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5/2016 www.ifo-dresden.de ifo Dresden berichtet Aktuelle Forschungsergebnisse Felix Rösel Kommunale und private Schulden in Deutschland – Eine Frage der Mentalität? Andreas Lichter, Max Löffler und Sebastian Siegloch Der lange Schatten der Stasi-Überwachung Christian Ochsner und Michael Weber Die Wirtschaftsdynamik beiderseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze Christian Ochsner und Pia Wassmann Die ökonomischen Effekte der EU-Osterweiterung: Profitierten die Grenzregionen der alten Mitgliedsstaaten? Im Blickpunkt Joachim Ragnitz Fachkräftemangel auch im öffentlichen Dienst: Die Vorschläge der Sächsischen Personalkommission Daten und Prognosen Regionalisierung des ifo Konjunkturtests Arbeitsmarktentwicklung in Sachsen

ifo Dresden berichtet 5/2016 - cesifo-group.de · Im „SCHUFA Kredit-Kompass“ wird dagegen eine Vielzahl von relevanten Einzelindikatoren zu einem Pri-vatverschuldungsindex aggregiert

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5/2016 www.ifo-dresden.de

ifo Dresden berichtetAktuelle Forschungsergebnisse

Felix Rösel

Kommunale und private Schulden in Deutschland – Eine Frage

der Mentalität?

Andreas Lichter, Max Löffler und Sebastian Siegloch

Der lange Schatten der Stasi-Überwachung

Christian Ochsner und Michael Weber

Die Wirtschaftsdynamik beiderseits der ehemaligen innerdeutschen

Grenze

Christian Ochsner und Pia Wassmann

Die ökonomischen Effekte der EU-Osterweiterung: Profitierten die

Grenzregionen der alten Mitgliedsstaaten?

Im BlickpunktJoachim Ragnitz

Fachkräftemangel auch im öffentlichen Dienst: Die Vorschläge der Sächsischen Personalkommission

Daten und PrognosenRegionalisierung des ifo Konjunkturtests

Arbeitsmarktentwicklung in Sachsen

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23. Jahrgang (2016)Herausgeber: ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschafts-forschung an der Universität München e. V.,Niederlassung Dresden, Einsteinstraße 3, 01069 Dresden, Telefon: 0351 26476-0, Telefax: 0351 26476-20E-Mail: [email protected]: http://www.ifo-dresden.deRedaktion: Joachim RagnitzTechnische Leitung: Katrin BehmVertrieb: ifo Institut, Niederlassung DresdenErscheinungsweise: zweimonatlichBezugspreis jährlich: 25,00 €Preis des Einzelheftes: 5,00 €Preise einschl. Mehrwertsteuer, zzgl. VersandkostenTeilnehmer an regelmäßigen ifo Umfragen erhalten einen Rabatt.Grafik Design: © ifo Institut MünchenSatz und Druck: c-macs publishingservice DresdenNachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): Nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplares.

ISSN 0945-5922ifo Dresden berichtet

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Inhalt

ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

Kommunale und private Schulden in Deutschland – Eine Frage der Mentalität? 3Felix Rösel

In diesem Beitrag wird gezeigt, dass kommunale und private Schulden in Deutschland räumlich ähnlichverteilt sind. Der Zusammenhang ist jedoch dann nicht mehr statistisch signifikant, wenn die lokale Arbeits-losenquote berücksichtigt wird. Dieses Ergebnis unterstreicht die Bedeutung des lokalen Arbeitsmarktesfür die Solidität öffentlicher und privater Finanzen. Ob hierbei ein direkter Einfluss von prekärer Arbeits -marktlage auf das kommunale und private Schuldenniveau besteht, oder ob Schulden und Arbeits -losigkeit in einer gemeinsamen Ursache wurzeln, ist im Rahmen der weiteren Forschung zu beantworten.

Der lange Schatten der Stasi-Überwachung 8Andreas Lichter, Max Löffler und Sebastian Siegloch

Staatliche Überwachung war und ist allgegenwärtig. Nichtsdestotrotz sind Erkenntnisse zu Nutzen undKosten staatlicher Überwachungsmaßnahmen begrenzt. Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse einer ak -tuellen Forschungsarbeit zusammen, in der die langfristigen Auswirkungen der Überwachung durch dieDDR-Staatssicherheit auf das gesellschaftliche Sozialkapital sowie die wirtschaftliche Entwicklung in Ost-deutschland nach dem Ende der DDR-Diktatur untersucht werden. Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen,dass flächendeckende Überwachung der Bevölkerung stark negative und langanhaltende Konsequenzenhaben kann.

Die Wirtschaftsdynamik beiderseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze 15Christian Ochsner und Michael Weber

Die geographische Nähe ostdeutscher Kreise zu Westdeutschland wirkt sich positiv auf deren regionaleökonomische Aktivität aus. Dies zeigt eine Analyse der Anzahl der Betriebsgründungen und der Beschäf-tigungsentwicklung seit 1995. Dieser Befund ist insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe stark aus -geprägt. So lag die Gründungsintensität von Betrieben des Verarbeitenden Gewerbes in ostdeutschenKreisen nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze bis 2005 um ca. 30 % über der Gründungsintensitätweiter entfernt liegender ostdeutscher Kreise. Dieses regionale Gefälle reduzierte sich allerdings im Laufeder Zeit. Gleichzeitig zeigt sich im Westen das gegenläufige Bild: Ehemals grenznahe Kreise zeigten einesignifikant geringere Gründungsintensität und ein geringeres Beschäftigungswachstum als weiter ent -fernte westdeutsche Gebiete. Die Resultate deuten darauf hin, dass sowohl der Zugang zu kaufkräftigenAbsatzmärkten als auch ortsgebundene Subventionen als Erklärung dieser Dynamik dienen könnten.

Die ökonomischen Effekte der EU-Osterweiterung: Profitierten die Grenzregionender alten Mitgliedsstaaten? 24Christian Ochsner und Pia Wassmann

Im Mai 2004 traten acht ehemals planwirtschaftlich organisierte Staaten Zentral- und Osteuropas der Europäischen Union bei. Dieser Beitrag untersucht die möglichen ökonomischen Folgen dieser EU-Erwei-terungsrunde in den Grenzregionen der alten Mitgliedsstaaten in Deutschland, Österreich und Italien. DieErweiterungseffekte auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in diesen Grenzregionen werden dabei an-hand der Methode der synthetischen Kontrollgruppe geschätzt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dassdie Grenzregionen in den alten Mitgliedsstaaten von der Osterweiterung profitieren konnten. Allerdingssind die Effekte in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich; insbesondere ökonomisch bereits starkeund erfolgreiche Regionen mit einem vergleichsweise starken Industriesektor und besserer Infrastruktur -ausstattung konnten von den Wachstumsimpulsen der EU-Osterweiterung profitieren.

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Inhalt

Im Blickpunkt

Fachkräftemangel auch im öffentlichen Dienst: Die Vorschläge der Sächsischen Personal-kommission 32Joachim Ragnitz

Die ostdeutschen Länder weisen nach wie vor vergleichsweise hohe Personalbestände im öffentlichen Bereich auf. Da aber in der Vergangenheit auf Neueinstellungen vielfach verzichtet wurde, wird die kollek-tive Alterung zahlreicher Belegschaften in den öffentlichen Einrichtungen zur Folge haben, dass selbst dieAufrechterhaltung des für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Personalbestands schon kurz- bis mittel -fristig nicht mehr gewährleistet sein wird. Eine vorausschauende Personalplanung muss daher vor allemdarauf gerichtet sein, den notwendigen Ersatzbedarf frühzeitig zu decken. Empfehlungen hierzu findensich im jüngst abgeschlossenen Bericht der Sächsischen Personalkommission, der hier kommentiert wird.

Daten und Prognosen

Ostdeutsche und sächsische Wirtschaft gehen mit neuem Schwung in den Herbst 34Michael Weber

Ostdeutscher und sächsischer Arbeitsmarkt weiter im Aufwind 37Michael Weber

Aus der ifo Werkstatt

ifo Veranstaltungen 38

ifo Veröffentlichungen 38

ifo Vorträge 39

ifo intern 39

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31.12.2012 den Schuldenstand sämtlicher Gemeindenund Gemeindeverbände in Deutschland, wobei erst -malig auch die Schulden in ausgelagerten Einheiten, z. B. Wohnungsbaugesellschaften, erfasst wurden. EineBerücksichtigung dieser Schulden ist von großer Be-deutung, da diese rund 50 % der kommunalen Gesamt-verschuldung umfassen, regional aber unterschiedlichverteilt sind [für weitere Details siehe FREI und RÖSEL(2015, 2016), RÖSEL (2016)]. Im Rahmen dieses Beitra-ges wurden die kommunalen Gesamtschulden (Kern-haushalt, Extrahaushalte sowie ausgelagerte Einheiten)sämtlicher kommunaler Ebenen auf Ebene der 398 Land-kreise und kreisfreien Städte aggregiert. Hierdurch wirdder kommunale Schuldenstand zwischen Landkreisenund kreisfreien Städten vergleichbar. In Anlehnung anHOMBURG und RÖHRBEIN (2007) und analog zur Definitionder Maastricht-Kriterien wird die kommunale Verschul-dung ins Verhältnis zur lokalen Wirtschaftskraft [Brutto -inlandsprodukt (BIP)] gesetzt.

Für die Messung der korrespondierenden privatenVerschuldung zum 31.12.2012 stehen mit dem „Cre-dit reform SchuldnerAtlas Deutschland“ [CREDITREFORM

(2013)] sowie dem „SCHUFA Kredit-Kompass“ [SCHUFA(2013)] zwei häufig verwendete Datensätze der priva-ten Verschuldung auf Kreisebene zur Verfügung. Der„Credit reform SchuldnerAtlas“ gibt Auskunft über denAnteil der überschuldeten Bevölkerung (Schuldner -quote). Im „SCHUFA Kredit-Kompass“ wird dagegen eineVielzahl von relevanten Einzelindikatoren zu einem Pri-vatverschuldungsindex aggregiert. Der Privatverschul -dungs index misst die private Verschuldung damit gra-dueller und ist für einen Vergleich mit der kommunalenVerschuldung besser geeignet. Auch HOMBURG undRÖHRBEIN (2007) verwenden den Privatverschuldungs -index der SCHUFA.

Angaben zum BIP sowie weitere Kontrollvariablenfür die spätere Regressionsanalyse wurden der INKAR-Datenbank des BUNDESINSTITUTS FÜR BAU-, STADT- UNDRAUMFORSCHUNG (BBSR) entnommen (Stichtag: 31.12.2012 bzw. Jahr 2012).

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Aktuelle Forschungsergebnisse

* Felix Rösel ist Doktorand an der Dresdner Niederlassung des ifo Institut –Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.

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In einer viel beachteten Arbeit zeigen Stefan Homburgund Kristina Röhrbein einen bemerkenswerten statisti-schen Zusammenhang zwischen dem Schuldenstandder 16 deutschen Länder und dem jeweiligen regio -nalen Ausmaß der privaten Verschuldung [vgl. HOMBURG

und RÖHRBEIN (2007)]. Die Autoren mutmaßen, dass pri-vate wie öffentliche Schulden Resultat einer lokalenMentalität bzw. Geisteshaltung sein können, die sie alsdas „subjektive Gefühl der Fremdbestimmtheit“ be-zeichnen. Als Beispiel führen HOMBURG und RÖHRBEIN(2007) einen Bericht des SPIEGEL über die Berliner Haus-haltskrise im Jahr 2006 an, der für das damalige Ber lineine „Antriebslosigkeit, sich selbst zu helfen […] [b]eivielen Bürgern ebenso wie in der politischen Klasse“konstatiert.1 Die Autoren liefern jedoch keine weitereÜberprüfung dieses oder anderer möglicher Kanäle.

Dieser Artikel will einen Artikel zur Schließung die-ser Lücke leisten. Im Folgenden wird untersucht, ob ein statistischer Zusammenhang zwischen öffentlicherund privater Verschuldung in Deutschland auch auf derklein räumigen Ebene der 398 Landkreise besteht. DieErgebnisse zeigen, dass kommunale und private Schul-den in Deutschland räumlich ähnlich verteilt sind. Der Zusammenhang ist jedoch dann nicht mehr statistischsignifikant, wenn die lokale Arbeitslosenquote berück-sichtigt wird. Dieses Ergebnis unterstreicht die Bedeu tungdes lokalen Arbeitsmarktes für die Solidität öffent licherund privater Finanzen. Im Rahmen dieses Beitrags mussjedoch offen bleiben, ob ein direkter Einfluss von prekärerArbeitsmarktlage auf das kommunale und private Schul-denniveau besteht, oder ob Schulden und Arbeitslosig-keit in einer gemeinsamen Ursache wurzeln.

Daten

In diesem Beitrag werden zwei Datensätze verwendet,die die Höhe der privaten und kommunalen Verschul-dung auf Ebene der 398 Landkreise nahezu vollständigabbilden. Eine räumliche Darstellung der kommunalenVerschuldung ist seit dem Jahr 2014 auf Basis einesneuartigen Mikro-Datensatzes der STATISTISCHEN ÄMTERDES BUNDES UND DER LÄNDER (2014) möglich (IntegrierteSchuldenstatistik). Der Datensatz enthält zum Stichtag

Kommunale und private Schulden in Deutschland– Eine Frage der Mentalität?Felix Rösel *

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Ergebnisse

Abbildung 1 stellt die räumliche Verteilung der kommu -nalen Gesamtverschuldung (in % des BIP) sowie desSCHUFA-Privatverschuldungsindex dar. Beide Karten zei-gen bemerkenswert ähnliche räumliche Muster. Erstensbesteht sowohl in der kommunalen Verschuldung, mehraber noch in der Privatverschuldung ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Zweitens heben sich hierbei die ostdeut-schen Landkreise nochmals besonders ab. Der Schul-denstand je Einwohner ist in Ost- und Westdeutschlandweitgehend vergleichbar [hier nicht dargestellt, siehe FREIund RÖSEL (2015)]. Die niedrigere Wirtschaftskraft in Ost-deutschland geht jedoch rechnerisch mit einer höherenkommunalen Verschuldung in % des BIP einher. Drittenszeigt Abbildung 1 regionale Cluster von vergleichsweisehöherer kommunaler und privater Verschuldung. Diesbe trifft die Landkreise entlang der Nordseeküste, das

Ruhrgebiet, das südliche Rheinland-Pfalz und Saarlandsowie die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg undMecklenburg-Vorpommern. Deutlich weniger Kongruenzbesteht dagegen in Schleswig-Holstein, Hessen und Baden-Württemberg.

In Abbildung 2 werden die in Abbildung 1 dargestell-ten Kennziffern der kommunalen und privaten Verschul-dung für die 398 Kreise gegeneinander abgetragen.Hierbei bestätigt sich der optische Eindruck einer Korre-lation beider Größen. Der Korrelationskoeffizient beträgt0,491 und ist auf dem 1-%-Niveau statistisch signifikant.Der Privatverschuldungsindex erklärt in einer linearenEinfachregression mehr als ein Viertel (25,8 %) der Va -rianz in der öffentlichen Verschuldung. Diese Ergebnissebestätigen die von HOMBURG und RÖHRBEIN (2007) aufEbene der Länder beobachtete Korrelation von privaterund öffentlicher Verschuldung, jedoch bei einer deutlichgeringeren Stärke des gemessenen Zusammenhangs.

Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2014), Schufa (2013), Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 1: Kommunale und private Verschuldung in Deutschland (31.12.2012)

Kommunale Gesamtverschuldung (in % des BIP) SCHUFA-Privatverschuldungsindex (in 1.000)

Anmerkung: Kommunale Gesamtverschuldung: Summe der Schulden von Gemeinden und Gemeindeverbänden in Kern- und Extrahaushalten sowie Öffentlichen Fonds, Einrichtungen und wirtschaftlichen Unternehmen (FEU). Ohne Berlin, Hamburg, Bremen und Bremerhaven.

(19.0,41.9](15.9,19.0](13.1,15.9](11.2,13.1](9.2,11.2](7.6,9.2](6.0,7.6](4.4,6.0][1.3,4.4]Keine Daten

(1.33,2.11](1.20,1.33](1.11,1.20](1.03,1.11](0.95,1.03](0.88,0.95](0.80,0.88](0.70,0.80][0.49,0.70]Keine Daten

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Die gefundene Korrelation lässt sich auf dreierlei Weiseinterpretieren. Erstens könnte der Zusammenhang einerbloßen Zufälligkeit geschuldet sein. Angesichts der ver-gleichbaren Ergebnisse von HOMBURG und RÖHRBEIN(2007) erscheint dies jedoch eher unwahrscheinlich.

Zweitens könnte die private Verschuldung einen direk -ten Einfluss auf das öffentliche Schuldenniveau haben(oder auch umgekehrt). Beispielsweise wurde im Zugeder europäischen Staatsschuldenkrise in Irland und Spa-nien eine hohe private Verschuldung (des Finanz sektors)durch staatliche Rettungspakete nach und nach in einehohe öffentliche Verschuldung transformiert. Auf kom-munaler Ebene ist ein solcher Mechanismus jedoch weniger wahrscheinlich. Eher ist gar an einen negati-ven Zusammenhang von kommunaler und privater Ver -schuldung zu denken. Sind lokale Sparkassen im Kre -ditvergabevolumen begrenzt, müssten bei steigender Kreditvergabe an Kommunen die Verbraucherkrediteentsprechend reduziert werden. Ein direkter Einfluss vonprivater auf die kommunale Verschuldung (und um -gekehrt) ist somit auch wenig wahrscheinlich.

Drittens könnten kommunale und private Verschul-dung eine gemeinsame Ursache haben, z. B. eine spe-zifische regionale „Schuldenmentalität“, zeitliche Kon-sumpräferenzen oder eine prekäre sozioökonomischeLage. Denkbar wäre, dass eine höher verschuldete Ein-wohnerschaft solche Politiker bevorzugt, die öffentlicheAus gaben ihrerseits ebenfalls über Schulden finanzie-ren. In diesem Falle würde die Korrelation von öffent -

lichen und privaten Schulden eine Präferenz für diesesFinanzierungsinstrument reflektieren. Ebenso denkbarwäre allerdings auch, dass ein schwieriges sozioöko -nomisches Umfeld (hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Er-werbstätigkeit) sowohl zu privaten als auch öffentlichenAusgaben führt, die nicht über die laufenden originärenEinnahmen gedeckt werden können.

Diese vermuteten Zusammenhänge können imWege von Regressionsanalysen näher untersucht wer-den (vgl. Tab. 1). Die kommunale Verschuldung in %des BIP ist hierbei die abhängige Variable. Die wich -tigste erklärende Variable ist der SCHUFA-Privatverschul-dungsindex; da rüber hinaus werden in den Regressionenschrittweise weitere Kontrollvariablen aufgenommen.Spalten (1) bis (4) zeigen einen jeweils auf dem 1-%-Ni-veau signifi kanten Zusammenhang von privater Ver-schuldung und kommunaler Verschuldung. Der Effektwird jedoch geringer, sobald weitere fiskalische und soziodemographische Kontrollvariablen (Spalte (2) ),Dummys für die einzelnen Länder bzw. Siedlungs -struktur typen (Spalte (3)) oder beides zugleich (Spalte(4)) aufgenommen werden (auf eine Darstellung der Koeffizienten wird aus Übersichtsgründen verzichtet).2

Der SCHUFA-Privatverschuldungsindex behält damit auchnach der Kontrolle für eine umfassende Zahl weitererVariablen einen Erklärungsgehalt für die Höhe der kom-munalen Verschuldung, was als Hinweis auf (unbeob-achtbare) Mentalitätsunterschiede interpretiert werdenkönnte.

Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2014), Schufa (2013), Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 2: Korrelation von kommunaler und privater Verschuldung auf Kreisebene

R² = 0,258

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

0 500 1.000 1.500 2.000 2.500

gn udl uhc srevtmase

G elanum

moK

(in %

des

BIP

)

SCHUFA-Privatverschuldungsindex

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Tabelle 1: Regressionsergebnisse (Kreisebene)

Quelle: Berechnung und Darstellung des ifo Instituts.

Abhängige Variable: Kommunale Gesamtverschuldung (in % des BIP)

(1) (2) (3) (4) (5)

SCHUFA-Privatverschuldungsindex 0,128*** 0,077*** 0,087*** 0,057*** 0,015

(0,011) (0,015) (0,012) (0,016) (0,018)

Arbeitslosenquote 0,010***

(0,002)

Weitere Kontrollvariablen Nein Ja Nein Ja Ja

Länderfixe Effekte Nein Nein Ja Ja Ja

Siedlungstypfixe Effekte Nein Nein Ja Ja Ja

Beobachtungen 398 398 398 398 398

Adj. R² 0,258 0,409 0,452 0,587 0,612

Anmerkungen: Beobachtungseinheit: 398 Landkreise zum Stichtag 31.12.2012. OLS-Regression der kommunalen Gesamtverschuldung je Einwohner auf länder- bzw. siedlungstypfixe Effekte bzw. auf folgende Kontrollvariablen: Kreis-freie Stadt (Dummy), Einwohnerzahl, BIP je Einwohner, Anteil der Einwohner > 65 Jahre, Anteil Siedlungs- und Verkehrs-fläche, Agrar-Anteil an Bruttowertschöpfung, Industrie-Anteil an Bruttowertschöpfung, Selbstständige je 1.000 Erwerbs -tätige, Anteil Beschäftigte mit Hochschulabschluss, sowie eine Konstante. Robuste Standardfehler in Klammern.Statistische Signifikanz: * 10-%-Niveau, ** 5-%-Niveau, *** 1-%-Niveau.

Die Ergebnisse verändern sich jedoch drastisch, wennzusätzlich auch die Arbeitslosenquote als erklärende Variable in das Modell aufgenommen wird (Spalte (5)).Der Koeffizient für den SCHUFA-Privatverschuldungsindexist in diesem Fall nicht mehr signifikant von null verschie-den, während der Koeffizient für die Arbeitslosenquotepositiv und signifikant mit der kommunalen Verschuldungkorreliert ist. Die private Verschuldung besitzt damit keinen weiteren Erklärungsgehalt mehr für die Höhe derkommunalen Verschuldung, der nicht bereits von der Varianz in der Arbeitslosenquote abgedeckt ist.

Dieses Ergebnis legt nahe, dass weniger eine spezifi-sche Präferenz für Schulden als Finanzierungsinstrumentals vielmehr der lokale Arbeitsmarkt die bemerkenswertegeographischen Parallelen von privater und öffentlicherVerschuldung erklärt. Eine steigende Arbeitslosigkeitführt zu sinkenden Steuereinnahmen bei gleichzeitig stei-genden kommunalen Sozialausgaben, z.B. für die Kos-ten der Unterkunft. Gleichzeitig ist eine prekäre Arbeits-marktsituation auch eine wesentliche Determinante derprivaten Verschuldung [vgl. FRITZSCHE und WEBER (2015)].Die lokale Arbeitsmarktsituation ist im Ergebnis damitvon herausragender Bedeutung für die Solidität sowohlder öffentlichen als auch der privaten Finanzen.

Zu beachten ist bei einer solchen Interpretation des Er-gebnisses jedoch, dass alle drei Variablen (Arbeitsmarkt,private Verschuldung und kommunale Verschuldung)wiederum einem gemeinsamen Trend folgen könnten(vgl. den eingangs zitierten Bericht des SPIEGEL). Ob eindirekter Einfluss von Arbeitslosigkeit auf das kommunaleund private Schuldenniveau besteht, oder ob Schuldenund Arbeitsmarktsituation in einer gemeinsamen Ursachewurzeln (Intensität sozialer Brennpunkte o. ä.), kann je-doch in diesem Beitrag nicht abschließend geklärt wer-den und wäre ein ausgesprochen interessanter Gegen-stand der weiteren Forschung.

Fazit

Die kommunale und die private Verschuldung inDeutschland weisen eine ähnliche räumliche Verteilungauf. Dieses Resultat bestätigt die Ergebnisse von HOM-BURG und RÖHRBEIN (2007), die einen statistischen Zu-sammenhang zwischen dem Kreditmarkt-Schuldenstandder 16 deutschen Länder und dem Ausmaß der privatenÜberschuldung im jeweiligen Land zeigen konnten. DieKorrelation von kommunaler und privater Verschuldung

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Aktuelle Forschungsergebnisse

ist im Rahmen von Regressionsanalysen jedoch nur so-lange statistisch signifikant, solange nicht für die lokaleArbeitslosenquote kontrolliert wird. Dieses Ergebnis un-terstreicht die Bedeutung der lokalen Arbeitsmarktsitua-tion für die Solidität öffentlicher und privater Finanzen. Obhierbei ein direkter Einfluss von Arbeitslosigkeit auf daskommunale und private Schuldenniveau besteht, oderob Schulden und Arbeitsmarktsituation in einer gemein -samen Ursache wurzeln (Mentalität, Intensität sozialerBrennpunkte o. ä.), wäre ein ausgesprochen interes san -ter Gegenstand der weiteren Forschung.

Literatur

CREDITREFORM (Hrsg.) (2013): SchuldnerAtlas Deutsch-land 2012, Die Schuldnerquoten für Deutschlandnach Kreisen und kreisfreien Städten, Neuss.

FREI, X. und F. RÖSEL (2015): Geballte Schuldenlast: Wieungleich sind die kommunalen Schulden in Deutsch-land verteilt?, ifo Dresden berichtet (22) 03, S. 3–12.

FREI, X. und F. RÖSEL (2016): Die Verteilung kommunalerSchulden in Deutschland, in: JUNKERNHEINRICH, M., S.KORIOTH, T. LENK, H. SCHELLER und M. WOISIN (Hrsg.):Verhandlungen zum Finanzausgleich, Jahrbuch fürÖffentliche Finanzen 1-2016, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin, S. 211–222.

FRITZSCHE, C. und M. WEBER (2015): Zuviel Konsum aufPump? Überschuldung im regionalen Vergleich, ifoDresden berichtet (22) 03, S. 39–42.

HOMBURG, S. und K. RÖHRBEIN (2007): Ökonomische Anmerkungen zum Urteil des Bundesverfassungs -gerichts vom 19. Oktober 2006, Der Staat 46,S. 183–202.

RÖSEL, F. (2016): The Persistency of Public Debt, Bei -träge zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik2016, Session: The Social Aspects of Fiscal Policy,D10-V2.

SCHUFA (Hrsg.) (2013): SCHUFA Kredit-Kompass 2013,Wiesbaden.

STATISTISCHE ÄMTER DES BUNDES UND DER LÄNDER (Hrsg.)(2014): Integrierte Schulden der Gemeinden und Gemeindeverbände, Anteilige Modellrechnung fürden interkommunalen Vergleich, Stand 31.12.2012,Dokumentation sowie Tabellenband, Wiesbaden.

1 Der Spiegel 43/2006, S. 23.2 Weitere Kontrollvariablen sind: Kreisfreie Stadt (Dummy), Einwohnerzahl,BIP je Einwohner, Anteil der Einwohner > 65 Jahre, Anteil Siedlungs- undVerkehrsfläche, Agrar-Anteil an Bruttowertschöpfung, Industrie-Anteil an Bruttowertschöpfung, Selbständige je 1000 Erwerbstätige, Anteil Beschäftigte mit Hochschulabschluss. Siedlungsstrukturelle Kreistypen:Kreisfreie Großstädte, Städtische Kreise, Ländliche Kreise mit Verdich-tungsansätzen, Dünn besiedelte ländliche Kreise.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Die Forschungsfrage

Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt heutzutage in autoritären Staaten [THE ECONOMIST INTELLIGENCE UNIT(2014)]. Diese Staaten zeichnen sich unter anderem da-durch aus, dass sie versuchen, große Bereiche des öffent-lichen und privaten Lebens zu überwachen, um die Kon-trolle über die Bevölkerung zu behalten. Dafür setzen Re-gime auf groß angelegte Überwachungsnetzwerke [siehez. B. DENG und O’BRIEN (2013), BRANIGAN (2010)]. Ziel derÜberwachung ist dabei oft nicht nur die Generierung vonInformationen über potenzielle Dissidenten zur Stärkungund Manifestierung des Regimes, sondern auch die syste-matische Schwächung zwischenmenschlichen Vertrauensinnerhalb der Gesellschaft [ARENDT (1951)].

Eine Vielzahl wissenschaftlicher Forschungsarbeitendeutet an, dass dieser Verlust an Vertrauen und sozialerBindung signifikante ökonomische Kosten nach sich ziehen könnte. Ein Mindestmaß an Vertrauen in Mitmen-schen und den Staat ist Voraussetzung für Kooperationund den offenen Austausch von Ideen [ARROW (1972),PUTNAM (1995)] und somit ökonomischen Fortschritt [LAPORTA et al. (1999)]. Ein empirischer Beleg der tatsäch -lichen Kosten staatlicher Überwachung durch eine mög-liche Reduzierung des gesellschaftlichen Sozialkapitalssowie der ökonomischen Aktivität steht bisher jedochaus. In unserer aktuellen Forschungsarbeit, deren wich-tigste Erkenntnis hier zusammengefasst werden, unter-suchen wir erstmalig die langfristigen Auswirkungen staat-licher Überwachung auf das Vertrauen in Mit menschen,soziale Bindungen und die ökonomische Entwicklungam Beispiel des staatlichen Überwachungssystems in derDDR durch das MINISTERIUM FÜR STAATS SICHERHEIT [sieheLICHTER et al. (2016)].

Die Staatssicherheit (Stasi) unterhielt in den Jahren ihrer Existenz von 1950 bis 1989 ein engmaschiges Netz-werk inoffizieller Mitarbeiter (IM), welches ein umfassen-des Bild gesellschaftlicher und vor allem oppositionellerAktivitäten zeichnen und gleichzeitig einen disziplinieren-den Effekt auf die Bevölkerung ausüben sollte. DiesesNetzwerk war für das Regime das grundlegende Instru-ment zum Machterhalt [MÜLLER-ENBERGS (1996), S. 305]und umfasste Ende der 1980er Jahre rund ein Prozentder Gesamtbevölkerung der DDR. In unserer aktuellenStudie nutzen wir die offiziellen Angaben der Behördedes BUNDESBEAUFTRAGTEN FÜR DIE STASI-UNTERLAGEN (BStU)

zur Anzahl inoffizieller Mitarbeiter in den einzelnen Krei-sen der DDR sowie Informationen zum Sozialkapital undder wirtschaftlichen Entwicklung in den zwei Jahr zehn -ten nach der Wiedervereinigung, um die sozialen undwirtschaftlichen Kosten staatlicher Überwachung zu quan -tifizieren.

Unser zentrales Maß ist dabei die Überwachungs-dichte eines DDR-Kreises, definiert als die Zahl inoffiziel-ler Mitarbeiter pro Einwohner in einem Kreis. RegionaleVariation in dieser „IM-Dichte“ zwischen den Kreisen er-laubt uns dabei die Identifikation sozialer und ökonomi-scher Kosten der Bespitzelung. Es ist anzunehmen, dassbeobachtbare Unterschiede in der Überwachungsinten-sität nicht zufällig auftraten, sondern etwa eine Reaktionauf eine regional unterschiedlich starke Opposition waren.In diesem Fall würde unsere Analyse lediglich eine Kor -relation einfangen, nicht jedoch einen kausalen Effekt derÜberwachung messen. In unserem Forschungsprojektbegegnen wir diesem Problem mit zwei unterschied -lichen Identifikationsstrategien. Zum einen nutzen wir dieadministrative Struktur des Überwachungsapparates derDDR: Bezirksdienststellen in den 15 Bezirken der DDRverantworteten die ihnen unterstellten Kreisdienststellenund bestimmten so in signifikantem Maße die Über -wachungsdichte auf Kreisebene. Allein 25 % der Variationin der Überwachungsintensität lassen sich in unserenDaten durch unterschiedliche Strategien auf Bezirks -ebene erklären. Diese dezentrale Struktur stand somit imdeut lichen Gegensatz zum zentralistisch ausgerichtetenStaatsaufbau und erlaubt uns die Identifikation der Ef -fekte mittels eines räumlichen Regressions-Diskontinui-täten-Ansatzes entlang der Bezirksgrenzen. Die zugrun-de liegende Annahme dieses Ansatzes ist dabei, dassÜberwachungsintensitäten in den Kreisen entlang derBezirksgrenzen nicht aufgrund von beobachtbaren odernicht-beobachtbaren Charakteristika variierten, sondernlediglich aufgrund unterschiedlicher Überwachungs -strategien auf Bezirksebene. Vereinfacht dargestellt, ver-gleichen wir somit zwei Kreise an einer Bezirksgrenze,die bezüglich all ihrer Eigenschaften identisch sind undsich nur in der Überwachungsdichte unterscheiden, weil

Der lange Schatten der Stasi-Überwachung1Andreas Lichter, Max Löffler und Sebastian Siegloch*

* Dr. Andreas Lichter ist Research Associate am Forschungsinstitut zurZukunft der Arbeit (IZA). Max Löffler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.Prof. Dr. Sebastian Siegloch ist Juniorprofessor für empirische Wirt-schaftspolitik und Arbeitsmarktökonomik an der Universität Mannheim.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Kreis A in einem Bezirk liegt, der verstärkt auf den Ein-satz von IM setzte, und Kreis B nicht. Unser ökono me -trisches Modell setzt die Unterschiede in der IM-Dichteinnerhalb dieses Kreis-Paares in Zusammenhang mit so-zialen und wirtschaftlichen Indikatoren heute. Der zweiteIdentifikationsansatz in diesem Forschungsprojekt basiertauf einem eigens konstruierten Längsschnittdatensatz,der wirtschaftliche Kennzahlen ostdeutscher Verwaltungs-einheiten vor (in den 1920er und 1930er Jahren) und nach(1990–2009) der Existenz der DDR zusammen bringt. AufGrundlage dieses Datensatzes können wir unterschied -liche Entwicklungspfade von Kreisen nach der Wieder -vereinigung in Abhängigkeit der Überwachungsdichte ana -lysieren, und gleichzeitig für konstante, unbeobachtetekreisspezifische Einflussfaktoren kontrollieren. Darüberhinaus können wir anhand der Daten aus der Zeit vordem zweiten Weltkrieg überprüfen, ob die IM-Dichte zumBeispiel in Regionen hoch war, die traditionell kapitalisti-scher eingestellt waren. In diesem Fall wäre eine kausaleInterpretation unserer Ergebnisse auf Grund simultanerKausalität nicht zulässig.

Die Ergebnisse unserer Analyse zeigen, dass die staat-liche Überwachung und Repression durch die Staats -sicherheit der DDR langfristige negative Effekte auf das gesellschaftliche Sozialkapital und die generelle öko no - mische Entwicklung hatten. Konkret zeigen wir in unse -rem Forschungspapier, dass eine höhere Überwachungs -intensität in ostdeutschen Kreisen zu geringerem Ver -trauen gegenüber Fremden, einer geringen Anzahl an engen Freunden und reduziertem sozialen Engagementführte. Alle Maße deuten folglich darauf hin, dass Über-wachung durch die Staatssicherheit einen Rückzug ausder Gesellschaft und eine Erosion des Sozialkapitals hervorgerufen hat. Einhergehend mit dem beobachtetenRückzug aus dem öffentlichen Leben, zeigen unsere Ergebnisse negative und langfristige Effekte staatlicherÜberwachung auf das wirtschaftliche Wohlergehen. Sosind in Kreisen mit höherer Überwachungsintensität auchJahre nach der Wiedervereinigung Arbeitseinkommen so-wie Selbstständigenraten geringer und Arbeitslosenquo-ten höher. Gleichzeitig erscheint die Überwachung durchdie Stasi als ein wichtiger Treiber der massiven Ost-West-Wanderung in den frühen 1990er und 2000er Jahren.

Wir argumentieren, dass die konkreten Ergebnissedieses Forschungsprojektes am Beispiel der DDR-Staatssicherheit wichtige Erkenntnisse für die Evaluie-rung der Auswirkungen und Kosten der Überwachung in anderen autoritären Staaten liefern. Auch heute nochspielen ungeachtet technologischer Entwicklungen In -formanten in vielen Regimen eine wichtige Rolle. Un-sere Ergebnisse unterstreichen des Weiteren die Rele-vanz sozialen Kapitals für die wirtschaftliche Entwicklungund bieten eine weitere Erklärung für die langsame und

schwierige Transformation osteuropäischer Staaten nachdem Fall des Eisernen Vorhangs [SHLEIFER (1997), UHLIG(2006)].

Überwachung durch die Staatssicherheit

Die unterschiedlichen Vorstellungen der alliierten Streit-mächte zur ökonomischen und politischen EntwicklungDeutschlands führten kurz nach Ende des Zweiten Welt-krieges zur innerdeutschen Teilung. Im Jahr 1949 grün-dete sich die Deutsche Demokratische Republik (DDR)auf dem sowjetisch-besetzten Territorium Deutschlands.Die DDR war ein Ein-Parteien-Staat im Geiste des realexistierenden Sozialismus. Während der vierzigjährigenExistenz der DDR sicherte das Regime seine Macht durchein engmaschiges und umfassendes Überwachungs -system.

Im Februar 1950, nur wenige Monate nach der Grün-dung der DDR, wurde das MINISTERIUM FÜR STAATSSICHER-HEIT geschaffen. Offiziell als Organ zur Abwehr feindlicherAgenten und Saboteure gegründet, entwickelte sich dieStasi schnell zu einem mächtigen und allgegenwärtigenÜberwachungsapparat [GIESEKE (2014), S. 50ff.]. Herz-stück war ein umfassendes Netzwerk inoffizieller Mit -arbeiter, mit deren Hilfe die Stasi ein detailliertes Bild op-positioneller Aktivitäten in der Gesellschaft zeichnen undgleichzeitig einen disziplinierenden und einschüchterndenEffekt auf die Bevölkerung ausüben wollte. Im Gegensatzzum zentralistisch aufgebauten Staatsapparat war dieStasi dezentral organisiert: Die Bezirksdienststellen inden 15 Bezirkshauptstädten waren für die eigenständigeSicherung ihres Territoriums zuständig [vgl. bspw. BRUCE(2010), S. 111 oder GIESEKE (2014), S. 82]. Ihnen unter-stellt waren die über 200 Kreisdienststellen. Dieser Auf-bau führte dazu, dass sowohl Überwachungsstrategienals auch Überwachungsintensitäten zwischen den ein-zelnen Bezirken recht unterschiedlich ausfielen.

