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Historischer Überblick Von der Steinzeit zur Neuzeit Als sich im Lauf des 19. Jahrhunderts die Archäologie von der Schatzgräberei zu einer systematischen Wissenschaft entwickelte, zeigte sich, dass die zivilisatorischen Entwicklungsschübe in der Früh- zeit der Menschheitsgeschichte ganz wesentlich von der Entdeckung und Entwicklung neuer Materialien abhängig waren. Es war der Eng- länder Ch. J. Thomson, der in einer Publikation über frühe Zivilisatio- nen im Jahre 1836 erstmals die Begriffe Steinzeit, Bronzezeit und Ei- senzeit verwendete. Diese Klassifizierung der zivilisatorischen Ent- wicklungsstufen in den Jahrtausenden vor Christi Geburt wurde später beibehalten, aber in zwei Richtungen weiter entwickelt. Es wurde eine Feingliederung eingeführt, in der die Steinzeit in eine ältere Phase, Altsteinzeit oder Paläolithikum genannt, und eine jüngere als Jung- steinzeit oder Neolithikum bezeichnete Periode unterteilt wurde. Fer- ner wurde zwischen Neolithikum und Bronzezeit die »Kupferzeit« ein- geschoben. In dieser Periode wurde schon Kupfer erzeugt und ge- nutzt, aber Zinn war für die Herstellung von Bronze noch nicht ver- fügbar. Eine weitere Feingliederung dieser Zivilisationsstufen erfolgte dann nach regionalen Gesichtspunkten. Es wurden Kulturkreise defi- niert, die vor allem anhand spezifischer Keramik oder aufgrund be- stimmter Bestattungssitten, klassifiziert wurden. Namen wie Glocken- becher- und Schnurkeramik oder Hünengräber sind wohl die bekann- testen Beispiele für Begriffe aus dieser Klassifizierungsmethodik. Eine andere Art und Weise die klassische Unterteilung in Stein-, Bronze- und Eisenzeit dem sich ständig erweiternden Kenntnisstand der Archäologie anzupassen, besteht in der zeitlichen Abstufung je nach Land. So fand der Übergang vom Neolithikum zur Kupferzeit in Kleinasien zu einem viel früheren Zeitpunkt statt als etwa in Däne- mark. 1 Menschen und ihre Materialien Hans R. Kricheldorf Copyright © 2012 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Historischer Überblick - Wiley-VCH...Von der Steinzeit zur Neuzeit Als sich im Lauf des 19. Jahrhunderts die Archäologie von der Schatzgräberei zu einer systematischen Wissenschaft

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  • Historischer Überblick

    Von der Steinzeit zur Neuzeit

    Als sich im Lauf des 19. Jahrhunderts die Archäologie von derSchatzgräberei zu einer systematischen Wissenschaft entwickelte,zeigte sich, dass die zivilisatorischen Entwicklungsschübe in der Früh-zeit der Menschheitsgeschichte ganz wesentlich von der Entdeckungund Entwicklung neuer Materialien abhängig waren. Es war der Eng-länder Ch. J. Thomson, der in einer Publikation über frühe Zivilisatio-nen im Jahre 1836 erstmals die Begriffe Steinzeit, Bronzezeit und Ei-senzeit verwendete. Diese Klassifizierung der zivilisatorischen Ent-wicklungsstufen in den Jahrtausenden vor Christi Geburt wurde späterbeibehalten, aber in zwei Richtungen weiter entwickelt. Es wurde eineFeingliederung eingeführt, in der die Steinzeit in eine ältere Phase,Altsteinzeit oder Paläolithikum genannt, und eine jüngere als Jung-steinzeit oder Neolithikum bezeichnete Periode unterteilt wurde. Fer-ner wurde zwischen Neolithikum und Bronzezeit die »Kupferzeit« ein-geschoben. In dieser Periode wurde schon Kupfer erzeugt und ge-nutzt, aber Zinn war für die Herstellung von Bronze noch nicht ver-fügbar. Eine weitere Feingliederung dieser Zivilisationsstufen erfolgtedann nach regionalen Gesichtspunkten. Es wurden Kulturkreise defi-niert, die vor allem anhand spezifischer Keramik oder aufgrund be-stimmter Bestattungssitten, klassifiziert wurden. Namen wie Glocken-becher- und Schnurkeramik oder Hünengräber sind wohl die bekann-testen Beispiele für Begriffe aus dieser Klassifizierungsmethodik.

    Eine andere Art und Weise die klassische Unterteilung in Stein-,Bronze- und Eisenzeit dem sich ständig erweiternden Kenntnisstandder Archäologie anzupassen, besteht in der zeitlichen Abstufung jenach Land. So fand der Übergang vom Neolithikum zur Kupferzeit inKleinasien zu einem viel früheren Zeitpunkt statt als etwa in Däne-mark.

    1Menschen und ihre Materialien Hans R. KricheldorfCopyright © 2012 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

  • Während manche Erfindungen und Entdeckungen der Mensch-heit in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeitpunktenunabhängig voneinander gemacht wurden (z.B. der Bau von Pyra-miden), scheint es im Fall der Kupfergewinnung aus Sulfiderzeneinen einzigen Ursprung zu geben, von dem sich die Kenntnis die-ser Technologie nach allen Himmelsrichtungen ausgebreitet hat.Nach dem Kenntnisstand des Jahres 2010 scheint die Technologiedes Kupferschmelzens erstmals in Anatolien im 7. Jahrtausend v.Chr. erarbeitet worden zu sein. Von dort erfolgte die Ausbreitung derKupfer- und Bronzezeit über Europa und über das Mittelmeer hin-weg und erreichte Skandinavien etwa um 1700–1500 v. Chr. Die Ar-chäologie der letzten dreißig Jahre hat hierzu einige neue Ergebnisseund Einsichten gebracht, die für einige Regionen frühere Datierun-gen erfordern. So sind aus den Balkanländern einige Kupferlager-stätten mit Verhüttungsprozessen bekannt geworden, die bis ins 5.Jahrtausend zurückreichen. Ferner wurden im Inntal erste Versuchezur Verarbeitung von Kupfererzen schon ab 4000 v. Chr. unternom-men. Allerdings muss man berücksichtigen, dass von ersten Experi-menten mit Kupfererzen bis hin zu einer kontinuierlichen und effi-zienten Produktion von Kupfer mehrere Jahrhunderte vergangensein können.

