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Februar 2016 Migration & Prävention Einleitung Das Thema Flüchtlinge und Asylwerber ist zurzeit in al- ler Munde – die derzeitigen Flüchtlingsströme nach Europa bringen nicht nur akut zahlreiche Heraus- forderungen und Problembereiche mit sich, sondern werden auch in Zukunft zu gesellschaftspolitischen Veränderungen führen, die dringend vermehrter und verbesserter Integrationsmaßnahmen bedürfen. Aus medizinischer Sicht befasst sich das Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin (ISPTM) der Medizinischen Universität Wien schon länger mit dem Thema Migration und damit verbundenen Gesundheitsproblemen. Im Februar 2015 fand bereits das 3. Symposium für Migrationsmedizin statt. Diese Veranstaltung wurde von Univ.-Prof. Mag. Dr. Gudrun Biffl vom Department für Migration und Globali- sierung der Donau-Universität Krems zusammen mit Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt vom ISPTM organisiert und geleitet. Das 3. Symposium stand unter dem Motto „Migration und Prävention“. Migranten, aber auch generell Personen mit geringem sozioökonomischem Status, haben ein höheres Risiko für Gesundheitsprobleme: zu diesen ge- hören neben Infektionskrankheitenauch Adipositas und deren Folgeerkrankungen. Suchtver halten ist bei In Kooperation mit ÄRZTEKAMMER FÜR WIEN Österreichische Gesellschaft für Tropenmedizin, Parasitologie und Migrationsmedizin (ÖGTPM) 3. Migrationssymposium MIGRATION & PRÄVENTION Epidemiologische, soziokulturelle und medizinische Aspekte

In Kooperation mit Manual CD...und Psychotherapie 1, LKH Graz Süd-West Sucht ist der – untaugliche – Versuch, ein für einen selbst scheinbar unlösbares Problem zu lösen. Ein

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Migr

ation

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tion

Einleitung

Das Thema Flüchtlinge und Asylwerber ist zurzeit in al­ler Munde – die derzeitigen Flüchtlingsströme nach Europa bringen nicht nur akut zahlreiche Heraus­forderungen und Problembereiche mit sich, sondern werden auch in Zukunft zu gesellschaftspolitischen Veränderungen führen, die dringend vermehrter und verbesserter Integrationsmaßnahmen bedürfen.Aus medizinischer Sicht befasst sich das Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin (ISPTM) der Medizinischen Universität Wien schon länger mit dem Thema Migration und damit verbundenen

Gesund heits problemen. Im Februar 2015 fand bereits das 3. Symposium für Migrationsmedizin statt. Diese Ver anstaltung wurde von Univ.­Prof. Mag. Dr. Gudrun Biff l vom Department für Migration und Globali­sierung der Donau­Universität Krems zusammen mit Univ.­Prof. Dr. Ursula Wieder mann­Schmidt vom ISPTM organisiert und geleitet. Das 3. Symposium stand unter dem Motto „Migration und Prävention“. Migranten, aber auch generell Personen mit geringem sozioökonomischem Status, haben ein höheres Risiko für Gesundheits probleme: zu diesen ge­hören neben Infektions krank heitenauch Adipositas und deren Folgeerkrankungen. Sucht ver halten ist bei

CDManualCORPORATE DESIGN RICHTLINIEN DER MEDIZINISCHEN UNIVERSITÄT WIEN

In Kooperation mit

ÄRZTEKAMMERFÜR WIEN

Österreichische Gesellschaft für Tropenmedizin, Parasitologie und Migrationsmedizin (ÖGTPM)

3. Migrationssymposium

MiGraTioN & PrävENTioNEpidemiologische, soziokulturelle und medizinische Aspekte

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Migranten, mit Aus nahme beson­ders traumatisierter Personen­gruppen, nicht überdurchschnitt­lich häufig. Jedoch ist das Sucht­verhalten und die Wahl der Sucht­mittel kulturell geprägt, was eine gezielte Prä ventions arbeit er­schwert. Pro bleme in der Be­hand lung ergeben sich daraus, dass das Risiko für die Gesund­heits probleme von Mi gran ten oftmals nicht erkannt wird oder erst eine ärztliche Be treuung auf­gesucht wird, wenn bereits schwer wiegende Gesund heits­probleme vorliegen. Ziel des Symposiums war es daher, he­rauszuarbeiten, welche Prä­ventions maßnahmen benötigt werden, um im Vor hinein be­stimmte Erkrankungs risiken zu vermindern bzw. die frühzeitige Krankheits erkennung ver­bessern zu können; eine zentrale Erkenntnis dabei ist aber, dass jeglicher neue Ansatz nur greifen kann, wenn auch die soziokulturellen Hinter gründe, Sprachbarrieren und eine bessere Erreichbar keit von bzw. ein besserer Zugang zu den Zielgruppen in die Konzepte einbezogen werden.

Folgende Schwerpunktthemen wurden bearbeitet:(1) Sucht und Migration(2) Ernährung – Übergewicht und Adipositas bei Personen

mit Migrationshintergrund(3) Infektionskrankheiten und Risikomanagement zur

Primär­ und Sekundärprävention(4) Migration, Gesundheit und soziale Ausgrenzung

In den auf jeden Themenschwerpunkt folgenden Work­shops wurden mögliche Präventionsansätze und damit verbundene Herausforderungen erarbeitet und vorgestellt.

1. Sucht und Migration

1.1 Grundlagen und Auswirkungen von Sucht bei MigrationPrim. Univ.-Prof. DDr. Michael Lehofer, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 1, LKH Graz Süd-West

Sucht ist der – untaugliche – Versuch, ein für einen selbst scheinbar unlösbares Problem zu lösen. Ein Problem ist als

eine Dissonanz zwischen Wahrnehmung und einer be­stimmten, wichtigen Vorstellung zu bezeichnen. Im Falle eines unlösbaren Problems erweist sich die Wahrnehmung als etwas Äußeres, das nicht veränderbar ist, ebenso wie auch die Vorstellung.Nun gibt es Substanzen oder auch Verhaltensweisen, wel­che die Imagination erzeugen (oder jedenfalls dabei helfen), man hätte das Problem gelöst. Von solchen Substanzen oder Verhaltensweisen kann man leicht abhängig werden.Was nun Migranten angeht, so ist vollkommen klar, dass die­se Menschen viele Probleme haben, die nicht ohne Weiteres lösbar sind. Deshalb handelt es sich hier um eine Gruppe, die von vornherein eine gewisse Disposition zur Abhängig­keits entwicklung mitbringt. Ein zusätzlicher Faktor besteht darin, dass viele Migranten aus Gesellschaften stammen, in denen eine starke Prohibition gegenüber Suchtmitteln und durch kollektives Bewusst sein eine starke soziale Kontrolle herrscht. Das Herausfallen aus diesen Gemein schaften und der sozialen Kontrolle, die sie ausüben, verstärkt die Suchtdisposition. Aufgrund der Ächtung der Sucht, die z.B. in islamischen Herkunfts gesellschaften stärker ist als in Österreich, ist es für Betroffene aus diesen Kulturen nicht zuletzt aufgrund der Scham auch dem­entsprechend schwieriger, Hilfe zu suchen und zu finden.Dieses Herausfallen aus den Gemeinschaften in Kombi nation mit der Tatsache, dass diese Menschen bei uns de facto – z.B. in den Arbeitsmarkt − nicht inte­griert werden, sich zum Teil wohl auch nicht integrieren möchten, schafft gewisse Frei räume, in denen sich dysfunktionale und sogar kriminelle Ver haltensweisen leichter entwickeln können, als das unter anderen Umständen der Fall wäre. Dazu kommt, dass Migranten auch unter Nichtberück­sichtigung von Scham weniger leicht die entsprechenden Beratungseinrichtungen in Anspruch nehmen. Informations­ mangel, Sprachbarrieren und Ähnliches dürften eine Rolle spielen. Hier sind die Schwellen offensichtlich höher als bei Österreichern. Auch im Hinblick auf Komorbiditäten ist die Versorgung von Migranten schlechter.