Basierend auf offiziellen Daten der Stasi-Unterlagen-behörde zeigt Abbildung 1 die deutliche Variation in derÜberwachungsintensität innerhalb der DDR. Die Anzahloperativer IM pro Einwohner auf Kreisebene schwanktein den 1980er Jahren zwischen 0,12 % und 1,03 %. DerMittelwert lag bei circa 3,8 IM pro 1.000 Einwohner, dieStandardabweichung betrug 1,4.2 Historische Quellen legen nahe, dass die (unterschiedliche) Präsenz inoffiziel-ler Mitarbeiter – sei es bewusst oder unbewusst – tat-sächlich wahrgenommen wurde. BRUCE (2010, S. 148)konstatiert bspw., dass weite Teile der Bevölkerung in ih-rem Leben Erfahrungen mit der Stasi machten und diesehäufig reale Auswirkungen hatten; sei es, beispielsweise,die Hinderung am Studium, den Arbeitsplatzverlust odergar in Form von physischer Gewalt oder Freiheitsentzug.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Quelle: Lichter et al. (2016, S. 9).

Abbildung 1: Inoffizielle Mitarbeiter je 100 Einwohner

Anmerkung: Die Karte gibt die Zahl operativer Stasi-IM pro 100 Einwohner für die Kreise der DDR als Durchschnitt zwischen1980 und 1988 an. Schwarze Linien markieren Bezirksgrenzen. Für weiß gehaltene Kreise sind keine Daten verfügbar.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Unterschiede in der Überwachungsintensität

Historische Forschungsarbeiten konnten bisher nur we-nige Erklärungsfaktoren für die regionalen Unterschiedein der Überwachungsintensität durch die Stasi identifi -zieren. Vor diesem Hintergrund liefert unser Forschungs -projekt in einem ersten Schritt eine systematische Ana-lyse möglicher Determinanten der beobachtbaren Unter-schiede in der Überwachungsintensität. Dafür regressie-ren wir die Überwachungsintensität – d. h. die Anzahl anIM in der Bevölkerung – in einem Kreis auf eine Vielzahlpotenziell erklärender Variablen. Diese umfassen u. a. dieGröße und demographische Struktur eines Kreises, dieStärke des Aufstands am 17. Juni 1953, die Wirtschafts-struktur, politische und gesellschaftliche Unterschiedeaus der Zeit der Weimarer Republik sowie Indikatoren fürdie 15 DDR-Bezirke. Ziel dieser deskriptiven Voranalyseist es, ein regionales Muster von statistischen Zusammen-hängen zwischen der Überwachungsdichte und politi-schen sowie ökonomischen Faktoren aufzuzeigen. Einekausale Interpretation der Ergebnisse dieser Voranalyseist nicht zulässig.

Die Ergebnisse dieser beschreibenden Analyse ver-deutlichen, dass wenige beobachtbare Faktoren die Unterschiede in der Überwachungsdichte innerhalb derDDR erklären können. Zwar nimmt die IM-Dichte mit derBevölkerungsgröße signifikant ab, was auf die Präsenzvon Skaleneffekten hindeutet. Darüber hinaus haben jedoch nur wenige Charakteristika einen signifikanten Erklärungswert. Regionale Unterschiede in der Intensitätdes großen Volksaufstandes um den 17. Juni 1953, derin den nachfolgenden Jahren zu einer massiven Auswei-tung des Aufgabengebietes und der Machtbefugnisseder Stasi führte, erklären nur einen sehr geringen Teil der regionalen Unterschiede. Auch politische oder wirt-schaftliche Unterschiede zwischen den Regionen habennur einen marginalen Anteil an der beobachtbaren Varia-tion. Die Analyse verdeutlicht vielmehr die zentrale Be-deutung der übergeordneten Stasi-Bezirksdienststellen.Einhergehend mit der oben beschriebenen dezentralenAusrichtung der Stasi, in der jede Bezirksdienststelle dieSicherheit ihres Bezirks sicherstellen musste, erklärenunterschiedliche Überwachungsstrategien in den 15 Be-zirken etwa ein Viertel der beobachtbaren regionalen Variation in der Überwachungsintensität.

Identifikation der Effekte staatlicher Überwachung

In einem zweiten Schritt widmet sich unsere For-schungsarbeit der kausalen Hauptanalyse. Zur Identifi -kation des kausalen Effektes staatlicher Überwachung auf das Sozialkapital und die wirtschaftliche Entwicklung

greifen wir auf zwei unterschiedliche empirische Strate-gien zurück. Detailliertere Beschreibungen beider Identifi-kationsstrategien geben wir in LICHTER et al. (2016).

Die erste Identifikationsstrategie nutzt die exponierteStellung der Bezirksdienststellen in der institutionellenStruktur der Stasi. Die deskriptive Voranalyse bestätigtdie Relevanz der Bezirksebene und lässt auf unter-schiedliche Überwachungsstrategien zwischen den ein-zelnen Bezirken schließen. Wir nutzen dieses institutio-nelle Arrangement zur Identifikation und vergleichen inunserer empirischen Analyse stets zwei benachbarteKreise, die durch eine Bezirksgrenze getrennt sind. Wirfokussieren uns in der Analyse folglich auf rund 60 Kreis-paare und identifizieren den Effekt der Überwachungausschließlich innerhalb eines Kreispaares. Unsere Re-sultate erhalten eine kausale Interpretation unter der Bedingung, dass sich die Kreise innerhalb eines Kreis-paares nur in der (durch die Bezirke induzierten) Über -wachungsdichte unterscheiden, nicht aber in anderenbeobachtbaren oder unbeobachtbaren Aspekten. In un-serem Forschungspapier testen wir diese Annahme aus-führlich und kommen zu dem Schluss, dass die An -nahme für eine kausale Interpretation erfüllt ist.

Der zweite Ansatz basiert auf einem Längsschnittver-gleich der DDR-Kreise über die Zeit. Zu diesem Zweckkombinieren und harmonisieren wir regionale Wirtschafts-indikatoren (bspw. in Hinblick auf Arbeitslosigkeit oderSelbstständigkeit) aus der Zeit der Weimarer Republik mitDaten nach der Wiedervereinigung. Auf die gleiche Artkombinieren und harmonisieren wir auch Bevölkerungs-zahlen vor und nach der Wende (1985–2009). Dieser An-satz erlaubt es uns, Entwicklungspfade wirtschaftlicherIndikatoren über die Zeit in Abhängigkeit der Stärke staat-licher Überwachung zu vergleichen und gleichzeitig (mit-tels eines Fixed-Effects-Schätzers) jegliche persistentenUnterschiede zwischen Kreisen herauszurechnen.

Ergebnisse unserer Forschungsarbeit

Effekte auf Vertrauen und soziale Beziehungen

Wir messen zwischenmenschliches Vertrauen, sozialeBindungen oder soziales Engagement mittels der Datendes SOZIO-OEKONOMISCHEN PANELS (SOEP) über den Zeit-raum von zwei Jahrzehnten (1990–2010). Anhand vonRegionalinformationen zum Wohnort der Befragten imJahr 1989 für eine Teilgruppe des Panels können wir diejeweilige Stasi-Überwachungsintensität aus den 1980ernzuordnen. Die empirischen Ergebnisse des oben ein -geführten Regressions-Diskontinuitäten-Ansatzes zeigendabei klare langfristige, negative Konsequenzen staat -licher Überwachung auf das Sozialverhalten.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Tabelle 1 stellt einen Auszug der Ergebnisse der For-schungsarbeit dar. Zunächst zeigt die Tabelle, dass Per-sonen, die einer stärkeren staatlichen Überwachung aus-gesetzt waren, signifikant seltener Menschen vertrauen,die sie nicht kennen. Ähnliche Ergebnisse finden sich inHinblick auf das Sozialverhalten der Studienteilnehmer.Einwohner in Kreisen mit ehemals hoher IM-Dichte habenweniger enge Freunde als Studienteilnehmer, die einergeringen Stasi-Überwachung ausgesetzt waren. Gemäßunserer Ergebnisse reduziert eine Steigerung der Über-wachungsintensität in Höhe einer Standardabweichungdie Anzahl enger Freunde um 0,4. Dies entspricht eineretwa zehn prozentigen Reduktion im Vergleich zumDurchschnitt (Panel B, Spalte 4). Auch soziales Engage-ment scheint durch staatliche Überwachung reduziert zuwerden. Befragte, die zu DDR-Zeiten in Kreisen mit höhe-rer Überwachungsintensität gelebt haben, scheinen sichstärker ins Privatleben zurückzuziehen. Sie führen sel -tener ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen, Verbändenoder sozialen Diensten aus und beteiligen sich seltener inBürgerinitiativen, Parteien oder in der Kommunalpolitik.

Effekte auf ökonomische Performance

Angesichts dieser stark negativen Effekte der Stasi-Über-wachung auf zwischenmenschliches Vertrauen und sozia-le Bindungen auch zwei Jahrzehnte nach der Wiederver -einigung liegt es nahe, dass die Überwachungsmethodender Stasi auch negative ökonomische Auswirkungen ha-ben. In unserer Forschungsarbeit untersuchen wir dieseThese mit Blick auf vier zentrale ökonomische Maße: Ar-beitseinkommen, Arbeitslosigkeit, Unternehmertum sowie

die Bevölkerungsentwicklung. Wie erwartet zeigen sichauch negative wirtschaftliche Konsequenzen der Überwa-chung. Bis Mitte der 2000er Jahre blieben die Arbeitsein-kommen in Kreisen mit höherer IM-Zahl pro Kopf deutlichhinter denen in Kreisen mit niedrigerer Überwachungs -intensität zurück. Eine um eine Standardabweichung stär-kere staatliche Überwachung während der DDR, führtedemnach zu einem um etwa sechs Prozent geringeren Arbeitseinkommen in den ersten Jahren nach der Wende.Erst seit Mitte der 2000er Jahre kann ein leichter Aufhol-prozess beobachtet werden [siehe LICHTER et al. (2016)].

Auf Grundlage der Längsschnittdaten und dem da-rauf aufbauenden zweiten Identifikationsansatz zeigt sichweiterhin, dass eine stärkere staatliche Überwachung zueiner niedrigeren Anzahl Selbstständiger führte und dieArbeitslosigkeit erhöhte. Ausführliche Ergebnisse findensich in LICHTER et al. (2016, S. 22–24).

Ein alternatives und ebenfalls umfassendes Maß derwirtschaftlichen Entwicklung eines Kreises ist das Bevöl-kerungswachstum. Prosperierende Kreise ziehen neueEinwohner an, während wirtschaftlicher Niedergang zuverstärkter Abwanderung führt. Wir nutzen daher Bevöl-kerungszahlen der DDR-Kreise für die Zeit von 1985 bis2009, um den Einfluss staatlicher Überwachung auf dieBevölkerungsbewegungen zu untersuchen. Panel A derAbbildung 2 zeigt zunächst die durchschnittliche Bevöl-kerungsentwicklung der DDR-Kreise über diesen Zeit-raum hinweg. Unmittelbar mit Öffnung der Grenze setzteeine erste große Abwanderungswelle ein, die bis Mitteder 1990er Jahre zu einem durchschnittlichen Bevöl -kerungsverlust von etwa sieben Prozent führte. Nach einem kurzzeitigen Abflauen setzt sich dieser Trend seit

(1) (2) (3) (4) (5) (6)

Maße für Sozialkapital: Vertrauen in Fremde Zahl enger Freunde Kommunalpolitik

Überwachungsintensität –0,041** –0,061*** –0,461*** –0,428*** –0,004 –0,041**

(0,018) (0,018) (0,156) (0,146) (0,019) (0,017)

Angepasstes R2 0,061 0,115 0,074 0,138 0,02 0,137

Beobachtungen 3.389 3.389 3.248 3.248 3.549 3.549

Individuelle Kontrollvariablen Nein Ja Nein Ja Nein Ja

Kreis-Kontrollvariablen Nein Ja Nein Ja Nein Ja

Die Tabelle zeigt die Schätzergebnisse für den Bezirksgrenzen-Identifikationsansatz auf Basis von Befragungsdaten ausdem Sozio-oekonomischen Panel. Die Koeffizienten geben den Effekt für einen Anstieg der Überwachungsintensität umeine Standardabweichung an. Standardfehler in Klammern (* p < 0.1, ** p < 0.05, *** p < 0.01).

Quelle: Lichter et al. (2016, S. 19).

Tabelle 1: Folgen der Überwachung für Vertrauen und soziale Bindungen

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Quelle: Lichter et al. (2016, S. 25).

Abbildung 2: Überwachung und Bevölkerungsabwanderung

1985 1989 1994 1999 2004 2009

A. Duchschnittliches Bevölkerungswachstum

Wachstumsrate Wachstum relativ zu 1988

–0,06

–0,04

–0,02

0,00

1985 1989 1994 1999 2004 2009

B. Effekt der Überwachung auf die Bevölkerungszahl (in Logs)

t neizif f eoK retztähcse

G

9. November 1989

Anmerkung: Panel A zeigt das durchschnittliche jährliche und kumulierte Bevölkerungswachstum der ostdeutschen Kreise von 1985 bis 2009. Panel B zeigt die Schätzungsergebnisse und 95-%-Konfidenzintervalle des beschriebenen Längsschnittmodells.

–15

–10

–5

0

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Aktuelle Forschungsergebnisse

der Jahrtausendwende fort. Im Jahr 2009 wohnten circa15 Prozent weniger Menschen in Ostdeutschland als nochim Jahr 1988.

Während Panel A die allgemeine Bevölkerungsent-wicklung in den neuen Bundesländern darstellt, doku-mentiert Panel B der Abbildung 2, inwieweit der starkeBevölkerungsrückgang auf Stasi-Aktivitäten zurückzufüh-ren ist. Interessanterweise wird im Zeitablauf ein ähnlichesMuster wie in Panel A deutlich. Die Ergebnisse legennahe, dass der Bevölkerungsrückgang in Ostdeutschlandauch durch den Überwachungsstaat getrieben ist. Bevöl-kerungszahlen in Gebieten mit höherer Überwachungs -intensität sanken nach dem Fall der Mauer deutlich stär-ker als in Kreisen mit geringerer staatlicher Überwachung– jeweils im Vergleich zum Bevölkerungsstand 1988. DieStaatssicherheit ist ein relevanter und unmittelbarer Trei-ber der Abwanderung ostdeutscher Bürger in den Wes-ten, insbesondere unmittelbar nach dem Mauerfall. DieErgebnisse unserer Forschungsarbeit legen beispiels -weise nahe, dass eine um eine Standardabweichung höhere Überwachungsdichte die Bevölkerung im Jahr1989 um 1,2 % reduzierte. Darüber hinaus zeigt die Ab -bildung, dass das Ausmaß der Überwachung durch dieStasi vor der Wende keine Auswirkungen auf die beob-achteten Bevölkerungsänderungen hatte.

Fazit

Die Ergebnisse unserer Forschungsarbeit liefern Evidenzfür negative und langanhaltende Folgen staatlicher Über-wachung. Wir zeigen, dass staatliche Überwachung zwi-schenmenschliches Vertrauen, soziale Beziehungen undsoziales Engagement nachhaltig schädigt. Mit diesemRückzug aus dem gesellschaftlichen Leben geht einökonomischer Schaden einher, den wir ebenfalls statis-tisch nachweisen können. Bis Mitte der 2000er Jahreblieben bspw. beobachtbare Arbeitseinkommen in Krei-sen mit höherer IM-Zahl pro Kopf deutlich hinter denen inKreisen mit niedrigerer Überwachungsintensität zurück.Die Überwachung und Repression der Stasi in der DDRerscheint zudem als einer der Hauptfaktoren für den enor-men Bevölkerungsverlust in vielen ostdeutschen Kreisennach der Wiedervereinigung.

Auf Grundlage der Ergebnisse unserer Forschungs-studie lassen sich allgemeine Implikationen zu den Kos-ten staatlicher Überwachung ableiten, die über die Fall-studie der DDR hinausgehen. Auch heutzutage nutzenviele autoritäre Staaten Überwachungsinstrumente undInformanten, um ihre Bevölkerung zu kontrollieren. Eskann daher erwartet werden, dass auch in diesen Re-gimen staatliche Überwachung negative Auswirkungenauf das Sozialkapital und die wirtschaftliche Entwicklung

hat. Darüber hinaus wenden auch demokratische Län-der Methoden der Massenüberwachung an, beispiels-weise zur Terrorismusabwehr. Die Ergebnisse unsererStudie zeigen auf, dass indirekte ökonomische und ge-sellschaftliche Kosten bei der Beurteilung möglicher Über-wachungsprogramme beachtet werden sollten.

Literatur

ARENDT, H. (1951): The Origins of Totalitarianism. NewYork: Harcourt, Brace; Company.

ARROW, K. J. (1972): Gifts and Exchanges. Philosophy &Public Affairs 1 (4), S. 343–362.

BRANIGAN, T. (2010): Chinese police chief boasts of recrui -ting one in 33 residents as informants, The Guar dian,February 10, 2010. https://www.theguardian.com/world/2010/feb/10/china-police-informants-surveillance.

BRUCE, G. (2010): The Firm – The Inside Story of theStasi. New York: Oxford University Press.

DENG, Y. und K. J. O’BRIEN (2013) Relational Repressionin China: Using Social Ties to Demobilize Protesters.The China Quarterly 215, S. 1–20.

GIESEKE, J. (2014): The History of the Stasi: East Ger-many’s Secret Police, 1945–1990. New York, Oxford:Berghahn Books.

LA PORTA, R.; LOPEZ-DE-SILANE, F.; SHLEIFER, A. und R. W.VISHNY (1999): The Quality of Government, The Journalof Law, Economics and Organization 15, S. 222–279.

LICHTER, A.; LÖFFLER, M. und S. SIEGLOCH (2016): TheLong-Term Costs of Government Surveillance: Insightsfrom Stasi Spying in East Germany. CESifo WorkingPaper 6042 (august).

MÜLLER-ENBERGS, H. (1996): Inoffizielle Mitarbeiter des Mi-nisteriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durch-führungsbestimmungen. Berlin, Chr. Links Verlag.

PUTNAM, R. D. (1995): Bowling Alone: America’s DecliningSocial Capital. Journal of Democracy 6 (1), S. 65–78.

SHLEIFER, A. (1997): Government in Transition. EuropeanEconomic Review 41, S. 385–410.

THE ECONOMIST INTELLIGENCE UNIT (2014): Democracy Index,www.eui.com.

UHLIG, H. (2006): Regional Labor Markets, Network Ex-ternalities and Migration: The Case of German Re -unification. American Economic Review: Papers andProceedings 96 (2), S. 383–387.

1 Dieser Artikel ist eine gekürzte deutsche Übersetzung unseres Forschungs-papiers “The Long-Term Costs of Government Surveillance: Insights fromStasi Spying in East Germany” [vgl. LICHTER et al. (2016)].

2 Diese Zahlen beziehen sich auf die Anzahl an operativ-tätigen IM. DieGesamtzahl aller inoffiziellen Mitarbeiter lag bei durchschnittlich 1.0%.Siehe LICHTER et al. (2016) für weitere Details.