    Der Übergang vom Neolithikum zur Kupferzeit war auch aus an-deren Gründen fließend und erstreckte sich zumindest in Kleinasiensowie in Südosteuropa über Jahrhunderte. Da Kupfer ein relativ wei-ches und duktiles Metall ist, war es zur Herstellung unzerbrechlicherSchmuck-, Kult- und Gebrauchsgegenstände sehr gut geeignet undbrachte für die Menschen des ausgehenden Neolithikums erhebli-chen Fortschritt und materiellen Gewinn mit sich. Für die Herstel-lung von Waffen und Werkzeugen wie Messer, Beile oder Pfeile, dieharte und scharfe Spitzen oder Schneiden erfordern, war Kupfer je-doch wenig geeignet. Für derartige Anwendungen waren geeigneteSteine, wie etwa Obsidian, sicherlich noch so lange im Gebrauch, bissie durch die harte, aber gießbare Bronze ersetzt werden konnten.Nun machten die Menschen der Frühzeit wohl die Beobachtung, dassKupfer, das aus verschiedenen Lagerstätten gewonnen wurde, unter-schiedliche Härtegrade aufweisen konnte. In sulfidischen Lagerstät-ten findet sich Kupfer nicht nur in Gesellschaft von Eisen, mit dem essich kaum legieren lässt, sondern auch in Gesellschaft von Arsen,Antimon und Blei. Während ein Zusatz von Blei das Kupfer weicher

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  • macht und auch den Schmelzpunkt deutlich erniedrigt, bewirkt einZusatz kleiner Mengen an Arsen oder Antimon eine merkliche Här-tung. Beide Elemente konnten jedoch während der Kupfer- undBronzezeit auch nicht annähernd rein dargestellt werden, sodass einegezielte Metallurgie mit diesen Elementen damals nicht möglich war.Arsen und Antimon wurden schließlich in der Antike bekannt,zumal Arsen in geringen Mengen gediegen, d.h. als Element, in derNatur vorkommt. Eine technische Produktion aus den Sulfiderzenwurde aber erst in den letzten vierhundert Jahren möglich.

    Die Situation änderte sich mit dem Auffinden von Zinnoxid-(Kassi-terit-)Lagerstätten, etwa 2000–3000 v. Chr. Durch die Reduktion desOxids (SnO2) ließ sich einigermaßen reines Zinn relativ leicht gewin-nen. Da Zinn trotz seiner Weichheit bei einem Zusatz von ca. 5–15%eine deutliche Härtung des Kupfers bewirkt, wurde mit der Verfüg-barkeit von Zinn auch eine systematische Metallurgie möglich: DieBronzezeit wurde geboren. Den Namen Bronze erhielten die Kupfer-Zinn-Legierungen von der süditalienischen Hafenstadt Brindisi (aesbrundisium), die sich in der Antike zu einem wichtigen Umschlag-platz für Metalle und deren Legierungen entwickelte. In dem Maße,wie harte Bronze verfügbar wurde, verschwanden allmählich Pfeilund Speerspitzen, Messer und Schaber aus Stein.

    Die Verhüttung von Eisenerzen und die Herstellung von Waffenund Geräten aus Eisen ist von den Hethitern etwa ab 1300 v. Chr. inKleinasien nachgewiesen und später im östlichen Mittelmeer. Durchseine größere Härte verdrängte Eisen die Bronze schnell aus allenAnwendungen, bei denen Härte die entscheidende Eigenschaft war.Ferner fanden sich oberflächennahe Eisenerzlagerstätten wesentlichhäufiger als Zinnminen, sodass Eisen schließlich auch billiger wurdeals Bronze. Für eine breitere Anwendung des Eisens bestand jedochbis zum Anfang des 18. Jahrhunderts der Nachteil, dass die Mensch-heit den Bau von Hochöfen nicht beherrschte, in welchen Tempera-turen von über 1600 °C erreicht werden konnten. Da reines Eisenerst bei 1535 °C schmilzt, ließ es sich daher nicht in Formen gießen.Bei den Temperaturen von 1200–1300 °C, die in den Verhüttungs-prozessen der vorausgehenden drei Jahrtausende erreicht werdenkonnten, wurde das Eisen in Form von inhomogenen Plaques, soge-nannten Luppen, erhalten. Diese Luppen mussten durch aufwendigeSchmiedearbeiten zu den gewünschten Waffen oder Geräten weiterverarbeitet werden. Erst etwa ab dem 14. Jahrhundert konnten

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  • Schachtöfen und ab 1720 konnten Hochöfen gebaut werden, die einvollständiges Schmelzen des Eisens und den Guss in vorgefertigteFormen erlaubten. Bis zu diesem Zeitpunkt stellte die Verwendungvon Bronze immer einen Vorteil dar, wenn es darum ging, das ge-wünschte Objekt durch Guss herzustellen. Von der Antike bis in dieNeuzeit war dies beispielsweise immer der Fall, wenn Kultgegenstän-de wie Amulette oder Kerzenständer, Kunstobjekte wie Statuen,Schmuckstücke wie Armreifen und Ohrringe oder auch Gebrauchs-gegenstände wie Löffel und Vasen hergestellt werden sollten. Nachder Völkerwanderung kam das Gießen von Glocken sowie etwa ab1400 das Gießen von Kanonenrohren hinzu. Der Beginn der Eisen-zeit bedeutete daher keineswegs eine rasche und vollständige Ver-drängung der Bronze, nicht einmal bei den Waffen.

