27
Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Germanistik Prof. Dr. Ulrich Schmitz Identität beim „authentischen“ Saussure und dem „späten“ Wittgenstein Sprachtheorien gegen mörderische Identitäten vorgelegt von Magnus Frank (2011)

Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

  • Upload
    lamnhan

  • View
    219

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

Universität Duisburg-Essen

Fakultät für Geisteswissenschaften

Institut für Germanistik

Prof. Dr. Ulrich Schmitz

Identität beim „authentischen“ Saussure und dem „späten“ Wittgenstein

Sprachtheorien gegen mörderische Identitäten

vorgelegt von

Magnus Frank

(2011)

Page 2: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

1

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung ...............................................................................2 Einleitung .......................................................................................3 1. Identitäten ..................................................................................5 2. Identität bei Saussure .................................................................9

2.1 Form und Sinn .................................................................... 10 2.2 Drei falsche Identitäten....................................................... 13

2.2.a Identität mit sich selbst.................................................. 15 2.2.b Intersubjektive Identität ................................................ 16 2.2.c Identität in der Zeit ........................................................ 17

3. Kontrastive Analyse - Identität bei Wittgenstein.....................19 4. Fazit..........................................................................................23 Literatur........................................................................................26

Page 3: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

2

Vorbemerkung

Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder

Saussure“ von Prof. Schmitz im WS 09/10 an der Universität Duisburg-Essen. In

diesem Arbeitszusammenhang ging es vor allem um einen Vergleich des Denkens über

Sprache des „späten“ Ludwig Wittgenstein, stellvertretend durch seine

„Philosophischen Untersuchungen“ (1953), und des „authentischen“ Ferdinand de

Saussures, abseits des „Cours de linguistique générale“ (1931), d.h. der Saussure-

Rezeption, die sich mit seinen unveröffentlichten und nicht autorisierten Schriften

beschäftigt, dabei zu nennen vor allem „Wissenschaft der Sprache“ (2003) und

„Linguistik und Semiologie“ (2003).

Der besseren Lesbarkeit halber werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit folgende

Abkürzungen verwendet werden: LW = Ludwig Wittenstein; PU = Philosophische

Untersuchungen; FdS = Ferdinand de Saussure; WdS= Wissenschaft der Sprache; LuS

= Linguistik und Semiologie.

Da im Folgenden Zitate durch Kursivschreibung gekennzeichnet sind, werden Stellen,

die im Original kursiv gedruckt sind, von mir durch Unterstreichung hervorgehoben.

Page 4: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

3

Einleitung Die Identität ist zunächst eine Frage von Symbolen und sogar von Äußerlichkeiten. Wenn ich in einem Parlament Menschen sitzen sehe, die einen mir verwandten Namen tragen, die die gleiche Hautfarbe oder die gleichen Neigungen bzw. die gleichen Schwächen haben, dann kann ich mich von ihm [dem Parlament, MF] repräsentiert fühlen.

(Maalouf 2000, S.106)

Ich werde mich in dieser Arbeit mit dem Begriff Identität entlang der Theorien des

„späten“ Wittgenstein und des „authentischen“ Saussures beschäftigen. Dabei kommt

dem Sprechen über Identitäten in den hoch aufgeladenen Debatten um Einwanderer und

ihre Kinder, dabei vor allem muslimische, eine besondere Bedeutung zu (z.B. bei den

Begriffen „der Westen“, „das Abendland“ oder „christlich-jüdische Tradition“). Denn

durch Identitätszuschreibungen im Sinne eines „anders-als“ werden in der Gesellschaft

Grenzziehungen vorgenommen und Privilegien können für bestimmte Gruppen

gesichert werden.

Dieses „anders-als“ stellt in Form des Begriffs Differenz das Fundament

strukturalistischer Forschung dar, für welche gemeinhin Saussure als Begründer gilt.

Durch dessen Hauptwerk „Cours de linguistique générale“ (1931) ist die

strukturgebende Unterscheidung in Bezeichnendes und Bezeichnetes in die Philosophie

und Soziologie des letzten Jahrhunderts eingegangen, herausgehoben sei dabei das

Werk des Ethnologen Claude Lévi-Strauss (vgl. Keller 2011, S. 15).

Dabei ergibt sich eine andere Sichtweise auf das doch recht starre strukturalistische

Moment Saussures im „Cours“, wenn man sich ausschließlich mit den

unveröffentlichten Schriften aus dem Nachlass Saussures beschäftigt. Denn in diesen

liegt sein Denken viel näher an der Sprachtheorie seines vermeintlichen Widersachers

Wittgenstein. Während Wittgensteins Sprachspiel, als das Fundament der

Gebrauchstheorie der Bedeutung, dem System von Sprache Saussures im „Cours“

(Saussure nennt dieses System langue) entgegen steht, kann in den nachgelassenen

Schriften Saussures hingegen eine Vereinbarkeit seiner (systemisch-)dynamischen

Bedeutungstheorie mit Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung festgestellt

werden.

Page 5: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

4

Wie sich das Verhältnis der Sprachtheorien beider Denker entlang des Begiffs Identität

ausgestaltet, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Begründet durch den aktuellen sozio-

politischen Relevanzrahmen des Begriffs Identität wurde zudem ein Untertitel für diese

Hausarbeit gewählt, der auf Amin Maaloufs Essay „Mörderische Identitäten“ Bezug

nimmt. In diesem Essay unternimmt Maalouf auf interpersonaler bzw. interkultureller

Ebene den Versuch, die mörderisch-praktischen Konsequenzen von

Identitätszuschreibungen aufzudecken. Dabei geht es ihm vor allem um die real-

politischen Konsequenzen aus vereinfachten Identitätszuschreibungen, bei denen die

personale Identität eines Menschen auf National-, Religions- und/oder

Ethnozugehörigkeit reduziert wird. Maalouf verlässt dabei nicht das Feld des In-

Identitäten-Denkens, sondern plädiert vielmehr für eine Bewusstwerdung der

Komplexität und Vielschichtigkeit des Begriffes Identität. Er selbst, als ein aus dem

Libanon stammender Christ, der Frankreich als sein Zuhause bezeichnet, sieht sich nicht

als komplexen Ausnahmefall einer homogenen Regel; sondern vielmehr entspreche sein

Leben selbst der Regel von Lebenswelten in einer sich immer weiter globalisierenden

und pluralisierenden Welt. Was seinen Fall jedoch besonders macht, ist der Umstand,

dass die im Fokus der diskursiven Aufmerksamkeit stehenden und sich durch ihre

begriffliche Identität vermeintlich ausschließenden Konstruktionen (namentlich:

entweder Christ-Sein und Europäer-Sein oder Muslim-Sein und Orientale-Sein) samt

zugehöriger Attribute ihre Funktionalität verlieren.

Vor diesem Hintergrund wird in dieser Arbeit folgendermaßen vorgegangen werden: In

einem ersten Schritt wird (1.) über die Relevanz des Begriffes Identität für die

Sprachtheorien des „authentischen“ Saussures und des „späten“ Wittgenstein

gesprochen werden, worauf (2.) eine genauere Analyse der Verwendung des

Identitätsbegriffes in der Theorie des „authentischen“ Saussures folgt und an welche

sich (3.) eine kontrastive Analyse des Identitätsbegriffs bei Wittgensteins entlang der

Philosophischen Untersuchungen anschließt (3.). Abschließend werden in einem Fazit

(4.) die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und beurteilt.