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Einleitung

Dieser Artikel untersucht mögliche Unterschiede derökonomischen Aktivität – gemessen an der Betriebs-gründungsintensität und der Beschäftigungsentwicklung –sowohl innerhalb Ostdeutschlands als auch innerhalbWestdeutschlands. Dabei soll insbesondere analysiertwerden, inwiefern die geographische Nähe zum jeweilsanderen Landesteil die ökonomische Aktivität seit Mitteder 1990er Jahre beeinflusst haben könnte. Dabei ver-muten wir, dass die Regionen beidseitig der ehemaligeninnerdeutschen Grenze von den sich neu erschließendenLiefer- und Absatzmärkten profitiert haben und im Ver-gleich zu ihrem jeweiligen Hinterland eine gesteigerteökonomische Aktivität aufweisen. Gleichwohl ist in Be-tracht zu ziehen, dass staatliche Ansiedlungssubventio-nen und Investitionshilfen in den ostdeutschen Regionendazu geführt haben könnten, dass diese sowohl Unter-nehmer als auch Unternehmen aus den angrenzendenwestdeutschen Regionen angezogen haben.

Während zu Beginn der Untersuchungsperiode dieGründungsintensität in Ostdeutschland noch weit überder Gründungsintensität von Westdeutschland lag, glichsich diese im Laufe der Jahre an. Gleichwohl lag die Ent-wicklung der Beschäftigung in der Privatwirtschaft in Ost-deutschland unter derjenigen des Westens. Allerdingsfinden sich sehr unterschiedliche sektorale Beschäfti-gungsdynamiken; so gilt dieser Befund insbesondere imDienstleistungssektor. Hingegen lag die Beschäftigungs-entwicklung im Verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutsch-land über derjenigen von Westdeutschland.

Eine getrennte Betrachtung von Ost- und West-deutschland über die regionalen Unterschiede innerhalbder Landesteile zeigt zum Teil ein starkes regionales Ge-fälle. Bezogen auf die Summe an Betriebsgründungenpro Kopf und der Beschäftigungsentwicklung in der Privat wirtschaft insgesamt können zwar kaum regiona-le Unterschiede festgestellt werden. Allerdings findenwir für das Verarbeitende Gewerbe starke regionale Un-terschiede. Insbesondere ostdeutsche Kreise nahe derehemaligen innerdeutschen Grenze weisen eine höhereGründungs intensität und eine höhere Beschäftigungs-entwicklung im Vergleich zu weiter entfernt liegendenostdeutschen Kreisen auf. Das gegenteilige Bild lässt

sich für das Ver arbeitende Gewerbe in Westdeutschlandbeobachten: Westdeutsche Kreise, welche nahe an derGrenze zur ehemaligen DDR lagen, haben eine geringereBetriebsgründungsdynamik und eine geringere Beschäf-tigungsentwicklung erfahren als westdeutsche Kreise, dieweiter von der ehemaligen Grenze entfernt liegen. Ob diestaatlichen Subventions- und Investitions anreize für ost-deutsche Gebiete dazu geführt haben, dass benachbar-te, weniger geförderte Gebiete in Westdeutschland unter einem Rückgang der ökonomischen Aktivität zu leidenhatten, kann hier nicht gänzlich geklärt werden. UnsereAuswertungen legen allerdings diese Ver mutung nahe.

Daten und Methodik

Die Daten zur Betriebsgründungsdynamik und den so zial -versicherungspflichtig Beschäftigten stammen aus demBetriebs-Historik-Panel (BHP) des INSTITUTS FÜR ARBEITS -MARKT- UND BERUFSFORSCHUNG (IAB).1 Dieses Panel lieferteine 50-%-Zufallsstichprobe aller Betriebe in Deutsch-land, sofern diese mindestens einen sozialver siche rungs -pflichtig oder geringfügig Beschäftigten haben. Das BHPerlaubt eine Auswertung auf Kreisebene und nach Wirt-schaftszweigklassifikationen. Westdeutsche Betriebe kön -nen damit ab dem Jahr 1975, ostdeutsche Betriebe abdem Jahr 1993 untersucht werden.

Zur Bestimmung der Anzahl von Betriebsneugründun-gen greifen wir auf den Erweiterungsdatensatz-Betriebs - dynamik des BHP zurück [vgl. GRUHL et al. (2012), bzw.HETHEY und SCHMIEDER (2010) für eine detaillierte Be-schreibung]. Als Betriebsneugründungen gemäß desBHP gelten Betriebe, die in einem Jahr zum ersten Malmit einer neuen Betriebsnummer im BHP auftreten. Diesist dann gegeben, wenn zum Stichtag 30. Juni einesJahres erstmals mindestens ein sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigter (SVB) oder ein geringfügig Be-schäftigter (gfB) bei der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT gemeldet ist. Das BHP unterscheidet folgende vier ver-schiedene Hauptgründungstypen:

Die Wirtschaftsdynamik beiderseits der ehemaligeninnerdeutschen GrenzeChristian Ochsner und Michael Weber*

* Christian Ochsner und Michael Weber sind Doktoranden an der Nieder-lassung Dresden des ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsfor-schung an der Universität München e. V.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Neugründung: Betriebe mit mindestens einem SVBoder einem gfB. Bei über vier SVB darf eine Mehrheitder Arbeiter davor nicht gemeinsam in einem anderenBetrieb ge arbeitet haben.

Spin-off: Ein Großteil der Arbeiter des neuen Betrie-bes arbeitete im vorangegangenen Jahr bei einemanderen Betrieb zusammen.

ID-Wechsel: Eine neue Betriebsnummer wurde z. B.infolge eines Besitzerwechsels vergeben.

Unbekannt: Sofern keine der drei oben genanntenGründungstypen einwandfrei auf diese Neugründun-gen zutreffen.

Da wir die ökonomische Dynamik anhand von Neugrün-dungen abbilden wollen, schließen wir „neue“ Betriebe,die lediglich infolge eines ID-Wechsels in unseren Daten-satz auftauchen, von der Analyse aus.

Die Auswertung der Gründungsintensität und desBeschäftigungswachstums auf Kreisebene für Ost- undWest deutschland erfolgt in Abhängigkeit von der Ent-fernung eines Kreises zur ehemaligen innerdeutschenGrenze. Hierzu wird die Entfernung des geographi-schen Kreis mittelpunkts zum nächstgelegenen Punktauf der ehemaligen innerdeutschen Grenze bestimmt.Die Auswertung bezieht sich jeweils auf den Gebiets-stand von 2010. Anschließend berechnen wir die Grün -dungsintensität auf Kreisebene bzw. für kreisfreie Städte.2 Hierzu fokussieren wir uns auf die Jahre 1995,2000, 2005 und 2010.3 Die Gründungsintensität um-fasst hierbei Neugründungen gemäß des BHP wie obenbeschrieben. Diese werden auf Kreisebene aufsum-miert und anschließend durch die jeweilige Wohnbevöl-kerung (in 100.000) des jeweiligen Jahres geteilt.4 ZurBestimmung des Wachstums der SVB berechnen wirden Beschäftigungszuwachs auf Kreisebene zwischen1995 und 2008.5 Bei beiden Analysen unterscheidenwir auch nach unterschiedlichen Abgrenzungen derWirtschaftszweigklassifikationen (WZ 1993).

Für die Auswertung und zur graphischen Darstellungder Resultate wenden wir eine lokale Polynomregres -sion (local polynomial regression) an. Dieser nicht-para-metrische Ansatz versucht, eine Kurvenlinie über dieGründungsintensität auf Kreisebene in Abhängigkeit zurEntfernung zur ehemaligen innerdeutschen Grenze zuziehen. Dieses Verfahren wird sodann getrennt für dieGründungsintensität in Ost- und Westdeutschland an-gewendet. Diese Methode macht eine lokale Schät-zung darüber, wie hoch die Gründungs intensität z. B. inRegionen ist, die 30 Kilometer von der ehemaligen innerdeutschen Grenze entfernt liegen. Dieser lokaleMittelwert kann nun mit einer anderen, weiter entferntliegenden lokalen Gründungsintensität verglichen wer-den. Die lokale Streuung der Gründungsintensität, aus-

gedrückt in Konfidenzintervallen, kann nun da zu ge-nutzt werden, um Aussagen über signifikante Unter-schiede der Gründungsintensität in Abhängigkeit vonder Entfernung zur ehemaligen innerdeutschen Grenzezu treffen.

Resultate der lokalen Gründungsintensität

Zuerst widmen wir uns der Gründungsintensität aufKreisebene in Abhängigkeit von dem geographischenKreismittelpunkt zur ehemaligen innerdeutschen Grenze.Die Abbildungen 1 bis 3 zeigen jeweils die Resultate für die Gründungsjahre 1995, 2000, 2005 und 2010,unter teilt in verschiedene Abgrenzungen der Wirt-schaftszweigklassifikationen (gemäß WZ 1993). Dabeizeigt jede Graphik die Resultate der lokalen Polynom -regression für Ost- und Westdeutschland. Die Grün-dungsintensität auf Kreisebene je 100.000 Einwohnersteht hierbei auf der y-Achse, die Entfernung der Kreisezur ehemaligen innerdeutschen Grenze ist auf der x-Achse dargestellt. Dabei ist der 0-Punkt die Lokalitätder ehemaligen Grenze; westdeutsche Kreise sind dazumit negativen Kilometerangaben, ostdeutsche Kreisemit positiven Kilometer angaben, abgetragen. Da wiruns auf die Grenzeffekte konzentrieren, wurden dieGraphiken auf eine maximale Distanz von +/– 200 Kilo-metern beschnitten.6

Die Abbildung 1 zeigt die Gründungsintensität allerBetriebe der Wirtschaftsabteilungen 10 bis 82. Damitwerden sämtliche Gründungen der überwiegend privat-wirtschaftlich organisierten Sektoren (außer Land- undForstwirtschaft und Fischerei) abgebildet. Die Ana lyseder unterschiedlichen Gründungsjahre zeigt hierbei zweiwesentliche Hauptmerkmale. Zum einen lag die Grün-dungsintensität in Ostdeutschland bis einschließlich demJahr 2005 deutlich über der Gründungsintensität inWestdeutschland. Dies ist nicht weiter verwunderlich; inOstdeutschland mussten u. a. viele aufgestaute Grün-dungen vom Beginn der 1990er Jahre nachgeholt werdenund die Vielzahl an Unternehmensschließungen dürfteden Bestand gründungswilliger Menschen ebenfalls er-höht haben. Die erhöhte Gründungsintensität im Ostenscheint aber um 2010 mehrheitlich passé zu sein.

Zum anderen ist die geographische Variation derGründungsintensität sowohl in Ost- als auch in West-deutschland überraschend gering. Zwar existieren sowohl innerhalb Ost- als auch Westdeutschlands lo-kale Höhepunkte in Regionen, welche sich ca. 100 bis150 Kilometer landeinwäts befinden. In diesen Regionenbefinden sich in Ostdeutschland die urbanen ZentrenLeipzig und Berlin, in Westdeutschland die urbanen Zen-tren Frankfurt/Main, Hannover und Nürnberg/Erlangen.

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(a) Gründungsintensität 1995

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

(b) Gründungsintensität 2000

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

(c) Gründungsintensität 2005

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(d) Gründungsintensität 2010

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

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Lesehinweis: Die Graphiken zeigen lokale Mittelwerte der Polynomregression (local polynomial regressions) der deutschen Landkreise und kreisfreien Städte in Abhängigkeit von ihrer Entfernung zur ehemaligen innerdeutschen Grenze (Wert 0 auf der x-Achse). Die Entfernung zu dieser für die westdeutschen (ostdeutschen) Kreise ist mit negativen (positiven) Kilometarangaben angegeben. Ostdeutschland einschließlich Berlin.

Lokaler Mittelwert 95-%-Konfidenzintervall

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

Allerdings sind die regionalen Unterschiede so gering,dass nicht von signifikanten Unterschieden gesprochenwerden kann.7

Beidseitig der ehemaligen Grenze war die Betriebs-gründungsdynamik tendenziell jeweils marginal geringerals in weiter entfernt liegenden Regionen von Ost- undWestdeutschland. Dies lässt sich unter anderem da-durch erklären, dass beide Grenzregionen im Vergleichzum jeweiligen Hinterland ökonomisch eher schwacheRegionen sind. Im Folgenden soll nun geklärt werden,ob das regionale Muster aus Abbildung 1 auch für ein-zelne Sektoren gilt. Deswegen wird nachfolgend eineAnalyse der Gründungsintensität gesondert für das

Verarbeitende Gewerbe (vgl. Abb. 2) und den Dienstleis-tungssektor (vgl. Abb. 3) durchgeführt. Das Ziel diesersektoralen Unterteilung ist es, die Gründungsintensitätvon Sektoren, welche eher auf den lokalen Heimmarktangewiesen sind (Dienstleistungen) von Sektoren, dieüberregionale Absatzmärkte bedienen können (Verarbei -tendes Gewerbe), voneinander zu trennen.

Abbildung 2 veranschaulicht die Gründungsintensitätfür das Verarbeitende Gewerbe.8 Somit fokussiert sichdiese Analyse auf Wirtschaftssektoren, die weniger aufeinen regionalen Absatzmarkt angewiesen sind. Bei derBetrachtung der lokalen Mittelwerte fallen die großen re-gionalen Unterschiede ins Auge: In ehemals grenznahen

Quellen: BHP Version 7510, Berechnung und Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 1: Anzahl Betriebsgründungen auf Kreisebene privatwirtschaftlich organisierter Sektoren je 100.000 Einwohner

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

Kreisen Ostdeutschlands ist die Gründungsintensität sig-nifikant höher als in weiter entfernt liegenden ostdeut-schen Kreisen. So lag die durchschnittliche Gründungs -intensität in grenznahen Kreisen für die Jahre 1995, 2000und 2005 um ca. 30 % über dem Durchschnitt weiterentfernt liegender Kreise. Diese räumlichen Unterschiedesind statistisch signifikant. Das Abfallen der Gründungs-intensität mit der Entfernung zur ehemaligen Grenze istauch noch im Jahr 2010 erkennbar, allerdings im weitausgeringeren Maße als in den Jahren davor.

Das konträre Bild lässt sich für westdeutsche Kreiseerkennen: Je näher ein Kreis an der ehemaligen inner-deutschen Grenze liegt, desto geringer ist die dortigeGründungsintensität im Vergleich zu weiter entfernt

liegenden westdeutschen Kreisen. Während sich die lo-kalen Mittelwerte in Regionen, die weiter als ca. 75 Kilo -meter von der ehemaligen Grenze entfernt liegen, kaumsignifikant voneinander unterscheiden, liegen die un -mittelbaren Grenzregion bei einer ca. 30 % niedrigerenGründungsintensität. Dieser Befund scheint allerdingsnur bis einschließlich 2005 zu gel ten. Bereits 2010 liegtdie Gründungsintensität in ehe ma ligen GrenzkreisenWestdeutschlands sogar leicht über der Gründungs -intensität weiter entfernt liegender westdeutscher Re-gionen.

Im Gegensatz zu den Resultaten im VerarbeitendenGewerbe ist das gegenteilig verlaufende Grenzmuster(im Osten höher, im Westen tiefer) im Dienstleistungssek-

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(a) Gründungsintensität 1995 (b) Gründungsintensität 2000

(c) Gründungsintensität 2005 (d) Gründungsintensität 2010

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Lesehinweis: Die Graphiken zeigen lokale Mittelwerte der Polynomregression (local polynomial regressions) der deutschen Landkreise und kreisfreien Städte in Abhängigkeit von ihrer Entfernung zur ehemaligen innerdeutschen Grenze (Wert 0 auf der x-Achse). Die Entfernung zu dieser für die westdeutschen (ostdeutschen) Kreise ist mit negativen (positiven) Kilometarangaben angegeben. Ostdeutschland einschließlich Berlin.

Lokaler Mittelwert 95-%-Konfidenzintervall

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km) Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km) Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

Quellen: BHP Version 7510, Berechnung und Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 2: Anzahl Betriebsgründungen auf Kreisebene des Verarbeitenden Gewerbes je 100.000 Einwohner

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

tor nicht zu beobachten.9 Abbildung 3 zeigt hierzu dieResultate. Wie in Abbildung 1 schneiden hierbei die Re-gionen beidseitig der ehemaligen Grenze schlechter abals das jeweilige Hinterland. Da der Dienstleistungs -sektor eine massiv höhere Gründungsintensität als dasVerarbeitende Gewerbe aufweist (gemessen an denGründungen je 100.000 Einwohnern), sind die Gesamt-resultate in Abbildung 1 von diesen getrieben.10

Resultate des lokalen Beschäftigungswachstums

Die Gründungsintensität kann ein verzerrtes Bild der eigentlichen Wirtschaftsdynamik einer Region darstellen.

So sagt die Gründungsintensität für sich alleine betrach-tet noch nichts darüber aus, wie erfolgreich die Betriebewirtschaften oder wie lange diese am Markt über -lebten.11 Deswegen wird in Abbildung 4 die Entwicklungder SVB auf Kreisebene analog zu den Auswertungender vorangegangen Abbildungen dargestellt. Wir interes -sieren uns dabei insbesondere für die Beschäftigungs-entwicklung der SVB zwischen 1995 und 2008.12

Wiederum stellen wir die regionale Beschäftigungs-entwicklung unterteilt in Sektoren in Abhängigkeit vonder Entfernung zur ehemaligen innerdeutschen Grenzedar. Abbildung 4(a) zeigt diese für alle mehrheitlich privat-wirtschaftlich organisierten Sektoren (analog zu Abb. 1).Bezogen auf die beidseitigen Grenzeffekte sehen wir, dass

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(a) Gründungsintensität 1995

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

(b) Gründungsintensität 2000

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

(c) Gründungsintensität 2005

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

(d) Gründungsintensität 2010

Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

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Lesehinweis: Die Graphiken zeigen lokale Mittelwerte der Polynomregression (local polynomial regressions) der deutschen Landkreise und kreisfreien Städte in Abhängigkeit von ihrer Entfernung zur ehemaligen innerdeutschen Grenze (Wert 0 auf der x-Achse). Die Entfernung zu dieser für die westdeutschen (ostdeutschen) Kreise ist mit negativen (positiven) Kilometarangaben angegeben. Ostdeutschland einschließlich Berlin.

Lokaler Mittelwert 95-%-Konfidenzintervall

Quellen: BHP Version 7510, Berechnung und Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 3: Anzahl Betriebsgründungen auf Kreisebene des Dienstleistungssektors je 100.000 Einwohner

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

(a) Wachstum der SV-Beschäftigung der überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Sektoren (WZ 10-82)

(b) Wachstum der SV-Beschäftigung im Verarbeitenden Gewerbe

(c) Wachstum der SV-Beschäftigung im Dienstleistungssektor

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Westdeutschland Ostdeutschland

ehem.Grenze

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Distanz zur ehemaligen Grenze (in km)

Quellen: BHP Version 7510, Berechnung und Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 4: Wachstum der sozialversicherungspflichtig Beschäftigung von 1995 bis 2008 (in %)

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

in Ostdeutschland die Entwicklung der Gesamt beschäf -tigung zur ehemaligen Grenze hin eher steigt. Allerdingsunterscheidet sich diese Zunahme kaum von weiter ent-fernt liegenden ostdeutschen Regionen. In Westdeutsch-land fällt die Linie ab einer Nähe von ca. 75 Kilometernzur ehemaligen Grenze kontinuierlich ab. WestdeutscheRegionen in ehemaliger Grenznähe haben demnach ten-denziell ein niedrigeres Beschäftigungswachstum erfahrenals weiter im Hinterland liegende Gebiete.