    Bronze ist zudem wesentlich weniger korrosionsanfällig als Eisenund auch leichter zu schmieden und zu prägen. Dementsprechendhatte die Bronze schon in der Antike bis in die Völkerwanderungszeithinein einen hohen Stellenwert als Münzmetall. Für die Verwendungals Zahlungsmittel war Eisen also aus mehreren Gründen völlig un-geeignet.

    Will man für die Zeit nach der Völkerwanderung große Zivilisati-onsschübe durch das Aufkommen neuer Materialien definieren, sofällt zunächst die Zeit von 1400–1500 ins Auge. In diesem Zeitraumfanden unabhängig voneinander zwei weitgehend parallele Entwick-lungen statt, die auf unterschiedliche Weise die Zivilisation und Ge-schichte Europas prägten. Da wäre einmal die Entstehung einer me-chanisierten, quasi technischen, Produktion von Papier zu nennen.Papier wurde in China zu Beginn der Han Dynastie (ca. 200 v. Chr.)erfunden. Die Kenntnis der Papierherstellung konnte lange Zeit ge-heim gehalten werden, doch durch die Ausbreitung des Islam ent-lang der Seidenstraße, änderte sich nach 700 die Situation. Insbeson-dere durch die Eroberung Samarkands kamen in der ersten Hälftedes achten Jahrhunderts mit der Papierherstellung vertraute, chinesi-sche Handwerker an die Höfe arabischer Herrscher. Allmählich brei-tete sich die Kenntnis im gesamten islamischen Kulturkreis aus undgelangte so auch nach Südspanien, das nach 750 von Mauren in Be-sitz genommen worden war (Eroberung Gibraltars um 742). In Xetti-va bei Valencia wurde um 1144 die erste »Papierproduktion« Europasin Gang gesetzt. Dort und anschließend in Italien wurden die erstenSchritte zur Mechanisierung des Herstellungsprozesses erarbeitet. In

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  • all den Jahrhunderten zuvor war die Papiergewinnung ein Vorgang,bei dem jeder der zahlreichen Schritte ausschließlich Handarbeit war.Dazu gehörte das Zerkleinern des Rohmaterials, das die Cellulosefa-sern lieferte, deren Reinigung im Wasserbad, das Abschöpfen dünnerSchichten von Cellulosefasern mit geeigneten Sieben und schließlichdas Pressen und Trocknen des Vlieses. Bei anspruchsvolleren Papie-ren umfasste dieser Prozess auch die Zugabe von Pflanzenleimenund anorganischen Salzen. Besonders zeit- und kraftaufwendig wardas Zerkleinern der Pflanzenfasern und Lumpen, die als Lieferantender Cellulosefasern dienten. Mit Wasserkraft getriebene »Papiermüh-len« brachten hier einen wesentlichen Fortschritt für die Produktionvon Papier in größeren Mengen und zu niedrigeren Kosten. DieKenntnis der Papierherstellung gelangte schließlich von Spanien überSüdfrankreich sowie von Italien über die Alpen nach Süddeutschland.Hier wurde soweit bekannt die erste mit Wasserkraft betriebene Pa-piermühle, Geismühl genannt, im Jahre 1389 bei Nürnberg in Betriebgenommen. In den anschließenden fünf Jahrzehnten folgten zahlrei-che deutsche und nordeuropäische Städte diesem Beispiel.

    In all den Jahrhunderten zuvor war in Europa die Vervielfältigungoder Neufassung von Texten durch Schreiben mit Tinte auf Perga-ment erfolgt. Auf diese umständliche Art und Weise ließen sich Infor-mationen jedoch nur sehr langsam vervielfältigen und verbreiten. Daaußerdem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, vor allem Möncheund der höhere Klerus, des Schreibens kundig war, unterlag die Über-lieferung und Verbreitung von Texten aller Art auch einer Zensurdurch die Kirche. In den Jahren 1448 bis 1450 erfand Johann Gens-fleisch, genannt Gutenberg, in Mainz den Buchdruck mit bewegli-chen Lettern. Dieses relativ effiziente Druckverfahren ließ sich nunnicht nur zur Vervielfältigung der Bibel und anderer Bücher, sondernauch zur Herstellung von Flugblättern und Zeitungen nutzen. Dieseneue Anwendung kam etwa ab 1480 zunehmend in Schwung. DieVerfügbarkeit von großen Mengen an Papier (gemessen an der dama-ligen geringen Bevölkerungsdichte) ermöglichte nun eine rasche undweitreichende Verbreitung von Nachrichten und Texten aller Art.Spielten die Flugblätter zunächst vor allem die Rolle der Sensations-presse, welche vorzugsweise über Verbrechen, Monster und überna-türliche Vorgänge berichtete, so änderte sich die Situation rasch, nach-dem Martin Luther 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel ander Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen hatte. Damit war der

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  • Startschuss für die Reformationsbewegung gegeben und Flugblätterwie Zeitungen füllten sich nun überwiegend mit religiösen und poli-tischen Texten. Andersherum lässt sich feststellen, dass die schnelleProduktion und Verbreitung von Flugblättern und Zeitungen einewesentliche Voraussetzung für die rasche Verbreitung der Reformati-onsbewegung war. Kurz gesagt, in den Jahren von 1480 bis 1530 er-eignete sich die erste »Medienrevolution Europas«, die am ehestenmit der Entstehung des Internets im 20. Jahrhundert vergleichbar ist.

