durften nicht sprechen, als die Verbin-dung erprobt wurde. Beide Türen wurden geschlossen, die Telephonierenden lagen auf dem Fußboden in der Küche und im Kinderzimmer, und die Lautstärke, in der sie sich verständigten, hätte ausgereicht, vier Türen zu überwinden. Lächelnd gab Alfred mir den Hörer, blieb neben mir hocken, und während ich mich bei Richard brüllend erkundigte, wie das Wetter bei ihm sei, stützte Alfred mich und hielt mich fest. Da war wieder der Druck auf dem Magen, ich ließ ihn weitersprechen, erhob mich, ging hinaus auf den Korridor und öffnete behutsam die Tür zum Kinderzimmer, öffnete sie nur, ging aber nicht hinein, sondern lehnte mich auf-gerichtet gegen die Wand. „Ich auch einmal“, sagte Jutta, „bitte, laß mich auch einmal.“ Richard antwortete nicht, und ich hörte Jutta drängen: „Bitte, Richard, jetzt bin ich dran. Du darfst auch mit meinen Sachen …“ „Weg“, sagte Richard, „laß mich.“ „Gut“, sagte Jutta, „dann sag ich dir, was du nicht weißt: du hast heute gar nicht Geburtstag! Es stimmt nicht, es stimmt nicht: dein Geburtstag ist im Sep-tember.“ Ich ging nicht zu ihnen hinein, wartete auch nicht auf Richards Antwort, die Übelkeit wurde so groß, daß ich ins Badezimmer ging, nicht einmal abschloß, sondern ein-fach nur einen Schluck nahm und die Flasche sofort wieder wegstellte und auf den Korridor trat, wo ich Richard brüllen hörte, begeistert, dem Spiel hingegeben. Ich wischte mir die Lippen ab, zündete eine Zigarette an, als Alfred lächelnd aus der Küche kam, auf Zehenspitzen zu mir, dann etwas flüstern wollte und es nicht tat, sondern einfach an mir vor-beiging, als hätte er mich gar nicht dort stehen sehen.

© 1964 by Siegfried Lenz, 2009 neu erschienen in „Der Anfang von etwas“, Meistererzählungen bei Hoffmann und Campe

SIEGFRIED LENZ, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, zählt zu den bedeutendsten und meistgelesenen Schriftstellern der Gegenwartsliteratur. Lenz wurde nicht nur mit dem Goethepreis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, sondern auch 2009 mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte. Zu seinen bekanntesten Werken zählt der Roman „Deutschstunde“.

Wir verlosen drei Exemplare der Novelle „Schweige-minute“ von Siegfried Lenz (Hoffmann und Campe). Die ersten drei Anrufer gewinnen! Telefon: 32 10 83 10.

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Heiraten

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Zuerst erfuhr es der Steuerberater. „Lieber Herr Ludwig“, schrieb Richard in eine E-Mail, „nun habe ich mich doch zur Ehe entschlossen. Gibt es den Splitting-Vorteil auch bei Ausschluss der Zugewinngemein-schaft?“ Eigentlich hatte sich Nicola geschworen, niemals zu hei-raten. Richard, der selbst nie ernsthaft über das Heiraten nachgedacht hatte, fand ihre Argumentation schlüssig. Aus Liebe heiraten, hatte sie gefragt, welchen Sinn solle das ergeben? Eine funktionierende Liebe brauche weder einen Knebelvertrag, noch ein Aushängeschild. Und sämtliche Gründe jenseits der Liebe seien schlecht. Geld, ungewollte Schwangerschaft, Druck aus der Familie. Das könne nur Unglück bringen.„Wir können die Trauung im Schloss Mühldorf organisie-ren“, sagte die Dame vom Standesamt am Telephon. „Bis zu 500 Gäste, 1000 Euro. Oder im Herrenhaus, 200 Gäste, 500 Euro. Hier bei uns haben wir den kleinen Festsaal. 50 Gäste, 200 Euro.“ Richard wechselte den Hörer ans andere Ohr. „Und wenn man einfach nur – heiraten will?“ „Nun ja, das Amtszimmer.“ Die Dame klang beschämt. „Das haben wir ein wenig herrichten lassen, aber schön ist es nicht. Und es passen nur sechs Gäste rein.“

„Wir sind zu zweit“, sagte Richard.

Im Grunde war es wegen der Intensivstation. Wenn dir was zustößt, hatte Nicola eines Abends gesagt, lassen sie mich nicht zu dir. Alles würde deine Mutter entscheiden. Sogar über Leben und Tod. Sie saßen über abgegessenen Tellern bei ihrem Lieblingsitaliener. Nicolas Wangen waren gerötet

vom Wein, und ihre Augen glänzten aufgrund der Kerze, die zwischen ihnen stand. Auch wegen Erbsachen, kam Richard ihr zur Hilfe, sei eine Heirat vielleicht von Vorteil. Dann könne er endlich den Zettel in seiner Schreibtisch-schublade wegwerfen. Nicola wollte wissen, was auf dem Zettel stehe. Wenn ich tot bin, sagte Richard, soll alles Ni-cola gehören. Der Rest der Welt soll sich verpissen. Nicolas Augen glänzten noch stärker, und sie nahm seine Hand und küsste sie.

„Wo habt ihr eigentlich damals geheiratet?“, fragte Richard seinen Vater am Telephon.

„Warum fragst du nicht deine Mutter?“, erwiderte der Va-ter. „Es war doch ihre bescheuerte Idee.“„Ich dachte, du könntest es mir sagen.“ „Wozu willst du das überhaupt plötzlich wissen?“ Richard schwieg. Die Familiensituation war schwierig, bei ihm genau wie bei Nicola. Sie hatten verabredet, es heimlich zu tun.

„Nicht so wichtig“, sagte er und legte auf. Minuten später klingelte das Telephon.

„Ich weiß es“, sagte der Vater. „Du brauchst den Ort unserer Hochzeit, weil du deine Abstammungsurkunde anfordern willst. Du hast beschlossen, dich zu verheiraten. Hinter dem Rücken deiner Familie.“

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Budnikowsky und Hinz&Kunzt laden zum Fotowettbewerb ein!

Die Jury: Juana Bienenfeld, Fotoreferentin der Behörde für Kultur, Sport und Medien Hamburg; Prof. Ute Mahler, Fotografin und Professorin HAW; Prof. Hubertus Gaßner, Direktor Kunsthalle Hamburg; Olff Appold, Fotograf; Mauricio Bustamante, Fotograf

„Macht jetzt bitte kein Drama“, sagte Richard. Noch am gleichen Abend riefen seine jüngeren Schwestern an. Die eine lebte in München, die andere in Berlin. Sie hat-ten volle Terminkalender und mussten frühzeitig wissen, wann die Feier sei. „Das ist wieder typisch für dich“, sagte Nicola. „Du tust immer so lässig, und dann hängst du doch drin in der ganzen Familienscheiße.“ Ihre Unterlagen hatte sie schon beisammen.

Richard fragte, ob sie nicht vielleicht doch eine kleine Feier machen könnten, nur im engsten Kreis, die Eltern, die Schwestern … Aber es war kein guter Moment, um darüber zu reden.

„Und wen würde ich dazu einladen?“, schrie Nicola. „Meine Mutter oder meinen Vater? Du weißt genau, dass die beiden seit zwanzig Jahren nicht miteinander reden. Muss ich mich dann für einen entscheiden, nur weil ich heiraten will?“ „Wann kommst du mich mal wieder besuchen?“, fragte Richards Mutter am Telephon. Sie hätten damals in Felda-fing geheiratet, am Starnberger See, Hals über Kopf und ziemlich romantisch. Warum ihn das interessiere. Er sagte es ihr. „Nein!“ Die Mutter klang entsetzt. Ob er ohne Ehe nicht glücklich sei? „Mach das nicht“, sagte sie. Richard bat sie, sich aus seinen Angelegenheiten herauszu-halten. Die Mutter begann zu weinen. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte der Herr in der Abteilung

Familienbuch im Standesamt Feldafing. „Die Dokumente schicke ich Ihnen zu. Für Sie und Ihre Adoptiveltern wird das bestimmt ein Freudentag.“ „Adoptiveltern?“, fragte Richard. Die Lebensgefährtin von Richards Vater erklärte, der Vater könne gerade nicht ans Telephon kommen. Bei der Mutter klingelte es durch. Von den Schwestern erreichte Richard nur eine. Erst erklärte sie ihn für verrückt, dann war sie fassungslos. „Das könnte auch Lucy und mich betreffen“, rief sie auf-geregt. „Vielleicht sind wir alle gar nicht miteinander verwandt!“ Richard fand, dass das manches erklären würde. Seine Schwester bat ihn, die Hochzeitsfeier zu verschieben. Er sagte, dass keine Feier geplant sei. Diese Reaktion fand sie nun auch wieder übertrieben. Er sagte, er habe ohnehin von Anfang an vorgehabt, ohne Familie zu heiraten. Die Schwester wurde schweigsam in der Leitung. Ein bisschen, sagte sie schließlich, habe sie schon immer geahnt, dass er nicht ihr richtiger Bruder sei. „Freu dich doch“, sagte Nicola. „Ich würde jubeln, wenn ich rausfände, dass ich nicht die Tochter meiner Eltern bin.“ Sie saßen über unberührten Tellern bei ihrem Lieblings-italiener. Richard stützte den Kopf schwer in die Hände. Man habe ihn sein Leben lang belogen. Nun sei rückwir-kend seine ganze Biographie zusammengebrochen. Nicola bat ihn, sich am Riemen zu reißen. „Das ändert doch nichts“, sagte sie.

„Das ändert alles“, sagte er.