Page 6: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

5

1. Identitäten

Mit Saussure kann die Frage nach der sozial-praktischen Bedeutung von Identitäten als

wichtig herausgestellt werden, da durch sie die fundamentale Frage nach dem

sinnvollen Vorgehen des Forschers gestellt wird:

[…] [es ist, MF] außerordentlich erstaunlich, daß es von Anfang an

unmöglich ist, über gegebene INDIVIDUEN nachzudenken, um dann

anschließend zu verallgemeinern; [es ist ebenso erstaunlich, MF] daß

man <als Sprachwissenschaftler> im Gegenteil mit der

Verallgemeinerung beginnen muß, wenn man etwas erhalten will, das dem

entspricht, was anderenorts das Individuum ist.

(FdS: WdS, S. 93)

Saussure nimmt dabei den Weg über das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit,

über welches sich für ihn zwei Aussagen treffen lassen. Erstens: Ein möglicher

Identitätsträger ist entweder ein Individuum oder aber etwas Allgemeines; und zweitens:

Das Individuelle hat das Allgemeine zur Bedingung. Das bedeutet, dass zuerst eine

theoretische Verallgemeinerung getroffen wird, bevor aus der Praxis heraus ein

individueller Identitätsträger mit diesem Allgemeinen verglichen und behauptet werden

kann.

Auch Wittgenstein reflektiert diese Arbeit des Forschers. Er tut dies jedoch aus

ganzheitlich-philosophischer Perspektive, wofür zwei Aussagen meiner Ansicht nach

zentral sind:

Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden,

gleichsam verschiedene Therapien.

(LW: PU, §133)

und

Die bürgerliche Stellung des Widerspruchs, oder seine Stellung in der

bürgerlichen Welt: das ist das philosophische Problem.

(ebd., §125)

Page 7: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

6

Die bei Saussure erkannte Bedingtheit des Individuellen wird bei Wittgenstein durch die

von ihm beschriebene Stellung des Widerspruchs in der bürgerlichen Welt

problematisiert, da das Bürgertum klassischerweise einen widerspruchsfreien

Vernunftanspruch vertritt. Der Bürger versteht das Individuelle ausschließlich als

Individuelles (so dass für alle Zeiten und Perspektiven gilt: a= a) und nicht als Ergebnis

einer zuvor vollzogenen, wenn auch unbewussten, Verallgemeinerung (wodurch gelte: a

folgt aus einem zeit-, kontext- und subjektabhängigen b; und somit a1 # a2 # a3 #...an).

Denn würde der Bürger sich selbst den Widerspruch zugestehen, dass das Individuelle

durch das Allgemeine bedingt ist, gäbe er sein konservatives Bürgertum und seine (im

Wortsinne!) prädestinierte Stellung auf. Am Beispiel des bürgerlichen Sprechens über

die Begabungen von Kindern lässt sich dies plausibilisieren:

Der Bürger, wie ihn etwa der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Hauptwerk „Die

feinen Unterschiede“ (1983) zeichnet, sieht in seinem Kind einen zu jeder Zeit mit sich

selbst identischen Träger einer individuellen Begabung, da die Gabe einer Begabung die

eigene vorteilhafte Stellung in der Gesellschaft quasi naturrechtlich legitimiert. Würde

der Bürger stattdessen sehen, dass seine Begabungsannahme aus der meritokratischen

Theorie deduktiv geschlossen wurde, wäre die bürgerliche Stellung aufgrund fehlender

naturgegebener Legitimation in Gefahr und somit die individuelle (Begabungs-)Identität

nicht mehr gegeben. Die naturrechtlich verstandene Begabung müsste dann als

abhängig von sozialisatorischen Faktoren, wie etwa dem familialen Milieu, gesehen

werden. Für die legitime Reproduktion der eigenen Stellung und der seiner Kinder muss

der Bürger somit an die Begabungstheorie und die individuelle Identität seiner Kinder

glauben, weil sich für ihn dadurch kein Widerspruch zwischen der eigenen

privilegierten Stellung in der Gesellschaft und der dahinter liegenden Theorie ergibt.

Wittgenstein spricht mit seiner Kritik an der bürgerlichen Stellung zum Widerspruch

also etwas Gesellschaftskritisches aus, was der (bürgerliche) Saussure für seine

Theoriebildung entlang des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinen deshalb

auch „erstaunlich“ findet. Bezieht man dies auf den aktuellen soziopolitischen

Relevanzrahmen, zeigen sich somit kulturell, religiös oder ethnisch ausgestaltete

individuelle Identitäten, als Konstrukte einer vorhergehenden Kulturtheorie, entlang der

die Subjekte eingeteilt werden können. Kinder von Menschen libanesischer Herkunft,

wie etwa Maalouf, bleiben so in öffentlichen Diskursen qua ihrer Natur (oder auch

Page 8: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

7

bürgerlicherweise) Libanesen, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, da die

vorherrschende dichotome Kulturtheorie ihre Subsumierung unter die Gruppe der

autochthonen Bevölkerung in den Nationalgesellschaften der europäischen Länder

unmöglich macht.

In Wittgensteins Werk ist es sodann der zentrale Anspruch an die Philosophie, die als

Therapie fungieren soll, welcher das Denken über Identitäten generell legitimiert. Denn

wenn Philosophie in der Lage ist, nicht-konsistente Identitäten zu entlarven, kann sie, so

Wittgenstein, den einzelnen Menschen in seinem Denken und mit ihm die

gesellschaftliche Kommunikation heilen. Während er diesen Umstand im Tractatus

logico-philosophicus noch durch den rein theoretisch-abstrakten Weg in die

Idealsprache, die keinen Raum mehr für Ungenauigkeiten lässt, vollziehen will, stellt er

in den Philosophischen Untersuchungen das Wissen um die Undefinierbarkeit von

Begriffen als Paradigma für ein geheiltes Bewusstsein heraus und setzt sich selbst somit

als schreibenden Philosophen, der nicht nur abstrakt denkt, in die sozial-praktische

Lebenswelt ein. Es ist „Die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache“

(ebd. §110), die in den „Philosophischen Untersuchungen“ aufgedeckt werden soll,

sprich: die inkonsistente Strukturierung unseres Denkens durch einen per Sprache

vermittelten Glauben an Identitäten.

Aus Saussures Werk heraus ergibt sich zudem eine interessante Verbindung zum

Anliegen Maaloufs. Denn indem Maalouf das Denken über Identitäten nicht aufgibt,

sondern für Komplexität plädiert, übernimmt er den Saussureschen Gedanken des

Blickpunktes, auf den im Weiteren genauer eingegangen werden wird. Dieser

Blickpunkt kann meiner Ansicht nach als praktisch-soziale Komponente des Denkens

über Sprache und Identität angesehen werden. Demzufolge kann es kein Leben

außerhalb eines Standpunktes (Blickpunktes) geben, was nach Saussure jedoch von

allzu theoretisch agierenden Denkern unberücksichtigt gelassen wird. Wenn Maalouf

also anstelle einer Absage an ein In-Identitäten-Denken die Bewusstmachung von

Komplexität als politisches Ziel herausstellt, trägt er damit dem Saussureschen

Gedanken des Blickpunktes Rechnung, der die soziale Welt in die theoretische Analyse

von Sprache mit einschließt.