    Eine in mancherlei Hinsicht parallele Entwicklung, die sich jedochauf einer ganz anderen Ebene abspielte, ergab sich durch die Entde-ckung des Schwarzpulvers und seiner Verwendung als Schießpulverund Explosivstoff. Auch Schwarzpulver, bestehend aus Holzkohle,Schwefel und Kalisalpeter (KNO3), wurde wie Papier zuerst in Chinaerfunden, allerdings wesentlich später, nämlich im 11. Jahrhundert.Schwarzpulver wurde in China zunächst vor allem für Feuerwerks-körper verwendet. Ferner wurden in zahlreichen Kriegen, vor allemgegen die Mongolen, verschiedene Arten von Brandsätzen eingesetzt.Diese enthielten Kalisalpeter, um ein intensives Abbrennen auchohne größere Sauerstoffzufuhr von außen zu gewährleisten. DieseBrandsätze wurden vor allem dazu verwendet, die hölzernen Bauwer-ke belagerter Städte, Belagerungsmaschinen und die Schiffe angrei-fender Truppen in Brand zu setzen. Eine systematische Entwicklungvon Feuerwaffen mit metallenen Rohren fand dagegen in China fürlange Zeit nicht statt.

    Ob die Kenntnis der Schwarzpulver-Zubereitung auf denselbenWegen wie die der Papierherstellung nach Europa gelangte oder es inEuropa zu einer unabhängigen Erfindung und Entwicklung kam,ließ sich bis heute nicht eindeutig klären. Derartige Brandsätze wur-den als »griechische Feuer« aus verschiedenen Angriffs- und Vertei-digungskriegen Konstantinopels bekannt. Das Geheimnis ihrer Zu-sammensetzung kann sehr wohl über die Seidenstraße nach Klein-asien gelangt sein. Derartige Brandbeschleuniger sind aber nicht mitder Entwicklung eines für Schieß- und Sprengzwecke optimiertenSchwarzpulvers gleichzusetzen. Fest steht, dass der MinoritenmönchRoger Bacon in seiner um 1247 in Oxford verfassten Schrift »De sec-retis operibus artis et naturae« eine optimale Zusammensetzung vonSchwarzpulver beschreibt. Dagegen ist die Erfindung von Schwarz-pulver durch den Franziskanermönch Berthold Schwarz Anfang des14. Jahrhunderts in Freiburg i. Br. eine unbewiesene Legende.

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  • Parallel zur »technischen« Produktion von Papier in Papiermühlenentstanden nach 1350 mit Wasserkraft betriebene Pulvermühlen, diees ermöglichten Schwarzpulver in größeren Mengen herzustellen.Das »Feinmahlen« der Komponenten und deren innige Durchmi-schung waren entscheidend für ein reproduzierbares schnelles Ab-brennen des Pulvers. Diese Entwicklung zog dreierlei Konsequenzennach sich. Als erste, allerdings unbedeutendste Konsequenz ist dieEntstehung einer ausgefeilten Pyrotechnik zu nennen. Im Barockkonnte kein Fürst darauf verzichten, ein größeres Fest mit einem be-eindruckenden Feuerwerk zu krönen. Eine zweite, wesentlich wichti-gere Konsequenz der Verfügbarkeit von Schwarzpulver war die Ent-wicklung der Artillerie und deren Einfluss auf die äußere Gestalt dereuropäischen Städte. Im Unterschied zu China setzte in Europaschon kurz nach Bekanntwerden des Schwarzpulvers auch die Ent-wicklung von Feuerwaffen ein, deren Zweck es war, Geschosse mög-lichst weit und zielgenau gegen den Feind zu schleudern. Die ersteerhalten gebliebene Abbildung eines primitiven Kanonenrohres, ausdem dicke Bolzen mit scharfen Spitzen verschossen wurden, ist ausdem Jahre 1326 (englische Handschrift des Walter de Milimete) über-liefert. Erste große Kanonenrohre, die zum Verschießen von Steinku-geln geeignet waren, wurden gegen Ende des 14. Jahrhunderts ange-fertigt. Diese noch sehr primitiven Rohre wurden aus zahlreichengleich langen Eisenstangen, die parallel um einen Baumstamm ange-ordnet waren, mühsam zusammengeschmiedet. Sie wurden aufSchlitten gezogen oder mithilfe mehrerer gekürzter Baumstämmevorwärts gerollt und dienten ausschließlich zur Belagerung von Bur-gen und Städten. Mit der Entdeckung neuer Zinnlagerstätten, vorallem im Erzgebirge, wurde etwa ab 1450 Bronze in größeren Men-gen zugänglich, und in der Folgezeit wurden Kanonen unterschiedli-cher Größe, vor allem aus Bronze, gegossen und in der Feldschlachteingesetzt. Bronzene Kanonenrohre dienten in allen europäischenArmeen noch bis zum Ende der Napoleonischen Kriege.

    Die Verwendung von Kanonen zur Belagerung von Städten hattegravierende Folgen für den Städtebau. Die Mauern, mit denen diemittelalterlichen Stadtkerne und die angrenzenden Vorstädte ge-schützt waren, konnten dem Beschuss aus Kanonen nicht langestandhalten. Daher wurden im 16. und 17. Jahrhundert mächtige Erd-wälle vor den Stadtmauern aufgeworfen, in denen die Kanonenku-geln ohne Schaden anzurichten stecken blieben. Für den Ausbau die-

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  • ser Wallanlagen und um freies Schussfeld für die Kanonen der Stadtzu schaffen, mussten die meisten Vorstädte aufgegeben und eingeeb-net werden. Die solchermaßen stark befestigten Städte steckten nunfür 300 Jahre im engen Korsett ihrer Wallanlagen und konnten nichtmehr wachsen.