Abbildung 4(b) stellt das Wachstum der SVB für das Verarbeitende Gewerbe dar (analog zu Abb. 2).Ostdeutsche Gebiete in ehemaliger Grenznähe wei-sen tendenziell eine höhere Beschäftigungsentwicklungauf als ostdeutsche Gebiete, welche weiter als 75 Kilo -meter innerhalb Ostdeutschlands liegen. Allerdingskann infolge der hohen Variation kaum von signifi kantenUnterschieden gesprochen werden. In Westdeutsch-land erfuhren Gebiete in ehemaliger Grenznähe wie -derum eine relative Schrumpfung. So liegt die Be schäf -tigungsentwicklung des Verarbeitenden Gewerbesgrenznaher westdeutscher Kreise meist unter der Ent -wicklung weiter entfernt liegender westdeutscher Re -gionen.

Betrachtet man nun die Beschäftigungsentwicklungdes Dienstleistungssektors in Abbildung 4(c) (analog zuAbb. 3), so zeigen die Kurven beidseits der Grenze nachoben. Allerdings sind die Konfidenzintervalle in Grenz -nähe sehr breit, weshalb kaum von signifikanten Unter-schieden gesprochen werden kann. Breite Konfidenz-bänder deuten darauf hin, dass die Variation der Be -schäftigungsentwicklung sehr groß sein muss. Allgemeinlässt sich hier aber festhalten, dass die Beschäftigungs-entwicklung des Dienstleistungssektors weniger vom regionalen Gefälle innerhalb der beiden Landesteile be-troffen war.

Verarbeitendes Gewerbe: Erklärung der Grenz -anomalie

Sowohl die Gründungsintensität als auch die Beschäfti-gungsentwicklung sind insbesondere im VerarbeitendenGewerbe in ehemals grenznahen Regionen innerhalbOstdeutschlands dynamischer als in weiter entferntenRegionen. Gleichwohl fällt innerhalb Westdeutschlandsdie ökonomische Aktivität des Verarbeitenden Gewer-bes, je näher man zur ehemals innerdeutschen Grenzekommt. In anderen Sektoren lassen sich solche regio -nalen Muster nicht oder nur in geringerem Ausmaßefest stellen.

Zwei Erklärungsansätze dieses Phänomens sollennachfolgend diskutiert werden. Der erste Erklärungsan-satz ist der des Marktzuganges. Dieser besagt, dass

Regionen, welche in besonderer Weise vom Wachstumdes Liefer- und Absatzmarktes profitieren, eine Zu -nahme der ökonomischen Aktivität erfahren dürften[vgl. hierzu HELPMAN (1998), REDDING (2016)]. Empirischsind positive Wachstumsbefunde als Folge des Markt-zuganges – meist anhand von quasi-natürlichen Experi -menten – gut belegt. So zeigen REDDING und STURM(2008) anhand des Verlustes des Marktzuganges dasSchrumpfen von Städten. Des Weiteren hat sowohl dieeuropäische Integration [z. B. BRAKMAN et al. (2013),WASSMANN (2016) bzw. OCHSNER und WASSMANN (2016)in dieser Ausgabe] als auch die Integration von Regio-nen infolge des Falls des Eisernen Vorhanges positiveAuswirkungen auf die ehema ligen Grenzregionen bzw.Grenzstädte [u. a. BRÜLHART et al. (2012)]. Basierend aufder dargelegten Lite ratur lässt sich mutmaßen, dassostdeutsche Kreise nahe der ehemaligen innerdeut-schen Grenze von der Industriestruktur und der Kauf-kraft der ehemals grenznahen westdeutschen Kreiseprofitieren konnten. Dieser Effekt nimmt im Laufe derZeit ab, womit sich die Angleichung der Betriebs -gründungsintensität innerhalb Ostdeutschlands erklä-ren ließe. Allerdings sollte gemäß der Marktzugangs -hypothese auch eine positive Wirtschaftsdynamik ingrenznahen westdeutschen Kreisen ausgelöst wordensein. Im Bereich des Verarbeitenden Gewerbes schei-nen aber grenz nahe westdeutsche Regionen nicht vonden angrenzenden Regionen in Ostdeutschland profi-tiert zu haben.

Der zweite Erklärungsansatz, weshalb die ehema -ligen innerdeutschen Grenzregionen eine unterschied -liche ökonomische Aktivität im Vergleich zu weiter ent-fernt liegenden Gebieten aufweisen könnten, basiert auf den mannigfachen staatlichen Investitions- und An - sie delungssubventionen für ostdeutsche Gebiete seitder Wiedervereinigung [vgl. u. a. IWH et al. (2011)]. Diesekönnten dazu geführt haben, dass west deutsche Unter-nehmer neue Investitionen vermehrt in Ostdeutschlandtätigten. Da aber aus verschiedenen Gründen die Nähezum alten Standort, zum Firmenhauptsitz oder zumWohnort des Unternehmers insbesondere für kleine undmittelständische Unternehmen eine Rolle spielen dürfte,sind etwa Betriebsneugründungen in den Grenzgebie-ten der ehemaligen DDR vermehrt zu erwarten. Gleich-wohl könnte die mögliche Abwanderung westdeutscherUnternehmen bzw. Unternehmer dazu geführt haben,dass westdeutsche Regionen entlang der ehemaligeninnerdeutschen Gren ze negativ davon betroffen seinkönnten. Ein solches Verhalten wurde schon theoretischmotiviert [z. B. BALDWIN und ROBERT-NICOUD (2007)]. Empirisch zeigen VON EHRLICH und SEIDEL (2015a, 2015b)anhand des Zonenrand förderungsgesetzes in West-deutschland eine geringere ökonomische Aktivität in

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

Gebieten, die knapp außerhalb der förderberechtigtenGebiete im Vergleich zu angrenzenden, förderberech-tigten Nachbarregionen lagen. Gleichwohl zeigen dieAutoren ein starkes Abfallen der ökonomischen Aktivi-tät innerhalb des nicht-geförderten Gebietes, je nähereine Region beim förderberechtigten Gebiet lag. VONEHRLICH und SEIDEL (2015a) vermuten dahinter Verdrän-gungseffekte infolge ortsgebundener Subventionen:Die Förderung führt dazu, dass angrenzende, nicht ge-förderte Regionen auf Kosten der Fördergebieteschrumpfen. Dieser Befund könnte auch die Anomaliebezogen auf die ökonomische Aktivität des Verarbei-tenden Gewerbes beidseits der ehemaligen inner -deutschen Grenze mit erklären.

Fazit

Gebiete in Ostdeutschland wiesen bis weit in die 2000erJahre hinein eine höhere Betriebsgründungsintensität aufals Regionen in Westdeutschland. Bis 2010 lässt sichaber eine kontinuierliche Angleichung feststellen. Be -zogen auf die Entwicklung sozialversicherungspflichtigBeschäftigter von 1995 bis 2008 in privatwirtschaftlichorganisierten Sektoren liegen Gebiete in Ostdeutschlandgar hinter westdeutschen Regionen zurück.

Ein Blick auf die regionale Dynamik sowohl innerhalbOstdeutschlands als auch innerhalb Westdeutschlandsliefert insbesondere für das Verarbeitende Gewerbespannende Befunde. So haben ehemals grenznahe Ge-biete in Ostdeutschland eine stärkere Gründungsinten -sität und ein höheres Beschäftigungswachstum als ent-ferntere ostdeutsche Regionen. Gleichzeitig war diewirt schaftliche Dynamik innerhalb Westdeutschlands geringer, je näher man zur ehemaligen Grenze kommt.Während sich für die grenznahen ostdeutschen Kreiseder Zugang zu Liefer- und Absatzmärkten in West-deutschland positiv ausgewirkt haben dürfte, kann diesfür angrenzende westdeutsche Gebiete nicht gezeigtwerden. Vielmehr dürften die Ansiedlungs- und Investi -tionssubventionen in Ostdeutschland die Dynamik desgrenznahen westdeutschen Verarbeitenden Gewerbesbeeinflusst haben.

Insbesondere die Entwicklung im Verarbeitenden Ge-werbe legt die Vermutung nahe, dass ehemalige ost-deutsche Grenzgebiete auf Kosten ihrer direkten west-deutschen Nachbarn profitiert haben könnten. Allerdingssind solche Aussagen auf Basis des Betriebs-Historik-Panel schwerlich zu beweisen. Eine Analyse basierendauf dem BHP – in dem lediglich Betriebe ohne Informa-tionen bezüglich ihrer Besitzer oder Mutterunternehmenenthalten sind – ist zur Beantwortung dieser Frage nichtausreichend.

Literatur

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BRAKMAN, S.; GARRETSEN, H.; VAN MARREWIJK, C. undA. OUMER (2012): The Border Population Effects ofEU Integration, Journal of Regional Science 52,S. 40–59.

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HELPMAN, E. (1998): The Size of Regions, In: PINES, D.,SADKA, E. und I. ZILCHA (Hrsg.): Topics in Public Eco-nomics: Theoretical and Applied Analysis, CambridgeUniversity Press, Cambridge, S. 33–54.

HETHEY, T. und J. SCHMIEDER (2010): Using Worker Flowsin the Analysis of Establishment Turnover – Evidencefrom German Administrative Data, FDZ-Methoden -report 06/2010.

IWH, DIW, IFO, IAB, HOF und RWI (Hrsg.) (2011): Wirt-schaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutsch-land, Studie im Auftrag des Bundesministeriums desInnern, Endbericht, Halle (Saale).

OCHSNER, C. und P. WASSMANN (2016): Die ökonomischenEffekte der EU-Osterweiterung: Profitierten die Grenz -regionen der alten Mitgliedsstaaten?, ifo Dresden be-richtet 24 (05), S. 24–31.

REDDING, S. J. (2016): Goods Trade, Factor Mobility andWelfare, Journal of International Economics 101,S. 148–167.

REDDING, S. J. und D. M. STURM (2008): The Costs of Remoteness: Evidence from German Division andReunification, American Economic Review 98 (5),S. 1766–1797.

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WASSMANN, P. (2016): The Economic Effects of the EUEastern Enlargement on Border Regions in the OldMember States, Diskussionspapiere der Wirtschafts-wissenschaftlichen Fakultät – Hannover EconomicPapers (HEP).

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Aktuelle Forschungsergebnisse

1 Wir nutzen die schwach anonymisierte, ungeschichtete Zufallsstichprobedes Betriebs-Historik-Panels (BHP, Version 2.1.1, Jahre 1975 bis 2010),[für eine ausführliche Dokumentation siehe GRUHL et al. (2012)]. Der Daten-zugang erfolgte über einen Gastaufenthalt am Forschungsdatenzentrum(FDZ) der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT IM INSTITUT FÜR ARBEITSMARKT- UND BERUFSFORSCHUNG unter der Projektnummer fdz623.

2 Die regionale Gliederung der Analyse erfolgt auf der Ebene der Kreise bzw.kreisfreien Städte. Vereinfacht wird während des gesamten Artikels meistvon „Kreisen“ gesprochen.

3 Um die Validität der einzelnen Jahresauswertungen zu erhöhen – z. B. umauszuschließen, dass wenige, dafür aber große Neugründungen unsereResultate verzerren – berechnen wir jeweils die Jahresdurchschnitte inkl.des jeweiligen Vor- und des Folgejahres. Für 1995 sind dies die Jahre1994–1996, für 2000 die Jahre 1999–2001, für 2005 die Jahre 2004–2006und für das Jahr 2010 die Jahre 2009 und 2010.

4 Da das BHP eine 50-%-Stichprobe ist, multiplizieren wir dieses Ergebnismit zwei.

5 Das Jahr 2008 ist das letzte Jahr im Datensatz, in dem sich die Wirt-schaftskrise ab 2008 noch nicht merklich in der Zahl der sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten niederschlug.

6 Für Ostdeutschland weisen nur die geographischen Mittelpunkte der kreis-freien Stadt Cottbus und der Kreise Spree-Neiße und Görlitz eine Entfer-nung von mehr als 200 Kilometern auf. Westdeutsche Kreise befinden sichin einer Entfernung von bis zu max. 350 Kilometern zur ehemaligen inner-deutschen Grenze.

7 Ein lokaler Mittelwert (Lokalität 1) ist dann von einem anderen lokalen Mit-telwert (Lokalität 2) signifikant unterschiedlich, wenn die Konfidenzbändervon Lokalität 1 außerhalb der Konfidenzbänder um den Mittelwert der Lokalität 2 liegen. Am einfachsten denkt man sich zu den Konfidenzbän-dern eines lokalen Mittelwertes horizontale Linien; sobald diese Linien denBereich der Konfidenzbänder verlassen, unterscheiden sich dann diesebeiden Regionen statistisch signifikant (zum 5-%-Niveau) voneinander.

8 Als Grundlage dienen die Wirtschaftsabteilungen 10 bis 39. Neben demVerarbeitenden Gewerbe (WZ 10–33) sind auch die Gründungen der WZ35 (Energieversorgung) und der WZ 36–39 (Wasserversorgung, Entsor-gung u. ä.) enthalten. Allerdings treiben die geringe Gründungs anzahl derWZ 35–39 unsere Resultate nicht. Deswegen sprechen wir hier vereinfachtvom „Verarbeitenden Gewerbe“.

9 Der Dienstleistungssektor umfasst die Wirtschaftsabteilungen 45–82. Ge-trennte Analysen für konsumnahe Dienstleistungen und unternehmens -nahe Dienstleistungen ergaben kaum merkliche Unterschiede, weshalb aufderen Darstellung verzichtet wird. Resultate auf Anfrage erhältlich.

10 Das Baugewerbe (WZ 41–43) dürfte wie der Dienstleistungssektor eben-falls auf lokale Absatzmärkte angewiesen sein. Eine gesonderte Auswer-tung des Baugewerbes ergab kaum vorhandene Grenzeffekte. Resultateauf Anfrage erhältlich.

11 Allgemein ist in Regionen mit einer hohen Gründungsintensität auch einehohe Betriebssterblichkeit zu erwarten.

12 Das durchschnittliche Beschäftigungswachstum liegt dabei nahe Null bzw.im leicht negativen Bereich.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Einleitung

Im Mai 2004 traten acht Staaten des früheren Ostblocksder Europäischen Union (EU) bei. Im Gegensatz zu frü-heren EU-Erweiterungsrunden war die EU-Osterweite-rung in besonderer Weise von einem großen Wohl-standsgefälle zwischen den alten Mitgliedsstaaten derEU-15 und den neuen Mitgliedsstaaten geprägt [BAASund BRÜCKER (2010)]. Nicht zuletzt wegen der starkenökonomischen Ungleichheiten wurde die EU-Osterweite-rung in den alten EU-Mitgliedsstaaten mit Befürchtungenvor sinkenden Löhnen, steigender Arbeitslosigkeit undökonomischer Stagnation begleitet. Diese Sorgen warenvor allem bei Unternehmen und Arbeitnehmern in denRegionen an der Grenze zu den neuen Mitgliedsstaatenvorhanden, die auf Grund der geographischen Nähe zuden neuen Mitgliedsstaaten die vermeintliche Billigkon-kurrenz aus dem Osten fürchteten [FORSTER (2007), TRET-TIN (2010)].

Im Gegensatz zu den Befürchtungen in der Bevöl -kerung gehen die meisten regionalökonomischen undwirtschaftsgeographischen Theorien davon aus, dassGrenzregionen aufgrund ihrer geographischen Lage undder Nähe zu neuen Liefer- und Absatzmärkten von wirtschaftlichen Integrationsprozessen profitieren. In derLiteratur existieren erstaunlicherweise wenige Studien,die die ökonomischen Effekte der EU-Osterweiterung inden Grenzregionen der alten Mitgliedsstaaten empirischuntersuchen. In einem aktuellen Arbeitspapier, dessenErgebnisse in diesem Beitrag zusammengefasst werden,analysiert WASSMANN (2016) die Auswirkungen der EU-Osterweiterung 2004 auf das Bruttoinlandsprodukt proKopf (BIP/Kopf) in den Grenzregionen der alten EU-Mit-gliedsstaaten in Deutschland, Österreich und Italien.1 Umdie Effekte der EU-Osterweiterung auf das regionaleBIP/Kopf in diesen Grenzregionen zu identifizieren, wirddie Methode der synthetischen Kontrollgruppe genutzt.Durch diese Methode soll eine kontrafaktische Situationabgebildet werden; also die ökonomische Entwicklung inden Grenzregionen, hätte die EU-Osterweiterung nichtstattgefunden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Grenzregionen ins-besondere ab 2008 ein höheres BIP/Kopf aufweisen als

ihre synthetischen Kontrollregionen. Dieses Resultat weistdarauf hin, dass die Grenzregionen in Deutschland, Öster-reich und Italien tatsächlich von der EU-Osterweiterungprofitieren konnten. Der Durchschnittseffekt verschleiertjedoch, dass nicht alle Regionen in gleicher Weise anden Wachstumsimpulsen der EU-Osterweiterung par -tizipieren konnten. Während die meisten Regionen in den Jahren nach der EU-Osterweiterung ein höheresBIP/Kopf aufweisen als ihre jeweiligen synthetischenKontrollregionen, deuten die Ergebnisse in anderen Re-gionen auf vernachlässigbare und teilweise sogar nega -tive Erweiterungseffekte hin.

Für die vier betrachteten NUTS-2-Regionen in Ost-deutschland werden ebenfalls sehr heterogene Erwei -terungseffekte nachgewiesen. So zeigt eine detaillierteAnalyse, dass insbesondere die Region Chemnitz einepositive wirtschaftliche Dynamik im Vergleich zu ihrersynthetischen Kontrollregion entfalten konnte. Hingegensind insbesondere für Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern kaum positive Wachstumsimpulse auszu-machen. Diese heterogenen Effekte können u. a. durchUnterschiede des regionalen Industrieanteils und der Infrastruktur erklärt werden. Allgemein gilt, dass Regio-nen, welche in Bezug auf ihren Sektorenanteil und ihrerWettbewerbskraft bereits gut aufgestellt sind, von derEU-Osterweiterung profitieren, während schwächere Re-gionen eher stagnieren oder gar leicht negativ davon be-troffen sein dürften. Diese Befunde stehen im Einklangmit den Er gebnissen von OTTAVIANO (2011) sowie BALDWIN

und OKUBO (2006). Demnach haben neue Absatz- undFaktormärkte positive Auswirkungen auf bereits starke,urbane Regionen. Im Gegensatz dazu können ländlicheund ökonomisch schwache Regionen in geringeremAusmaß davon profitieren und können unter Umständen,infolge der neuen Konkurrenz aus dem Ausland, garökonomisch geschwächt werden.