Als suchtpräventiver Handlungsansatz wäre zunächst ganz dringend die Integration von Migranten in den Arbeits­prozess zu fordern. Die Unmöglichkeit, einer Erwerbs­tätigkeit nachzugehen und sich damit selbst und seine Familie zu erhalten, treibt viele Migranten (beiderlei Geschlechts) in extreme Sinnkrisen, da diese Situation ja

Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt

Univ.-Prof. Mag. Dr. Gudrun Biffl

Prim. Univ.-Prof. DDr. Michael Lehofer

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auch einen Ausschluss aus einem wesentlichen Teil des Soziallebens bedeutet und zudem finanzielle und materi­elle Nöte schafft und perpetuiert.Insgesamt ist Integration sicherlich der einzig zielführende Weg zur Prävention von Abhängigkeitserkrankungen. Nur Integration löst die oben angeführten Probleme, die mit der Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen einher­gehen.

1.2 Sucht bei Migranten und AsylwerbernDr. Walter North, Verein Dialog, Wien

Der „Verein Dialog“ ist ein gemeinnütziger Verein im Wiener Suchthilfesystem, der 1979 gegründet wurde und in dem im Jahr 2014 rund 100 Mitarbeiter an fünf Stand­orten in Wien derzeit rund 5.200 Personen mit Sucht­problemen sowie rund 500 Angehörige beraten und be­treuen, davon rund 2.000 Personen in den beiden Polizei­anhaltezentren. Die Angebote sind kostenlos, und die Inhalte der Betreuungsgespräche unterliegen der gesetz­lichen Verschwiegenheitspflicht. Multiprofessionelle Teams, die sich aus Sozialarbeitern, Fachärzten für Psychiatrie, Allgemeinmedizinern, Psycho­logen, Psychotherapeuten und Trainern zusammensetzen, bieten die Leistungen des Vereins an.Die beiden Polizeianhaltezentren („PAZ“ − Rossauer Lände und Hernals) haben Kapazitäten für jeweils rund 250 Insassen. Gründe für die Anhaltung sind entweder Ver­waltungsstrafen, Schubhaft, oder es handelt sich um Gerichts häftlinge. Die ärztliche Präsenz des Vereins Dialog an Wochentagen liegt in beiden PAZ bei täglich jeweils drei Stunden am Vormittag und wird von Fachärzten sowie Allgemeinmedizinern geleistet. Der Dialog bietet auch psy­chosoziale Betreuung für Verwaltungsstraf verbüßer an. Es gibt eine sehr gute Kooperation mit den Polizeiamts­ärzten, in deren Hand die Entscheidungen über die Haft­fähigkeit liegen.Die medikamentöse Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen mit Psychopharmaka obliegt dem Verein Dialog, die Behandlung aller somatischen Erkrankungen obliegt den Polizeiamtsärzten. Der Dialog kann Empfeh­lungen für stationäre psychiatrische Aufnahmen oder Ausführungen aussprechen. Die beiden PAZ werden seit 2013 von der Volksanwaltschaft regelmäßig kontrolliert.Bei den im PAZ behandelten Schubhäftlingen scheint Sucht nicht so sehr ein eigenständiges Krankheitsbild als vielmehr eine Bewältigungsstrategie für Traumatisierungen bzw. ein Symptom unterschiedlichster psychiatrischer Grundauffälligkeiten und Störungsbilder zu sein. Asylwerber aus dem Kaukasus zeigen überdurchschnittlich

oft eine Opioidabhängigkeit, wobei sich in den psychiatri­schen Störungsbildern und dem Umgang mit der Sucht erhebliche Unterschiede zwischen Tschetschenen und Georgiern manifestieren.Bei Tschetschenen besteht häufig ein manifester Opioid­konsum aufgrund oft massiver Traumatisierungen mit posttraumatischem Belastungssyndrom (PTSD). Es beste­hen massive Ängste vor Verfolgung, die Identifikation mit dem Herkunftsland ist stark, der religiöse Hintergrund ist moslemisch, der Handel mit Suchtgiften gilt als verpönt. Im Gegensatz dazu zeigen Georgier häufiger einen unre­gelmäßigen Opioidkonsum, der oft auf depressiven Störungen beruht. Der religiöse Hintergrund ist christlich,

die Identifikation mit dem Her­kunfts land geringer, Ängste vor Ver folgung sind seltener.Beiden Gruppen gemeinsam ist, dass ein instabiler Opioidkonsum schon im Heimatland begonnen wurde, dieser Konsum wird um­so manifester, je länger der Auf­enthalt in Österreich dauert. Beide Gruppen haben teilweise

deutliche Probleme, eine Substitutions behandlung anzu­nehmen, seien es soziale Schwierig keiten durch den Status als Asylwerber oder auch ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Behörden und dem Gesundheits system. Asylwerber aus dem Maghreb weisen oft eine Benzo­diazepin­Abhängigkeit auf, wobei besonders Clonazepam bevorzugt wird; weiters ist auch Cannabinoid­Konsum häufig. Der Konsum anderer Substanzen ist hingegen in dieser Gruppe sehr selten. Sehr häufig besteht die zugrun­de liegende Pathologie in einer Impulskontrollstörung – der Suchtmittelkonsum ist als Versuch der Spannungs­lösung zu verstehen.Eine weitere wesentliche Gruppe stellen polnische Staatsbürger mit hochproblematischem Alkoholkonsum dar, die teilweise bis zu zehnmal pro Jahr aus Österreich abgeschoben werden, jedoch immer wiederkehren, weil Österreich ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt ist. Diese Menschen leben zum Teil im Obdachlosenmilieu. In dieser Gruppe sieht man teils heftig ausgeprägte psychiatrische Grunderkrankungen von Depressionen bis hin zu schizo­phrenen Erkrankungen.Auch Suchtmittel­konsumierende Frauen aus Tschechien, der Slowakei oder Ungarn, die in Österreich als Geheim­prostituierte arbeiten, sind eine Gruppe, die einen teilwei­se hochproblematischen Mischkonsum von Opioiden, Amphetaminen, Benzodiazepinen und Alkohol betreibt.Für beide Gruppen besteht das Problem, dass eine stabile

Dr. Walter North

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psychiatrische Behandlung wegen der häufigen Ab­schiebungen kaum möglich ist. Es gibt immer wieder un­geplante Entzugsphasen, die aber nicht als positiv erlebt werden, sowie wiederkehrende traumatisierende Gewalt­erfahrungen.