Page 9: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

8

In dieser Arbeit wird deshalb versucht werden, sowohl Saussures theoretisch-

sprachwissenschaftliche und dabei sozial-verankerte als auch Wittgensteins

ganzheitlich-sprachphilosophische und dabei heilende Theorie der Identität zu

beschreiben und zugleich auf den aktuellen sozio-politischen Relevanzrahmen zu

verweisen. Vorgreifend kann dabei festgehalten werden, dass die gemeinhin unterstellte

Unvereinbarkeit der Denkweisen Wittgensteins und Saussures über Sprache, die sich

auch in dem ausschließenden „oder“ des Titels des linguistischen Oberseminars

ausdrückte, nicht aufrechterhalten werden kann. Auf den Aspekt der Identität bezogen

kann sogar behauptet werden, dass ein Vergleich Wittgensteins mit dem

„authentischen“ Saussure die Unvereinbarkeit der beiden nicht nur aufhebt, sondern das

„oder“ des Seminartitels in ein „und“ verkehrt, da sich die ausschließende

Negativannahme des „oder“ gemeinhin auf einen Vergleich zwischen dem von den

Saussureschülern Bally und Sechehaye herausgegebenen „Cours de linguistique

générale“ 1 und dem „späten“ Wittgenstein2 der „Philosophischen Untersuchungen“

bezog.

Bezieht man diese Theoriediskussion nun auf den Aspekt mörderischer Identitäten, wie

Maalouf sie postuliert, wird deutlich, dass dies in der für den Zusammenhalt der

Gesellschaft wichtigen Frage mündet, inwieweit ein fremd- oder selbstetikettierender

Sprechakt (z. B. „Du bist Orientale“ oder „Ich bin Europäer“) mit einer dahinter

liegenden Struktur der Differenz (sei sie ethnisch, kulturell oder religiös) sinnvoller

Weise korrespondiert oder ob nicht das verallgemeinernde Theoriefundament der

Kulturdifferenz der Wirklichkeit voraus geht und diese einer self-fulfilling prophecy

gemäß zu (Un-)Gunsten mancher Gruppen strukturiert. Daraus ergibt sich weiterhin die

Frage, auf welche Art und Weise und in wieweit eine Reflexion des von Wittgenstein

1 Es soll an dieser Stelle auf den Umstand, dass es sich beim „Cours“ um eine Rekonstruktion der Mitschriften Dritter (Studenten), die die drei Vorlesungen (1907-1911) Saussures über allgemeine Sprachwissenschaft besuchten, handelt, hingewiesen werden. (Vgl. das Nachwort von Peter Ernst zur dritten Auflage der „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“, S.302 f.) 2 In der Rede vom „frühen“ und „späten“ Wittgenstein sollten beide Hauptwerke (Tractatus logico-philosophicus“ und „Philosophische Untersuchungen“) jedoch nicht abgekoppelt voneinander betrachtet werden. Denn Wittgensteins Hauptgedanke der „Philosophischen Untersuchungen“, die Gebrauchstheorie der Bedeutung, die im Sprachspiel seine praktische Ausformulierung erlangt, in welchem die Bedeutung der Begriffe immer wieder aufs neue aus dem Gebrauch generiert wird, ist ein Produkt seines gescheiterten positivistischen Versuches im „Tractatus logico-philosophicus“, eine Sprachwelt zu beschreiben, die nicht sozial-praktisch ist.2 Zusätzlich könnte historisch-biographisch die Frage aufgeworfen werden, ob nicht auch die Erfahrung von zwei Weltkriegen ihre Spuren im Denken des einst positivistisch-idealistischen Philosophen hinterlassen hat.

Page 10: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

9

eingeführten Sprachspiels als Theorie in der sozial-praktischen Wirklichkeit

therapeutisch wirken könnte.

2. Identität bei Saussure

Durch Bally und Sechehaye wurde bei Saussure eine starke Trennung zwischen

Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichnetem (signifié) im Denken über Sprache

postuliert, aus der sich, wenn auch arbiträr, Identitäten (sprachliche Einheiten) ableiten

lassen. So gilt klassischer Weise nach Saussure, dass

[…] die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, das aus der

Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht.

(FdS 2001, S. 77)

Aus dieser dichotomen Unterscheidung kann die Bedeutung des Systems als Grundlage

von Sprache verstanden werden, und aus dem Systemgedanken heraus entwickelte sich

zudem im Späteren die Theorieschule, die allgemein als Strukturalismus bezeichnet

werden kann. Die Schüler und Mitarbeiter Saussures rekonstruieren also im „Cours“

derart das System, und damit ebenso die Begriffe Differenz, Bezeichnendes und

Bezeichnetes, dass der dynamische Aspekt desselben in den Hintergrund geriet und

stattdessen eine sich zwar in der Zeit verändernde, aber doch relativ starre Struktur der

Sprache und ihrer Zeichen angenommen wurde.

In den nachgelassenen Schriften tritt die Dynamik der Struktur von Sprache als System

jedoch in den Vordergrund. Dies geschieht derart deutlich, dass die Grenzen zwischen

der systemischen Sprachwissenschaft Saussures und Wittgensteins Gebrauchstheorie,

die ganz ohne den Systemgedanken auskommt, jedoch als Theorie-Ersatz dafür das

Sprachspiel einführt, oftmals verschwimmen. Dies soll im Weiteren genauer aufgezeigt

werden.

Nachdem im vorangegangen Kapitel die Relevanz des Begriffes Identität aufgezeigt

wurde, soll nun die Verwendung desselben bei Saussure analysiert werden. Dabei wird

in einem ersten Schritt eine Betrachtung der für Saussure fundamentalen

Begrifflichkeiten Form und Sinn erfolgen. Woraufhin drei von Saussure postulierte

Page 11: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

10

theoretisch mögliche, jedoch in der Praxis falsche Identitäten und die dazugehörigen

vier Blickpunkte genauer in den Blick genommen werden.

2.1 Form und Sinn

Für Saussure gibt es Bedingungen für das Sprechen über sprachliche Identitäten:

Das absolut Besondere an einer sprachlichen Identität besteht darin, dass

sie die Assoziation zweier ungleichartiger Elemente impliziert.

(FdS: WdS, 76)

Der Begriff Assoziation zeigt dabei die Bedeutung subjektiver Praxis gegenüber

abstrakter Theorie an, denn etwas ist nicht assoziiert, sondern es wird assoziiert. Die

beiden Elemente, von denen Sausure sodann spricht, sind Sinn und Form, die stets

zusammen gedacht werden müssen, wenn Aussagen über Identität getroffen werden

wollen. Ihre Ungleichartigkeit ist dabei keine natürliche Tatsache, sondern ergibt sich

aus dem Ansinnen des Sprachwissenschaftlers, der die „Begriffe klassifiziert, um

anschließend die Formen zu betrachten“. Dies gelingt jedoch nur theoretisch und nicht

widerspruchsfrei praktisch, denn „in beiden Fällen verkennt er das, was

<unzweifelhaft> Gegenstand seiner Untersuchung und seiner Klassifikationen ist,

nämlich <ausschließlich> der Punkt, an dem die beiden Bereiche miteinander

verbunden sind“ (ebd.). Sinn und Form sind somit aufgrund des deduktiven Vorgehens

des Sprachwissenschaftlers nur theoretisch getrennt. Saussures Systembausteine langue,

langage und parole zementieren aufgrund dieser Einsichten keine drei Welten, sondern

stellen lediglich einen Perspektivwechsel (bzw. Blickpunktwechsel, um in Saussures

Terminologie zu bleiben) dar.