In der Abstammungsurkunde, die zwei Tage später im Briefkasten lag, stand der Name seiner richtigen Eltern. Franz Schön und Charlotte Schön, geborene Haberle. Bis

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jetzt hieß Richard mit Nachnamen Kindermann. Richard Schön, dachte er. Und Nicola Schön. Das klang wunder-bar. „Spinnst du“, sagte Nicola. „Ich behalte sowieso meinen eigenen Namen. Was ist denn auf einmal los mit dir?“ Er wolle seinen Urlaub in drei Wochen nutzen, um seine richtigen Eltern zu suchen.

„In drei Wochen“, sagte Nicola, „sind wir auf Hochzeitsreise. Dachte ich.“ Sie schwiegen eine Weile. Draußen liefen Regentropfen über die Scheibe und klopften aufs Fensterbrett. Ob sie das nicht verstehen könne, fragte Richard. Sie verstehe jetzt vor allem, dass ihm seine Familienangelegenheiten wichtiger seien als sie, sagte Nicola. In dem Fall fände sie es besser, das Ganze sein zu lassen. Richard fragte, was sie mit „das Ganze“ meine. „Es betrifft nur dich“, sagte Lucy am Telephon. Anschei-nend komme es gar nicht selten vor, dass Paare nach einer Adoption doch noch eigene Kinder bekämen. Ob er und Nicola eigentlich welche wollten? „Nicola und ich haben beschlossen, uns eine Weile nicht zu sehen“, sagte Richard. In dieser schwierigen Phase sei das erst einmal besser so. Lucy erklärte, für sie mache es keinen Unterschied, ob Richard ihr leiblicher Bruder sei oder nicht. Da sie einander ohnehin nie besonders nahe gestanden hät-ten, spüre sie jetzt keinen Unterschied.

Franz Schön lebte in Recklinghausen. Das hörte man am Telephon. Richard war so durcheinander, dass er nur fragte, ob Charlotte Schön zu Hause sei. Franz rief hinter sich in die Wohnung. Als Charlotte sich mit „Ja?“ meldete, legte Richard auf. Danach war es totenstill im Raum. Richard wusste, dass er nicht noch einmal anrufen würde. Nicola hatte schon in der Tür gestanden, ihren Reiseruck-sack auf dem Rücken und die Hand auf der Klinke, als sie ihm etwas beichtete. Seit Jahren habe sie heimlich davon geträumt, eine Familie mit ihm zu gründen. Aber sie habe nichts forcieren wollen. Nun zeige sich ja, wie richtig ihre Bedenken gewesen seien. „Ein Traum“, hatte sie gesagt, „ist eben noch lange keine gute Idee.“ Dann war sie gegangen. Die Totenstille, in der Richard neben dem Telephon saß, war das Geräusch ihrer Abwe-senheit.

Aus: CI-Magazin © by Juli Zeh

JULI ZEH, geb. 1974 in Bonn, Jurastudium und Diplomstudi-engang am Deutschen Literaturinstitut Leipzig; seit 2005 arbeitet sie als Dozentin an deutschen Hochschulen im Bereich Literatur-wissenschaften. Für ihre Publikationen wurde sie mit unterschied-lichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2009 mit dem Carl-Amery-Literaturpreis. Zu ihren Veröffentlichungen zählen unter anderem „Die Stille ist ein Geräusch“ (2002) und „Spieltrieb“ (2004). Juli Zeh schreibt außerdem für Zeitschriften wie „Spiegel“ und „Stern“.

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Steffen sieht ihn von Weitem. Er steht zwischen zwei Schaufenstern dicht an der Hauswand, trägt eine Schild-mütze und hält eine Zeitschrift in der Rechten, die er den Passanten diskret entgegenhält, wenn sie auf seiner Höhe sind. Der Mann verkauft das Strassenmagazin. Ein Ar-beitsloser. Steffen ist versucht, auf die andere Strassenseite zu wech-seln. Nicht, weil ihn die fünf Franken reuen würden, er ist nicht knauserig. Doch die Begegnung hätte er ganz gerne vermieden. Nicht die mit dem Mann, die mit dem Phäno-men. Aber das Reformhaus, in dem er für Rosemarie die Bachblüten abholen soll, liegt auf dieser Seite, zehn Meter nach dem Arbeitslosen. Jemand, der ihn dabei beobachtet, wie er eine verkehrsreiche Strasse zweimal überquert, nur um einem Strassenmagazinverkäufer aus dem Weg zu ge-hen, könnte daraus falsche Schlüsse ziehen. Zum Beispiel, dass er dem Thema aus dem Weg gehen wolle. Weil es für ihn eines sei. Oder werden könnte. Das wäre natürlich Unsinn, Steffen befindet sich in gefes-tigter Stellung im oberen Middlemanagement, zwar nicht gerade unkündbar, aber ziemlich unersetzlich. Er bleibt also auf Kurs. Am besten, er kauft eines. Damit würde er beweisen, dass das Thema ihn zwar berührt, aber nicht betrifft. Einfach kurz stehen bleiben, die Münze übergeben und das Maga-zin entgegennehmen. Die Abwicklung eines alltäglichen Geschäfts zwischen zwei normalen wenn auch ungleichen Handelspartnern. Vielleicht sollte er das Geld bereithalten, sonst verwickelt ihn der Handelspartner womöglich in ein Gespräch, wäh-rend Steffen danach sucht. Er möchte lieber nicht dabei beobachtet werden, wie er auf einem von Berufstätigen bevölkerten Trottoir in ein Gespräch mit einem Arbeitslo-sen vertieft ist. Sonst sieht das so aus, als mache er sich mit dessen Situation vertraut. Nur: Wie wirkt es, wenn er im Gehen fünfzehn Meter vor der Begegnung mit einem Unbeschäftigten den Schirm in die andere Hand wechselt und sein Portemonnaie aus der Hosentasche fischt? Weshalb, würde sich ein zufälliger Beobachter fragen, weshalb wird dieser Businessman beim

Anblick eines aus dem Erwerbsleben Geschiedenen plötz-lich so nervös? Hat er etwas mit der Sache zu tun? Wahrscheinlich ist es am unverfänglichsten, wenn er den Mann übersieht. Nicht absichtlich. Einfach, weil er als Füh-rungspersönlichkeit mit den Gedanken beim Job ist. Das könnte allerdings auch den Eindruck erwecken, er verdränge ein gesellschaftliches Problem. Doch Steffen ist kein Verdränger. Schon gar nicht von Problemen, die ihn persönlich nicht betreffen. Er wird eines kaufen. Er wird stehen bleiben, sein Porte-monnaie zücken und den Handel ganz unbefangen ab-schliessen. Allerdings müsste er es unmittelbar danach diskret ent-sorgen. Ein Strassenmagazin kaufen ist eine Sache. Mit einer Arbeitslosenfachzeitschrift unter dem Arm erwischt werden eine ganz andere.

Vielleicht sollte er lieber den Kaufpreis aushändigen und auf das Produkt verzichten.

In diesem Moment bleibt eine Frau beim Verkäufer stehen und beginnt in ihrer Handtasche zu kramen. Steffen be-schleunigt den Schritt und geht vorbei. Schlange stehen, um eine Arbeitslosenzeitschrift zu kaufen, wäre dann doch etwas übertrieben. Schliesslich ist er ein – sorry, lieber Arbeitsloser – vielbe-schäftigter Mann.

Aus: Martin Suter, Unter Freunden und andereGeschichten aus der Business Class© 2007 by Diogenes Verlag AG Zürich

MARTIN SUTER, geboren 1948 in Zürich, ist Schriftsteller, Kolumnist und Drehbuchautor. Bis 1991 verdiente er sein Geld auch als Werbetexter und Creative Director, bis er sich ganz dem Schreiben von Büchern widmete. Zuletzt erschien der Roman «Der letzte Weynfeldt». Suter lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Spanien und Guatemala.

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Andere Seiten

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„Nein, Prinzessin, du und ich, wir können nicht zusammenkommen.“

„Vor ein paar Jahren habe ich bei einem Kumpel im Bücher-regal ,Im Rotlicht‘ gesehen – die Biografie der Kiezgröße Stefan Hentschel. Mein Kumpel wollte mir das absolut nicht leihen. ,Es ist nicht gut für dich, wenn du das liest‘, hat er gesagt. Das hat mich erst recht neugierig gemacht. Ich kann es nicht leiden, wenn mir jemand was verbietet. Irgend-wann habe ich mir das Buch einfach genommen. Es ist zu einem meiner Lieblingsbücher geworden. Diesen Hentschel kannte ich vorher gar nicht. Es ist spannend, wie er erzählt, wie das war auf dem Kiez. Wie er da reingerutscht ist, als er bei einem Boxkampf ein Mädchen gewonnen hat. In der Biografie wird nichts beschönigt. Er erzählt, wie er bei einer Messerstecherei ein Auge verloren hat, genauso wie davon, dass er geweint hat, als sein Hund starb. Er hat eine Menge Blödsinn gemacht, aber hat eben auch menschliche Seiten gehabt. Ungefähr zwei Jahre, nachdem ich das Buch gelesen hatte, ist er gestorben. Hat sich erhängt. Als ich davon ge-hört habe, hat mich das doch sehr berührt. Komisch – ich kannte ihn doch gar nicht wirklich.“

FÜR ALLE, FÜR DIE DER HAMBURGER KIEZ NICHT NUR EINE TOURISTENATTRAKTION IST:Im Rotlicht. Das explosive Leben des Stefan Hentschel, von Ariane Barth. Erschienen im Ullstein Verlag als Taschenbuch, 8,95 Euro.