Zu fordern wäre daher:● Ein Ausbau transkultureller psychiatrischer Angebote● Eine Anerkennung der Sichtweise, dass Sucht­ und

Abhängigkeitserkrankungen in diesen Personen­gruppen oft Folge von Traumatisierungen sind

● Eine Verbesserung des Nahtstellenmanagements (Justiz, Polizei, länderübergreifende Kooperationen im Gesundheitssystem)

● Eine bewusste Personalstrategie hinsichtlich Sprachkompetenzen

● Europaweite Standards der Asylpolitik● Die gesetzliche Regelung von Arbeitsmöglichkeiten

für Asylwerber● Ein Überdenken der (zurzeit ohnehin de facto ausge­

setzten) Dublin­Regeln

1.3 Migration als suchtauslösender Faktor?Dr. Robert Muhr, Psychotherapeutischer Leiter, Grüner Kreis, Wien

Unseren Erfahrungen nach ist Migration per se kein Faktor, der eine besondere Disposition zur Sucht erzeugen würde. Natürlich haben Flüchtlinge und Migranten ein höheres Maß an Traumatisierung, was sehr wohl die Ent wicklung ei­ner Abhängigkeitserkrankung begünstigen kann. Dann ist die Ursache oder der auslösende Faktor für die Sucht­erkrankung aber das Trauma und der Stress und nicht die Migra tion per se. Es gibt keine Daten, die da­rauf hinweisen würden, dass Migration an sich ein erhöhtes Suchtrisiko nach sich zieht.

Was uns hingegen in diesem Zusammenhang viel mehr auf­fällt und viel häufiger begegnet, sind Suchtprobleme in der zweiten und dritten Migranten­generation. Diese Menschen sind in unserer Klientel in hö­herem Maße vertreten, als das statistisch – aufgrund der sonst in den jeweiligen Altersgruppen auftretenden Raten

Workshop 1: Sucht und Migration Workshop 1: Sucht und Migration

Voraussetzungen und Erfahrungen für Kinder und Jugendliche:● Migrationshintergrund an sich macht natürlich

nicht süchtig: sozio-ökonomischer Hintergrund, Trauma ausschlaggebend

● Jugendliche mit problematischem Konsum kom-men großteils aus zerrütteten Familien verhält nissen

● Fluchtmigration: minimale Unterstützungs struk-turen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) – die mögliche Trennung von Familien-mitgliedern kann sehr traumatisierend sein; Familienzusammen führungen und Aus bildung von großer Bedeutung für UMF

● 1. Generation trifft sich z.B. einmal im Monat und raucht gemeinsam Opium, aber ohne Abhängig-keit zu entwickeln, während die 2. Generation häufiger abhängig wird

● In Suchtdiagnostik: 2. Generation wird durch Anzeigen sichtbar – Konsum an öffentlichen Orten

● Migranten werden vielleicht auch öfter angezeigt, weil sie nicht zuhause kiffen können, sondern sich

im Park treffen etc.; also Thema der Sichtbarkeit● Spezifische Konsummuster: z.B. Heroin wird kaum

geraucht; z.B.: Türken und Albaner rauchen Heroin; das Spritzen verursacht Schuldgefühle und wird als schlimmer als das Rauchen erlebt

● Kinder- und Jugendpsychiatrie: Jugendliche kom-men in suizidaler Krise, hier auch Drogenkonsum, aber meistens weiterführende ambulante Be-handlung möglich

● Jugendliche bis 18 Jahre kommen am häufigsten zwischen 14 und 16 Jahren, Cannabis am häufigsten

● Tabuisierung in der Familie spielt eine große Rolle, große Schuld und auch Schamgefühle

● Türkei: Familien sind lange dahinter, setzen die Kinder nicht so schnell auf die Straße, starke Unter-stützung, damit Drogenkonsum ein Ende findet: wer-den zum Militär geschickt oder in ein Dorf in der Türkei – wenn die Jugendlichen zurückkommen, werden sie – in den alten Rahmenbedingungen − wieder süchtig

● Unterscheidung ländlicher und städtischer Raum: Anonymität und Sichtbarkeit sind Themen

Dr. Robert Muhr

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an Sucht problemen − zu erwarten wäre. Das sind, per de­finitionem, ja Menschen, die in Österreich geboren sind. Hier haben wir nicht mehr das Problem der Migration, son­dern das Problem der Integration. Es gibt dazu leider bisher keine wirklich profunde For­schung, man kann aber annehmen, dass das Auf wachsen in einer Kultur, in der sich die Betroffenen anscheinend fremd fühlen oder die zumindest mit dem zu Hause er­lebten Umfeld diskrepant erscheint, nicht unproblema­tisch ist.

Bekannt ist, dass im Hinblick auf eine Reihe von sozialen Indikatoren die Integration der zweiten und auch noch der dritten Migrantengeneration in Österreich nicht be­sonders gut gelungen ist. Dies darf, vor allem für die drit­te Generation, doch als überraschend bezeichnet werden, weil man hier doch volle Integration erwarten würde.

Hier gibt es z.B. schulische und Sprachprobleme, und es lässt sich auch die – allerdings ebenfalls spekulative – Vermutung anstellen, dass es einen Zusammenhang zwi­schen der Zugehörigkeit zu bestimmten bildungsferneren sozialen Schichten und der erhöhten Anfälligkeit für Suchterkrankungen geben könnte.

Bezüglich der konsumierten Suchtmittel lässt sich keine definitive Aussage treffen. Es fällt uns nur auf, dass wir kaum mit Alkoholproblemen konfrontiert werden, was aber auch an der Struktur der hierzulande vorhandenen Betreuungseinrichtungen liegt. Vielleicht gibt es auch da einen Zusammenhang mit einem muslimisch geprägten kulturellen Hintergrund. Während in diesen Kulturen Alko­hol als verpönt gilt, scheint dies für Opioide weniger zuzu­treffen.Wünschenswert und notwendig wäre mehr Forschung zu diesem wichtigen Thema.

2. Ernährung

2.1 Übergewicht, Adipositas und DiabetesPrim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, 1. Medizinische Abteilung, KH Rudolfstiftung, Wien

Migranten und Migrantinnen sind häufiger chronisch krank als in Österreich geborene Personen. Bei Frauen ist dieser Unterschied ausgeprägter als bei Männern – sie haben ein 3,4­mal höheres Diabetesrisiko als in Österreich geborene Frauen.

Workshop 1: Sucht und Migration Workshop 1: Sucht und Migration

● Fach-/Suchtspezifische Ambulanzen: mit Sozial-arbeitern, Pflegern, Security, Ärzten etc. – wesent-lich besser zur Substitutionsbehandlung geeig-net, aber auch in Apotheken

● In Basel: Suchtspezifische Ambulanzen mit umfas-send interdisziplinär ausgebildetem Personal

● Gerade bei Einzelpraxen große Mängel im System, v.a. bei Betrachtung der Wege und des Aufwandes für chronisch Kranke

● Gerade bei sprachlichen und kulturellen Barrieren benötigt es auch gut ausgebildetes Empfangs-personal

● Ärzte sind häufig überfordert, können aber einen Sozialarbeiter zuweisen

● Ein gegenseitiges gutes Kennenlernen und Bezug zu betreuenden Personen kann deeskalierend wir-ken

● Insbesondere im ländlichen Raum wären mobile Unterstützungsstrukturen wesentlich, die länger-fristig beschäftigt sein müssen, damit sich auch hier ein Vertrauensverhältnis entwickeln kann

Ausbildung und das Schaffen von Rahmen­bedingungen:● Jugendliche bis in die nahen 30er benötigen die

Möglichkeit, ausgebildet zu werden und in den Arbeitsmarkt einzusteigen

● Solche Informationen zum Hintergrund dürfen nie an Arbeitgeber weitergegeben werden

Geschlechterrelevanz?● Die Peer Group spielt bei Burschen eine größere Rolle als

bei Mädchen; Burschen konsumieren legale und illegale Drogen stärker als Mädchen (ca. 2/3 zu 1/3) – vielleicht ist auch die Rolle der Gruppe weniger relevant, son-dern die Werte der Geschlechter sind unterschiedlich

Welche Unterstützungsstrukturen/Kooperationen zwischen Akteuren braucht es?● Infrastruktur: Welche Strukturen sind nötig, damit

keine Schädigung durch den Konsum eintritt, auch Freizeitkonsum ein Thema: Werden Konsumenten/Jugendliche beraten und Produkte getestet, sinkt da-durch die Sterblichkeit?