    Die dritte und mit Abstand bedeutendste Konsequenz des Beherr-schens der Pulverproduktion war die Entwicklung von Kanonen undHandfeuerwaffen für die Verwendung auf Schiffen und in Schlach-ten auf freiem Felde. Damit hatten die Europäer die militärische Po-tenz die Weltmeere zu beherrschen und Kolonien zu erobern. So ge-lang es z.B. einer relativ geringen Zahl von Spaniern die großen undkriegserfahrenen Reiche der Azteken und Inkas zu erobern. GanzSüd- und Mittelamerika sowie der Südwesten Nordamerikas wurdenvon Portugiesen und Spaniern in Besitz genommen. Im Falle Afrikaserrichteten zuerst die Portugiesen befestigte Handelsplätze entlangder Küste, und anschließend erfolgte die schrittweise Kolonisierungdes ganzen Kontinents durch alle größeren europäischen Mächte. In-dien, China und andere asiatische Länder wurden nach dem gleichenMuster teils unterworfen, teils zu Handelsverträgen gezwungen, dienur für den europäischen Vertragspartner günstig waren. Kaumeiner dieser Eroberungspläne hätte Erfolg gehabt, wenn die Europäernicht über effektive Feuerwaffen verfügt hätten.

    Um 1500, als die Kolonialisierung fremder Länder ihren Anfangnahm, waren Reichweite, Treffsicherheit und Schussfolge einer Arke-buse oder Muskete auch nicht nennenswert besser als die einer gutenArmbrust, aber die psychologische Wirkung der Schüsse war un-gleich größer. Dieser psychologische Effekt war insbesondere bei Völ-kern wirksam, für die Blitz und Donner noch göttliche Attributewaren. Die mit Feuerwaffen auftretenden Weißen hatten zunächstden Nimbus über göttliche Kräfte zu verfügen auf ihrer Seite.

    Im Gefolge der Eroberung Süd- und Mittelamerikas sowie Indiensund Indochinas gelangten ungeheure Schätze an Silber, Gold, Edel-steinen, Seide und Gewürzen nach Europa. Dieser ungeheure Ge-winn finanzierte einerseits die kulturelle Blüte der Renaissance unddes Barocks, andererseits aber auch die zahlreichen Kriege im Euro-pa des 16., 17. und 18. Jahrhunderts.

    Will man nun in den letzten vier Jahrhunderten einen auf neuenMaterialien basierenden Zivilisationsschub identifizieren, so scheintdem Autor am ehesten die Zeit von 1920 bis 1970 dafür infrage zu

    8 Historischer Überblick

  • kommen. In diese Zeit fallen die Entwicklung der Polymerchemieund die Nutzung von Erdölquellen als neue Ressourcen für Chemika-lien und Energie. Die großtechnische Herstellung von Polymeren, oftetwas irreführend unter dem Begriff Kunststoffe summiert, hatte so-wohl weitreichende Folgen für den Fortschritt auf mehreren For-schungsgebieten (neben Polymerchemie auch Biochemie, Molekular-biologie, Gentechnik und Medizin) als auch für die Gestaltung desalltäglichen Lebens. Es sind nicht nur die zahlreichen Gebrauchsge-genstände und Verpackungsmaterialien, die den heutigen Alltag do-minieren. Ohne billig zugängliche, elektrisch isolierende Materialienhätte auch die nach 1900 verfügbare Elektrizität nicht in Industrieund Privatleben Einzug halten können. Es lässt sich daher etwas sa-lopp sagen, dass die Menschheit seit etwa 1920 im »Kunststoff-Zeit-alter« lebt. Eine ausführlichere Darstellung dieser wichtigen Entwick-lung soll im folgenden Abschnitt gegeben werden.

    Das Zeitalter der Kunststoffe

    Unter den zahlreichen Erfindungen und Entdeckungen, mit denenChemiker die Menschheit beglückt haben, gibt es wohl nur zwei, dieman als weitgehende Paradigmenwechsel einstufen kann. Da ist zumeinen die Synthese organischer Moleküle im Labor, vor allem dieerste Harnstoffsynthese, die Friedrich Wöhler im Jahre 1826 aus demanorganischen Ammoniak (NH3) und Cyanationen (OCN) vollzogenhat (s. Kapitel »Aluminium«), und zum anderen die von HermannStaudinger (1881–1965) erarbeitete Beweisführung für die Existenzlanger, ausschließlich kovalent (d.h. aus stabilen Atombindungen)aufgebauter Polymerketten. In den Jahrzehnten und Jahrhundertenvor Wöhlers bahnbrechender Arbeit waren alle mit Alchemie oderChemie mehr oder weniger vertrauten Wissenschaftler, Apothekerund Mediziner der Ansicht, dass zwischen der anorganischen undorganischen Chemie keine Querverbindungen bestünden. In ande-ren Worten, die Chemie der unbelebten Materie und die organischeChemie der Lebewesen wurden als zwei Bereiche der Schöpfung auf-gefasst, zwischen denen eine für den experimentellen Chemiker un-überwindbare Barriere existierte. In allen Lebewesen wurde einebesondere, auf alle organischen bzw. biochemischen Reaktionen ein-wirkende Kraft (vis vitalis oder phlogiston) vermutet. Wöhler verän-

    Das Zeitalter der Kunststoffe 9

  • derte daher zwar das Weltbild der Menschheit, hatte aber auf denAlltag und das Niveau der damaligen Zivilisation keinen direktenEinfluss.

    Die Entstehung der Polymerchemie, der Wissenschaft von denKunststoffen, zu Anfang des 20.Jahrhunderts speiste sich aus mehre-ren Quellen. Eine herausragende Rolle spielte dabei der spätere No-belpreisträger Hermann Staudinger. Zum besseren Verständnis sol-len jedoch zunächst einige fundamentale Begriffe der Polymerchemiehinsichtlich ihres Ursprungs und ihrer Bedeutung erklärt werden.