„Im Anfang war der Zufall, und der Zufall war bei Gott, und Gott war der Zufall.“

„Eins meiner Lieblingsbücher: Das berühmte Buch ,Der Würfler‘. Es erzählt die Geschichte eines Psychiaters. Er ist verheiratet und beruflich läuft es eigentlich auch gut. Aber irgendwie ist ihm das alles langweilig. An einem Abend ist er mit seiner Frau zum Essen bei den Nachbarn eingeladen. Danach geht seine Frau gleich ins Bett, er genehmigt sich noch einen Whisky. Aus Versehen schmeißt er einen Spiel-würfel vom Wohnzimmertisch, und der verschwindet in der Sofalandschaft. Während der Mann ihn sucht, sagt er sich: ,Wenn bei dem Würfel die Eins, Zwei oder Drei oben liegt, gehe ich jetzt sofort ins Bett. Liegt die Vier, Fünf oder Sechs oben, gehe ich hoch und vergewaltige die Nachbarin.‘Von da an lässt er sein ganzes Leben von Würfeln be-stimmen – privat und in seiner Praxis. Und das nimmt so manch spannende Wendung. Von diesem Prinzip wird der Leser schließlich selbst süch-tig, lässt zum Beispiel seine Wochenendplanung plötzlich von Würfeln bestimmen. Spannend ist es natürlich nur dann, wenn man sich auch unangenehme Alternativen auf-erlegt. Probieren Sie es selbst einmal aus. Da fühlt sich ein kalter Würfel in der Hand plötzlich an wie ein glühendes Stück Kohle. Mir wurde klar, wie Sucht entstehen kann.“

FÜR ALLE, DIE MANCHMAL DENKEN, DASS DAS LEBEN ZU VORHERSEHBAR IST: Der Würfler, von Luke Rhinehart. Eine Neuauflage erscheint im September im Mitteldeutschen Verlag, 14,90 Euro.

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„Das hier ist ganz und gar nicht, was ich erwartet hatte.“

„Es gibt eine nette Geschichte zu meinem Lieblingsbuch ,Die Letzten ihrer Art‘. Ich war mal mit meinem Kumpel beim Arbeitsamt. Das Buch hatte ich mitgenommen, um mir die Wartezeit zu verkürzen. Die Geschichte ist so ko-misch, ich musste immer wieder auflachen. Das hat meinen Kumpel neugierig gemacht. Also habe ich angefangen, laut vorzulesen – eigentlich nur ihm. Schließlich haben alle Leute im Wartebereich gebannt zugehört. Die waren so gefesselt von der Geschichte, die wollten schließlich gar nicht mehr aufstehen, wenn ihre Nummer aufgerufen wurde. Werde ich nie vergessen, diesen Tag, und das Buch natürlich auch nicht.“

FÜR ALLE, DIE GERNE LAUT LACHEN:Die Letzten ihrer Art – Eine Reise zu den aussterbenden Tieren un-serer Erde, von Douglas Adams und dem Zoologen Mark Carwar-dine. Als Taschenbuch im Heyne Verlag erhältlich, 8,95 Euro.

„Der Kopf des Ü-30ers ist ein Ozean der Weisheit.“

„Ich liebe Bücher, für die man alles stehen und liegen lässt, einen Tag im Bett verbringt und Verabredungen absagt – das sind besondere Leseerlebnisse. Aber mein derzeitiges Lieblingsbuch ,Ü-30-Krankheiten‘ funktioniert anders: Das ist ein Buch, in das man immer wieder hineinliest, aus dem man Passagen beim Frühstück zum Besten gibt und das perfekt für Zwischendurch ist. Der Ratgeber nimmt alles aufs Korn, was Menschen in der Mitte ihres Lebens bewegt (Jugendwahn, Schönheitswahn, Partnerwahn), all die Themen, mit denen man sich vor 20 Jahren bestimmt nicht beschäftigt hätte (Gesundheitswahn, Fitnesswahn, Erfolgswahn) – und das Schönste: Die Lektüre setzt viele Assoziationen frei, auf wen die ,Krankheiten‘ passen könnten. Freunde, Kollegen, Familienmitglieder und Leute, die man noch nie verstanden hat.“

FÜR ALLE, DIE NICHT DARAN DENKEN, DIE HERBST-LICHEN GEFILDE DES LEBENS ANZUSTEUERN: Ü-30-Krankheiten, von Nina Puri. Ganz neu bei Droemer Knaur erschienen, 12,95 Euro.

„Gelegentlich wird man unfreiwillig zum Star eines öffentlichen Auftritts, spielt man die Hauptrolle in seiner eigenen kleinen Komödie, seiner Tragödie oder seines Melodrams.“

„,Drei Wünsche frei‘ ist ein Roman über eine durch-geknallte Familie aus Sidney, rund um die 34-jährigen Drillingstöchter. Die sehen zwar gleich aus, sind aber jede für sich Originale. Mit diesem Buch habe ich einen Schnell-Lese-Rekord aufgestellt. Ich wollte mich einfach, als ich einmal angefangen hatte, in jeder freien Minute von der guten Laune dieses Buches anstecken lassen.“

FÜR ALLE, DIE UNTERHALTUNG LOCKER-LEICHT LIEBEN:Drei Wünsche frei, von Liane Moriarty, als Taschenbuch von Lübbe, 7,95 Euro.

„Ich finde die Pest zum Kotzen.“

„Ich lese täglich. Und wenn ich ein Buch erst mal in die Hand genommen habe, kann es sein, dass ich es die ganze Nacht nicht mehr weglege. Für mich ist der absolute Super-hit ,Die Knebel von Marvelon‘. Das ist so lustig! Es ist so eine Art historischer Roman, aber total unhistorisch. Die Geschichte spielt 1536. Da erfinden irgendwo im Hessischen zwei Frauen aus Versehen die Antibabypille. Das gibt natür-lich Ärger mit der Obrigkeit, und die beiden müssen fliehen. Unterwegs gesellen sich zu ihnen nicht nur ein Scharfrich-ter und ein depressiver Hofnarr, sie treffen auch noch Mar-tin Luther, Paracelsus und Kapitän Ahab. Und Störtebeker, auch wenn der schon längst tot sein müsste.“

FÜR ALLE, DIE DENKEN, DASS GESCHICHTE NICHT LUSTIG SEIN KANN: Die Knebel von Marvelon, von der Hamburger Autorin Steffi von Wolff. Erschienen im Fischer Verlag als Taschenbuch, 7,95 Euro.

„Der Schrecken, der weitere 28 Jahre kein Ende nehmen sollte – wenn er überhaupt je ein Ende nahm –, begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen von Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb.“

„Ich lese ,Es‘ gerade schon zum fünften Mal. Vor ungefähr drei Jahren habe ich den Film gesehen. Den fand ich schon so toll; mir gefällt dieses Unheimliche. Da hat meine Mutter mir geraten, auch das Buch zu lesen. Das war ein guter Tipp. Man fängt an, ,Es‘ zu lesen und kann nicht mehr aufhören – obwohl es einem totale Angst einjagt. Ich lese das Buch immer wieder, wenn ich gerade kein anderes neues da hab. Und ich nehme es überall hin mit – egal, wo ich in den letz-ten Jahren untergekommen bin. “

FÜR ALLE, DIE LUST HABEN, SICH MEHR ALS 1000 SEITEN LANG ZU GRUSELN: Es, von Stephen King, erschienen als Ullstein Taschenbuch, 12,95 Euro.

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Die Frau am Fenster

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Seit Jahren war sie nicht mehr um diese Zeit zu Hause gewesen, schon gar nicht an Werk-tagen, wenn die Zubringer rauschten und die Stadt unter einer Glocke aus dröhnendem Dunst versank. Sie spürte die Arbeit der an-deren bis in ihre Wohnung hinein, in der sie die Lichter brennen ließ, damit sie ihr nicht so fremd erschien. Erst jetzt fing sie an zu verste-hen, was es hieß, in dieser Siedlung zu leben. Außer ihr und ein paar Putzfrauen existierte hier zwischen acht und achtzehn Uhr kein Mensch.

Die Zeit war nicht das Problem, sie verschwand einfach.

Was sie wunderte, war die Vielzahl von Leu-ten, die an die Haustür kamen, Paketboten, Drücker, Spendeneintreiber. Hatte sich nicht herumgesprochen, daß es hier in der Gegend nichts zu holen gab? Oder konzentrierten sie sich auf die wenigen Häuser, in denen es Zei-chen von menschlichem Leben gab? Wußten sie etwa von ihr? Sie beschloß, die Vorhänge tagsüber nicht mehr zu öffnen. Es kostete zuviel Kraft, all die Briefzustellungen und Päckchen abzuwehren, die an Nachbarn adres-siert waren, die sie nie zu Gesicht bekam. Ihr Zuhausesein machte sie angreifbar.