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Die 1. Medizinische Abteilung des KH Rudolfstiftung führte drei Projekte durch, die sich mit der Gesundheit von Migranten befassten.

Im ersten Projekt wurden türkische Migranten und Migrant innen in allgemeinmedizinischen Ordinationen in ihrer Muttersprache befragt, wobei es einerseits um die Prävalenz von Übergewicht und Diabetes bzw. Diabetes­risiko und andererseits um die Gesundheitskompetenz, vor allem das Wissen um Risikofaktoren, ging.Im Vergleich zu einer (kleineren) Gruppe von Öster­reichern, waren die Migrantinnen (115 Männer, 327 Frauen) älter und hatten einen höheren BMI. Ca. 11% waren bereits Diabetiker/innen; zwei Drittel hatten ein erhöhtes bis sehr hohes Risiko, innerhalb der nächsten fünf Jahre an Diabetes zu erkranken. Frauen und ältere Menschen waren hier stärker be­troffen. Das Wissen über Risiko­faktoren war bei den Migranten schlechter als bei den Öster­reichern (Abb. 1). Allerdings besteht hier höchst­wahrscheinlich ein Selek tions­bias, weil es sich um Men schen handelte, die eine Ordi nation aufgesucht hatten. Andererseits wurden jedoch Personen erreicht, die nicht Deutsch sprachen und zum Teil auch nicht lesen und schreiben konnten.

Ein zweites Projekt befasste sich mit Migration, Diabetes und Ernährung, und zwar anhand von Migranten aus Ex­Jugoslawien mit Diabetes im Vergleich zu Patienten in Bosnien. Dabei zeigte sich zunächst, dass die Patienten in Bosnien, die „zu Hause geblieben“ waren, im Durchschnitt

einen niedrigeren BMI als die Migranten aufwiesen, jedoch ein ähnliches HbA1C. Die Migranten waren auch häufiger Raucher und machten weniger Bewegung als die Daheim­gebliebenen. Auch an den Ernährungs gewohn heiten war zu erkennen, dass Migranten offenbar dazu neigen, den ungesunden Lebensstil ihrer Wahl heimat Öster reich anzu­nehmen: Sie essen häufiger Fleisch, Pizza und verschie­denes Fast Food. Was den Zugang zu Schulung angeht, so ist dieser zwar in Österreich besser als in Bosnien. Das be­deutet aber nicht zwingend, dass Migranten auch besser geschult sind. Es war zu erkennen, dass Migration mit einer deutlichen Veränderung des Ernährungs­ und Gesund­heitsverhaltens zum Schlechteren verbunden ist.

In einem dritten Projekt wurden Gesundheitszustand und Wissen von Migranten mit Diabetes mit österreichischen Diabetikern und Patienten im Heimatland verglichen. Die Heimat­ bzw. Herkunftsländer waren Ex­Jugoslawien und die Türkei, in jeder Gruppe waren ca. 100 Personen.Bei Österreichern wurde der Diabetes signifikant häufiger durch regelmäßige Kontrollen diagnostiziert als bei Migranten und in den Heimatländern. Als gut eingestellt be­zeichneten sich nach Selbsteinschätzung in allen drei Gruppen der Befragten etwa gleich viele Personen, nämlich etwa 75%; tatsächlich hatten aber nur 25% ein HbA1C unter 7%. Die korrekte Klassifikation von Übergewicht in der Selbst einschätzung gelang den meisten Österreichern, nicht jedoch allen Migranten und noch weniger Personen in den Heimatländern. Hier dürften kulturelle Faktoren eine erheb­liche Rolle spielen. Auch beim Wissen um die Ursachen von Diabetes schnitten die Österreicher deutlich besser ab. Diät und Bewegung als Therapieempfehlungen hatten ebenfalls die Österreicher signifikant öfter erhalten als die Migranten.Als Fazit lässt sich sagen, dass generell mangelnde Sprachkompetenz als das größte Hindernis für eine opti­

abb. 1: Wissen über risikofaktoren bei Österreichern vs. türkische Migranten

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Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik

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male Betreuung wahrgenommen wird. In allen Patienten­gruppen war ein ungenügender Wissenstransfer zum Thema Übergewicht, Adipositas und Diabetes zu sehen. Neue Wege des Wissenstransfers sollten daher gesucht werden.

2.2 Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen mit MigrationshintergrundAnna-Kristin Brettschneider (MSc, MPH) und Dr. Ute Ellert, Abt. für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert-Koch-Institut, BerlinDr. Liane Schenk, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitations wissenschaft, Charité – Universitätsmedizin Berlin

In Deutschland wachsen laut Mikrozensus 2009 ca. 30% der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Familien mit Migrationshintergrund auf. Zum großen Teil sind sie nicht selbst nach Deutschland zugewandert, sondern in der zweiten oder auch dritten Generation einer zugewan­derten Familie geboren. Migrationshintergrund prägt in spezifischer Art ihre Lebenswelt und gesundheitliche Lage, wobei die unterschiedlichen kulturellen, religiösen und sprachlichen Hintergründe zu berücksichtigen sind.Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind

häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen als Jugend­liche ohne Migrations hinter­grund. Die Basis erhebung des Kinder­ und Jugend gesundheits­Survey (KiGGS) wurde in den Jahren 2003 bis 2006 als kombi­nierter Unter suchungs­ und Be­fragungs­Survey durchgeführt. Ins gesamt haben 17.461 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 17 Jahren und ihre Eltern in 167 für die Bundes republik Deutschland repräsentativen Unter suchungs orten teilge­nommen. Neben einer schriftlichen Be fragung der Eltern sowie der Jugend lichen ab elf Jahren wurden in einer kör­perlichen Unter suchung unter anderem Körper größe und Gewicht standardisiert gemessen. Zur Be urteilung von Übergewicht und Adipositas wurde der Body­Mass­Index (BMI) (Körpergewicht [kg]/Größe [m]²) herangezogen. Die Ein teilung in Übergewicht und Adipositas erfolgte mittels alters­ und geschlechtsspezifischer Perzentilen nach deut­schen Referenzwerten (Kromeyer­Hauschild). Kinder und Jugendliche mit BMI­Werten zwischen der 90. und der 97. Perzentile werden als übergewichtig, mit BMI­Werten ober­halb der 97. Perzentile als adipös definiert. Als übergewich­

abb. 2: Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen nach Migrationshintergrund

Migrationshintergrund

ohne

einseitig

beidseitig

Herkunftsland

Deutschland

Türkei

ehem. EU-Staaten

Polen

Mittel- und Südeuropa

Westeuropa, USA, Kanada

arabisch-islamische Länder

andere Länder

0 5 10 15 20 25 30 Prozent

MädchenJungen

Quelle: Robert­Koch­Institut (RKI) (2008) Kinder­ und Jugendgesundheits­Survey (KiGGS) 2003­2006: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Berlin

Anna-Kristin Brettschneider (MSc, MPH)

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tig einschließlich adipös wird der gesamte Bereich über der 90. Perzentile bezeichnet.Da erfahrungsgemäß die Be teiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations hinter grund an Gesundheits­studien niedrig ist, wurde in KiGGS zum einen ein Over­sampling für Kinder und Jugend liche mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit vorgenommen, zum anderen wurden weitere migrantenspezifische Maßnahmen (z.B. übersetzte Fragebögen, migrantenspezifische Öffentlichkeits arbeit) durchgeführt.