    Hermann Staudinger derVater der Polymerchemie

    Das Adjektiv »polymer« (direkt aus dem Griechischen übersetzt:»vielteilig«) wurde erstmals von dem schwedischen Chemiker J. Ber-zelius 1832 in einer schwedischen Publikation gebraucht (ein Jahrspäter auch in einer deutschen Veröffentlichung). Gemessen an un-serem heutigen Verständnis basierte dieser Begriff jedoch auf dreiMissverständnissen. Erstens wurde er für vermeintliche Oligomere(»wenigteilige« Moleküle) des Ethylens verwendet. Zweitens bezeich-nete Berzelius damit ölige Beiprodukte der Weinherstellung, die garkeine Oligomere des Ethylens waren, und drittens verstand Berzeliusunter Ethylen ein Gas mit der Formel CH2. Dennoch setzten sich dieBegriffe polymer und Polymer durch, wurden aber noch etwa hun-dert Jahre lang für Oligomere benutzt. So berichtete Berthelot 1866und 1867 über die Polymerisation von Acetylen, beschrieb aber dieReaktionsprodukte Benzol und Styrol. Ferner wurden in Arnolds»Repetitorium der Chemie« noch 1896 Formaldehyd (CH2O), Essig-säure (C2H4O2), Milchsäure (C3H6O3) und Glucose (C6H12O6) alseine Serie von Polymeren vorgestellt. Erst ab 1933 verwendete Helfe-rich die Begriffe Oligosaccharide und Oligopeptide im heutigenSinne, wodurch indirekt auch der Begriff Polymere auf die Bezeich-nung langer Molekülketten festgelegt wurde.

    10 Historischer Überblick

  • Die erstaunlich späte Festlegung dieser fundamentalen Begriffe isterwähnenswert, weil sie die Denkweise der Wissenschaftler vor 1935widerspiegelt. In der Zeit davor waren fast alle Chemiker und mit Na-turprodukten befassten Wissenschaftler davon überzeugt, dass alleBiopolymere (Cellulose, Stärke, Proteine, Naturkautschuk) und derenDerivate sowie die wenigen damals bekannten synthetischen Polyme-re (Polystyrol, Polyformaldehyd) Assoziate von kovalent aufgebautenOligomeren darstellen. Es war das besondere Verdienst Staudingerseindeutig nachgewiesen zu haben, dass lange Polymerketten existie-ren können, deren Hunderte oder Tausende von Atomen ausschließ-lich durch Kovalenzen (feste Atombindungen) zusammengehaltenwerden. Staudinger benötigte zwanzig Jahre intensiver Arbeit, umdie internationale Wissenschaftsgemeinde von der Richtigkeit seinerHypothese überzeugen zu können. Zu seinen wissenschaftlichenGegnern gehörten auch zahlreiche »Koryphäen« der damaligen Zeit,insbesondere die Nobelpreisträger E. Fischer (1852–1919, Nobelpreis1902) und H. Wieland (1877–1957, Nobelpreis 1927).

    Fischer und seinen zahlreichen hervorragenden Mitarbeitern wares noch vor der Jahrhundertwende gelungen, Polysaccharide durchschrittweise Synthese mit Molekulargewichten bis zu 4000 g/molherzustellen. Bei Polypeptiden gelang die schrittweise Synthese biszu Molekulargewichten um 2000 g/mol. Fischer war der Ansicht,dass auch die von lebenden Organismen produzierten Biopolymerekeine Molekulargewichte oberhalb von 5000 g/mol haben könnten.Er starb 1919 und konnte somit keinen Einfluss mehr auf den weite-ren Verlauf der Auseinandersetzung nehmen.

    Staudinger wurde am 23. März 1881 in Worms geboren, wo er auchzur Schule ging. Er studierte zunächst Botanik in Halle, wechselteaber auf Rat seines Vaters zum Chemiestudium über. Nach Studienin Heidelberg und München promovierte er 1903 in Halle und habili-tierte 1907 bei Thiele in Straßburg mit Forschungsarbeiten über Ke-tene. Noch im gleichen Jahr erhielt er eine Professur an der THKarlsruhe und trat 1912 als ordentlicher Professor die Nachfolge vonWillstätter an der TH Zürich an. Dort forschte er zunächst fast aus-schließlich über Synthese und Eigenschaften niedermolekularer, or-ganischer Verbindungen. Ab 1920 begann er jedoch mit Arbeitenüber Strukturen und Eigenschaften von Naturkautschuk, Polystyrol(s. Formel 1) und Polyoxymethylen (Polyformaldehyd). Im Jahre 1926wurde er zum Direktor des chemischen Laboratoriums der Uni-

    Das Zeitalter der Kunststoffe 11

  • versität in Freiburg i. Br. berufen. Dort arbeitete er dann bis zu sei-nem Rücktritt 1956 ausschließlich über Synthese, Modifizierung undCharakterisierung von Polymeren. Während seines Umzugs nachFreiburg i. Br. traf er dort einige Male mit seinem Vorgänger Wielandzusammen, von dem folgender wohlgemeinter Ratschlag überliefertist:

    »Lieber Herr Kollege, lassen Sie doch die Vorstellung mit den großenMolekülen; organische Moleküle mit einem Molekulargewicht über5000 g/mol gibt es nicht. Reinigen Sie Ihre Produkte, wie z.B. Kaut-schuk, dann werden diese kristallisieren und sich als niedermolekulareStoffe erweisen.«