Doch nun sollen Form und Sinn genauer betrachtet werden:

Es ist falsch <(und nicht durchführbar)> Form und Sinn einander

entgegenzusetzen. <Dagegen ist es richtig>, lautliche Figur einerseits und

Sinn-Form [forme-sens] andererseits einander entgegenzusetzen.

(FdS: WdS, S. 75)

Page 12: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

11

Diese Formulierung steht im Mittelpunkt des Vorwortes von Kapitel „I [Über das

doppelte Wesen der Sprache]“ der „Wissenschaft der Sprache“. Sie trägt den

Hauptgedanken Saussures in Bezug auf Identitätskonstruktionen (Entgegensetzungen),

der im Weiteren einzeln ausformuliert werden soll, voraus.

Dabei kann Form im voran stehenden Zitat nicht als „[…]eine lautliche Figur, die für

das Bewusstsein der Sprecher bestimmt, d.h. zugleich existent und abgegrenzt ist.“

(ebd., S. 98) verstanden werden, wie Saussure es an anderer Stelle formuliert. Wenn es

heißt, dass es falsch sei, „Form und Sinn einander entgegenzusetzen“, dann geschieht

dies, um mit der gängigen Vorstellung zweier Welten (die Welt der materiellen Dinge

und die Welt der Bedeutung) im Sinne einer augustinischen Abbildtheorie zu brechen.3

Saussure bedient sich im o. g. Zitat also zuerst einer für ihn falschen Verwendungsweise

von Form in Funktion einer theoretischen Krücke, um durch ein alltägliches

Verständnis seine Unterscheidung erläutern zu können.4 Anschließend entgegnet er

dieser Denkweise jedoch berichtigend („<Dagegen ist es richtig>“), indem er an die

Stelle einer Sinn(-Welt) und einer Form(-Welt), eine Sinn-Form(-Welt)5 setzt, der sich

von zwei verschiedenen Standpunkten aus nähern lässt: von der Form aus (d. h. von der

lautlichen oder graphischen Figur) oder aber vom Sinn aus (d. h. von der Sinn-Form).

Die zuständigen Wissenschaften wären somit (von der Form aus) die Morphologie6 oder

aber (vom Sinn aus) die Semantik. Beides zusammen fällt unter die Linguistik, oder in

Saussures Worten: unter die Semiologie, welche die Linguistik umschließt.7

3 Wittgenstein zitiert für das kontrastive Einleiten seiner Gebrauchstheorie eine Stelle aus Augustinus’ Confessiones: „So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte.“ (LW: PU, §1). 4 Diesen Gedanken einer theoretischen Krücke entwickele ich in Analogie zum Problem der Rede vom Ding an sich im philosophischen System Kants. Kant wird meiner Ansicht nach für seine Erkenntnistheorie ungerechtfertigter Weise vorgeworfen, allein schon durch die Redeweise von „Dingen an sich“, eine Zwei-Welten-Theorie aufzustellen, der er im späteren auch durch die Einführung der dazu im Kontrast stehenden „Erscheinungen“ nicht mehr entfliehen könne. Bei Saussure verhält es sich meiner Ansicht in diesem Fall genauso. 5 Möglich wäre ebenso der Begriff Form-Sinn(-Welt). 6 „Definition: die Morphologie ist die Wissenschaft, die sich mit den Lauteinheiten befaßt, welche einem Teil der Vorstellung entsprechen, und sie befaßt sich mit der Gruppierung dieser Einheiten“ (FdS: LuS, S. 287). 7„Man hat herausfinden wollen, ob die Linguistik zur Ordnung der Naturwissenschaften oder zu jener der historischen Wissenschaften gehört. Sie gehört zu keiner der beiden, sondern zu einer Abteilung der Wissenschaft, <die, wenn sie nicht existiert, existieren sollte unter dem> Namen Semiologie, das heißt Wissenschaft der Zeichen oder Untersuchung [étude] dessen, was sich ereignet, wenn der Mensch versucht, sein Denken mittels einer notwendigen Konvention zu bedeuten“ (FdS: LuS, S. 404).

Page 13: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

12

Die Verwobenheit von Sinn und Form macht Saussure auch an anderer Stelle deutlich:

Alles hängt voneinander ab. Man kann in der Morphologie also nicht

unmittelbar von Identität sprechen, wenn man nur die Form oder [nur,

MF] den Sinn betrachtet

(ebd., S. 91)

Saussure problematisiert dies ebenso in Bezug auf seine eigene Tätigkeit als

Sprachwissenschaftler, dessen Tun immer auf <die <außerordentlich> schwierige

<und heikle> Operation hinaus>[läuft, MF], Einheiten zu definieren (ebd., S.86). Von

lautlicher Figur zu sprechen bedeutet demgemäß, (auch als Sprachwissenschaftler) den

Standpunkt der physiologisch-akustischen (lautlichen) Form (Figur) einzunehmen,

womit die soziale Differenz einbezogen ist, denn die lautliche Figur unterscheidet sich

vom Laut dahingehend, dass sie mit Sinn befüllbar wird, der nur im Sozialen denkbar

ist.

Aus diesem Gedankengang ergibt sich ein generelles Problem im Umgang mit den

Schriften des „authentischen“ bzw. des übersetzten „authentischen“ Saussures, welches

auch in dem Umstand, dass die „authentischen“ Textfragmente durch ihn zu Lebzeiten

nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurden, deutlich wird. Denn einerseits wird, wie

im vorausgegangenen Abschnitt, in der Rezeption der Fragmente versucht, Saussures

Ausführungen kohärent zu lesen, andererseits schaffen es gleichartige

Wortverwendungen doch immer wieder, Verwirrung zu stiften. Ein solches Beispiel ist

die Verwendung des Begriffs lautliche Figur:

Die Form außerhalb ihres Gebrauchs <gelten zu lassen>, heißt, sich mit

der lautlichen Figur abgeben, für die Physiologie und Akustik zuständig

sind […], was der beste Beweis für die völlige Unangemessenheit der

Form [de l’être forme] außerhalb ihres Gebrauchs ist.

(ebd., S. 91)

Saussure beschreibt in dieser Formulierung die, in meinen vorherigen Ausführungen im

Sozialen verankerte, lautliche Figur lediglich als das, was ich versucht habe, mit ihm als

Page 14: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

13

akustisch-physiologischen Laut zu kennzeichnen. Der sich schwierig gestaltende

Umgang mit den Fragment gebliebenen Nachlasstexten wird daraus ersichtlich.

Es soll deshalb festgehalten werden, dass Form und Sinn in Saussures Theorie zwei

miteinander verwobene Perspektiven (Blickpunkte) auf ein und dasselbe Zeichen

bedeuten. Dieses Zusammenspiel, von dem die Rede über Identitäten abhängt, weil

Identität etwas sich selbst gleich Bleibendes behauptet, ist nach Saussure wiederum

selbst dynamischen Prozessen durch seinen Gebrauch in der sozialen Welt ausgesetzt,

wie im weiteren Verlauf deutlich werden soll. Für gesellschaftliche Zusammenhänge

ergibt sich die Bedeutung des dynamischen Verbundes aus Sinn und Form somit aus der

Frage, inwiefern die Behauptung kultureller Identitäten den dynamischen Aspekt des

Zusammenspiels von Sinn (kulturelle Zuschreibungen und Zugehörigkeiten) und Form

(Etikettierungen wie „deutsch“, „türkisch“ etc.) fatalerweise übersieht.