Insgesamt 25,4% der in KiGGS untersuchten Kinder und Jugendlichen weisen einen Migrationshintergrund (MH) auf, was ihrem Anteil in der Bevölkerung zum damaligen Zeitpunkt entsprach. Die häufigsten Herkunftsgebiete sind die Türkei, Mittel­ und Südeuropa sowie die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Im Vergleich zu Kindern und Jugend lichen ohne MH sind Kinder und Jugendliche mit

beidseitigem MH (beide Eltern Migranten) zu einem deut­lich höheren Teil übergewichtig. Am häufigsten tritt Übergewicht bei türkischstämmigen und polnischstäm­migen Buben und Mädchen sowie bei Kindern und Jugendlichen aus Mittel­ und Südeuropa auf. Auch Kinder und Jugendliche aus arabisch­islamischen Ländern sind häufiger von Übergewicht betroffen als Kinder und Jugendliche ohne MH. Kinder und Jugendliche aus den ehemaligen Sowjetstaaten sowie aus Westeuropa, USA und Kanada sind seltener übergewichtig im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen ohne MH (Abb. 2).

Ein ähnliches Bild findet sich auch im Hinblick auf überge­wichtige Mütter (BMI >25, basierend auf Selbstangaben).Zwischen Sozialstatus und Übergewicht zeichnet sich ein sozialer Gradient ab, d.h., Kinder und Jugendliche mit einem hohen Sozialstatus sind seltener von Übergewicht betroffen, während Kinder und Jugendliche mit einem

Workshop 2: Migration und Übergewicht-Konzepte der adipositasprävention Workshop 2: Migration und Übergewicht-Konzepte der adipositasprävention

In der Prävention von Adipositas sind langfristige Maßnahmen erforderlich; es geht daher vor allem auch um die zweite und dritte Generation, wobei ein Großteil der Diskussionspunkte auch auf die einhei-mische Bevölkerung zutrifft.Es gibt derzeit noch zu wenig Daten zu den Bereichen Ernährung, Bewegung und psychosoziale Kompo-nenten (z.B. Mobbing) in Bezug auf Migranten/innen.

1. Primärprävention:● Gewichtsmanagementprogramme● Gesundheitsaufklärung in Kindergarten/Schule

(dadurch Informationsfluss zu Eltern)● Gute Erfahrung mit Workshops in Kleingruppen

(Kochen – Bewegen und Gesprächsangebot)● Sich Vertreter aus der Community suchen!

2. Herausforderungen bei Kindern und Jugendlichen:● Definition des Problembereichs● Prädisposition bzw. Übergewicht meist schon

vorhanden● Eigenverantwortung stärken („Ich kann selbst et-

was beitragen!“)● Was braucht es in der Ausbildung?● 2 Zielgruppen: Schüler und Lehrer● Was braucht es in der Praxis?● Schule aufgrund Schulpflicht einzigartige

Möglichkeit, Kinder/Jugendliche zu erreichen● Zielgruppe über soziale Medien und Peers errei-

chen● Externe Vortragende zum Thema Ernährung/

Bewegung in Schule einladen (Role Models)● Vorschläge für die Umsetzung von

Präventionsmaßnahmen:● Kinder bei Konzeptentwicklung mit einbeziehen!● Verwendung von neuen Medien (z.B. gemeinsam

eine App entwickeln)● Obst zur freien Entnahme in der Schule● „Wasserschulen“ – Getränkeautomaten verbieten

(Wasserbecher für jeden Schüler)● Angebot, in Sportvereinen mitzuspielen

(Mannschaftssport − Integrationsaspekt) plus finan-zielle Förderung

● Umsetzen von „Ernährungswissen“: gemeinsames Kochen (z.B. in Ganztagsschulen)

● Ergonomische Sitzmöglichkeiten

3. Strukturell­gesellschaftspolitische Voraussetzungen● Definition: was ist Gesundheit? Nur Abwesenheit

von Krankheit?● Kultursensibler Umgang!● Vermehrt populärwissenschaftliche Literatur zum

Thema Gesundheit (gute Erfahrung am Beispiel Türkei laut einer Teilnehmerin) –

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niedrigen Sozialstatus häufiger übergewichtig sind. Dieser Unterschied wird auch bei Kindern und Jugendlichen mit MH beobachtet, ist jedoch weniger stark ausgeprägt.

Als potenzielle Risikofaktoren für Übergewicht lassen sich das Übergewicht der Eltern, eine ungesunde Ernährung, ein hoher Medienkonsum bzw. eine geringere körperliche Aktivität identifizieren. Diese Faktoren sind bei Kindern und Jugendlichen mit MH häufiger als bei Kindern und Jugendlichen ohne MH. Das häufigere Vorkommen von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugend­lichen mit MH steht nicht nur mit Unterschieden im Sozial­status, sondern auch mit kulturellen Faktoren im Zusammen­hang. Aus den Ergebnissen lässt sich die Notwendigkeit einer mi­grationssensiblen Prävention und Gesundheits förderung unter Berücksichtigung kulturspezifischer Besonderheiten bei der Gestaltung von Gesundheits angeboten ableiten.

2.3 Veränderte Essgewohnheiten und Übergewicht – gibt es genderspezifische Unterschiede?Univ.-Prof. Dr. Beate Wimmer-Puchinger, em. Wiener Frauengesundheitsbeauftragte

Frauen werden auch heute noch erheblich stärker über ihr Aussehen beurteilt als Männer. Das weibliche Schönheits­ideal von früher war wesentlich üppiger als heute, unter anderem weil es als Statussymbol galt, sich reichliches Essen überhaupt leisten zu können. Dünnsein bedeutete Armut. Gesunde Ernährung wurde früher nicht themati­siert. Das heutige Schönheitsideal ist – allen gegenteiligen Bemühungen zum Trotz – immer noch das (zu) dünne Model. Die Beziehung zwischen Einkommen und Körper­gewicht hat sich gewandelt, da heute das billige Essen im Gegensatz zu früher hochkalorisch ist und daher Über­gewicht und Adi positas in sozial schlechter gestellten Schichten häufiger vorkommt.

Workshop 2: Migration und Übergewicht-Konzepte der adipositasprävention Workshop 2: Migration und Übergewicht-Konzepte der adipositasprävention

● Schulpolitik – Stichwort: Unterrichtseinheit: Ernährung, Schulbuffet, Rahmenbedingungen für gemeinsames Kochen, Sportunterricht (ver-mehrtes Angebot für den Nachmittag – „Freifächer“ – Möglichkeit, dass Eltern miteinbe-zogen werden können)

● Finanzielle Förderung

Welche Rolle spielen rechtliche Rahmenbedingungen?● Anrecht auf Versorgung; Pflicht auf Versorgung,

Verantwortlichkeit in der Umsetzung

Welche Unterstützungsstrukturen zwischen Akteuren braucht es?● Bezüglich der Umsetzung neuer Konzepte:● Wichtigster Faktor ist Zeit● Bedürfnisse der spezifischen Zielgruppe erheben

und darauf eingehen!● Inhalte so vermitteln, dass sie auch angenommen

werden (Chance über Partizipation)● Vertreter aus der Community mit einbeziehen

(Vertrauensbasis vorhanden, Glaubwürdigkeit)● Wiederholte Sensibilisierung in allen Settings

und auf allen Ebenen (Bevölkerung – Politik)!Vernetzungstätigkeit – „capacity building“Multiplikatorenschulung

Informationsangebot!● Angebot an Workshops ● Ganztagesschulen mit Ernährungs-

und Bewegungskonzepten!