    Formel 1

    12 Historischer Überblick

  • Dieser Kommentar zeigt, wie schwierig es selbst für die kreativstenChemiker jener Zeit war, sich die Existenz langer Molekülketten ausfesten Atombindungen (Kovalenzen) vorzustellen, die von Staudin-ger als Makromoleküle bezeichnet wurden. Allerdings gab es experi-mentelle Befunde, welche die »ältere Micellartheorie« zu bestätigenschienen. So lassen sich Polystyrol und Polyformaldehyd beim Erhit-zen im Vakuum fast vollständig zu den Monomeren abbauen, undauch beim Naturkautschuk ist ein weiter gehender Abbau zu Isoprendurchführbar. Ferner wurden Molekulargewichtsmessungen von Cel-lulose und deren Derivate veröffentlicht, die Werte unter 900 g/molergaben. Warum diese (ebullioskopisch oder kryoskopisch durchge-führten) Messungen dermaßen falsche Werte ergaben, wurde späternie vollständig aufgeklärt. Dazu kamen Kristallstruktur-Analysen mitder damals noch neuen Röntgenstrahlung. Die Elementarzellen derkristallinen Bereiche ließen sich typischerweise mit zwei oder dreiWiederholungseinheiten der Polymere beschreiben. Da damals dieaus der organischen Chemie herrührende Überzeugung herrschte,dass durch die Elementarzelle auch die maximale Größe der kovalentaufgebauten Moleküle definiert ist, schien die Röntgenanalyse zu be-stätigen, dass die typischen Polymereigenschaften auf Assoziaten vonOligomeren beruhen (ältere Micellartheorie). Ein Widerspruch dazuergab sich erst 1927 aus einer Publikation, in der nachgewiesenwurde, dass die durch Endgruppenanalyse ermittelten Polymerisati-onsgrade von höheren Oligo(formaldehyden) die Dimensionen derElementarzellen deutlich überschritten.

    Staudingers Beweisführung zugunsten großer Makromoleküle be-ruhte vor allem auf den (seit 1928 sogenannten) polymeranalogenUmsetzungen. Hierbei handelt es sich um eine chemische Modifizie-rung von Makromolekülen, die zwei Bedingungen erfüllen müssen:

    1. Die Modifizierung der funktionellen Gruppen muss für alle Wie-derholungseinheiten quantitativ sein.

    2. Es darf kein Bruch der Hauptkette, d.h. kein Abbau des Polyme-risationsgrades stattfinden.

    Durch die quantitative Umwandlung der funktionellen Gruppen soll-ten sich die Eigenschaften der Polymere vollständig ändern. Eine Än-derung des Assoziationsverhaltens musste andere Molekulargewich-te liefern, wenn die Micellartheorie zutraf. Staudinger war zunächst

    Das Zeitalter der Kunststoffe 13

  • mit der Hydrierung von fraktioniertem Naturkautschuk erfolgreich(s. Formel 1). Danach gelang es, eine homologe Serie von Polystyro-len zu Polyvinylcyclohexanen zu hydrieren (s. Formel 1) und immerentsprachen die Molekulargewichte weitgehend denjenigen der un-gesättigten Ausgangspolymere. Es folgten Umsetzungen von Cellulo-se, Amylopektin (Stärke) und Glykogen zu den entsprechenden Tria-cetaten (s. Formel 1). Die meisten dieser polymeranalogen Umset-zungen von Polysacchariden wurden von E. Husemann durchge-führt, die auch nach 1956 Staudingers Nachfolge als Direktorin desneu gegründeten Instituts für Makromolekulare Chemie in Freiburgi. Br. antrat, das ab 1962 in einem eigenen Neubau, dem »Hermann-Staudinger-Haus«, untergebracht wurde.

    Die Ergebnisse der polymeranalogen Umsetzungen wurden unter-stützt durch Molekulargewichtsbestimmungen einzelner Polymerein verschiedenen Lösungsmitteln. Assoziate sollten in verschiedenenLösungsmitteln unterschiedliche Größen haben und somit unter-schiedliche Molekulargewichte ergeben. Identische Molekularge-wichte sprachen dagegen eindeutig für die Existenz langer Kovalenz-ketten. Bis Anfang der 1930er Jahre hatte Staudinger den größtenTeil der internationalen Fachwelt von der Richtigkeit seiner Theorieüberzeugt. Da kam noch mal ein Rückschlag in Form der »Neuen Mi-cellartheorie«. K.H. Meyer und H. Mark propagierten in mehrerenVeröffentlichungen die Hypothese, dass Polymere mit Polymerisa-tionsgraden von 50 bis 60 Monomereinheiten wohl existieren könn-ten, dass aber erst durch Bündelung oder Assoziation dieser Polyme-re die typisch viskosen Lösungen und kolloidalen Eigenschaften zu-stande kämen. Bis zu Beginn des 2. Weltkrieges konnte Staudingerauch diese »Neue Micellartheorie« widerlegen. Die lange Zeit, dieStaudinger um die internationale Anerkennung seiner Vision derMakromoleküle kämpfen musste, erklärt, warum ihm der Nobelpreiserst im Jahre 1953 verliehen wurde, zwei Jahre nach seiner Emeritie-rung. Staudinger starb am 8.9. 1965 in Freiburg i. Br.

    Zu den kuriosen Aspekten der Geschichte der Polymerchemie ge-hört es, dass sich die chemische Industrie verschiedener Länder mitder Produktion von Polymeren zu befassen begann, lange bevor dieDiskussion über die Existenz von Makromolekülen ein Ende gefun-den hatte. Ja sogar schon vor Beginn von Staudingers Forschungsar-beiten, d.h. schon vor 1915, gab es in mehreren Ländern Firmen, diesich um Produktion und Kommerzialisierung verschiedener Polyme-

    14 Historischer Überblick

  • re bemühten. Auslöser dieser Entwicklung war vor allem der Natur-kautschuk, welcher zunächst nur von »Gummibäumen« (Hevea brasi-liensis) in Brasilien, später aber auch von Plantagen in Ostasien bezo-gen werden konnte. Naturkautschuk besteht aus Polyisoprenketten,die ähnlich wie Spaghetti in einem losen Haufen unter Zug oderDruck voneinander abgleiten können. Das heißt, chemisch unverän-derter Naturkautschuk ist eine zähe, viskos fließende Masse, die zu-nächst nur wenige Anwendungen fand, z.B. zum Imprägnieren vonStoffen, um diese wasserdicht zu machen.