Sie hatte nicht mitgezählt, was für ein Tag heu-te war, aber sie spürte, wie das Wasser in den Leitungen einmal mehr aufhörte zu zirkulie-ren und das ganze Gebäude verstummte. Der kurze Schlagabtausch der Autotüren auf dem Parkplatz, startende Motoren in der Frühe, hier und da ein singender Keilriemen, dann schloß sich die Stille um sie wie eine Faust.Es war gegen elf, als der Mann mit dem Pony klingelte. Sie sah ihn durch den schmalen Vor-hangschlitz, den sie gelassen hatte. Er drückte

auf dem Klingelbrett herum und schwenkte seine Sammelbüchse vor der Gegensprechan-lage, wie um sich Gehör zu verschaffen. Seine bunte Weste erinnerte an einen Mexikaner, war aber vermutlich Zirkustracht. Sie hatte augenblicklich den Geruch von feuchten Säge-spänen in der Nase.Der Mann klingelte immer noch einmal, er war hartnäckig. Vielleicht wußte er Bescheid über sie, vielleicht war er auch einfach nur verzweifelt. Für einen Moment befürchtete sie, das Pony, das er an einem Strick mit sich zog, könnte ihren Blick bemerken. Doch das Tier mit der farblosen, filzigen Mähne schüttelte sich nur einmal kurz und schaute dann weiter mit glasig bis milchigen Augen stumpf vor sich hin. Sie verharrte an der kühlen Fensterscheibe regungslos, atmete kaum. Dann zog der Pony-Mann weiter. Für elf Uhr am Vormittag war es merkwürdig dunkel. Es fing an zu regnen.Die Frau mit dem Schirm sah aus, als bräuchte sie Hilfe, deswegen ging sie die wenigen Stufen durchs Treppenhaus und öffnete die Haustür eigenhändig. Vielleicht war eine Stunde ver-gangen, vielleicht auch mehr. Sie brachte es nicht fertig, sich noch länger tot zu stellen. Der Frau war die Störung sichtlich unangenehm. In ihrem runden, dicklichen Gesicht zeigte sich echte Verzweiflung darüber, daß sie als Bittstellerin von Tür zu Tür gehen mußte. Ein Namensschild auf Brusthöhe wies sie als Leite-rin einer Beratungsstelle aus.Die Stadt habe die Zuschüsse für ihre Einrich-tung um die Hälfte gekürzt, unter diesen Um-ständen könne sie ihre Arbeit nicht fortsetzen, sie habe nicht einmal genügend Helfer, um Spenden einzuwerben, sondern müsse außer-halb der Sprechstunden selber Klinken putzen gehen. Dafür sei sie nicht ausgebildet, sie könne das nicht. Sie sei Akademikerin.Ihr zuzuhören, tat ausgesprochen gut – es han-delte sich um eine gebildete Frau, zweifellos. Sie hätte sich gern länger mit ihr unterhalten,

ihr vielleicht sogar die eine oder andere Frage gestellt. Doch schon nach wenigen Sätzen wur-de ihr kalt. Sie entschuldigte sich und schloß die Tür.Danach war sie merkwürdig aufgekratzt. Die Frau mit dem Schirm tat ihr aufrichtig leid, und so schwebte sie eine Weile durch ihre Wohnung, getragen von einer Woge des Be-dauerns und der Überlegenheit. Wenn jemand unsicher wirkte, gab ihr das Sicherheit, wenn jemand verzweifelte, wurde sie stark. Das war noch immer so.

Der Regen hatte zugenommen. Unter der tiefhängenden Wolkendecke war die Stadt verschwunden. Der Mann in der signalroten Rettungssani-täter-Jacke kam mitten hinein in ihren Tanz, sonst wäre sie nie so übermütig gewesen, ihm gegenüberzutreten. Es regnete inzwischen in Strömen, und sie wunderte sich zum ers-ten Mal, seit sie hier wohnte, daß bei einem Neubau wie diesem niemand an ein Vordach gedacht hatte. Sie konnte den Mann nicht her-einlassen, das war klar.„Danke, daß Sie mir überhaupt aufmachen“, sagte er, als sie sich ihm in den Weg stellte, „Ihre Nachbarin hat mich nur vom Fenster aus gesehen und den Kopf geschüttelt, sie hielt es nicht einmal für nötig, zur Tür zu kommen.“Der Mann im Regen sah sie an, sie, zwischen Tür und Angel, nickte nur. Er wirkte resigniert, fast verbittert, aber vielleicht gehörte das zu seiner Masche. Von einer Nachbarin um diese Zeit hatte sie noch nie etwas gehört. Er mußte sie erfunden haben. Dennoch hatte sie augen-blicklich das Gefühl, auf der moralisch rich-tigen Seite zu stehen. Ihr gefiel der Gedanke, besser zu sein als ihre Nachbarin, ob es sie nun gab oder nicht.

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„Ich würde Sie ja hereinbitten“, fuhr sie fort, „aber ich habe den Kleinen gerade erst beru-higen können, und er hat einen sehr leichten Schlaf.“ Sie sagte ihm, was sie allen sagte. Dann hob sie wieder den Kopf.„Wie alt ist denn Ihr Kind?“„Sieben Wochen“, erwiderte sie, ohne überle-gen zu müssen.„Wir hatten auch mal eins, meine Lebensge-fährtin und ich“, der Mann streckte ihr den Quittungsblock entgegen und einen Kugel-schreiber.„Hatten?“„Es wurde überfahren, als es drei war, von einem betrunkenen Jugendlichen in einem gestohlenen Wagen, der von der Fahrbahn abkam. Es war sofort tot.“Der Regen ergoß sich unnachgiebig und hatte den Quittungsblock bereits aufgeweicht. Sie fing an zu schreiben. „Schrecklich“, flüsterte sie, „das muß schrecklich für Sie sein.“„Ja“, sagte der Mann unverändert, sicher hörte er das nicht zum ersten Mal, „meine Lebens-gefährtin hat es nicht verkraftet, sie ist in psychiatrischer Behandlung. Für mich war es leichter. Ich habe beruflich jeden Tag mit dem Tod zu tun.“Sie wollte einwenden, daß es ja wohl etwas anderes sei, ob man es mit fremden Verkehrs-opfern zu tun habe oder mit dem Verlust des eigenen Kinds. Aber ihr fehlten die Worte oder der Mut dazu. Sie füllte das Formular weiter aus.

„So richtig?“ fragte sie.

„Sie müssen dort unterschreiben“, deutete er auf den untersten Abschnitt, der sich vor Nässe wellte. Die Brille des Mannes tropfte unentwegt, ein kleines Rinnsal schlängelte sich über den Bügel an seinem Ohr vorbei und lief ihm in den Kragen, ohne daß er eine Miene verzog.Warum setzt er nicht wenigstens seine Kapuze auf, dachte sie ein weiteres Mal, wie lange will er denn noch herumlaufen in diesem Zustand, aber sie fand, daß sie kein Recht hatte, ihn das zu fragen.Zweimal mußte sie ihre Unterschrift nach-zeichnen, weil der Kugelschreiber auf dem nassen Papier nicht schrieb. Dann gab sie dem Sanitäter den Block zurück. In der Spalte für den Monatsbeitrag hatte sie zehn Euro einge-tragen. Jetzt schämte sie sich dafür. Es sah so aus, als hätte sie die Summe verdoppelt, weil er ihr leid tat – fünf Euro extra für sein totes Kind. Sie hoffte sehr, daß er sie belog und sich die Geschichte nur für sie ausgedacht hatte.Der Mann reichte ihr eine Durchschrift, die nahezu unleserlich war. An der Abrißstelle lö-ste sich das Papier in seine Bestandteile auf.„Wenn Ihnen oder Ihrem Kind etwas zustoßen

sollte, auch im Ausland“, erläuterte der Mann, „haben sie durch Ihre Mitgliedschaft einen Anspruch auf Krankentransport in unseren Einsatzwagen.“

Sie sah ihn an, als hätte sie nicht richtig gehört. Redete er wirklich von ihrem Kind, davon, daß ihm etwas zustieß?„Sie bekommen von uns einen Mitglieds-ausweis zugeschickt, der Sie zur kostenlosen Nutzung berechtigt“, fuhr der Mann geduldig fort, „bitte führen Sie ihn immer bei sich, das erspart Ihnen und uns allerlei Ärger vor Ort, falls Sie den Wagen einmal brauchen.“„Wir wollen’s nicht hoffen“, sagte sie ohne jede Freundlichkeit. Sie war jetzt fest entschlossen, ihm nicht zu glauben, kein einziges Wort. Wo war der Krankenwagen beim Tod seines Kin-des gewesen, wo war er, als es ihn brauchte?„Also dann, schönen Tag noch und alles Gute für Sie und Ihr Kind!“ Der Mann tippte zum Abschied mit zwei Fingern an seine Schläfe und zog dann den Kopf ein, um in den Regen zu tauchen. Die Steinplatten schwammen un-ter seinen Schritten.Sie sah ihm nach, bis er in der nächsten Ein-fahrt verschwunden war. Im ersten Moment verspürte sie das dringende Bedürfnis, bei sämtlichen Nachbarn zu klingeln und zu fragen, ob er ihnen allen dieselbe Geschich-te erzählt hatte. Aber da war niemand, das wußte sie. Sie reckte noch einmal das Kinn und lauschte nach einem Geräusch aus ihrer Wohnung. Dann schloß sie die Tür und ging zurück in die Stille.

JOHN VON DÜFFEL, geboren 1966 in Göttingen, promovierte über Erkenntnistheorie und war danach als Theater- und Filmkritiker und als Übersetzer tätig. Im Thalia Theater in Hamburg hat er sich als Dramaturg einen Namen gemacht. Unter anderem hat er Thomas Manns „Buddenbrooks“ auf die Bühne gebracht. 1998 schrieb er seinen Debütroman „Vom Wasser“, eine Hommage an das fließende Element, wofür er unter anderem den aspekte-Literaturpreis des ZDF erhielt. Auch sein Roman „Houwelandt“ erntete begeisterte Kritiken. Elke Heidenreich sagte über das Buch: „Wir denken immer, die großen Familienromane können nur die Amerikaner oder Thomas Mann schreiben – das ist falsch: Von Düffel kann es auch!“ Zuletzt erschien sein Roman „Beste Jahre“ (2007).

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„Wenn Sie sich das einmal ansehen wollen …“ Der Mann kramte eine leicht verblaßte Bro-schüre mit Fotos von einem Rettungsfahrzeug hervor und hielt sie ihr hin. „Der Wagen selbst ist leider rund um die Uhr im Einsatz. Wir werden ständig gebraucht.“Sie wunderte sich, warum er dann hier in voller Montur von Haus zu Haus ging, anstatt Men-schen zu retten. Nicht auszuschließen, daß er gar kein echter Sanitäter war.

„Was kann ich für Sie tun“, erkundigte sie sich matt und schaute an dem Mann vorbei in den Regen, der in geraden Bahnen fiel.