Die ökonomischen Effekte der EU-Osterweiterung:Profitierten die Grenzregionen der alten Mitglieds-staaten?Christian Ochsner und Pia Wassmann*

* Christian Ochsner ist Doktorand an der Niederlassung Dresden des ifoInstitut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der UniversitätMünchen e. V. Pia Wassmann arbeitet in der Abteilung Landes- undBundesangelegenheiten der NRW.BANK in Düsseldorf und promoviertan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Die EU-Osterweiterung 2004

Der Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Polen, derTschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn und Slo-wenien zur Europäischen Union (EU) im Mai 2004 warder letzte Schritt eines langen Integrationsprozesses, dernach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/1990 zwi-schen den alten EU-Mitgliedsstaaten und ihren neuenMitgliedern initiiert wurde und zu einem schrittweisen Ab-bau von Handelsbeschränkungen und einer Anpassungrechtlicher Rahmenbedingungen geführt hat [EPSTEINund JACOBY (2014)]. Mit der vollständigen Implementie-rung des Acquis Communautaire im Mai 2004 wurdendie acht zentral- und osteuropäischen Staaten schließ-lich vollständige Mitglieder der EU. Neben wichtigen poli-tisch-institutionellen Änderungen führte dies auch zu einer vollständigen wirtschaftlichen Integration verbun-den mit dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungenund Kapital – und nach einer gewissen Übergangszeitauch von Personen – zwischen den alten und neuen Mit-gliedsstaaten [EPSTEIN und JACOBY (2014)]. Während dieBefürworter der Osterweiterung vor allem die positivenWachstumseffekte, die von den neuen Input- und Out-put-Märkten ausgehen würden, hervorhoben, befürchte-ten Unternehmer und Arbeitnehmer in den Grenzregio-nen der alten EU-15-Mitgliedsstaaten die Konkurrenzaus dem Osten.

In Abbildung 1 sind die 13 deutschen, österreichi schenund italienischen NUTS-2-Grenzregionen dargestellt, diean der Grenze zu den neuen Mitgliedsstaaten liegen. Darunter befinden sich die deutschen RegierungsbezirkeNiederbayern, Oberpfalz, Oberfranken, Chemnitz undDresden, die beiden ostdeutschen Bundesländer Bran-denburg und Mecklenburg-Vorpommern,2 die österrei-chischen Bundesländer Oberösterreich, Niederösterreich,Burgenland, Steiermark und Kärnten und die italienischeRegion Friaul-Julisch Venetien. Die beiden Hauptstadt -regionen Berlin und Wien sind hierbei von NUTS-2-Grenzregionen umschlossen.3 Durch die geographischeNähe dieser 13 Regionen zu den neuen Mitgliedsstaatenwurde schon vor der EU-Osterweiterung davon ausge-gangen, dass diese Regionen in besonderer Weise vonder EU-Osterweiterung betroffen sein werden [EUROPÄI-SCHE KOMMISSION (2001), RESMINI (2003)].

Die zu erwartenden Effekte der Integration

In der regionalökonomischen und in der wirtschaftsgeo-graphischen Forschung befassen sich vor allem die An-sätze der neuen Wirtschaftsgeographie mit den Auswir-kungen ökonomischer Integrationsprozesse im Raum.Dabei integrieren diese Modelle wie beispielsweise das

Zentrum-Peripherie-Modell von KRUGMAN (1991) Ansätzeder traditionellen Handels- und Standorttheorien [vgl.CAPELLO (2007); NIEBUHR und STILLER (2002) für einenÜberblick]. Auch Wachstumsimpulse infolge einer regio-nalen Integration werden von der theoretischen Literaturvorhergesagt [vgl. HELPMAN (1998), REDDING (2016)]. Ins-gesamt gehen die regionalökonomischen Modelle alsodavon aus, dass Grenzregionen unter Kontrollhaltung al-ler anderen Faktoren, also ceteris paribus, von der öko-nomischen Integration profitieren, da sie für Unterneh-men interessante Standorte für die Erschließung neuerAbsatzmärkte sind und sich für die Arbeitnehmer neueBeschäftigungsmöglichkeiten bieten würden [z. B. BRÜL-HART (2011), BRÜLHART et al. (2004), REDDING und STURM(2008)].

Da sich Grenzregionen jedoch in verschiedenen re-gionalen Charakteristika grundlegend von Nicht-Grenz-regionen unterscheiden, ist die in der Theorie postulierteceteris paribus Bedingung in der Empirie häufig nicht er-füllt. So sind Grenzregionen häufig ländliche Regionenmit einer niedrigen Bevölkerungsdichte, geringem Anteilvon hochqualifizierten Arbeitnehmern und schlecht aus-gebauter Infrastruktur. Diese Standortnachteile erschwe-ren die Ausnutzung des Integrationseffekts [DURANTONund PUGA (2004)]. Im Gegensatz dazu sind wirtschaftlichstärkere Regionen eher in der Lage, die neuen Absatz-märkte auszunutzen [KRÄTKE und BORST (2007), PETRA-KOS und TOPALOGLOU (2008)]. Auch die sektorale Strukturin einer Region ist von Bedeutung. Regionen mit einerstarken Exportorientierung profitieren in besonderen Ma-ßen von den Möglichkeiten, die sich durch die wirtschaft-liche Integration – und somit von sich neu erschließen-den Absatzmärkten – ergeben [BALASSA (1965), MELITZ

(2003)]. Daneben ist auch die Innovationskraft einer Re-gion von Bedeutung. Innovative Regionen dürften weit-aus weniger dem Preisdruck infolge der neuen ausländi-schen Konkurrenz ausgesetzt sein als weniger innovativeRegionen. Diese sind daher weniger mit möglichen ne-gativen Preiseffekten konfrontiert [CARAGLIU und NIJKAMP(2012)].

Basierend auf den oben dargestellten Befunden istein insgesamt positiver EU-Erweiterungseffekt in den 13Grenzregionen der EU-15 zu erwarten, da die Grenz -regionen insbesondere in Österreich und Bayern zu denkompetitivsten Regionen in Europa zählen. Allerdings istmit regional stark unterschiedlichen ökonomischen Ef-fekten der EU-Osterweiterung zu rechnen. So ist zu er-warten, dass insbesondere ökonomisch starke Regio-nen tendenziell von den neuen Absatzmärkten – undwohl auch von den sich erschließenden Inputmärkten –stärker profitieren können als ökonomisch schwächereRegionen, welche ihrerseits die ausländische Konkurrenzstärker zu spüren bekommen.

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Daten und Methodik

Um die ökonomischen Effekte der EU-Osterweiterung in den Grenzregionen der alten EU-Mitgliedsstaaten zuermitteln, wird die Methode der synthetischen Kon-trollgruppe (Synthetic Control Method) genutzt. Diese Methode wurde von ABADIE und GARDEAZABAL (2003) ent-wickelt und von ABADIE et al. (2011 und 2015) überarbei-tet. Das Ziel des Verfahrens ist es, eine kontrafaktischeAnalyse durchzuführen. Vereinfacht gesprochen basiertdie Methode darauf, die ökonomische Entwicklung einerRegion mit der Entwicklung einer synthetisch generiertenKontrollregion zu vergleichen. Die synthetische Kontroll-region soll dabei die kontrafaktische Situation abbilden,

also die wirtschaftliche Entwicklung der Grenzregionen,hätte die EU-Osterweiterung nicht stattgefunden. Dabeiwerden die Kontrollregionen so ausgewählt und gewich-tet, dass diese im Durchschnitt für den Zeitraum vor derEU-Osterweitung in den zu interessierenden Variablenmöglichst identisch zu den Grenzregionen sind. Soferndieses Vorhaben gelingt, sind mögliche Unterschiede inden Trends der Grenzregionen und ihrer synthetischenKontrollregionen nach der EU-Osterweiterung direkt aufdiese zurückzuführen.

Als mögliche synthetische Kontrollregionen zu den13 Grenzregionen kommen alle europäischen NUTS-2-Regionen in Frage, die nicht an der Grenze zu den neuenMitgliedsstaaten liegen.4 Um die Ähnlichkeit der Nicht-

Quelle: Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 1: Die Grenzregionen der alten EU-Mitgliedsstaaten (EU-15) bei der EU-Osterweiterung 2004

Grenzregionen EU-15 Kontrollregionen (Auswahl)

Lesehinweis: Die Karte zeigt die Lokalität der 13 NUTS-2-Regionen von Deutschland (Regierungsbezirke), Österreich und Italien, welche eine Landesgrenze zu den neuen EU-Mitgliedsstaaten der EU-Osterweiterung von 2004 haben.

Italien

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Ober-franken

Ober-pfalz

Nieder-bayern Ober-

österreichSteiermark

KärntenBurgen-land

Friaul-JulischVenetien

Nieder-österreich

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Grenzregionen mit den 13 Grenzregionen für die Jahre1991 bis 2003 zu bestimmen, werden die folgenden re-gionalen Faktoren herangezogen: Die regionale Bevöl -kerungsdichte, das regionale Einkommensniveau, derAnteil des primären, sekundären und tertiären Sektors ander regionalen Bruttowertschöpfung, die regionale Be-schäftigungsrate, die regionale Patentintensität (gemes-sen in Patente pro 1.000 Einwohner) sowie das BIP/Kopfin den Jahren 1991, 1995 und 2000. Die jährlichen Regio-naldaten der europäischen Regionen auf NUTS-2-Ebenefür die Jahre 1991 bis 2012 stammen aus dem Regional -datensatz von CAMBRIDGE ECONOMETRICS (2015) und ausdem Regionaldatensatz von EUROSTAT (2016).

Resultate

In Abbildung 2 ist die durchschnittliche Entwicklung desBIP/Kopf der Grenzregionen von 1991bis 2012 (durchgezo -gen Linie) und die durchschnittliche Entwicklung in dendazugehörigen synthetischen Kontrollregionen (gestrichelteLinie) dargestellt.5 Die Graphen zeigen, dass die beidenGruppen bis 2007 demselben Trend folgen; ab 2007 liegtdie Entwicklung in den Grenzregionen jedoch über denTrend der synthetischen Kontrollregionen. Dies weist da-rauf hin, dass sich die Grenzregionen nach der Osterweite-

rung wirtschaftlich besser entwickelt haben als die synthe-tischen Kontrollregionen. Dieses Ergebnis stützt die theo-retischen Überlegungen der Regionalökonomie und derWirtschaftsgeographie [BRÜLHART (2011)], die davon aus-gehen, dass Grenzregionen aufgrund ihrer Nähe zu denneuen Mitgliedsstaaten von wirtschaftlichen Integrations-prozessen profitieren. Die Tatsache, dass die Trends erstnach 2007 divergieren, weist darauf hin, dass die Integra-tionseffekte nicht über Nacht sichtbar werden. So kanndavon ausgegangen werden, dass die Bereitschaft zurgrenzüberschreitenden Kooperation Zeit braucht, bis po-sitive Wachstumsimpulse sichtbar werden [TRIPPL (2010)].6

Die Trends in Abbildung2 zeigen den durchschnittlichenEffekt der EU-Osterweiterung auf alle 13 Grenzregionender alten Mitgliedsstaaten. Diese erlauben jedoch keineRückschlüsse auf die Effekte in den einzelnen Grenzregio-nen. Um die Effekte der EU-Osterweiterung in den einzel-nen Grenzregionen zu identifizieren, wird im zweiten Schritteinzeln für jede der 13 Grenzregionen deren wirtschaftlicheEntwicklung mit der Entwicklung in der jeweiligen synthe -tischen Kontrollregion verglichen. In Abbildung 3 werdenbeispielhaft die wirtschaftlichen Entwicklungspfade in denvier ostdeutschen Grenzregionen und der jeweiligen syn-thetischen Kontrollregionen dargestellt.7 Die Ergebnissezeigen, dass insbesondere die sächsische NUTS-2-Grenz-region Chemnitz (vgl. Abb. 3a) von der EU-Osterweiterung

Quelle: Wassmann (2016).

Abbildung 2: Entwicklung des regionalen Bruttoinlandsprodukt/Kopf aller Grenzregionen im Vergleich zursynthetischen Kontrollregion

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Grenzregion (EU-15) „Synthetische“ Grenzregion

Lesehinweis: Die Abbildung zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukt/Kopf in 1.000 Euro für den Durchschnitt der 13 Grenz-regionen der EU-15 (ohne die Haupstadtregionen Berlin und Wien) und dem Durchschnitt ihrer jeweiligen „synthetischen“ Grenzregion.

EU-Osterweiterung

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Aktuelle Forschungsergebnisse

stark profitieren konnte. So steigt das BIP/Kopf in der Region Chemnitz bereits ab 2005 stärker an als in derKontrollregion – ein Effekt, der sich ab 2008 sogar nochverstärkt fortsetzt. Auch die Region Dresden (vgl. Abb. 3b)hat sich sehr positiv im Vergleich zur synthetischen Kon-trollregion entwickelt. Allerdings verdeutlicht die RegionDresden auch mögliche Probleme der Methode der syn-thetischen Kontrollgruppe: Die schlechte Überlappung derbeiden Linien schon vor dem Jahr 2004 deutet darauf hin,dass die Region Dresden mehr schlecht als recht durchandere Regionen synthetisiert werden kann. Die Befundehierzu sind somit mit Vorsicht zu genießen.

Im Gegensatz zu den Regionen Dresden und Chemnitzkonnten die beiden anderen ostdeutschen RegionenBrandenburg (vgl. Abb. 3c) und Mecklenburg-Vorpom-mern (vgl. Abb. 3d) nicht in gleicher Weise von der EU-Osterweiterung im Vergleich zu ihren synthetischen Kon-trollregionen profitieren. Wie in Abbildung 3 ersichtlich,hat sich in beiden Regionen die synthetische Kontroll-gruppe in den Jahren nach der EU-Osterweiterung bes-ser entwickelt als dies in Brandenburg und Mecklen-burg-Vorpommern der Fall war. Allerdings verlief indiesen Regionen die Entwicklung ab 2008 bzw. ab 2010dynamischer als in der jeweiligen Kontrollregion.

Quelle: Wassmann (2016).

Abbildung 3: Entwicklung des regionalen Bruttoinlandsprodukt/Kopf in den vier ostdeutschen NUTS-2-Regionen

(a) Region Chemnitz (b) Region Dresden

(c) Region Brandenburg (d) Region Mecklenburg-Vorpommern

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Grenzregion NUTS 2 „Synthetische“ Grenzregion NUTS 2

EU-Osterweiterung

EU-Osterweiterung EU-Osterweiterung

Lesehinweis: Die Abbildungen zeigen die Entwicklung des BIP/Kopf für die vier NUTS-2-Grenzregionen Ostdeutschlands und die jeweilige „synthetische“ Grenzregion bestehend aus nicht grenznahen NUTS-2 Gebieten der EU-15. Diese sind für die einzelnen Regionen Ostdeutschlands folgendermaßen zusammengesetzt: (a) Region Chemnitz: 35,9% Asturien (ESP), 25,3 % Norte (POR), 20,7 % Tees Valley und Durham (UK), 17,6 % Leipzig, 0,4 % Nordost Schottland (UK). (b) Region Dresden: 37,5 % Thüringen, 19,2 % Leipzig, 17,1 % Tees Valley und Durham (UK), 11,3 % Norte (POR), 5,7 % Sachsen-Anhalt, 5,1 % Lüneburg, 4,1 % Rhein-hessen-Pfalz. (c) Region Brandenburg: 46,8 % Sachsen-Anhalt, 21,9 % Thüringen, 15,3 % Leipzig, 6,9 % Highlands and Islands (UK), 5,7 % Hainaut (BEL), 1,7 % Provinz Wallonisch-Brabant (BEL) und 1,6 % Lüneburg. (d) Region Mecklenburg-Vorpommern: 25,8 % Kalabrien (ITA), 23,9 % Leipzig, 17,7 % Sachsen-Anhalt, 12,7 % Namur, 11,3 % Andalusien (ESP), 3,5 % Nordirland (UK), 3,4 % High-lands and Islands (UK).

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass neben institutio-nellen bzw. landespolitischen Besonderheiten auch struk-turelle Faktoren einen Einfluss darauf haben, ob und inwelchem Ausmaß eine Region von der wirtschaftlichen In-tegration profitieren kann. Die unterschiedliche Entwick-lung in den vier ostdeutschen Grenzregionen lässt bei-spielsweise vermuten, dass Regionen mit einer höherenBevölkerungsdichte und einer ausgeprägten Industrie-struktur stärker von der wirtschaftlichen Integration profi-tieren konnten als Regionen, die eher ländlich geprägt sind.So dürfte insbesondere die Region Chemnitz von der EU-Osterweiterung profitiert haben, während sich die ländli-chen – und weitaus dünner besiedelten – Regionen Bran-denburg und Mecklenburg-Vorpommern kaum von ihrerjeweiligen synthetischen Kontrollregion absetzen konnten.

Erklärung der heterogenen Erweiterungseffekte

Um zu überprüfen, welche strukturellen Faktoren einen Ein -fluss darauf haben, ob und in welchem Maße eine Grenz-region von der EU-Osterweiterung profitiert, wird in einemnächsten Schritt ein lineares Regressionsmodell geschätzt.Dabei wird die Größe des Integrationseffekts, also die Dif -ferenz zwischen dem regionalen BIP/Kopf der Grenz regionund ihrer jeweiligen synthetischen Kontrollregion in denJahren nach der EU-Osterweiterung, als abhängige, zu er -klärende Variable genutzt. Als Erklärungsvariablen werdenverschiedene strukturelle und regionale Charakteris tika herangezogen, die in der Literatur mit der Ausnutzungräumlicher Integrationseffekte in Verbindung gebracht wer-den [vgl. z. B. KRÄTKE und BORST (2007), PETRA KOS und TOPALOGLOU (2008), CARAGLIU und NIJKAMP (2012), THISSEN(2005)]. Zu diesen Faktoren zählen die regionale Beschäfti-gungsquote, die regionale Bevölkerungsdichte, die Stärkedes industriellen Sektors in einer Region (gemessen amAnteil der Bruttowertschöpfung), die regionale Patentinten-sität (gemessen an der Anzahl Patente je 1.000 Einwohner)als Proxi für die Innovationsaktivität bzw. die Beschäftigungim Bereich Forschung und Entwicklung (FuE) sowie dieDichte des Straßennetzes als Maßstab für die regionaleVerkehrsinfrastruktur. Grundlage für die Schätzung sindsowohl sämtliche 13 Grenzregionen der EU-15 inklusiveden beiden Hauptstadtregionen Berlin und Wien.

In Tabelle 1 sind die Regressionskoeffizienten des line -aren Regressionsmodells ersichtlich. Das Grundmodellin Spalte (1) versucht die Größe des Integrationseffekteslediglich mit der regionalen Erwerbsquote und der Bevöl-kerungsdichte zu erklären. In den folgenden Spezifikatio-nen werden schrittweise zusätzliche erklärende Variablenaufgenommen. In Spalte (2) ist das die Stärke des Anteilsder Bruttowertschöpfung des Industriesektors, in Spalte(3) der Anteil der Beschäftigten in Forschung und Ent-

wicklung und in Spalte (4) das Maß für die Verkehrsinfra-struktur. Die Ergebnisse zeigen, dass die Beschäfti-gungsquote, die relative Stärke des Industriesektors unddie regionale Verkehrsinfrastruktur positiv und statistischsignifikant mit dem Erweiterungseffekt korrelieren. Derhohe und statistisch signifikante positive Effekt der regio-nalen Beschäftigungsquote zeigt, dass jene Regionenstärker von der EU-Osterweiterung profitieren konnten,welche eine allgemein größere wirtschaftliche Aktivitätaufweisen. Auch Regionen mit einem vergleichsweisestarken industriellen Sektor profitieren stärker von derEU-Osterweiterung. Des Weiteren haben Regionen miteinem besser ausgebauten Straßennetz in einem höhe-ren Maße von der Osterweiterung profitieren können alsRegionen mit einer schwächer ausgebauten Verkehrs -infrastruktur.