2.2 Drei falsche Identitäten

Mit Saussure kann zwischen drei theoretisch möglichen Identitäten unterschieden

werden. Eine beispielhafte Aufstellung anhand des Begriffs cantāre finden wir im

Nachlass Saussures:

(1.) Identität cantāre cantāre

(2.) Identität cantāre cantāre

Sinn und Gebrauch Sinn und Gebrauch

(3.) Identität cantāre chanter

(FdS: LuS, S. 299) Ich bezeichne die verschiedenen Identitäten im Folgenden erstens als Identität mit sich

selbst, zweitens als Intersubjektive Identität und drittens als Identität in der Zeit.

Zugleich kann mit Saussure jedoch keine der drei genannten Arten von Identität

sinnvoll behauptet werden, wenn damit eine Art vorsozialer „Existenz“ von Begriffen

proklamiert wird, denn „es gibt im Bereich der Morphologie keinerlei andere Identität

als die Identität einer Form in der Identität ihrer Gebrauchsweisen“ (FdS: WdS, S. 91).

Weiterhin ist es nach Saussure „falsch zu meinen, es gebe <irgend>wo Formen <(die

Page 15: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

14

für sich selbst)>, außerhalb ihres Gebrauchs existieren) <oder> irgendwo> Begriffe

(<die für sich selbst>, außerhalb ihrer Repräsentation <existieren>)“ (ebd.).

Diese „falsche“ Redeweise von Existenz drückt Saussure durch die Rede vom für sich

selbst aus und entzieht selbiger die Berechtigung. Es hat dadurch den Anschein, als

greife hier Saussure der Gebrauchstheorie Wittgensteins vor, wenn er die „Identität

ihrer Gebrauchsweisen“ als die einzig vorstellbare Identität der Formen gelten lässt.

Der Sprachwissenschaftler Saussure will jedoch im Gegensatz zu Wittgenstein

theoretisch differenzieren – ohne dass diese Differenzierung in der sozialen Praxis

aufrechterhalten werden könnte –, da die Begriffe Form, Zeichen, Bedeutung und

lautliche Figur wichtige Instrumente seiner sprachwissenschaftlichen Theorie

darstellen.

Für Wittgenstein als dem Philosophen, der über Sprache auf einer Metaebene der

sozialen Interaktion nachdenkt, ist es hingegen nicht nötig, diese differenzierten

innersprachlichen Kategorien einzuführen, da von ihm die Bedeutung des Gebrauchs

von Sprache als soziologisches Phänomen besonders betrachtet wird. Ein für

Wittgenstein problematischer Akt innerhalb einer als Therapie fungierenden

Philosophie ist sodann einer, in dem neue Bedeutungen durch Sprecher eingeführt

werden, ohne auf das Gebrauchskorsett der Begriffe zu achten. Wittgenstein wählt für

diesen Umstand den Begriff des Feierns:

Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.

Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgend ein

merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe des Gegenstandes.

(LW: PU, §38)

Es ist eine solche Bedeutungstaufe von Zeichen ex nihilo, welche das Sprachspiel zum

Scheitern bringt, da verwendete Laute oder graphische Zeichen nicht sozial, sondern

individuell oder monologisch mit Sinn befüllt werden können. Dass Wittgenstein zudem

ganz allgemein und entpersonalisiert davon spricht, dass „die Sprache“ feiere und nicht

die Sprechenden mit oder in der Sprache, scheint mir ein Verweis auf die seines

Erachtens große Verbreitung dieses Phänomens des Feierns in der Philosophie zu sein.

Page 16: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

15

2.2.a Identität mit sich selbst Für Saussure muss die erste (theoretische) Form der Identität, Identität mit sich selbst,

praktisch aufgegeben werden, „weil es absolut unmöglich ist zu wissen, worum es sich

handelt, außerhalb eines Blickpunkts, den man wählen muss.“ (FdS: LuS, S. 299). Die

Bedeutung eines Begriffes wird also an einen Standpunkt (Blickpunkt) geknüpft, der

vom Sprechenden, der sich als Subjekt innerhalb der sozialen Welt befindet,

notwendiger Weise eingenommen wird:

Man hat unrecht, wenn man sagt: Eine sprachliche Tatsache will von

mehreren Gesichtspunkten aus betrachtet sein; selbst dann, wenn man

sagt, bei dieser sprachlichen Tatsache werde es sich je nach

Gesichtspunkt wirklich um zwei unterschiedliche Gegenstände [choses]

handeln. Denn dann geht man von der Annahme aus, daß die sprachliche

Tatsache außerhalb des Gesichtspunktes gegeben ist.

Man muß sagen: Zu allererst gibt es Gesichtspunkte; <sonst> [ ] {und}

ist es <schlicht> unmöglich, eine sprachliche Tatsache zu <erfassen>.

(FdS: WdS, S. 77)

Doch nicht nur die Bedeutung des Begriffes ist dadurch bestimmt. Der Begriff

insgesamt, von Saussure im vorangegangenen Zitat als sprachliche Tatsache

bezeichnet, konstruiert sich erst durch die Sinnzuschreibung aus einem Blickpunkt

(Gesichtspunkt) heraus und ist losgelöst davon ein Produkt falschen Identitätsglaubens.

Saussure unterscheidet dabei zwischen vier verschiedenen für ihn legitimen

Gesichtspunkten, die eine genauere Betrachtung verdienen und sich auf die drei Arten

der Identität beziehen lassen. Gesichtspunkt I bezieht sich dabei auf die Identität mit

sich selbst, Gesichtspunkt II auf intersubjektive Identität und die Gesichtspunkte III und

IV auf Identität in der Zeit.

Ich beginne mit Blickpunkt I:

I. Gesichtspunkt des Sprachzustandes für sich genommen,

Nicht unterschieden vom Gesichtspunkt eines bestimmten Zeitpunkts […],

[…] [es folgt eine Aufzählung, MF] vom semiologischen Gesichtspunkt

Page 17: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

16

[…],[…] vom morphologischen <oder grammatischen> Gesichtspunkt

[…],[…] vom Gesichtspunkt der miteinander verbundenen Elemente.

(Die Identitäten in diesem Bereich sind durch das Verhältnis von

Bedeutung und Zeichen oder durch das Verhältnis der Zeichen

untereinander festgelegt, was keinen Unterschied macht.)

(ebd., S. 79 f.)

Aus diesem ersten Gesichtspunkt (bzw. Standpunkt oder auch Blickpunkt) heraus wird

eine Identitätsbeschreibung zum Ausdruck gebracht, die sich auf „für sich“ gleich

bleibende Bedeutungen oder Zeichen bezieht. Dabei werden weder zeitliche

(chronologische) noch semiologische (zeichentheoretische), noch formabhängige

(morphologische) Unterscheidungen getroffen.

Identität mit sich selbst kommt durch diesen ersten Blickpunkt somit für „das Verhältnis

der Zeichen untereinander“ Bedeutung zu, denn um dieses Verhältnis untersuchen zu

können, muss eine solche Identität postuliert werden.

2.2.b Intersubjektive Identität

Die intersubjektive Identität wird durch den zweiten Gesichtspunkt in ihrer praktischen

Bedeutung erläutert:

II Gesichtspunkt der transversalen Identitäten,

Nicht <unterschieden> vom diachronischen Gesichtspunkt […] vom

phonetischen Gesichtspunkt […] vom Gesichtspunkt der isolierten

Elemente

(Die Identitäten in diesem Bereich sind <zuerst> <notwendig> durch die

des vorhergehenden gegeben; werden aber danach <zur zweiten>

Ordnung sprachlicher Identitäten, die nicht auf die vorhergehende

zurückzuführen ist.)