Es ging um Spenden für den Rettungsdienst einer Wohlfahrtsorganisation, die Schwie-rigkeiten hatte, ihren Fuhrpark zu erhalten. Menschenleben hingen davon ab, beteuerte der Mann. Er trug eine rechteckige Brille. Seine Augen hinter den klobigen Gläsern wirkten groß und treuherzig, offenbar war er weit-sichtig. Tropfen sammelten sich am unteren Brillenrand.Er setzt seine Kapuze nicht auf, dachte sie, wahrscheinlich will er sich fühlen wie ein be-gossener Pudel, das hilft ihm beim Betteln, er möchte so aussehen wie in Tränen aufgelöst, er ist auf mein Mitgefühl aus.„Alles, was Sie zum Erhalt dieses Fahrzeugs beisteuern müßten, wäre ein Monatsbeitrag im Gegenwert von einem Pfund Kaffee“, erklärte der Mann mit der weinenden Brille.„Was kostet denn ein Pfund Kaffee bei Ihnen?“ Es gelang ihr, den Satz wie einen Scherz klingen zu lassen, doch sie wußte es wirklich nicht. Es war so lange her, daß sie welchen gekauft hatte.„Das kommt darauf an, was für Kaffee Sie bevorzugen, ob aus dem Supermarkt oder dem Feinkostgeschäft …“„Fünf Euro?“ riet sie.„Das wäre kein schlechter Kaffee.“Wollte er sich bei ihr zum Kaffee einladen? Hatte er den Vergleich deshalb ins Spiel ge-bracht, damit sie ihn auf eine Tasse hereinbat? Für einen Moment hielt sie inne und horchte, als hätte sie in ihrer Wohnung ein Geräusch ge-hört. Dann wandte sie sich ihm wieder zu. „Ich trinke keinen Kaffee im Moment, ich stille.“Der Mann sah sie mit hochgezogenen Au-genbrauen an, vielleicht glaubte er ihr nicht, vielleicht war er auch nur überrascht. Traute er ihr nicht zu, Mutter zu sein? Sie senkte den Blick und bemerkte, daß er weiße Arzthosen trug und ebenso weiße Gesundheitsschuhe mit Korksohlen, die völlig durchnäßt sein mußten.

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Heilsbotschaft

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Die drei Männer saßen im fauligen Stroh. Die einzelne Fackel warf zuckende Schatten an die Wände. Hoch oben, gleich unter dem rußgeschwärzten Gewölbe, befand sich ein winziger Luftschacht. Ein schwacher Schimmer des letzten Tageslichtes drang hindurch, zusammen mit dem gleichmäßigen Klang eines Zimmermannshammers. Adam, der Pferdedieb, sah besorgt in das bleiche Gesicht seines Gefährten Godwin, der wegen Wilderei verurteilt war. Sie hatten ihm die rechte Hand abgehackt, und obwohl der Stumpf fachmännisch mit Pech verschmiert worden war, hatte er sich entzündet. Godwin fieberte. „Ich weiß nicht, ob morgen früh noch genug von mir übrig ist, was sie aufhängen können“, murmelte er.„Sie hängen dich auch, wenn du tot bist“, klärte Adam ihn auf. „Das muss alles seine Ordnung haben.“Godwin sah seinen neuen Freund verständnislos an. „Wa-rum fürchtest du dich nicht?“„Wer sagt denn so was“, entgegnete Adam verlegen.

„Wer reinen Herzens ist, braucht den Tod nicht zu fürchten“, sagte unvermittelt der Dritte.

Adam und Godwin schwiegen respektvoll. Dieser sonst so schweigsame Mitgefangene war von weit höherem Stand als sie, hatte aber dennoch die Höflichkeit besessen, sich vorzustellen: Guillaume de Domville, ein normannischer Edelmann, dessen abgewetzter, schwarzer Mantel mit dem einstmals weißen Balkenkreuz darauf selbst den beiden ungebildeten Bauernsöhnen verriet, dass er ein Ritter des heiligen Johannes war. Sie wussten nicht, was er verbrochen hatte, dass man ihm die Schmach antat, ihn Seite an Seite mit einem Pferdedieb und einem Wilderer zu hängen. Alles, was sie auf Adams schüchterne Frage hin erfahren hatten, war, dass er mit dem König im Heiligen Land gekämpft hatte.Draußen war es dunkel geworden, der Hammer war ver-stummt. Die Zimmerleute waren fertig. Adam schauderte. Der Moment, da er die Reise ins Unbekannte antreten

sollte, war wieder ein Stück näher gerückt. Die Gewissheit, dass er nur noch eine Nacht zu leben hatte, lähmte seine Glieder und machte seinen Geist verwegen. Er wandte sich an den Ritter. „Aber ein jeder fürchtet sich vor dem Tod. Liegt es nicht in der Natur der Menschen, leben zu wollen? So wie das Schlachtvieh vor Angst brüllt, wenn es spürt, was die Stunde geschlagen hat? Ich bin sicher, Gott hat seinen Kreaturen den Lebenswillen gegeben.“Der Ritter nickte. „Ganz gewiss. Ich sage lediglich, wer rei-nen Herzens ist, braucht den Tod nicht zu fürchten.“

„Ich höre, was Ihr sagt, aber mir scheint, ich verstehe den Sinn nicht“, gab Adam zurück.

Der Kreuzritter dachte einen Moment nach. „Dann werde ich es dir erklären.“ Ein verheißungsvolles Lächeln lag in seiner Stimme, sodass selbst Godwin sich aufrichtete und ein wenig näher rückte. „Es begab sich, dass zwei Ritter schon zu früher Stunde in der Schenke saßen“, begann der Johanniter zu erzählen. „Keine edlen Herren waren dies, sondern Halunken, roh und lasterhaft, verprassten sie das wenige, was von ihrem letzten Raubzug noch geblieben war. Sie führten kein Gefolge mit sich, bis auf einen Knappen, der ein guter Junge war, jedoch das Unglück hatte, einem der Ritter dienstpflichtig zu sein.Ein Trauerzug kam durch die Gasse vor der Schenke, und dem Sarg folgte ein großes Aufgebot feingekleideter Bür-gersleute.‚Geh und stelle fest, wer da beerdigt wird‘, befahl der eine Ritter seinem Knappen, doch ehe der Junge seinem Auftrag Folge leisten konnte, trat der Wirt herbei und sagte: ‚Ein guter Mann war dies und voller Weisheit. Einer der Väter dieser Stadt. Er lässt eine Frau und fünf Kinder zurück. Der Tod, dieser grausame Geselle, kam einher mit seiner Lanze und streckte ihn nieder.‘‚Der Tod?‘ fragte der zweite Ritter. ‚Wer ist das? Wie kann es sein, dass er ungestraft einen guten Mann aus der Mitte des Lebens reißt?‘

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‚Sollte es wirklich möglich sein, dass Ihr von ihm noch nie gehört habt?‘ verwunderte sich der Wirt. ‚Er treibt schon lange sein Unwesen in dieser Gegend. In einem Dorf nicht weit von hier hat er beinah jeden Mann, jede Frau und jedes Kind geholt, die alle am Fieber litten.‘‚So ist es denn gefährlich, diesem Gesellen zu begegnen?‘ vergewisserte sich der erste.

Der Wirt nickte. ‚Er ist ein Dieb, der Euch das höchste Gut nimmt, das Ihr besitzt.‘

Da berieten sich die Ritter und befanden, dass es ihrem Stand und Ruhm durchaus angemessen wäre, diesen räu-berischen Schurken zur Strecke zu bringen. Sie bestellten neuen Wein und schworen beim Antlitz der Jungfrau und allen Dingen, die heilig sind in dieser Welt, in diesem heh-ren Kampf einander beizustehen wie Brüder. Dann hießen sie den Knappen, die Pferde holen, und brachen auf.Nicht weit hinter der Stadt trafen sie auf einen alten Mann, der schwer auf seinen Stab gestützt des Weges kam. Höflich entbot er den Rittern seinen Gruß.‚Nun, Alter‘, sprach der eine. ‚Was gehst du so gebeugt und hüllst dich ganz in Lumpen? Wie kann es sein, dass du so alt noch immer auf dieser Erde wandelst?‘‚Weil‘, erwiderte der Alte, ‚der gnadenreiche Freund der Menschen, den sie Gevatter Tod nennen, mich nicht haben will. So wandere ich und klopfe mit meinem Stab auf die Erde wie an ein Tor. Doch die Mutter Erde, nach deren Trost und Wärme mich verlangt, kann mich nicht betten, da der Tod mich meidet.‘‚Mir scheint‘, sprach da der zweite Ritter, ‚dass du diesem diebischen Gesellen allzu geneigt bist, sein Spion vielleicht sogar?‘Der Alte sagte weder ja noch nein, lächelte nur und sprach: ‚In meinem Haus ist er willkommen.‘Da drohten ihm die Ritter und verlangten, dass er ihnen auf der Stelle sage, wo sie den Tod denn finden könnten.Der Greis wies auf einen nahen Hügel. ‚Seht Ihr die alte Eiche dort? Wenn es wirklich Eurer Wunsch ist, könnt Ihr ihn dort treffen.‘So begaben die Ritter und der Knappe sich also zu jenem Hügel, und als sie dort ankamen, entdeckten sie einen Beutel Gold am Fuß der Eiche. Da waren ihre Herzen voller Habgier. Sie berieten, was zu tun sei, und schließlich sagte der eine: ‚Nicht weit von hier ist meines Bruders Haus. Dorthin wollen wir den Schatz bringen und aufteilen. Aber wir können dies nicht bei Tageslicht tun; wenn man uns sähe, würde man uns für Diebe halten. Daher schlage ich vor, dass ich mit deinem Knappen hier das Gold bewache. Geh du derweil zurück zur Stadt und hol uns Wein und Essen. Und wenn es dunkelt, bringen wir unseren Fund in Sicherheit.‘Der andere stimmte zu, denn er vertraute auf die Treue seines Knappen und war sicher, seine Gefährten noch an Ort und Stelle zu finden, wenn er zurückkehrte. So brach er auf.Derweil saß der erste Ritter auf dem Goldsack und sprach zu dem Knappen: ‚Wir haben reichlich Gold für drei, doch größer wäre der Anteil, gäb es nur zwei glückliche Finder. Warum töten wir nicht deinen Herrn, wenn er zurück-kommt, und ich will ehrlich mit dir teilen.‘