Genderspezifische Aspekte:● Frauen/Männer: traditionelle Rollenbilder sensibel

aufbrechen, „Sport ist nicht unsittlich“ ● Frauen: Sport thematisieren im Zusammenhang mit

Rollenbild – medizinisch fundierte Aufklärung, dass Jungfräulichkeit durch Sport nicht gefährdet ist (große Verunsicherung diesbezüglich vorhanden!)

● Männer: in Ernährungskonzepte miteinbeziehen (Erfahrung von Kochworkshops, dass auch Männer mit Begeisterung dabei sein können)

Was braucht es seitens der Politik?● Von Empfehlungen, Richtlinien und Informationen

über zuständige Institutionen bis zu öffentlichen Finanzierungsmodellen

● Politischer Wille – Makroebene „top down“ (Zielgruppe und deren Bedürfnisse nicht aus den Augen verlieren)

● Gesetzliche Gleichberechtigung ● Zugang ermöglichen – Hürden abbauen (z.B. Zutritt

zu Schwimmbädern auch im Burkini!)● Wohnpolitik: Ghettoisierung vermeiden (erschwert

den Zugang zur Zielgruppe)

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Eine Diskriminierung von Personen mit Über gewicht und Adipositas ist abzulehnen. Einstellungen und Verhaltens­weisen gegenüber der Ernährung sind kulturell erlernt. Dies gilt auch für Esskulturen; hier ist zwischen verschie­denen Bildungsschichten zu unterscheiden.Wir leben heute in einem adipogenen Umfeld: Ein nahe­zu permanentes Angebot an hochkalorischer Ernährung geht Hand in Hand mit Bewegungsmangel und perma­nenter Berauschung durch die Medien, die uns mitteilen, was nicht alles köstlich schmecke und gegessen werden solle. Andererseits sollen aber besonders Frauen stets dünn sein und blendend aussehen, andernfalls droht ih­nen Diskriminierung und Mobbing. Man darf nicht vergessen, dass hinter der sich in den USA, aber auch in der EU epidemieartige ausbreitenden Adi positas mas­sive kommerzielle Interessen ste­hen. Und Werbung wirkt eben – und beeinflusst vor allem auch bei Kindern und Jugendlichen sehr stark unsere Ess gewohn­heiten und gleichzeitig unser Körperbild.Die bekannte Pyramide gesun­der Ernährung steht heute auf dem Kopf, d.h. einfach, dass die ungesunden und adipogenen Lebensmittel am meis­ten, die gesunden wie Obst und Gemüse am seltensten gegessen werden.Es scheint einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Adipositas und Übergewicht auf der einen und Ess­störungen auf der anderen Seite zu geben. Der psy­chische Aspekt einer veränderten Nahrungsaufnahme sollte daher heute vor allem auch im Rahmen der ärzt­lichen Versorgung stärker beachtet werden.Die familiären Essgewohnheiten haben sich hierzulande stark geändert. Gemeinsames Essen zu Hause findet nur noch selten statt, wobei dies in Migrantenfamilien noch eher gepflogen wird. Dies ändert sich, wie viele Studien gezeigt haben, jedoch bereits in der zweiten und dritten Migrantengeneration sehr schnell. Die Zahl der Mädchen aus diesen Generationen, die Essstörungen haben, ist re­lativ hoch. Dazu sind mehr Forschung und entsprechende Gegenmaßnahmen zu fordern.

3. infektionskrankheiten

3.1 Emerging Infections durch Migration?Univ.-Prof. Dr. Christoph Hatz, Chefarzt des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts, Basel, und Leiter des Zentrums für Reisemedizin an der Universität Zürich

Durch die extrem angestiegene, weltweite Reisetätigkeit, einschließlich Migration, können Infektionskrankheiten an verschiedene Orte verschleppt werden. Auch die Klima­veränderung spielt hier eine Rolle.So sind zum Beispiel im Jahr 2007 in Italien über 250 Fälle von Chikungunya­Fieber aufgetreten. Zwar war der Indexfall ein Patient aus Indien, der krank nach Italien zurückkehrte. Aber ohne den Vektor, Aedes albopictus, hätte sich die Erkrankung nicht ausbreiten können. Diese Mücke hat sich inzwischen über den gesamten Mittel meer raum und bis nach Westeuropa ausgebreitet. Glücklicherweise ist sie kein guter Vektor für Dengue­Viren, aber die klinisch bedeu­tenden Chikungunya­Viren werden bekanntlich übertragen.Eine Erkrankung, die in Europa stark zurückgedrängt wur­de und tatsächlich großteils aus dem Ausland wieder ein­geschleppt wird, ist die Tuberkulose (Tbc). In europä­ischen Ländern ist der Prozentsatz von Tbc­Patienten, die ihre Erkrankung aus einem anderen Land mitgebracht ha­ben, bei durchschnittlich 27%. Es gibt aber Länder, vor allem Schweden, Norwegen und Island, wo dieser Anteil über 75% liegt. In Österreich ist in den letzten zehn Jahren die Zahl der einheimischen Tbc­Fälle kontinuierlich gesunken. Bei den eingeschleppten Fällen gab es zunächst auch eine Abnahme, seit 2009 jedoch wieder eine leichte Zunahme. Insgesamt sind 49% der Tbc­Fälle in Österreich aus ande­ren Ländern importiert, wobei die Gesamtzahl im Jahr 2012 bei 648 Fällen lag. Die Zahl der multiresistenten Tbc­Fälle ist in Europa noch relativ niedrig, sie liegt in den meis ten Ländern unter 5%. Österreich hat hier eine etwas höhere Rate, sie liegt zwischen 5 und 10%, was mit der stärkeren Zuwanderung aus östlichen Ländern nach Öster­ reich zusammenhängt.Allerdings scheint die Angst vor Ansteckung durch Migranten un­berechtigt zu sein. Eine dänische Studie zeigte, dass die dort offen­bar vorhandene Angst, sich bei Migranten mit Tuberkulose anzu­stecken, unbegründet ist.Das Risiko einer latenten Tbc wurde mit 3,5/1.000 untersuchte Personen angegeben, wobei es

Univ.-Prof. Dr. Beate Wimmer-Puchinger

Univ.-Prof. Dr. Christoph Hatz

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bei Flüchtlingen am höchsten, bei Asylsuchenden und Migranten hingegen deutlich geringer ist.Es gibt aber auch Krankheitsexporte aus europäischen Ländern wie der Schweiz und Österreich, z.B. von Masern. Diese gefährliche Infektionskrankheit könnte durch konse­quente Impfung längst ausgerottet sein, und tatsächlich war sie das auf dem amerikanischen Kontinent bereits. Nur leider ist sie durch Importe aus Asien, Europa und Afrika wieder nach Nord­ und Südamerika eingeschleppt worden.Die rezent aufgetretenen Masernepidemien haben die Impfdiskussion neuerlich angefacht.