(ebd., S. 80)

Das „Transversale“ (Quere) dieses Gesichtspunktes besteht in seiner

Nichtzurückführbarkeit von einer zweiten intersubjektiv erlangten „Ordnung

Page 18: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

17

sprachlicher Identitäten“ auf den ersten Gesichtspunkt, wobei dieser sich erst aus

Identität mit sich selbst ergibt. Was ist aber mit einer zweiten Ordnung sprachlicher

Identitäten gemeint? Saussure gibt an dieser Stelle nicht viele Hinweise. Im Sinne des

Versuchs einer Herstellung von Kohärenz seines Gedankenganges macht es jedoch

Sinn, diese zweite Ordnung als das durch den intersubjektiven Gebrauch in die

Lebenswelt getretene Produkt der Identitätsbeschreibung mittels des ersten

Gesichtspunktes zu deuten. Etwa analog zum Verhältnis von Theorie (I.) und Praxis

(II.), in welcher die Praxis auf der Theorie aufbaut, aber darauf folgend eine

eigenständige Sphäre bildet. Bezieht man dies auf unser Beispiel cantāre, so folgt aus

Gesichtspunkt II, dass die intersubjektive Verwendungsweise von cantāre in der

sozialen Lebenswelt mit all ihren Bedingungen diese zweite Ordnung ausmacht, die auf

der in 1. Ordnung angenommenen begrifflichen Identität von cantāre mit sich selbst

aufbaut, aber erst in zweiter Ordnung intersubjektiv an Dynamik gewinnt.

2.2.c Identität in der Zeit

Die dritte theoretische Identität hängt schließlich mit den Perspektiven

(Gesichtspunkten) III und IV zusammen, denn „<III und IV ergeben sich aus den

legitimen Sichtweisen [ ] >“ (FdS: WdS, S. 80). Beginnen wir mit dem dritten

Gesichtspunkt:

III.<Anachronischer, künstlicher, gewollter> Gesichtspunkt […]

Gesichtspunkt einer PROJEKTION einer Morphologie (oder eines

‚<früheren Sprachzustandes>’) auf eine Morphologie (oder auf einen

anderen, <späteren> Sprachzustand. [schließende Klammer fehlt, MF]

(Mittels der Untersuchung der transversalen Identitäten, II,

zusammengenommen mit der morphologischen Untersuchung des ersten

Zustandes – gemäß I, kann diese Projektion durchgeführt werden).

(ebd.)

Die entscheidende Frage bezüglich des dritten Gesichtspunktes muss sich um die Art

der Beschreibung der von Saussure bewusst durch Großschreibung hervorgehobenen

Projektion drehen. Wie schon in den Blickpunkten I und II sind seine Notizen, und

deshalb wird auch von Notizen gesprochen, auch in diesem Punkt nicht gedanklich

Page 19: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

18

abgeschlossen. Fehlende Satzzeichen sind ein weiterer formaler Beleg für die

gedankliche Unabgeschlossenheit.

Der dritte Gesichtpunkt ist eine Konsequenz aus einer legitimen Perspektiveinnahme

der ersten beiden: Legitim, d.h. berechtigt, kann hier nur bedeuten: „den Umständen

angemessen“, „adäquat“, jedoch als Rückschluss auf vorsoziale Identitäten von

Begriffen keinesfalls „erlaubt“. Mit diesem „anachronischen, künstlichen und

gewollten“ Gesichtspunkt werden Identitätszuschreibungen beschrieben, die sich stark

auf das intendierte Herstellen von (Verwandtschafts-) Beziehungen zwischen Begriffen

durch die Sprecher beziehen. Identität in der Zeit lässt sich aus diesem Gesichtspunkt

heraus als etwas durch die Sprecher Projiziertes beschreiben, womit diese

(kommunikative) Zwecke zu erreichen hoffen. Daran schließt der vierte Gesichtpunkt

an:

IV. <HISTORISCHER> Gesichtspunkt der <Festlegung> zweier

<aufeinanderfolgender> Sprachzustände, jeweils zunächst für sich allein

betrachtet und ohne einen den anderen unterzuordnenden, gefolgt von der

Erklärung

(ebd., S. 81)

Dieser vierte, nach Saussure ebenso aus den ersten beiden legitimen Sichtweisen

folgende, Gesichtspunkt betrifft die Identität in der Zeit in ihrem Kern. Aus diesem

Gesichtspunkt heraus wird diese angenommen, um auch über verschiedene Zeitpunkte

hinweg sich auf etwas Identisches beziehen zu können. Dabei gilt jedoch theoretisch:

Was cantāre jetzt „ist“, wird es gleich nicht mehr „sein“, angenommen sein jetziges

„Sein“ wäre im Sinne der Identität mit sich selbst jemals feststellbar gewesen. Diese

konditionale Beziehung ist es, auf die Saussure mit seinem Sprechen über legitime

Schlussfolgerungen zwischen den Gesichtspunkten hinaus will.

Saussure resümiert sodann:

[/3] Von diesen vier legitimen Gesichtspunkten (und wir gestehen, daß wir

außerhalb derselben nichts anerkennen) werden allenfalls der zweite und

der dritte kultiviert. [...]

Page 20: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

19

Was dagegen <lebhaft> kultiviert wird, ist die beklagenswerte

Verwechslung dieser unterschiedlichen Gesichtspunkte;

(ebd.)

Saussure macht deutlich, dass er sich des Umgangs mit Identitätskonstruktionen in der

sozialen Welt bewusst ist. Unter „kultiviert“ muss m. E. an dieser Stelle „reflektiert“

verstanden werden, denn ähnlich wie bei Wittgenstein kommt durch Saussure im

Weiteren ein therapeutischer Ansatz zum Tragen. Bei Wissenschaftlern, denen die

verschiedenen praktischen Gesichtspunkte des Identitätsdenkens für ihre theoretische

Arbeit nicht bewusst sind, erkennt dieser „einen wirklichen Mangel an Reflexion“

(ebd.), was zur Folge habe, dass sich dieses falsche, „beklagenswerte“, Denken „bis in

Werke hinein, die höchsten wissenschaftlichen Anspruch erheben“ (ebd.), fortsetzt.

Saussure gelingt es allein durch diesen ersten Punkt, wichtige Axiome positivistischer

Wissenschaft aus den Angeln zu heben: Denn die als absolut aus der Wirklichkeit

ablesbar, objektiv vorgestellte, Begriffsbedeutung ist nunmehr durch den Sprechenden

und seine Verortung in der Lebenswelt (später wird Husserl diesen Begriff prägen)

mitbestimmt. Wenn ein Sprecher cantāre gebraucht, hat er somit Einfluss auf die Sinn-

Form des Begriffs. Und verwendet er den Begriff dabei aus einer der vier legitimen

Blickpunkte heraus, ist für Saussure die Möglichkeit gewahrt, das falsche

Identitätsdenken theoretisch wieder einholen zu können. Daraus folgt, dass der

Gebrauch von Begriffen für dieselben konstituierend ist, wodurch Saussure mit

Wittgensteins Theorie in diesem Punkt übereinstimmt.