Doch der Knappe erwiderte: ‚Es wäre nicht recht.‘Unterdessen kam der zweite Ritter in die Stadt, kaufte Wein in der Schenke und ging dann weiter zum Apotheker. Er erklärte, sein Gehöft leide unter einer Rattenplage, und der Apotheker verkaufte ihm ein Mittel. Der Ritter mischte nun das Gift in den Weinschlauch, denn er wollte das Gold nicht mit seinem Gefährten, dem er doch brüderliche Treue gelobt hatte, teilen.So kam er zurück zu der Eiche auf dem Hügel, doch noch ehe er vom Pferd gestiegen war, stürzte der andere Ritter sich auf ihn und stieß ihm den Dolch in die Kehle. Er lach-te, während der Knappe weinend bei seinem erschlagenen Herrn kniete, und nahm den Weinschlauch vom Sattel des Toten. Kaum hatte der Ritter einen Schluck getrunken, spürte er ein bitteres Brennen wie Galle in der Kehle, wand sich bald in Krämpfen und starb.So blieb der Knappe allein mit dem Gold zurück, und er nahm weder Trank und Speise zu sich bis zum Morgen, sondern betete für seinen Herrn und dessen Gefährten. Schließlich sah er einen dürren Wanderer näherkommen, gänzlich verhüllt in einer Kutte aus roher Wolle, und der Junge fragte: ‚Bist du der Tod?‘Der Wanderer nickte und sprach: ‚Aber du hast vor mir nichts zu fürchten. Rühr diesen Wein nicht an. Nimm dein Gold und geh.‘Da lud der Knappe den Goldsack auf eines der Pferde, ritt davon und wurde einer der Edelsten seines Landes.“

Es war lange still in dem hohen Verlies. Schließlich stieß die Fackel ein letztes Zischen aus und verlosch.

Adam tastete nach Godwin, der in einen unruhigen Fie-berschlaf gefallen war. Als er ihn fand, zog er ihn näher und bettete den Kopf des Kranken in seinen Schoß. „Das war eine tröstliche Geschichte“, räumte er ein. „Aber so ist es nicht. Der Tod holt sie alle, die Guten nur zu oft eher als die Schlechten.“„Das ist wahr“, räumte der Ritter ein. „Einen Wilderer, einen Pferdedieb und einen Miles Christi. Schlechtere Männer als wir beherrschen dieses Land, bluten es aus und werden alt. Meine Geschichte war nur eine Parabel.“Adam nickte. „Wie lange noch?“ fragte er nach einer Wei-le.„Vier oder fünf Stunden“, schätzte der Johanniter.Sie sprachen nicht mehr. Adam dachte über die Geschichte des Kreuzritters nach. Er fürchtete sich nach wie vor, aber er war getröstet.

Eine große Menschenmenge umstand den erhöhten Gal-gen, an dem sich drei Schlingen sacht in der Morgenbri-se wiegten. Die Zuschauer waren schweigsam. Zu viele Männer waren in letzter Zeit in Newstead Castle gehenkt worden, und längst nicht alle waren Verbrecher gewesen. Die Menschen von Newstead kamen, um dem Argwohn der Obrigkeit zu entgehen, aber zunehmend beschlich sie das grausige Gefühl, ein jeder von ihnen könnte als nächster an der Reihe sein. Denn es herrschte Willkür im Land. Einzig der Adel, der sich in ungewöhnlich großer Zahl auf der Tribüne eingefunden hatte, um Guillaume de Domville, einen aus ihren Reihen, hängen zu sehen, schien glänzender

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Laune. Die Wachen zerrten die drei Gefangenen die Stufen zum Galgen hinauf, und der maskierte Henker legte ihnen die Schlingen um den Hals, erst Godwin, dann Adam, zum Schluss de Domville. Ein Mönch stand vor ihnen und be-tete: „Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.“Als der Henker seine Schlinge anzog, senkte Adam den Kopf und schloss die Augen.„Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besit-zen“, ereiferte sich der Mönch.„Aber sicher nicht England“, murmelte Godwin an Adams Seite. „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“ „Kommt zum Ende, Vater“, brummte der Henker.„Selig, die reinen Herzens sind…“, fuhr der Pater unbeirrt fort.„Denn sie werden Gott schauen“, beendete der Kreuzritter den Satz.

Der Mönch ließ die gefalteten Hände sinken. „So ist es, Bruder. Aber heute noch nicht.“

Und mit einer Plötzlichkeit, die Adam den Atem verschlug, warf der Mönch seine Kapuze zurück und enthüllte keine Tonsur, sondern einen wirren Zottelkopf. Er zückte einen Dolch aus dem Ärmel und zerschnitt die Fesseln, die de Domvilles Hände banden. Der Ritter zog den Kopf aus der Schlinge und sprang dem Mönch zur Seite, der sich mit den sechs Wachen schlug. Nachdem die Soldaten und der Henker vom Galgen gepur-zelt waren, befreiten der Mönch und der Ritter die beiden jungen Diebe, alle vier sprangen hinab und verschwanden in der Menge, die sie bereitwillig aufnahm und sich sogleich wieder zu einer dichten Mauer schloss, sodass die Verfolger die größte Mühe hatten, hindurchzugelangen.„Das Tor!“, brüllte der Captain der Wache.Aber es war zu spät. Auf zwei Pferden, die nahe dem Tor bereitgehalten worden waren, galoppierten die Flüchtlinge über die Zugbrücke, ehe auch nur jemand die Hand an die Seilwinde des Fallgitters legen konnte, und waren bald darauf unter den ersten Bäumen des nahen Waldes ver-schwunden.Kreidebleich stand der Sheriff auf der Tribüne. Er hatte eine Hand um die Brüstung gekrallt, mit der anderen wies er auf das finstere, dichte Gehölz jenseits der Mauer. „Das war jetzt das fünfte Mal in den vier Monaten, seit ich dieses Amt bekleide“, brachte er mit Mühe hervor. „Wer sind diese Männer, die die von Gott gewollte Herrschafts-ordnung stören und das Volk aufwiegeln? Welche Macht wohnt da in Sherwood Forest?“

REBECCA GABLÉ, 1964 am Niederrhein geboren, arbeitete zu-nächst als Bankkauffrau und studierte dann Literaturwissenschaft. Sie lebt mit ihrem Mann unweit von Mönchengladbach auf dem Land. 1995 erschien bei Bastei Lübbe ihr erster Kriminalroman „Jagdfieber“. Den Durchbruch erzielte sie 1997 mit ihrem ersten historischen Roman „Das Lächeln der Fortuna“. Seitdem hat sie alle zwei Jahre einen Mittelalterroman veröffentlicht, alle sind Bestseller. 2006 erhielt sie für ihren Roman „Die Hüter der Rose“ den Sir Walter Scott-Preis. www.gable.de

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Wunder

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Keiner glaubte mehr an Wunder. Das war gelaufen. Ab 40 glaubte keiner mehr an etwas, das von aussen kam, von Gott, vom Himmel, von Ausserirdischen. Dass ihm etwas Be-sonderes zustünde – ein grosses Leben oder die grosse Liebe. Daran glaubte doch keiner mehr. Ausserdem ging gerade die Welt unter, Terroranschläge und Kriege, und in Urlaub traute sich keiner mehr, alles aus den Fugen, Sicherheit gab es nicht, und trotzig gegen das Leben, von der Lebensmitte an, heirateten sie und bauten Häuser und machten Kinder. Alle, die sie kannte, über 40. Und sie war allein übergeblieben, in ihrer Studentenbude, die Letzte, die sich wehrte, erwachsen zu werden, wie erbärmlich das war. Bis vor kurzem war sie gerne allein gewesen. Es gab ja Freunde, die zur Not zur Verfügung gestanden hätten, wollte sie mal nicht allein sein. Für eine Städ-tereise, einen Kinoabend, zum stundenlangen Reden am Telefon aus dem Bett heraus gab es immer einen – aber die hatten jetzt alle Kinder und Häuser, die Scheissfreunde, und hatten erreicht, was sie erreichen wollten, oder waren gescheitert und hatten sich damit eingerichtet oder hatten Krebs. Auf einmal merkte sie, dass sie noch nicht einmal mehr von irgendwem in Ruhe gelassen wurde. DA WAR KEINER MEHR. Und sie auf dem besten Weg, eine die-ser Frauen zu werden, die immer sagten: Man muss doch positiv denken! Die ein künstliches Dauerlächeln im Gesicht hatten, sich so extra gerade hielten und die Haare offen trugen und Arche-Schuhe, weil die so bequem und irgend-wie witzig waren, und die zu Lesungen gingen und sehr, sehr gerne alleine lebten. Alleine leben ist Dreck. Das bekommt keinem. Ab 40 sollte keiner mehr alleine wohnen, denn dann wird man wunderlich. Beginnt leere Pizzaschachteln zu sammeln, Vogelspinnen zu züchten oder die Bäume mit kleinen Me-tallschildern vollzuhängen, wie der Freak, der auf dem Monte Verita gewohnt hatte. Nackig