Interessant ist zudem, dass die Bevölkerungsdichteentgegen den Vermutungen der Literatur keinen Einflussdarauf hat, wie stark eine Region von den Integrations -effekten profitieren kann. Das bedeutet, dass, wenn fürdie Wirtschaftskraft und die sektorale Struktur einer Re -gion kontrolliert wird, urbane Regionen nicht unbedingtstärker von der EU-Osterweiterung profitieren als länd -liche Regionen. Neben der Bevölkerungsdichte scheinenauch die Patentintensität und der Anteil der Beschäftigtenin Wissenschaft und Technologie keinen Einfluss daraufzu haben, ob eine Grenzregion von ihrer Nähe zu denneuen Mitgliedstaaten profitieren kann oder nicht.

Zusammenfassung und Fazit

Dieser Beitrag untersucht, ob die EU-Osterweiterung2004 einen Effekt auf das BIP/Kopf in den Grenz regio -nen der alten EU-Mitgliedstaaten hatte. Die Ergebnissezeigen, dass sich das BIP/Kopf in den Grenzregionen inden Jahren nach der EU-Osterweiterung im Durchschnittbesser entwickelt hat als das BIP/Kopf der synthetischerzeugten Kontrollregionen.

Allerdings konnten nicht alle Grenzregionen in gleicherWeise von der EU-Osterweiterung profitieren. Dies zeigt,dass die geographische Nähe kein hinreichender Faktorist, der die Erweiterungseffekte erklären kann. Gleichzeitigerfordert dieser Befund eine differenziertere Betrachtungs-weise zu den Ursachen der heterogenen Erweiterungs -effekte. Die Größe des regionalen Erweiterungseffek teshängt vor allem von der regionalen wirtschaftlichen Leis-tungsfähigkeit, der Stärke des industriellen Sektors und derDichte der regionalen Verkehrsinfrastruktur ab.

Die Studie zeigt somit, dass die ökonomische und infrastrukturelle Ausgangssituation einer Region darüberbestimmt, inwieweit eine Region von Integrationsprozes-sen profitieren kann. Dieser Befund dürfte dabei nicht nur

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Aktuelle Forschungsergebnisse

für die hier betrachtete EU-Erweiterungsrunde, sondernauch in Bezug auf die fortschreitende Handelsintegrationgrößerer Wirtschaftsräume gelten. Die Politik sollte dem-nach bestrebt sein, die Regionen möglichst dahingehendzu unterstützen, dass die Menschen und Unternehmenauch von diesen zukünftigen, und wohl unausweich -lichen Entwicklungen, profitieren können. Das heißt ins-besondere, die Verkehrsinfrastruktur zu bewahren unddiese gezielt auszubauen. Gleichzeitig sollte die Industrie-politik darauf bedacht sein, eher die regionalen Stärkenzu unterstützen als in der Breite alles zu fördern.

Literatur

ABADIE, A. und J. GARDEAZABAL (2003): The EconomicCosts of Conflict: A Case Study of the Basque Coun-try, American Economic Review 93 (1), S. 113–132.

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Variable (1) (2) (3) (4)

Beschäftigungsquote 72,74*** 33,82** 33,96** 33,30**

(15,21) (13,23) (13,75) (13,48)

Bevölkerungsdichte –0,008 –0,014 –0,015 –0,017

(0,011) (0,009) (0,010) (0,010)

Anteil Industriesektor 0,003*** 0,003*** 0,003***

(0,001) (0,001) (0,001)

Patente je 1.000 Einwohner –0,209 –0,644

(4,12) (4,09)

Beschäftigung in FuE –0,076 –0,143

(0,123) (0,124)

Straßennetz (Infrastruktur) 0,363**

(0,162)

Konstante –60,30*** –46,54*** –41,95*** –50,93***

(15,78) (12,74) (14,58) (14,83)

Regionen Fixe Effekte Ja Ja Ja Ja

Jahres Fixe Effekte Ja Ja Ja Ja

Anzahl der Beobachtungen 120 120 120 120

Pseudo R2 0,56 0,72 0,72 0,74

Anmerkungen: Abhängige Variable ist die BIP/Kopf-Lücke zwischen den Grenzregionen der EU-15 und ihren jeweiligen „synthetischen“Kontrollregionen. Sternchen indizieren die folgenden statistischen Signifikanzniveaus: ** p < 0,05; *** p < 0,01.

Quelle: Wassmann (2016).

Tabelle 1: Erklärende Faktoren der heterogenen Effekte infolge EU-Osterweiterung

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Aktuelle Forschungsergebnisse

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WASSMANN, P. (2016): The Economic Effects of the EUEastern Enlargement on Border Regions in the OldMember States, Diskussionspapiere der Wirt schafts -wissenschaftlichen Fakultät – Hannover EconomicPapers (HEP).

1 Die in diesem Artikel dargelegten Forschungsergebnisse wurden u. a. am5. ifo DresdenWorkshop „Regionalökonomie“ im September 2015 vorgestellt.

2 Zur Vereinfachung wird in diesem Artikel immer von NUTS-2-Regionenbzw. von Region gesprochen. NUTS-2-Regionen sind in Deutschland ent-weder Regierungsbezirke oder ganze Bundesländer.

3 Dieser Artikel beschreibt die Grenzeffekte unter Ausschluss der beidenHauptstadtregionen. Siehe WASSMANN (2016) für weitere Resultate unterBerücksichtigung dieser zwei Regionen.

4 Die möglichen Kontrollregionen für die Grenzregionen bestehen aus allenEU-15 NUTS-2-Gebieten, abzüglich der europäischen Überseegebieteund Inselgruppen. Des Weiteren konnten insbesondere griechische und einige italienische NUTS-2-Gebiete aufgrund von Datenlücken nicht alsmögliche Kontrollregionen herangezogen werden.

5 Die Grenzregion besteht dabei aus dem Durchschnitt der NUTS-2-Regio-nen, welche eine direkte Landesgrenze zu den neuen EU-Mitgliedsländernhaben. Die NUTS-2-Regionen der Stadtregionen Wien und Berlin sind somit ausgeschlossen. Die Resultate inklusive dieser beiden Hauptstadt -regionen sind in WASSMANN (2016) enthalten.

6 Freilich könnte ein Teil der positiven Erweiterungseffekte ab 2008 auch aufdie unterschiedlichen regionalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ab2008 ausgelöst werden. Die Diskussion hierzu soll aber nicht Teil dieses Artikels sein. Tendenziell gilt, je größer der Anteil südeuropäischer Regionenan der „synthetischen“ Kontrollregion ist, desto eher dürften die hier ge-zeigten Resultate von der Weltwirtschaftskrise verzerrt worden sein.

7 Siehe WASSMANN (2016) für die Erweiterungseffekte der restlichen neunGrenzregionen entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs.

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32

ifo Dresden berichtet 5/2016

Im Blickpunkt

Die ostdeutschen Länder weisen nach wie vor ver-gleichsweise hohe Personalbestände im öffentlichen Be-reich auf. Je 1.000 Einwohner beläuft sich die Zahl derBeschäftigten [gemessen in Vollzeitäquivalenten (VZÄ)] in den ostdeutschen Ländern und Kommunen (nur Flä-chenländer) derzeit auf 41,4 Personen; in den westdeut-schen Flächenländern sind es hingegen nur 39,6 VZÄ.Nimmt man den Durchschnitt aller Flächenländer zumMaßstab, so bedeutet dies, dass im öffentlichen Dienstder ostdeutschen Länder derzeit noch beinahe 19.000Personen „zu viel“ beschäftigt sind. Noch dramatischererscheint dieser Überbesatz, wenn berücksichtigt wird,dass die Einwohnerzahl zumindest für den Schulbereichnicht die richtige Bezugsgröße ist: Bezieht man das fürschulische Aufgaben gebundene Personal stattdessenauf die Zahl der Schüler1, so weisen die ostdeutschenLänder und ihre Kommunen sogar einen Personalmehr-besatz gegenüber dem Durchschnitt aller Flächenländervon knapp 40.000 Personen in VZÄ auf.2

Der gemessen an der Einwohnerzahl hohe Personal-bestand im öffentlichen Dienst der ostdeutschen Länderlässt sich kaum mit etwaigen negativen Größeneffekten3

erklären. Entscheidend ist vielmehr, dass der Abbau his-torisch bedingt überhöhter Stellenbestände in der öffent-lichen Verwaltung in den Jahren unmittelbar nach derVereinigung – als dies arbeitsrechtlich noch möglich ge-wesen wäre – auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründenvielfach unterblieb. Hinzu kam der Wegfall von Aufgaben(durch Auslagerung und „Aufgabenkritik“, aber auch durchden starken Rückgang der Bevölkerung als wichtigsterBedarfsträger öffentlicher Aufgaben), der für sich genom -men den tatsächlichen Personalbedarf weiter verringerte.Wegen der faktischen Unkündbarkeit der Beschäf tigtenim öffentlichen Dienst konnte der erforder liche Personal-abbau jedoch nur über den Weg der „natür lichen“ Fluk-tuation erreicht werden, indem altersbedingt ausschei-dendes Personal nicht ersetzt wurde. Dies reichtean gesichts der hohen Zahl von vergleichsweise jungenBeschäftigten aber nicht aus, die bestehenden Personal-überhänge bis heute tatsächlich abzubauen. Dies bindetdirekt (über Ausgaben für Personal) und indirekt (überZuweisungen an ausgelagerte Einrichtungen wie z. B. dieHochschulen) einen erheblichen Teil der verfügbaren öf-fentlichen Mittel, die den ostdeutschen Ländern und ih-ren Kommunen zur Verfügung stehen. Ein Abbau nicht

länger benötigter Stellen war und ist des wegen in allenostdeutschen Ländern nach wie vor ein prioritärer Be-standteil fiskalischer Konsolidierungsstrategien.

In den kommenden Jahren wird sich die Situation jedoch grundlegend verändern: Die kollektive Alterungzahlreicher Belegschaften in den öffentlichen Einrich-tungen wird zur Folge haben, dass selbst die Aufrecht -erhaltung des für die Aufgabenerfüllung erforder lichenPersonalbestands schon kurz- bis mittelfristig nichtmehr gewährleistet sein wird. Während in den kom-menden Jahren ein Großteil der heutigen Bedienste-ten altersbedingt in den Ruhestand treten wird, stehenaufgrund des starken Geburtenrückgangs unmittelbarnach der Vereinigung häufig gar nicht mehr ge nügendBewerber für einen quantitativ und qualitativ gleich -wertigen Ersatz zur Verfügung. Eine vorausschauendePersonalplanung muss daher vor allem darauf gerichtetsein, den notwendigen Ersatzbedarf zu decken – nichtaber darauf, zufällig frei werdende Stellen ausschließlichdafür zu nutzen, derzeit noch vorhandene Personal-überhänge abzubauen.

Vor diesem Hintergrund hat der Freistaat Sachseneine „Kommission zur umfassenden Evaluation der Auf-gaben, Personal- und Sachausstattung“ ins Leben ge -rufen, die im Sommer dieses Jahres ihren Abschluss -bericht vorgelegt hat.4 Auftrag5 der Kommission war es,für die Landesverwaltung (einschließlich nachgeordneterBehörden) konzeptionelle Überlegungen für eine zukünf-tige, aufgabenkritische Personalbedarfsplanung anzu-stellen.6 Den Kern des Berichts bildet dabei eine Dar -stellung der heutigen Altersstruktur der Bediensteten inder Landesverwaltung, die aufzeigt, wie hoch die plan-mäßigen Altersabgänge in den einzelnen Dienststellenbzw. Aufgabenbereichen in den kommenden Jahren seinwerden.7 Im Ergebnis zeigt sich, dass der Anteil der Beschäftigten, der schon kurzfristig (bis zum Jahr 2020)in den Ruhestand wechseln wird, bei 12 % liegt. Eine regelrechte Verrentungswelle wird dann im kommen-den Jahrzehnt einsetzen – bis zum Jahr 2030 werdenmehr als 50 % der heutigen Beschäftigten im öffentlichenDienst Sachsens (ohne Referendare im Justizdienst und

Fachkräftemangel auch im öffentlichen Dienst: DieVorschläge der Sächsischen PersonalkommissionJoachim Ragnitz*

* Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist stellvertretender Geschäftsführer der Nie-derlassung Dresden des ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsfor-schung an der Universität München e. V

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ifo Dresden berichtet 5/2016

Im Blickpunkt

ohne drittmittelfinanzierte Beschäftigte des Hochschul-bereichs) altersbedingt ausscheiden. In einzelnen, durch-aus auch quantitativ bedeutsamen Aufgabenbereichenliegt der Anteil der in den Ruhestand tretenden Beschäf-tigten sogar nochmals deutlich höher – einzelne nach-geordnete Behörden werden bis 2030 mehr als 80 % ihresheutigen Personals verlieren. Bei einem gleichmäßigenAltersaufbau des Personals würde der altersbedingtePersonalabgang hingegen nur bei 36 % im genanntenZeitraum liegen.8

Es ist offenkundig, dass angesichts dieses Bildesselbst bei einem reduzierten Aufgabenbestand die Ar-beitsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung kaum noch gewährleistet ist, wenn es nicht schon kurzfristig zu ent-sprechenden Neueinstellungen kommt. Dies gestaltetsich aber schwierig, da das Land beim Werben um qua-lifiziertes Personal in Konkurrenz zu anderen öffentlichenund privaten Arbeitgebern in und außerhalb Sachsenssteht. Gleichzeitig dürfte das Angebot an geeignetenKräften wegen des demographischen Wandels spürbarniedriger ausfallen. Die Personalkommission zieht hierausden berechtigten Schluss, dass bereits heute begonnenwerden sollte, durch vorgezogene Neueinstellungen (so-genannte „Demographiebrücken“) und gezielte Perso-nalentwicklungsmaßnahmen (z. B. Fortbildungen) demabsehbaren Fachkräftemangel auch im öffentlichen Be-reich entgegenzuwirken. Bisherige Stellenabbauplänesollten daher nicht weiter verfolgt werden.9

In diesem Zusammenhang wurde durch die Personal-kommission auch die Frage thematisiert, inwieweit durchAufgabenreduzierung, -verlagerung oder -bündelung eineVerringerung des Personalbedarfs ermöglicht werdenkann. Tatsächlich scheinen die Potenziale hierfür jedochweitgehend ausgereizt, da mit der Verwaltungsstruktur-reform 2008 bereits entsprechende Strukturbereinigun-gen vorgenommen wurden. Nur in kleineren Teilbereichen(z. B. Reisekostenbearbeitung, Beschaffung u. ä.) scheintes diesbezüglich noch Optimierungspotenziale zu geben.Denkbar wäre überdies auch eine weitere Reduktion frei-williger Leistungen des Freistaats (z. B. im Bereich derKultur- und Forschungsförderung oder im Bereich derschulischen Bildung); hierüber kann letzten Endes abernur politisch entschieden werden.

Nicht zu verkennen ist, dass eine Abkehr von der bis-herigen Strategie des Stellenabbaus die angesichts desAuslaufens des Solidarpaktes II notwendige Konsolidie-rung der öffentlichen Finanzen erschwert. Derzeit belau-fen sich die Ausgaben für aktives Personal im FreistaatSachsen (nur Landesebene) auf rund 30 % der Gesamt-ausgaben; dieser Anteil wird künftig schon deshalb steigen,weil mit dem Auslaufen des Solidarpaktes II die Aus -gaben insgesamt reduziert werden müssen. Eine zumin-dest temporär höhere Stellenzahl als in der bisherigen

Planung veranschlagt wird deshalb nur möglich sein,wenn die derzeit noch überdurchschnittlich hohen Inves-titionsausgaben zurückgeführt werden. Über die Höhedes als akzeptabel angesehenen Investitionsniveaus musszwar politisch entschieden werden; die für die Personal-kommission angestellten Projektionsrechnungen des IFOINSTITUTS10 zeigen aber, dass die Investitionsquote selbstunter eher ungünstigen Annahmen nicht unter das Ni-veau der westdeutschen Flächenländer fallen dürfte. Ausfiskalischen Gründen scheint ein weiterer Stellenabbaudaher nicht zwingend erforderlich.

Alles in allem lässt sich festhalten, dass der FreistaatSachsen wohl als erstes ostdeutsches Bundesland dasProblem des drohenden Fachkräftemangels auch für dieFunktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung erkannthat. Der derzeit noch vorhandene Überbesatz an Per -sonal verdeckt dieses Problem, vor dem über kurz oderlang auch die übrigen ostdeutschen Bundesländer (so-wie ihre Kommunen) stehen. Letzten Endes wurde vonder Personalkommission ein Bericht vorgelegt, der einenWeg weist, wie die Personalpolitik des Freistaats künftigausgerichtet werden kann. Tatsächlich hat die Staats -regierung angekündigt, einen Großteil der vorgeschlage-nen Maßnahmen schon kurzfristig umzusetzen.11 Hierzuzählt insbesondere auch die Abkehr von dem bislangeher ungesteuerten Prozess des Stellenabbaus. Insoweitkönnte und sollte das Vorgehen Sachsens diesbezüglichauch ein Vorbild für andere Länder sein.

1 Schüler an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen im Durch-schnitt der Schuljahre 2014/15 und 2015/16; einschließlich Schulen desGesundheitswesens.

2 Verwendet man anstelle des Durchschnitts aller Flächenländer denDurchschnitt der westdeutschen Flächenländer, so beläuft sich derMehrbesatz sogar auf 22.500 Personen (bezogen auf Personal/1.000Einwohner) bzw. auf 46.700 Personen (Personal im Schulbereich be -zogen auf Schüler).

3 Zu vermuten wäre, dass Länder mit geringerer Bevölkerungszahl relativmehr Personal vorhalten müssen, um nicht einwohnerbezogene Auf -gaben erfüllen zu können (z. B. Aufgaben der politischen Führung oderauch der inneren Sicherheit). Tatsächlich lässt sich ein derartiger Zu-sammenhang zwischen Einwohnerzahl und Personalbestand in denFlächenländern Deutschlands jedoch nicht feststellen.

4 Der Autor war als „wissenschaftlicher Vertreter“ Mitglied dieser Kom-mission.

5 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD 2014–2019 vom 23.10.2014, Zeile 3030ff.

6 Die Zusammensetzung der Personalkommission (sämtliche Landes -ministerien und externe Sachverständige) gewährleistete, dass dieDurchsetzung von Partikularinteressen einzelner Ressorts vermiedenwerden konnte.

7 Vgl. den Abschlussbericht der Personalkommission, S. 29/30.8 Vgl. Abschlussbericht der Personalkommission, S. 31.9 Bislang wurde als Zielgröße für die Landesverwaltung ein Bestand von70.000 Stellen vorgesehen (derzeit: 84.800 Stellen).

10 Vgl. RAGNITZ, J., Personalausgaben und mittelfristige Einnahmeentwick-lung des Freistaates Sachsen, Anlage 3 des Abschlussberichts der Per-sonalkommission.