3.2 Meldepflichtige Infektionskrankheiten bei Personen mit MigrationshintergrundPriv.-Doz. Dr. Daniela Schmid MSc, Leiterin der Abteilung Infektionsepidemiologie, Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES), Institut für medizinische Mikrobiologie und Hygiene, Wien

Die Surveillance von Infektionskrankheiten bei Langzeit­migranten, also Personen, die sich länger als ein Jahr außer­halb ihres Geburtslandes aufhalten, konzentriert sich in Österreich auf drei Bereiche: Tuberkulose, sexuell übertrag­bare Erkrankungen und Masern. Zur Situation der Tuber ku­

lose in Österreich siehe Punkt 3.1, zu den STD den Punkt 3.3.Was die Masern angeht, so ist zu­nächst in Abbildung 3 die Anzahl der Masernfälle in Öster reich in den Jahren 2009 bis 2014 darge­stellt.Die Grafik präsentiert den An teil der importierten bzw. Import­assoziierten Masernfälle pro Jahr von 2009 bis 2014 in Öster reich.

Das Jahr 2015 zeichnete sich durch eine starke Masern­aktivität (per KW 50 309 Fälle mit Diagnose datum 2015) aus, was als Hinweis auf eine unzureichende Masernimmunität in der österreichischen Be völkerung anzusehen ist. Eine Masernelimination kann nur durch eine Herden immunität und ein zuverlässiges Masern­Surveillance­System erreicht werden. Wahrschein licher Ort der Infektion und Impfstatus muss bei jedem Masernfall erhoben werden. Die Kontakt­personen eines Masernfalles sollen verlässlich identifiziert werden und auf Masernsymptome für die Dauer der maxi­mal möglichen Inkubations zeit nach zuletzt erfolgtem, prä­sumtivem infektiösem Kontakt beobachtet werden. Die Laborbestätigung eines klinischen Verdachtsfalles ist unab­dingbar.

3.3 STDs bei Personen mit MigrationshintergrundUniv.-Prof. Dr. Michael Binder, Leiter des Ambulatoriums zur Diagnose und Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten, MA15, Wien

Spezifische Statistiken zur Dichte von sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD) bei Personen mit Migrations hintergrund in Österreich gibt es nicht. Es können daher nur Zahlen zur STD­Prävalenz in Europa allge­mein referiert werden.Menschen mit HIV­Infektion ma­chen ca. 0,2% der Be völkerung in West­ und Zentraleuropa aus, das sind ca. 860.000 Personen. Im Vergleich zu dieser relativ nied­rigen Prävalenz, liegt diese in Asien mit 1% und in Afrika südlich der Sahara mit 4,7% erheblich hö­her. Die Zahl der AIDS­Fälle in Österreich ist nach einem Gipfel Mitte der neunziger Jahre bis 2012 wieder deutlich abgesunken und entspricht nun etwa dem Niveau von 1986 (ca. 75 Fälle in ganz Öster reich). Im Gegensatz dazu ist die Zahl der HIV­positiven Personen seit 1995 von unter 300 auf über 450 angestiegen.

Priv.-Doz. Dr. Daniela Schmid MSc

Univ.-Prof. Dr. Michael Binder

abb. 3: Masernfälle in Österreich

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Die Durchseuchung mit dem humanen Papillomavirus (HPV) liegt im weltweiten Durchschnitt (bei allerdings er­heblichen regionalen Unterschieden) bei 10%, in Europa bei durchschnittlich 6,6%. Dazu passt auch die unter­schiedliche Inzidenz der Rate von Zervixkarzinomen, die durchgängig in Ländern mit hoher HPV­Inzidenz höher ist als in anderen Ländern. Die Mortalität am Zervixkarzinom ist in sozialen Schichten mit niedrigem Einkommen höher als bei mittlerem und hohem Einkommen.Die Inzidenz der Syphilis ist in Europa generell relativ nied­rig und liegt in den meisten europäischen Ländern ent­weder <5/100.000 oder zwischen 5 und 10/100.000. Es sind allerdings nicht für alle Länder Daten vorhanden. In einigen Ländern Ost­ und Südosteuropas sind die Inzidenzen jedoch höher, z.B. in Weißrussland (41/100.000), Rumänien (25,7/100.000), Litauen (9,7/100.000), Lettland

(7,3/ 100.000), Bulgarien und der Slowakei (je 5,5/100.000), Ungarn (5,1/100.000) oder der Türkei (5,0/100.000).Zahlen über die Inzidenz urogenitaler Chlamydien­infektionen liegen nur für einige Länder Nord­ und Osteuropas vor. Über 300/100.000 liegt die Inzidenz in Großbritannien, Island, Nor wegen und Schweden, zwi­schen 100 und 300/100.000 in Irland, Finnland und Estland, und <100/100.000 in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Griechenland.

Die Gonorrhoe­Raten in der EU zeigten zwischen 2002 und 2008, nach vorherigem Anstieg, wieder einen Abfall; seit 2009 ist wieder ein Anstieg (bei Männern stärker als bei Frauen) zu verzeichnen. Bedenklich ist dabei auch der Anstieg der Resistenzraten von Neisseria gonorrhoeae. Laut AURES­Bericht 2014 zeigten von 106 getesteten Isolaten

Workshop 3: infektionsprävention bei Personen mit Migrationshintergrund, Erreichbarkeit, annahme, verbesserung

Personen mit Migrationshintergrund sind eine he-terogene Gruppe. Im Jahr 2012 hatten in Österreich 18,9% der Gesamtbevölkerung, das sind 1,579 Millionen Menschen, Eltern, die beide im Ausland geboren wurden. Davon waren Migranten der ersten Generation (selbst im Ausland geboren) 1,167 Millionen und Zuwanderer der zweiten Generation (schon im Inland zur Welt gekommen) 412.000.

Für Kinder und Jugendliche ergeben sich hier folgende Herausforderungen:● Problembereich: Mangel an Information,

Sprachbarriere, religiöse Regeln, Traditionen, da-durch erschwerter Zugang zu manchen Dingen

● Ausbildung: im Studium/während Berufsausbildung Förderung der Wahrnehmung für soziale Kompetenzen, Info über andere Religionen, Tabus, Kulturen – „interkulturelle Kompetenz“, nur durch Verständnis und Vertrauensbasis möglich

● Praxis: frühe Konfrontation mit anderen Lebens-modellen, von Anfang an gratis Kindergarten-platz, Ausbildung der Pädagogen, Aufwertung des Berufsbildes, Männer in die Kindergärten!

● Politik: sollte weniger „wegschauen“, Finanzierung der Arbeit in wohltätigen Institutionen und Ämtern, Finanzierung von und Präventionsmaßnahmen inkl. Impfungen spart Folgekosten

● Rechtliche Rahmenbedingungen: Ärzte,

Hebammen, Krankenschwestern etc. sollten Anerkennung für deren Tätigkeit erhalten, Ehrenamtliche sollten rechtlich gedeckt sein. Rechtliche Rahmenbedingungen für NGOs

● Unterstützungsstrukturen zwischen Akteuren: bes-sere Zusammenarbeit mit Krankenanstalten beson-ders bei nicht Versicherten (Unterstützungsmodelle für nicht Versicherte)

● Kommunikationsmappe („Behandlungsfahrplan“) zur erleichterten medizinischen Betreuung in unter-schiedlichen Institutionen (besonders bei bestehen-den Sprachbarrieren)

Für erwachsene Frauen und Männer ergeben sich folgende Herausforderungen:● Problembereich: mangelnde Information verfügbar

für Mann und Frau, fehlende Dokumentation, feh-lende Zuständigkeiten, fragliche Beauftragungen, unterschiedliche Erreichbarkeit bei Personen, die nicht in einem Versicherungsverhältnis oder begin-nendem Anstellungsverhältnis sind

● Ausbildung: Interkulturelle Kompetenz, Ausbildung im Medizinstudium bzw. in Gesundheitsberufen, Schwerpunkte auf Famulaturen in Einrichtungen, die für Gesundheitserstversorgung zuständig sind

● Praxis: Erreichbarkeit, „Standard of Care“ im Rahmen der Prävention mit definierten Maßnahmen (Risikostratifizierung bis Grundversorgung) (Patientenmappe), Beauftragung für die Durchführung

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von Sexarbeiterinnen in Wien 67% eine Resistenz gegen­über Ciprofloxacin, 60% gegenüber Tetrazyklin, 32% ge­genüber Benzylpenicillin und 8% gegenüber Azithromycin. Eine Cefixim­Resistenz wurde nicht festgestellt.