3. Kontrastive Analyse - Identität bei Wittgenstein In Wittgensteins Theorie ist die Bedeutung eines Begriffs durch seinen Gebrauch im

Sprachspiel allumfassend erklärt, im Gegensatz zu Saussures Theorie, die ihr

begriffliches Werkzeug für die Erklärung aus der Unterscheidung theoretisch möglicher

Identitäten und legitimer Blickpunkte entnimmt. Was sodann innerhalb eines einzelnen

Sprachspiels passiert, hängt jedoch von der jeweiligen Rolle eines Begriffs ab: „Die

Bedeutung eines Ausdrucks lässt sich demnach nur angeben, indem man die Rolle in

einem Sprachspiel beschreibt“ (Schmidt 2005, S. 242). Schmidt bezieht sich an dieser

Stelle auf §21 der Philosophischen Untersuchungen und hebt Wittgensteins

Page 21: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

20

Verwendung des Begriffs der Rolle hervor, der sowohl Funktion als auch Konvention in

sich einschließt und damit eine Brücke zwischen deskriptiver Sprachwissenschaft

(Frage: was passiert im Sprachspiel?) und normativen Sozialwissenschaft bzw.

Philosophie (Frage: wie sollte in den Sprachspielen der Gesellschaft gesprochen

werden?) schlägt. Wittgenstein beschreibt dies anhand der Zwecke und Intentionen,

nach denen man Dinge kategorisiert:

Wie wir aber die Worte nach Arten zusammenfassen, wird vom Zweck der

Einteilung abhängen,- und von unserer Neigung.

Denke an die verschiedenen Gesichtspunkte, nach denen man Werkzeuge

einteilen kann. Oder Schachfiguren in Figurenarten.

(LW: PU, §17)

Die Rolle ist es somit, welche bei Wittgenstein die Funktion des Gesichtspunktes bei

Saussure einnimmt. Ihr funktionaler und konventionaler Charakter stellen dar, was bei

Saussure die Notwendigkeit zur Einnahme einer Perspektive darstellt. Das teleologische

Tun-als-ob es begriffliche Identitäten gebe, wird somit bei Saussure über den

Blickpunkt und bei Wittgenstein über den Begriff der Rolle legitimiert. Beide geben auf

theoretischer Ebene das Denken in Identitäten jedoch auf.

Mit Wittgenstein könnte sodann Saussures Auflistung dreier Formen theoretisch

möglicher Identitäten von Begriffen als nutzlos beschrieben werden, da alle drei

überhaupt Identitäten behaupten. Dabei ließen sich die Identitätsannahmen aus den

verschiedenen Blickpunkten auch als Sprachspiele auffassen, doch ist mit Wittgenstein

die Redeweise von Identitäten m. E. an sich unangebracht, da Wittgenstein mit dem

Identitätsdenken grundlegend brechen will. Wittgenstein demaskiert sodann die erste

Form der Identität (Identität mit sich selbst) radikal durch die Grundhypothese der

Philosophischen Untersuchungen, was er anhand von Augustinus Sprachtheorie und

seiner Abbildtheorie der Bedeutung deutlich macht:

Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung;

nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System.

(LW: PU, §3)

Page 22: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

21

Bedeutungen von Wörtern in der Sprache können nach Wittgenstein nicht einfach auf

ihre Funktion als Mittel der Verständigung reduziert werden. Tut man dies, und

Augustinus behauptet es zumindest zu tun, unterstellt man gleichzeitig eine quasi

mechanische Verwendungsweise von Begriffen. Dies gleicht einfacher

Kommunikationsmodelle, die durch den wittgensteinschen Einwand aber doch eher an

binäre Informatik als an menschliche Sprache erinnern: Person A sendet gedankliche

Inhalte (transformiert in Sprache) zum Empfänger, Person B, welche diese wieder in

gedankliche Information umwandelt. In diesem idealtypischen Kommunikationsmodell,

welches in Zusammenhängen, die rein mechanisch funktionieren, seine Berechtigung

finden kann8, werden der für Wittgenstein so wichtige Gebrauch von Sprache und damit

einhergehend, die ihn umgebende soziale Welt außer Acht gelassen. An einer weiteren

Stelle wird dieser Gedankengang gestützt:

Das Paradox [der Ungleichheit von Sinn und Form, MF] verschwindet nur

dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere

immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu

übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und

Böse, oder was immer.

(ebd., §304)

Denn dass das Sender-Empfänger-Informationsumwandlungsmodell funktioniert,

unterstellt erstens eine bereits bestimmbare Information, zweitens eine regelhafte

Transformation in Sprache, drittens eine ebenso regelhaft von statten gehende

Rücktransformation in gedankliche Information (Wissen) und lässt viertens keinen

Raum, um Situationskontexte von Kommunikation angemessen berücksichtigen zu

können. „Ein ‚innerer Vorgang’ bedarf äußerer Kriterien“ (§580) schreibt

Wittgenstein und nimmt dadurch Bezug auf das Verhältnis von Bewusstsein und

(Um)welt.

Der Hauptkritikpunkt greift jedoch tiefer: Was dem Kommunikationsmodell das

Fundament raubt, ist die Subjektivität, und damit soll das von Christian Wolff kreierte

und für uns selbstverständlich gewordene Kunstwort „Bewusstsein“ gemeint sein.

8 So wie alle Modelle durch ihren Anwendungsbereich bestimmt und vom wissenschaftlichen Subjekt ihrer Adäquatheit gemäß abgewogen werden müssen und nicht die Wirklichkeit selbst sein können.

Page 23: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

22

Die Menschen sagen übereinstimmend: sie sehen, fühlen, etc. (wenn auch

Mancher blind und Mancher taub ist). Sie bezeugen also von sich, sie

haben Bewußtsein.

(ebd., §416)

Gerade durch den selbstverständlichen Umgang mit Sprache verlieren die Sprecher die

Bewusstheit vom eigenen Bewusstsein und somit die Möglichkeit, den Eigenen

Blickpunkt zu reflektieren. Ein Glaube an Identitäten lässt sich mit Wittgenstein daher

als ein Defizit an (philosophischem) Bewusstsein beschreiben. Dieses Defizit wird

aufgehoben, wenn das Sprachspiel als der bedeutungskonstituierende Raum von

Begriffen erkannt wird:

Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre

alltägliche Verwendung [im Sprachspiel, MF] zurück.

(ebd., §116)

Die Bedeutung von cantāre konstituiert sich somit erst durch das Vorhandensein und

Verwendetwerden in der Welt. Eine Identität mit sich selbst kann demnach nicht

gedacht werden, da ein solches Sprechen eine metaphysische Sphäre schafft, die

Wittgenstein gerade umgehen will.

Intersubjektive Identitäten und Identität in der Zeit können mit den gleichen

Argumenten Wittgensteins abgelehnt werden, da die Argumentation das Sprechen über

Identitäten allgemein betrifft. Die von Saussure aufgezählten legitimen Blickpunkte

sind von Wittgenstein in seinem Postulat des Sprachspiels mit aufgenommen. Denn das

Sprachspiel gestaltet sich als ein Spiel aus verschiedenen Perspektiven. Bedingung für

das Gelingen ist lediglich das Beziehen der Sprechenden auf ähnliche

Sprachspielregeln, so dass die Differenz zwischen Meinen und Sagen im Falle des

Missverstehens eingeholt werden kann. Der Begriff Identität wird nicht benötigt.