11 Vgl. Pressemitteilung der Sächsischen Staatskanzlei „Freistaat setzt auffrühzeitige Personal-Planung“ vom 15.06.2016.

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Daten und Prognosen

Geschäfts-lage

Geschäfts-erwartungen

Geschäfts-klima

85

90

95

100

105

110

115

120

Indexwerte, 2005=100, saisonbereinigt mit X -13ARIMA -SEATS.a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

Abbildung 1: Geschäftsklima, Geschäftslage undGeschäftserwartungen für die gewerbliche Wirt-schafta Ostdeutschlands

-–30

–20

–10

10

20

–40 –20 0 20 40 60

Ges

chäf

tser

war

tung

en fü

r die

chst

en 6

Mon

ate

GeschäftslageSalden, saisonbereinigt mit X-13ARIMA-SEATS, geglättet.a) Verarbeitendes Gewerbe einschließlich Ernährungsgewerbe.

Aufschwungs-phase

Boom-phase

Abschwungs-phase

Rezes-sionsphase

0

Sept.2016

Zum Herbstbeginn haben sich die Einschätzungen von

Industrie, Bau und Handel in Ostdeutschland deutlich

verbessert (vgl. Abb. 2). Im Verarbeitenden Gewerbe stieg

der Klimaindikator nach seinem Rückgang im August wie -

der an, während das Bauhauptgewerbe seinen Höhen-

flug fortsetzte. Im Handel drehten die Geschäftsaussich-

ten bei spürbar besseren Lageeinschätzungen wieder ins

Positive.

ifo Konjunkturtest in Ostdeutschland

Nachdem sich das ifo Geschäftsklima für die gewerb -

liche Wirtschaft Ostdeutschlands im August über -

raschend stark abgekühlt hatte, hellte es sich im Sep-

tember deutlich auf (vgl. Abb. 1). Damit liegt der Index

auf dem Niveau des Vorjahresmonats. Seit einem Jahr

schwanken die Befragungsteilnehmer zwischen abwar-

tender Skepsis und zaghaftem Optimismus.

Ostdeutsche und sächsische Wirtschaft gehenmit neuem Schwung in den HerbstMichael Weber*

* Michael Weber ist Doktorand der Niederlassung Dresden des ifo Insti-

tut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität Mün-

chen e. V.

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Bauhaupt-gewerbe

Handel

VerarbeitendesGewerbe

–20–15–10–5

05

1015202530

Salden, saisonbereinigt mit X-13ARIMA-SEATS.

Abbildung 2: Geschäftsklima für die einzelnenWirtschaftsbereiche der gewerblichen WirtschaftOstdeutschlands

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abbildung 3: ifo Konjunkturuhr für das Verarbei-tende Gewerbea Ostdeutschlands

Die ostdeutsche Industrie zeigt sich seit mehreren Mo-

naten verunsichert. Während die Geschäfte Monat für

Monat gut laufen, lässt sich nach wie vor keine klare

Tendenz für die zukünftige Geschäftsentwicklung erken-

nen. Die ifo Konjunkturuhr für das Verarbeitende Gewerbe

Ostdeutschlands bewegte sich im August und Septem-

ber an der Grenze zwischen den Quadranten „Boom“

und „Abschwung“ (vgl. Abb. 3).

ifo Dresden berichtet 5/2016

34

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Daten und Prognosen

ifo Konjunkturtest in Sachsen

Der ifo Geschäftsklimaindex für die gewerbliche Wirt-

schaft Sachsens brach im August regelrecht ein. Im

September erholte er sich aber sofort wieder (vgl.

Abb. 4). Die Geschäfte liefen zum Herbstbeginn so gut

wie zuletzt im Mai und die Geschäftserwartungen klet-

terten auf einen neuen Jahreshöchststand. Die Stim-

mung bleibt gut.

Geschäfts-lage

Geschäfts-erwartungen

Geschäfts-klima

85

90

95

100

105

110

115

120

Indexwerte, 2005=100, saisonbereinigt mit X -13ARIMA -SEATS.a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

Abbildung 4: Geschäftsklima, Geschäftslage undGeschäftserwartungen für die gewerbliche Wirt-schafta Sachsens

Quelle: ifo Konjunkturtest.

-Handel

Verarbeitendes

Bauhaupt-gewerbe

Gewerbe

–30

–20

–10

0

10

20

30

40

Salden, saisonbereinigt mit X-13ARIMA-SEATS.

Abbildung 5: Geschäftsklima für die einzelnenWirtschaftsbereiche der gewerblichen WirtschaftSachsens

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Aufschwungs-phase

Boom-phase

Abschwungs-phase

Rezes-sionsphase

–30

–20

–10

0

10

20

30

–40 –20 0 20

Ges

chäf

tser

war

tung

en fü

r die

chst

en 6

Mon

ate

GeschäftslageSalden, saisonbereinigt mit X-13ARIMA-SEATS, geglättet.a) Verarbeitendes Gewerbe einschließlich Ernährungsgewerbe.

40 60

Sept.2016

Abbildung 6: ifo Konjunkturuhr für das Verarbei-tende Gewerbea Sachsens

Im September hat sich die Lageeinschätzung in der

sächsischen Industrie, im Bauhauptgewerbe und im

Handel dank besser laufender Geschäfte aufgehellt (vgl.

Abb. 5). Im Bauhauptgewerbe stieg der Lageindikator

gar auf den höchsten Wert seit 1992. Gleichzeitig gehen

alle drei Bereiche von einer weiteren Verbesserung der

Geschäfte in den kommenden Monaten aus.

Im sächsischen Verarbeitenden Gewerbe gingen die

Lage- und Erwartungseinschätzungen im August über-

raschend stark zurück. Zwar haben sich beide Indikato-

ren bereits im September wieder erholt. Die ifo Kon-

junkturuhr für das Verarbeitende Gewerbe Sachsens

hat sich dennoch nur entlang der Grenze zwischen den

Quadranten „Boom“ und „Abschwung“ bewegen kön-

nen (vgl. Abb. 6).

Quelle: ifo Konjunkturtest.

ifo Dresden berichtet 5/2016

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Daten und Prognosen

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abbildung 7: Ausgewählte Indikatoren aus dem ifo Konjunkturtest für Ostdeutschland und Sachsen

2011 2012 2013 2014 2015 20160

10

20

30

40

50

60

70

80

2011 2012 2013 2014 2015 2016

Anmerkung: Alle Werte sind saisonbereinigt mit X-13ARIMA-SEATS. Verarbeitendes Gewerbe einschließlich Ernährungsgewerbe.a) Geglättete Werte. – b) Anteil der Unternehmen, die angeben, die Kreditvergabe sei restriktiv. – c) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

2011 2012 2013 2014 2015 2016 2011 2012 2013 2014 2015 20161,5

2,0

2,5

3,0

3,5

60

65

70

75

80

85

90

2011 2012 2013 2014 2015 201660

65

70

75

80

2011 2012 2013 2014 2015 2016

Kapazitätsauslastunga imVerarbeitenden Gewerbein %

Geräteauslastunga imBauhauptgewerbein %

Auftragsbestanda im Verarbeitenden Gewerbein Monaten

Auftragsbestanda im Bauhauptgewerbein Monaten

Exporterwartungena imVerarbeitenden GewerbeSaldo in %

Kredithürdeb für diegewerblichec Wirtschaft

–8–6–4–2

02468

101214

Ostdeutschland

Sachsen

Ostdeutschland

Sachsen

Sachsen

Ostdeutschland

Sachsen

Ostdeutschland

Sachsen

Ostdeutschland

Sachsen

Ostdeutschland

ifo Dresden berichtet 5/2016

36

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Daten und Prognosen

Der ostdeutsche und der sächsische Arbeitsmarkt be-finden sich weiter im Aufwind. Im gesamten drittenQuartal gingen die Arbeitslosenquoten in Ostdeutsch-land und im Freistaat Sachsen saisonbereinigt zurück,während die Zahl der gemeldeten freien Stellen kon -tinuierlich zunahm und die saisonbereinigte Vakanz -quote1 anstieg. Die von der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEITberechneten Stellenindizes für Ostdeutschland undSachsen kletterten im dritten Quartal auf neue Höchst-werte. Insgesamt erhöhte sich die Arbeitsmarktanspan-nung2 weiter (vgl. Abb. 1a).

Bis zum Jahresende bleiben die Beschäftigungs-aussichten für die gewerbliche Wirtschaft in Ost-deutschland und Sachsen positiv. Darauf deuten diejüngsten Befragungsergebnisse des ifo Konjunkturtestshin (vgl. Abb. 1b). Insbesondere im Einzelhandel pla-nen die Befragungsteilnehmer mit mehr Beschäftigung;in Ostdeutschland waren ihre Beschäftigungserwartun-gen noch nie so optimistisch wie zuletzt im September.Auch im Großhandel und im Bauhauptgewerbe sind

die Beschäftigungsaussichten im langfristigen Vergleichdeutlich positiv; zuletzt haben sie sich nochmals ver-bessert. Lediglich die sächsische Industrie plant in denkommenden Monaten mit geringfügig weniger Personal.

Ostdeutscher und sächsischer Arbeitsmarkt weiter im AufwindMichael Weber*

* Michael Weber ist Doktorand der Dresdner Niederlassung des ifo Ins ti -

tut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität Mün -

chen e.V.

1 Die Vakanzquote setzt den Bestand an gemeldeten Arbeitsstellen ins

Verhältnis zur Zahl der zivilen Erwerbspersonen.2 Die Arbeitsmarktanspannung errechnet sich aus der Zahl der freien

Stellen pro Arbeitslosen. Indem sie sowohl die Angebotsseite (Arbeits-

losenquote) als auch die Nachfrageseite (Vakanzquote) abbildet, erfasst

die Arbeitsmarktanspannung die konjunkturelle Entwicklung auf dem

Arbeitsmarkt.

Quellen: Bundesagentur für Arbeit, ifo Konjunkturtest, Berechnung und Darstellung des ifo Instituts.

Abbildung 1: Arbeitsmarktentwicklung in Sachsen und Ostdeutschland

Jan. 2011Jan. 2014Sept. 2016

Sept.2016

0,50

0,75

1,00

1,25

1,50

1,75

6,0 8,0 10,0 12,0

Vaka

nzqu

otea

(%)

Arbeitslosenquotea (%)

a) Arbeitsmarktanspannung

85

90

95

100

105

110

115

2011 2012 2013 2014 2015 2016

2005 =100

b) Beschäftigungsbarometer für die gewerblicheb Wirtschaft

Anmerkung: Alle Werte sind saisonbereinigt. – a) Bezugsgröße: alle zivilen Erwerbspersonen.b) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

Ostdeutschland

Sachsen

Sachsen

Ostdeutschland

ifo Dresden berichtet 5/2016

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BISWAS, AMIT K. und MARCEL THUM (2016): Corruption,Environmental Regulation and Market, Environment andDevelopment Economics, im Erscheinen.

MARJIT, SUGATA; SEIDEL, ANDRÉ und MARCEL THUM (2016):Tax Evasion, Corruption and Tax Loopholes, German Eco -nomic Review, im Erscheinen.

RAGNITZ, JOACHIM (2016):Die gesetzliche Rente,Wirtschafts-wissenschaftliches Studium, Heft 9/2016, S. 493–495.

RAGNITZ, JOACHIM (2016): Wie der BREXIT auf Ost-deutschland wirkt, Wirtschaft+Markt Heft 5/2016, S. 40.

RÖSEL, FELIX und NIKLAS POTRAFKE (2016): Opening Hoursof Polling Stations and Voter Turnout: Evidence from aNatural Experiment, CESifo Working Paper Nr. 6036,München.

ifo Veröffentlichungen

Aus der ifo Werkstatt

Im Rahmen der Dresdner Vorträge zur Wirtschafts-politik sprach am 05. Oktober 2016 Dr. Michael Heise,Chief Economist ALLIANZ SE, München zum Thema „DerBrexit und die Zukunft der Europäischen Union“. Dr. Mi-chael Heise ist Chefvolkswirt der ALLIANZ SE. Er berätden Vorstand der ALLIANZ SE in volkswirtschaftlichen undstrategischen Fragen. Dazu gehören Analysen und Prog-nosen zur deutschen und internationalen Wirtschafts-und Finanzmarktentwicklung.

Nach dem ersten Schock über den Ausgang des EU-Referendums in Großbritannien geht es nun darum, dieFolgewirkungen für Europa und den Euro abzuschätzen.Der Brexit, so die Pessimisten, sei der Anfang vom Ende deseuropäischen Projekts. Tatsächlich dürfte sich die Unionals weitaus widerstandsfähiger erweisen. Denn das Brexit-Votum sollte auch als Weckruf und Chance begriffen wer-den, die EU weiterzuentwickeln und den Zusammenhaltder Mitgliedsländer zu stärken. Das kann gelingen, wennaus dem Brexit die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Eine erste Konsequenz ist, die EU-Integration nicht aufBiegen und Brechen voranzutreiben. Zweitens muss derGrundsatz der Subsidiarität stärker als bisher Anwen-dung finden. Drittens muss den Wählern deutlich werden,dass Europa nicht das Problem sondern die Lösung ist,etwa wenn es darum geht, im globalen Wettbewerb undim technologischen Wandel erfolgreich zu bleiben.

In der gleichen Veranstaltungsreihe wird Prof. Chris -tina Gathmann, Professorin für Arbeitsmarktökonomieund Neue Politische Ökonomik am ALFRED-WEBER-INSTI-TUT DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG, am 26. April 2017 einenVortrag halten. Die Vorträge sind öffentlich und finden imSeminarraum der Niederlassung Dresden des IFO INSTI-

TUTS, in der Einsteinstraße 3, statt. Beginn des Vortragsist jeweils um 18:30 Uhr.

Am 25. und 26. November 2016 wird der 10th Work -shop on Political Economy in den Räumlichkeiten derifo Niederlassung Dresden abgehalten. Auch in diesemJahr wird die gemeinsame Veranstaltung der TECHNI-SCHEN UNIVERSITÄT (TU) BRAUNSCHWEIG, der BTU COTTBUS-SENFTENBERG, der TECHNISCHEN UNIVERSITÄT (TU) DRESDENund des IFO INSTITUTS Dresden durch das Forschungs-netzwerk CESifo unterstützt. Mit Ragnar Torvik (NTNUTRONDHEIM & CAMP) und Roland Hodler (SIAW-HSG,UNIVERSITÄT ST. GALLEN) konnten herausragende Wissen-schaftler als Keynote Speaker gewonnen werden. ImRahmen des Workshops werden sowohl theoretischeals auch empirische Arbeiten auf dem Gebiet der Politi-schen Ökonomie vor einem internationalen Teilnehmer-kreis diskutiert.

Am 20. und 21. Januar 2017 wird der 11. Workshop„Makroökonomik und Konjunktur“ in den Räumlich-keiten der Niederlassung Dresden des IFO INSTITUTSdurchgeführt. Der zweitägige Workshop wird gemeinsammit der HELMUT-SCHMIDT-UNIVERSITÄT HAMBURG organisiert.Er soll ein Forum für aktuelle Forschungsergebnisse ausdem Bereich der Makroökonomik und Konjunkturfor-schung bieten und gleichzeitig zur besseren Vernetzungvon Nachwuchswissenschaftlern beitragen.

Weiterführende Informationen zu diesen Veranstaltungenfinden Sie auf der Homepage von ifo Dresden (www.ifo-dresden.de) unter der Rubrik Veranstaltungen.

ifo Veranstaltungen

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Aus der ifo Werkstatt

Fritzsche, Carolin, „The German Real Estate TransferTax: Effects on Liquidity and Timing on the Market forResidential Housing“, Vortrag bei der IARIW 2016 Gene -ral Conference, 25.08.2016, Dresden.

Ochsner, Christian, „Migrating Extremists”, Vortrag aufdem 31. ANNUAL CONGRESS OF THE EUROPEAN ECONOMICASSOCIATION (EEA), 25.08.2016, Genf (Schweiz).

Ochsner, Christian, „Migrating Extremists”, Vortrag aufder Jahrestagung des VEREINS FÜR SOCIALPOLITIK (VFS)2016, 06.09.2016, Augsburg.

Rösel, Felix, „The Persistency of Public Debt“, Vortragbei der Jahrestagung des VEREINS FÜR SOCIALPOLITIK (VFS)2016, 06.09.2016, Augsburg.

Fritzsche, Carolin und Joachim Ragnitz, „Hidden Cham-pion Chemnitz – Erwacht die Stadt aus dem Dornrös-chenschlaf?“, Vortrag beim 2. Chemnitzer Immobilien -gespräch, 15.09.2016, Chemnitz.

Ragnitz, Joachim, „Was wir der ostdeutschen Wirtschaftvor dem Hintergrund des demografischen Wandels inden nächsten 25 Jahren zutrauen – und was nicht.“, Vor-trag anlässlich des Ostdeutschen Wirtschaftsforums,20.10.2016, Bad Saarow.

ifo Vorträge

ifo Dresden berichtet 5/2016

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Ab Oktober 2016 wird das Team der ifo NiederlassungDresden durch zwei neue Doktoranden verstärkt. Katha-rina Heisig hat zuvor ein Masterstudium der Volkswirt-schaftslehre an der MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG absolviert und Jannik André Nauerthschloss sein Masterstudium der Volkswirtschaftslehre ander TECHNISCHEN UNIVERSITÄT (TU) DRESDEN ab. Wir heißenunsere neuen Kollegen auch auf diesem Weg herzlichwillkommen.

ifo intern

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Die Niederlassung Dresden des IFO INSTITUTSund die HELMUT-SCHMIDT-UNIVERISÄT HAMBURG

laden ein zum 11. ifo Dresden Workshop Makroökonomik und Konjunktur. Der Work-shop bietet ein Forum fur die Diskussion vonaktuellen Forschungs ergeb nissen aus dem

Bereich der Makroökonomik. Besonders will-kommen sind dabei Beiträge aus dem Bereich

der Konjunkturforschung.

Der Workshop dient nicht nur dem wissen -schaft lichen Austausch; er soll auch Nach-wuchsforschern die Möglichkeit geben, sichbesser zu vernetzen. Wir ermuntern daher

auch explizit Doktorand(Innen) zur Einreichungvon Beiträgen.

Die Teilnahme am Workshop ist kostenlos. Es werden jedoch keine Zuschusse zu R eise- oder Übernachtungskosten oder fur das gemeinsame Abendessen am

20. Januar 2016 gewährt.

Wie schon in den letzten Jahren ist auchfur den kommenden Workshop eine Special

Issue der Fachzeitschrift Review of Economics(Jahrbuch fur Wirtschaftswissenschaften)

geplant. Bitte teilen Sie bereits bei EinreichungIhres Beitrags fur den Workshop mit, ob Ihr

Beitrag fur die Special Issue in Betracht gezogen werden soll.

Einreichungen:Bitte reichen Sie Ihr (vorläufiges) Papierbis zum 15. November 2016 uber die

Workshop-Website ein. Annahmeentscheidungen

werden voraussichtlich AnfangDezember mitgeteilt.

Veranstaltungsort

ifo Institut – Leibniz Institut furWirtschaftsforschung an der UniversitätMunchen e. V.Niederlassung DresdenEinsteinstraße 301069 Dresden‘

Organisation

Michael Berlemann(Helmut Schmidt Universität Hamburg)

Robert Lehmann(Ifo Institute)

Jannik A. Nauerth(Ifo Institute)

Michael Weber(Ifo Institute)

Website

http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/events/academic-conferences/forthcoming.html

Kontakt

Michael WeberTelefon: +49(0)351-26476-13E-Mail: [email protected]

Call for Papers11. ifo Dresden Workshop

Makroökonomik und Konjunktur20. und 21. Januar 2017