    Um ein gebrauchsfähiges Gummimaterial zu erhalten, müssen diePolyisoprenketten durch kovalente Vernetzung am Abgleiten, alsoam Fließen, gehindert werden. Ch. Goodyear entwickelte von1839–1844 den ersten technisch brauchbaren Vernetzungsprozess,das Vulkanisieren, durch Erhitzen von Naturkautschuk mit wenigelementarem Schwefel. Dieser Basiserfindung folgten in den an-schließenden Jahrzehnten zahlreiche Nutzanwendungen, wobei dieEntwicklung aufblasbarer Reifen eine herausragende Rolle spielte.Die Erfindung des Laufrades und Fahrrades durch den FreiherrnDrais von Sauerborn sowie die Erfindung und Entwicklung des Per-sonenkraftwagens durch K. Benz und G. Daimler nach 1885 sorgtenfür eine rapide Steigerung des Gummibedarfs, sodass sich eine neueReifenindustrie entwickeln konnte. Zwei voneinander im Prinzip un-abhängige Erfindungen befruchteten sich hier gegenseitig aufs Beste.

    Der Bedarf und der Preis von Naturkautschuk stiegen schon gegenEnde des 19. Jahrhunderts so stark an, dass man bei den Farbenfabri-ken Bayer nach einer preiswerten synthetischen Alternative zu su-chen begann. Schon 1912 begann die Produktion von Pol(2,3-Dime-thylbutadien) in kleinen Mengen. Obwohl die Eigenschaften diesesersten synthetischen Elastomeren nicht ganz den Wünschen der Rei-fenhersteller entsprachen, war hiermit der Durchbruch zur Herstel-lung des ersten vollsynthetischen Gummimaterials gelungen, eineEntwicklung, die sich nach dem 1. Weltkrieg verstärkt fortsetzte(s. Kapitel »Natur-Kautschuk, Gummi-Elastomere«).

    Ein erster Weg zur technischen Produktion eines thermostabilenKunststoffes ergab sich aus der Erfindung des in die USA ausgewan-derten belgischen Chemikers L. Baekeland. Er entwickelte um 1905ein durch Erhitzen härtbares Polykondensat aus Phenol und Formal-dehyd, das er Bakelit nannte (s. Kapitel »Kunststoffe, Werkstoffe,Plastik«). Dieser leichte, feste Werkstoff war elektrisch isolierend und

    Das Zeitalter der Kunststoffe 15

  • weniger zerbrechlich als Porzellan oder Glas. Er ermöglichte nuneine preiswerte Herstellung von Bauteilen für Transformatoren undKondensatoren sowie für Steckdosen und Stecker. Er leistete dahereinen entscheidenden Beitrag zur Nutzbarmachung der Elektrizitätin Alltag und Industrie. Ferner eignete sich Bakelit zur Herstellungzahlreicher Gebrauchsgegenstände für Haushalt und Küche. Diebraune Farbe sowie die schlechte Anfärbbarkeit verhinderten aller-dings den ganz großen Erfolg und ermöglichten es anderen Kunst-stoffen in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg Bakelit wieder vomMarkt zu verdrängen. Es bleibt aber festzustellen, dass mit Natur-kautschuk, Synthesekautschuk und Bakelit das Kunststoffzeitalter be-gann, das durch Staudingers Arbeiten nach dem 1. Weltkrieg seinenSiegeszug verstärkt fortsetzte. Weitere Einzelheiten dieser Entwick-lung sind in den Kapiteln der einzelnen Produktgruppen aufgeführt.

    Tabelle 1 Produktgruppen und Anwendungen synthetischer Polymere

    Produktgruppe Anwendungen

    Kunststoffe,genauer Werkstoffe

    werden für die Herstellung fester Formteile verwendet, vomKugelschreiber über Kaffeemaschinen zu Auto- undBootskarosserien oder Flugzeugrümpfen

    Fasern und Garne für industrielle Gewebe, Textilien, Taue und SportartikelElastomere finden vielseitige Anwendung: vom Radiergummi über

    Hosenträger zu Fahrzeugreifen und VentildichtungenFilme und Folien werden genutzt für Kino- und Fotofilme,

    Lebensmittelverpackungen, Einkaufstüten oderAbdeckplanen

    Farben und Lacke: Polymere bilden die Deckschicht bzw. Schutzschicht desbemalten Objektes und fixieren die Farbstoffe und Pigmente

    Klebstoffe finden heute nicht nur Anwendung für die Fixierung vonPapier auf Pappe oder Holz auf Holz, sondern auch für dieVerbindung von Metall und Holz, Metall und Metall, Metallund Keramik oder die Verbindung verschiedener Keramikund Glassorten

    Schaumstoffe gibt es weich und hart, mit offenen und geschlossenenPoren; sie dienen als Sitze und Liegepolster, alsVerpackungsmaterial oder zur Wärmeisolierung z.B. inKühlschränken

    ResorbierbareMaterialien

    finden vielseitige Anwendung in der Medizin, z.B. alsNähfäden im Körper, als Wundabdeckungen oderresorbierbare »Drug Delivery Systems«

    Trägermaterialien für chromatographische Methoden aller Art, dienenanalytischen Zwecken in der Forschung, für Schnelltests inder Diagnose von Schwangerschaften oder Krankheitensowie für die Gewinnung von destilliertem Wasser

    16 Historischer Überblick

  • Um Missverständnisse zu vermeiden, soll hier jedoch aufgezeigtwerden, dass der in der Umgangssprache gebräuchliche Begriff»Kunststoff« die vielfältigen Eigenschaften und Anwendungen derim 20. Jahrhundert entwickelten Polymere (Makromoleküle) nichtadäquat wiedergibt. Tabelle 1 zeigt auf der vorherigen Seite eine kurzeAufstellung der wichtigsten Produktgruppen.

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    Literatur 17