Wittgensteins Philosophie ist deshalb Therapie: Heilung der Essentialisierung von

Begriffen, Heilung der Idealisierung von Begriffen und Heilung des Identitätsdenkens

durch Relativierung und Kontextualisierung. In dem gescheiterten Tractatus logico-

philosophicus versuchte er, das Essentielle, Ideale und Kontextlose in Sprache zu

Page 24: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

23

finden, um das Denken zu befrieden; in den „Philosophischen Untersuchungen“ ist es

nun das Bewusstwerden des notwendigerweise relativen Denkens, das diesen geheilten

Zustand erreicht. Wittgenstein vollzog in seinem Denken zudem den Schritt hinein in

die Gesellschaft, in der die Sprache gerade durch ihre intersubjektive Dynamik ihre

größte Kraft, auch für das Denken, entwickelt.

4. Fazit

Es soll gezeigt worden sein, dass den Sprachtheorien Wittgensteins und Saussures in

den aktuell hoch aufgeladenen Debatten um die Verortung von

Gesellschaftsmitgliedern, denen eine andere Identität als eine „abendländische“

zugesprochen wird, Relevanz zukommen kann. Denn während auf der einen Seite Amin

Maalouf in seinem Essay „Mörderische Identitäten“ versucht, den vereinfachten

Identitätszuschreibungen durch ein Plädoyer für das Erkennen von Komplexität zu

begegnen, kann mit den Sprachtheorien des „authentischen“ Saussure und des „späten“

Wittgenstein der Begriff Identität generell als problematisch herausgestellt werden.

Da sich die Auseinandersetzung mit den Nachlassschriften des „authentischen“

Saussure schwierig und teilweise auch verwirrend darstellte, ist es meiner Ansicht nach

sinnvoll und legitim, die in dieser Arbeit herausgestellten Ergebnisse für eine bessere

Übersicht anhand aufeinander aufbauender Thesen summarisch wiederzugeben:

1. Die Theorie des Philosophen Wittgenstein benennt das widerspruchsfreie

Denken des Bürgertums als das zentrale gesellschaftliche Problem seiner Zeit;

Saussure entlarvt in seiner Sprachtheorie selbiges Denken anhand der für ihn

„erstaunlichen“ Bedingtheit des Individuellen durch das Allgemeine.

2. Für den authentischen Saussure lässt sich ein Zeichen nicht in Form- und

Sinnwelt trennen. Stattdessen ist dieses unteilbar im Sinne einer Form-Sinn-Welt

bzw. Sinn-Form-Welt; Wittgenstein, als nicht sprachwissenschaftlich agierender

Philosoph, benötigt diese Termini nicht, da sein Sprachspiel als soziale Praxis

von einer Metaebene aus beschreibend ist.

3. Was der Saussure des Cours entlang der Trennlinie zwischen Sinn und Form

beschrieb, wird durch den authentischen Saussure durch den Begriff des

Blickpunktes eingeholt. Durch diesen wird die Betrachtung von Begriffen aus

Page 25: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

24

der Sinn- bzw. Formperspektive möglich, ohne zugleich eine Trennung beider

Welten zu behaupten; für Wittgenstein ist dieser Blickpunkt innerhalb des

Sprachspiels mitbedacht, da erst eine Perspektiveinnahme die

Nachvollziehbarkeit der Sprechenden und das Aufeinanderbezugnehmen im

Sprachspiel ermöglicht.

4. Das Zeichen als Form-Sinn-Konstruktion ist für den authentischen Saussure

stets dynamisch, so dass dreierlei theoretisch mögliche Identitätsbehauptungen

von Begriffen (Identität mit sich selbst, intersubjektive Identität und Identität in

der Zeit) in der sozialen Praxis nicht aufrechterhalten werden können; in

Wittgensteins Theorie ist die Behauptung begrifflicher Identitäten funktionslos.

5. Identität mit sich selbst ist für Saussure nicht gegeben, da es keine Zeichen gibt,

die außerhalb ihres Gebrauchs existieren; Wittgenstein stimmt dem zu.

6. Intersubjektive Identität ist für Saussure nicht gegeben, weil der vom

Sprechenden eingenommene Blickpunkt die dynamische Sinn-Form von

Begriffen bestimmt; bei Wittgenstein ist es das Wissen um die Regeln des

Sprachspiels, welches das Gelingen desselben bzw. Verstehen möglich macht.

Dafür wird hingegen keine Annahme intersubjektiver Identität von Begriffen

benötigt.

7. Identität in der Zeit ist durch die Dynamik der Zeichentheorie für Saussure auch

chronologisch nicht haltbar; Wittgensteins Sprachspiel kennt dahingehend nur

seinen eigenen zeitlichen Rahmen, in dem Identitätsannahmen ebenfalls nicht

notwendig sind.

8. Die von Saussure als legitim herausgestellten Blickpunkte, welche sich entlang

der drei theoretisch möglichen Identitätsannahmen ausrichten, schließen die

soziale Praxis in seine sprachwissenschaftliche Theorie mit ein, da der

Blickpunkt den Gebrauch von Begriffen zur Folge hat und sich auch erst aus

diesem heraus rekonstruieren lässt; bei Wittgenstein ist es der Begriff der Rolle,

mit welchem, ähnlich wie bei Saussures Blickpunkt, sowohl die Funktion von

Begriffen im Sprachspiel als auch ihre Befüllung mit Sinn erklärt werden

können.

9. Sowohl Saussure als auch Wittgenstein lehnen die Behauptung begrifflicher

Identitäten ab. Während der authentische Saussure das Denken entlang

begrifflicher Identitäten in der sozialen Praxis durch den Blickpunkt legitimiert,

ist dies für Wittgenstein allenfalls implizit durch das Sprachspiel der Fall, in

Page 26: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

25

welchem Identitätsannahmen aus dem Vollzug des Verstehens als legitim

geschlossen werden könnten. Für beide Theoretiker ist somit der Gebrauch von

Begriffen (im Sprachspiel bzw. aus einem Blickpunkt heraus) für eine Theorie

der Bedeutung entscheidend.

Abschließend auf den Untertitel dieser Arbeit rekurrierend lässt sich m. E. daher

behaupten, dass benachteiligende Identitätskonstruktionen von Personen innerhalb

gesellschaftlicher Diskurse mit Wittgenstein und Saussure theoretisch hinterfragt

werden können. Ihr praktisches Zustandekommen innerhalb der intersubjektiven und

institutionellen Sprachspiele könnte sodann rekonstruiert und für eine zukünftige

reflexiv-widerspruchsvolle Praxis fruchtbar gemacht werden.

Page 27: Identität Wittgenstein Saussure Magnus · PDF file2 Vorbemerkung Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder Saussure“ von Prof. Schmitz

26

Literatur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen

Urteilskraft. Frankfurt a. M.

Keller, Reiner (2011): Diskursforschung. Wiesbaden.

Maalouf, Amin (2003): Mörderische Identitäten. Frankfurt a. M.

Saussure, Ferdinand de (2003): Linguistik und Semiologie. Frankfurt a. M.

Saussure, Ferdinand de (2003): Wissenschaft der Sprache. Frankfurt a. M.

Saussure, Ferdinand de (20013): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.

Berlin.

Schmidt, Stefan (2005): Die Herausforderung des Fremden. Interkulturelle Hermeneutik

und konfuzianisches Denken. Darmstadt.

Wittgenstein, Ludwig (2003): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.

Wittgenstein, Ludwig (20095): Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus-logico

philosophicus. Frankfurt a. M.