im Wald rumtigern und Bäume beschriften. Ab 40 oder mehr oder weniger sollte man mit einem Mann, einer Frau, einem Kind, einer Oma, mit irgendwem halt wohnen, der einem klar macht, dass man selber nichts Spezielles ist. Ein Kind, eine Oma oder eine Freundin, die nicht gerade ein Haus gebaut oder ein Kind bekommen hatte, gab es nicht. Also musste ein Mann her. Einfach, damit sie nicht auf die Idee kam, Arche-Schuhe zu tragen und Por-zellanpierrots zu sammeln. Dass es die grosse Liebe nicht gab, also einen Menschen, mit dem man sexuell verkehrte UND sich unglaublich gut verstand, glaubte sie inzwischen auch. Alle, die in langen Liebesgeschichten lebten, hatten ihr das Geheimnis verraten: Man muss durchhalten, muss sich arrangieren, darf nicht zuviel erwarten, muss viele Bedürfnisse mit anderen abdecken, muss versuchen, eine fa-miliäre Nähe zu entwickeln, muss die ersten Jahre viele Missverständnisse ertragen. Sie war ein verwöhntes Produkt der kapitalistischen Wegwerfgesellschaft. Hatte alles gewollt und verloren. Dann hatte sie Bernd kennengelernt. Der war so wie sein Name. Absoluter Durchschnitt, und wenn sie ehrlich war, war er wie sie. Ein Mann im schlechtesten Alter, der nicht mehr an Wunder glaubte. Sie war nicht verliebt in ihn. Er nicht in sie. Aber Männer waren da eh anders. Sie wollten am Anfang Sex, und die Liebe stellte sich bei ihnen als Nebenprodukt angenehmer Gewohnheit ein. Sie nahm sich vor, mit Bernd eine BEZIEHUNG zu füh-ren. Sie ignorierte alles, was sie an ihm nicht mochte. Dass er sie ein wenig langweilte und ihr seine Trikotagen nicht gefielen, dass er sie nicht entzündete und nichts von dem mochte, was ihr bis dahin wichtig schien. Aber fuck – wen interessierten schon Kino und Kunst und Filme und Bücher und Musik? Das waren Hintergrundgeräusche. Sie kleidete Bernd neu ein, schenkte ihm ein neues Parfüm, und weil

sie nicht verliebt war, hielt er es auch aus mit ihr. Sie war so wenig hysterisch und zickig, und Bernd begann sich wohl zu fühlen, und sie war froh, dass sie nicht mehr alleine war, wenn wieder eine Freundin ihr erstes Kind bekam, mit 42. Bernd wohnte nicht in ihrer Stadt, sie sahen sich am Wochenende, und sie begann sich an ihn zu gewöhnen. Es war eigentlich wunderbar, keine Angst vor einem Mann zu haben, dachte sie. Sie ging mit Nachtcreme und Lockenwicklern zu Bett, wenn er da war, sie machte, was sie wollte, und Bernd hatte für alles Verständnis, weil es ihm egal war. Je länger sie mit Bernd zusammen war, um so mehr glaubte sie, es herausgefunden zu haben, das Geheimnis der grossen Liebe: Es war, nicht verliebt zu sein. Es war, jemanden langsam kennenzulernen, und es war:

ES ZU WOLLEN.

Wenn sie Bernd abstossend fand, ihn hasste, wie er kaute und was er sagte, und wie er lief und wie er roch, dann half es, ihn sich als Baby vorzustellen. Bernd war klein gewesen, eine Mutter hatte ihn geliebt und ernährt, Bernd hatte von etwas Grossem geträumt, als er älter war, und wurde vom Leben enttäuscht, wie alle. Das genügte meist, damit sie ihn liebevoll am Kopf kraulte, und hielt, als wäre er ihr Baby. Sie begann sich einzurichten. Endlich machte sie Frieden mit ihrem Alter. Sie kaufte sich ein ordentliches Bett, trug keine bauchfreien Oberteile mehr, und auch die nachlassende Spannkraft ihrer Haut war ihr fast egal. Sie schaute sich einfach nicht mehr im Spiegel an. Sie begann Bernd «meinen Mann» zu nennen und wollte ihn gerne heiraten. Vielleicht, um es zu fixieren, sich zu fixieren, sich endgültig einzurichten. Es ist so gut, dass ich über dieses alberne Thema nicht mehr nachdenken muss, sagte sie ungefragt zu Bekannten, und berich-tete jemand von einer grossen Verliebtheit, ver-

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Ab- und Anschalten kostet viel Geld H&K 196, „Zahlen des Monats“

Zu den Zahlen des Monats zum Thema Men-schen ohne Strom und Gas hätte ich mir gerne einen ausführlichen Bericht gewünscht. Durch meine Begleitung zu Arge-Terminen habe ich erfahren, dass durch das Abschalten und Wiederanschalten ein Betrag von 94,25 Euro entsteht. Zusammen mit dem geschuldeten Betrag und dem laufenden Abschlag ist man mindestens bei 250 Euro.

„Der kleine Bruder aus Vietnam“ H&K 196, „Immer noch träume ich von Deutschland“

Was fanden wir auf Seite 30? Einen Artikel über Dien. Und sogar ein Foto: „Barmbek 1970 … Dien … seine Pflegemutter Frau Lohse.“

Wir konnten es kaum fassen, denn diese Pflegemutter ist meine Großmutter!

Als er damals Deutschland verlassen hat, hat er noch hin und wieder geschrieben. Der Kontakt brach dann ab, als wir ihm mitteilen mussten, dass seine „Mama“ gestorben war. Und nun erfahren wir, dass ein Buch über sein Leben geschrieben worden ist. Ich habe oft an Dien, den „kleinen Bruder aus Vietnam“, gedacht. Natürlich konnte ich als Kind, das ich damals selber war, noch nicht viel damit anfangen. Doch wenn ich später über meine Großmutter erzählt habe, hat es immer großen Eindruck auf mich gemacht, dass sie einem Kind aus Vietnam hier ein Stückchen Heimat geben konnte. Sie selber hat ein schweres Leben gehabt und trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) einem anderen Menschen ein wenig sein Leben erleichtert.

Und nun wissen wir auch, dass es Dien heute gut geht. Es ist ihm gelungen, sein Leben auch unter schwierigsten Umständen zu meis-tern.

„Wie wäre es mit einem Winterrätsel?“ H&K 196, „Plietsch! Das große H&K-Sommerrätsel“

Wir sind Fans der „Um-die-Ecke-gedacht“-Rätsel und fordern hiermit öffentlich und ganz förmlich einen neuen Einsatz der „Plietsch-Crew“! Wie wäre es beispielsweise mit einem Winterrätsel? Lösung könnte ein Ort sein, an dem sich alle Rätselfreunde bei Wurst und warmen Getränken treffen. Ort und Zeit muss

natürlich errätselt werden! Es hat großen Spaß gemacht!

Es ist vollbracht! Es war wirklich ein mega-schweres Rätsel! Als langjähriger Löser des Rätsels „Um die Ecke gedacht“ im Zeit-Ma-gazin, dachte ich, ich wäre mit allen Wassern gewaschen, aber für so ein Rätsel habe ich noch nie 14 Tage gebraucht!

Anm. der Redaktion: Bloggen Sie mit unter blog.hinzundkunzt.de

Das Thema Alkohol bei Hinz&Kunzt H&K 194, „Das war mir superpeinlich“

Wir stellen fest, dass von Hinz&Kunzt das Thema Alkohol grundsätzlich unter den Tisch gekehrt wird. Es entspricht leider der Tatsa-che, dass ein Teil der Hinz&Kunzt-Verkäufer – trotz Verbots (Voraussetzung für den Verkauf der Zeitschrift!) – weiterhin einer Alkoholab-hängigkeit unterliegen.

Anm. der Redaktion: Es ist keine Voraussetzung für den Verkauf, dass man trockener Alkoholiker oder Ex-Junkie ist. Im Gegenteil: Wir wollen alkoholkranken und drogenabhängigen Menschen eine Perspektive bieten. Wir gehen nämlich davon aus, dass eine Sucht eher überwunden wird, wenn ein Mensch wieder Sinn und Struktur für sich gefunden hat. Allerdings dürfen Hinz&Künztler während des Verkaufs nicht betrunken sein und sie müssen sich angemessen benehmen können.

„Rind tut’s auch für Hunde“ H&K-Sonderheft „Hamburger Schokoladenseiten“, „Iss was, Dog!“

Mit dem Sonderheft Hamburger Schokoladen-seiten ist Ihnen ein exzellenter Coup gelungen! Einzig über den Beitrag „Iss was, Dog!“ war ich erstaunt: Für die „Lebertorte“ wird Hühner- oder Kalbsleber als Zutat genannt. Kalbsleber kostet knapp 20 Euro das Kilo. Rind tut es für noch so innigst geliebte Hunde auch.

Leserbriefe geben die Meinung des Verfassers wieder, nicht die der Redaktion. Wir behalten uns vor, Leser-briefe zu kürzen

„Wir fordern einen neuen Einsatz der Plietsch-Crew!“

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drehte sie die Augen, und die Knie schliefen ihr ein vor Langeweile. Sie hatte herausgefunden, worum es ging: Das Leben möglichst ange-nehm herumbringen. So einfach. Dass man die Wahrheit fast übersah, weil man immer nach etwas Grossem, Komplizierten suchte. Und dann waren sie auf die Insel gefahren. In den zwei Jahren mit Bernd hatte sie immer vermieden, mit ihm in Urlaub zu fahren. Bernd am Wochenende, wo man lange im Bett blieb, dann ins Kino ging, was essen ging, irgendwo-hin ging, wo andere Leute waren, wo es etwas gab, über das sie später reden konnten – kein Problem. Aber wozu sollte ein Urlaub gut sein? Wer brauchte heute überhaupt noch Urlaub, da kaum einer mehr eine anstrengende Arbeit hatte und die Schweiz ein Land war, das für viele das Traumurlaubsland war? Was sollte man wohin fahren, stundenlang fliegen, um auf Stränden fremder Leute rumzulümmeln, sich von schlecht bezahlten Angestellten hassen zu lassen und in überteuerten Jeeps in zu gros-ser Hitze tröpfelnde Wasserfälle besichtigen? Bernd hatte sich durchgesetzt, zum ersten Mal. Sie flogen dann stundenlang, kamen auf einer Insel der dritten Welt an, da stand der gemiete-te Jeep bereit. Sie hatten so einen Luxusbunga-low gemietet, mit Whirlpool und Meeranstoss. Das Doppelbett war in ein Moskitonetz ge-hüllt, und Rosenblüten waren auf dem Boden verstreut. Sehr nett. Ein paar Tage war es sehr nett. Sie machten Ausflüge. Den Angestellten merkte man ihren Hass kaum an, das Gelände des Hotels war streng bewacht, mit Terror-anschlägen nicht zu rechnen. Sie besichtigten Wasserfälle, und wieder einmal fiel ihr auf, wie angenehm sie mit Bernd schweigen konnte. Es setzte sie überhaupt nicht unter Druck, dass ihr nichts einfiel in seiner Anwesenheit. Sie zogen sich abends weisse Sachen an und assen schwei-gend in teuren Restaurants mit Meerblick. Sie kauften in kleinen Boutiquen Sachen, die sie daheim nie wieder tragen würden. Einmal nachts gingen sie in den Whirlpool. Sie stand da, wie sie dachte, dass man in einem Film jetzt stehen würde, auf einer Insel am Whirlpool mit dem Geliebten. Sie stand wie eine Statue, bis sie dachte, sie würde sich nie mehr bewegen können. Sie wollte sich nie wieder bewegen. Noch nicht einmal Tränen hatte sie.

SIBYLLE BERG, geboren 1962 in Weimar, lebt heute in Zürich. Nach ihrer Berufswahl gefragt, sagt sie: „Ich wollte mit fünf Schriftsteller werden, weil mir nichts anderes einfiel, und habe aus Trägheit an dieser Idee festgehalten.“ Sibylle Berg hat 1997 ihr erstes Buch „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ veröffentlicht, es folgten weitere Geschichten und Romane, zuletzt „,Das war s dann wohl‘ – Abschiedsbriefe von Männern“ (2008). Ihre Theaterstücke (zum Beispiel „Helges Leben“) werden an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland gespielt.

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II

„Es ist sich nicht ausgegangen“ – Heimische Mentalität, die auch Börsencrashs und andere Weltuntergänge schadlos übersteht

„Es ist sich nicht ausgegangen.“ – Österreichischer geht’s nicht mehr. Jedes Wort stützt und schützt das Sprachkulturerbe der heimischen Mentalität, die auch Börsencrashs und andere Weltuntergänge schadlos übersteht.

1.) ES. Weder er noch sie, schon gar nicht man selbst. „Es“ ist eine über-geordnete Instanz, ein Abgesandter des hiesigen Schicksals.

2.) ES IST. Da klingt bereits die von außen gelenkte höhere Gewalt an. Der Deutsche hätte die Verantwortung übernommen und selbstzerflei-schend „Ich habe“ gesagt.

3.) ES IST SICH. Wenn sich etwas außerhalb unseres Einflussbereiches auch noch auf sich selbst bezieht, dann ist der Kreis geschlossen – und wir haben damit also wirklich absolut nichts zu tun.

4.) ES IST SICH NICHT. „Nicht“ war zu erwarten.

5.) AUSGEGANGEN. Wenn der Deutsche geht, dann läuft er, wenn er läuft, dann rennt er, und wenn er rennt, dann joggt er. Wenn dem Deut-schen die Zeit davonläuft, ist er – selber schuld und sehr zerknirscht. Wenn der Österreicher die Zeit ziehen lässt, dann mit reinem Gewissen, gesundem Magen und aus gutem Grund. Dann ist es sich halt nicht ausgegangen.

(Daniel Glattauer, DER STANDARD Printausgabe, 13.10.2008)

DANIEL GLATTAUER, geboren im Mai 1960 in Wien, wo er auch heute als Schriftsteller und Journalist lebt und arbeitet. Werkauswahl: „Gut gegen Nord-wind“, Roman (2006, Deuticke), „Alle sieben Wellen“, Roman (2009, Deuticke).

Sich-tum Austria

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I

Vom Wort, das uns alle Verantwortlichkeiten vom Hals schafft

Wir Österreicher haben, was Engländer, Spa-nier, Italiener und Franzosen so nie zu über-setzen wagten, was selbst Deutschen fern liegt. Wir sind im Sprachbesitz dieses gar phänome-nalen Wörtchens, das uns den Wind noch aus den Segeln nimmt, wenn das Boot längst auf Sand gelaufen ist. Wir haben die Qualität des jederzeit möglichen Rückzugs auf den Rück-bezug. Wir haben: „sich“. Kombinieren wir es mit „es“, dann schaffen wir uns damit alle Verantwortlichkeiten vom Hals.

Kommen wir zu spät, dann ist es sich nicht aus-gegangen. Scheuen wir einen Aufwand, dann zahlt es sich nicht aus. Wollen wir uns nicht anstrengen, so lässt es sich nicht erzwingen. Haben wir keine Ahnung, wie es sich entwi-ckelt, dann wird es sich schon weisen. Können wir ein Problem nicht lösen, dann löst es sich von selbst. Und löst es sich nicht, dann hat es sich eben nicht ergeben. „Es“ gehört unweiger-lich „sich“, und sträubt es sich, dann gehört es sich eben nicht. Wir Österreicher halten uns da gerne raus.

Sollte Ihnen das Thema allzu rückbezüglich (gewesen) sein: Verzeihung, aber es hat sich einfach aufgedrängt. Und damit hat es sich fürs Erste auch bereits besprochen.

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Hinz&Kunzt-Leser kennen Angela Giorgi schon, besser gesagt: ihre Illustrationen. Denn seit einiger Zeit gestaltet die 36-Jährige unsere Zahlen des Monats und Geschichten, die als unfotografierbar gelten. 2009 ist ihr Glücksjahr: Denn sie stellt einige ihrer Collagen beim Spiegel aus und bekam ihren ersten Großauftrag: Die deutschsprachige Sektion des Internationalen Straßenzei-tungsverbandes (INSP) beauftragte sie mit der Illustration des Literaturprojektes. Ihre Bilder erscheinen jetzt nicht nur in Ham-burg, sondern auch in anderen deutschen Städten, womöglich auch in Österreich und der Schweiz. Es duftet nach Räucherkerzen, und der Fußbo-den ist übersät mit alten Briefen, Fotos, Orna-menten, Stoffresten und Kladden. Wenn An-gela Giorgi arbeitet, sieht es aus, als würde ein Kind spielen – sie sitzt mitten auf dem Boden, umringt von ihren Schätzen vom Flohmarkt, und lässt sich treiben. Sie liest – wie jetzt bei der Literaturausgabe – die Texte, die sie illus-trieren soll, greift mal zu diesem Papier, mal zu jenem alten Foto, verwirft alles wieder und

plötzlich fügt sich alles wie von selbst zusam-men. Collagen sind ihre Leidenschaft, waren es schon in ihrer Heimat Argentinien.

Aufgewachsen ist sie auf dem Land, in der Nähe von Buenos Aires. Ihre Großeltern waren Italiener, und sie selbst hat jetzt auch einen italienischen Pass. Nach dem Abitur studierte sie zunächst Jura. So eine diffuse Idee von Gerechtigkeit hatte sie. „Aber dann wurde mir klar, dass ich als Rechtsanwältin immer lügen und kämpfen müsste“, sagt sie. „Und das liegt mir beides gar nicht.“ Stattdessen nahm sie Schauspielunterricht und fing an mit ihren Collagen. Um das Ganze zu finanzieren, jobbte sie, meistens als Kellnerin. Viele ihrer Freunde hat sie noch aus dieser Zeit.

Aber irgendwie wollte sie weg, „am besten nach Indien oder so“, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Allerdings wurde es dann doch „nur“ Deutschland. Ihr Bruder lebt hier, und Freunde schenkten ihr, das war 2001, ein Flugticket. Sie fand es kalt, konnte die Sprache nicht, und es sah so aus, als wäre Deutschland nichts weiter als eine einjährige Episode in ihrem Leben. Kurz vor ihrem Rückf lug im Sommer 2002 guckte sie in einer Kneipe ein

wichtiges Fußballspiel – bei der WM trat Ar-gentinien gegen England an. Und da sah sie ihn: Mauricio Bustamante, wie sie aus Argen-tinien (und einer der beiden Hinz&Kunzt-Fotografen). „Ich wollte nur, dass er sich neben mich setzt“, sagt sie. Das tat er auch. Und dann ging alles ganz schnell. Angie, wie alle sie nennen, flog zwar nach Argentinien, kam aber bald wieder zurück, die beiden wurden ein Paar. Im Dezember 2003 kam ihre Tochter Valentina zur Welt, die jetzt manchmal mit ih-rer Mama auf dem Fußboden sitzt und eigene Collagen macht.

Angies Traum war es, einmal von ihre Collagen leben zu können. Aber das schien bis vor einiger Zeit in weiter Ferne. Nebenbei job-bte sie in einem italienischen Großhandel und dann in der Spiegel-Kantine. 2009 sollte sich das ändern, „das hab ich gefühlt“, sagt sie. Und tatsächlich: Momentan stellt sie ihre Arbeiten beim Spiegel aus, und das Literaturprojekt der deutschsprachigen Straßenmagazine hat sie einen ganzen Schritt weitergebracht. „Ich fühle mich wie beim Bergsteigen. Die erste Klippe habe ich überwunden“, sagt Angie, „aber bis zum Gipfel ist es noch weit.“

Kleben aus Leidenschaft

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