Zahlen aus Wien zeigen, dass seit 1991 ein Wieder­ansteigen der Syphilisfälle zu verzeichnen ist. Die Fälle von Gonorrhoe sind seit 1991 zunächst deutlich abgefallen, begannen jedoch seit dem Jahr 2000 wieder anzusteigen, so dass inzwischen wieder das gleiche Niveau erreicht ist wie Anfang der neunziger Jahre.STD sind also kein spezifisches Problem von Personen mit Migrationshintergrund in Österreich. Sehr wohl ein Problem stellt jedoch die Tatsache dar, dass diese Gruppe Früh­erkennungs­ und Vorsorgeuntersuchungen seltener in An­spruch nimmt als die österreichische Bevölkerung.

3.4 Risikomanagement im Rahmen der Primär­ und SekundärpräventionDr. Peter Kreidl, zum Zeitpunkt der Präsentation Gesundheitsministerium, Abteilung IV, Übertragbare Erkrankungen, Krisenmanagement, Seuchenbekämpfung (nunmehr MedUni Innsbruck)

Als Grundprinzipien des Risikomanagements in diesem Bereich sollte Folgendes gelten:● Die Gesundheit aller Bürger („Health for all“) muss im

Vordergrund stehen● Es sollten nur Screenings vorgenommen werden, wenn

auch ein adäquates Follow­up bzw. eine Behandlung möglich ist

● Stigmatisierung ist ein Problem − dagegen muss fach­lich argumentiert werden

Workshop 3: infektionsprävention bei Personen mit Migrationshintergrund, Erreichbarkeit, annahme, verbesserung

Krankheitsbewusstsein, Erreichbarkeit; individuelle Medizin ist nötig, es ist wichtig, den Patienten und sein gesamtes Umfeld zu kennen; Finanzierung: Finanzielle Zuschüsse für Impfungen?

● Ausbildung: bereits Projekte in Schulen, in der Arztausbildung auf Problematik sensibilisieren, strukturierte Lehrgänge, DFP-Programm mit Empfehlung der Teilnahme an Fortbildung hin-sichtlich Prävention und Migrationsmedizin, Stärken der soziokulturellen Kompetenz

● Praxis: Zugang, Kostenübernahme, wohin können sich Leute wenden, auch hier Sensibilisierung der kulturellen Kompetenz, Dolmetsch, Ärzte brauchen Zugang zu epidemiologischen Daten etc., Infomaterialien, soziale Medien

● Politik: Referat für Migrationsmedizin der Ärztekammer oder anderer Institutionen (z.B. an Universitäten oder gesundheitspolitischen Stellen), Gesellschaft für Migrationsmedizin, Informationsplattform und Interessens-vertretung: bessere Vernetzung und Informations austausch zwischen den verschiedenen Institutionen

● Rechtliche Rahmenbedingungen Europäische Grundrechte, Menschenrechtskonvention, Recht auf Asyl und Grundversorgung

● Infobroschüren für praktische Ärzte, wohin sie sich mit rechtlichen Fragen etc. wenden können

● Versorgung muss rechtlich und finanziell ge-deckt sein

● Praxis: breitere Gesundheitsversorgung und Betreuung (z.B. Mitbetreuung der Eltern beim Pädiater etc.), Gendermedizin und Gynäkologie (Spezialambulanzen in Gynäkologie als zentrale Anlaufstelle für Frauen mit Migrationshintergrund)

● Primary Health Care-Centers: dort sollten wichtigste Komponenten für Grundversorgung verfügbar sein: Gynäkologe, Pädiater, Labors, Impfstellen, Allgemeinmedizin. Betreuung durch Personal mit entsprechender soziokultureller Kompetenz und di-versen Sprachkenntnissen

● Politik: übergeordnetes Strukturprogramm verant-wortlich für Gesundheitsprogramm, Definition der Zuständigkeiten und klare Beauftragung durch zu-ständige Stellen, Kostenübernahme bzw. ersicht-liche Zuständigkeit für Kostenübernahme, Einladesystem von zentraler Stelle für prophylak-tische Untersuchungen (Erinnerung an Zahnarzt, Gynäkologe, Urologe, Impfungen etc.)

● Rechtliche Rahmenbedingungen: Definition für Versorgungsmodelle Unversicherter, wer ist zustän-dig und wer zahlt?

● Unterstützungsstrukturen zwischen Akteuren: bes-sere Vernetzung bestehender Strukturen, Transparenz, Erreichbarkeit; eine zentrale Stelle sollte zuständig sein

Für ältere Menschen ergeben sich folgende Herausforderungen:● Problembereich: Aufklärung, Unwissen, kein

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Grundsätzlich werden in Österreich bei Asylwerbern fol­gende Screening­Maßnahmen durchgeführt:● Anamnese● akute, chronische Erkrankungen, mentale Gesundheit● Schwangerschaft, bestehende Therapie● Impfanamnese● Übertragbare Erkrankungen: Tbc, Diarrhoe;

ein HIV­Screening wird nicht durchgeführt● Medizinische Untersuchung bei Eintritt● Alle fehlenden Impfungen werden angeboten● Unabhängig vom Alter● Dem nationalen Impfkonzept bzw. den Impf­

empfehlungen für Personen in Erstaufnahmezentren folgend

● Es gibt keine Pflichtimpfungen in Österreich!● Tbc­Screening

Zur Situation bei Tbc siehe auch Punkt 3.1. Zwischen Herbst 2013 und Sommer 2015 wurde ein indi­viduelles Stuhl­Screening auf Polio in Österreich einge­führt, folgend einem Polio­Ausbruch in Syrien. Initial wur­den alle Personen aus Syrien gescreent, anschließend be­schränkte sich die Zielgruppe auf Kinder unter fünf Jahren aus Ländern, in denen Polio zirkulierte (Syrien, Pakistan, Afghanistan, Nigeria, Kamerun, Somalia, Äthiopien, Kenia). Zwischen November 2013 und Jänner 2015 wurden bei 182 Personen, die im Median drei Jahre alt waren, mittels PCR Enteroviren identifiziert. Nur bei 14% dieser Personen war eine Impfanamnese vorhanden. 69% stammten aus Syrien und 27% aus Afghanistan. Nur bei 8 dieser 182 Personen konnten Polioviren identifiziert werden. Die isolierten Viren

waren allerdings ausnahmslos Impf viren Typ 1 (n=2), Typ 2 (n=1) und Typ 3 (n=7). Dies spiegelt die Impfaktivität in Syrien selbst und in den Flüchtlingslagern der um­liegenden Länder wider.

Das Risiko einer Übertragung von Polio durch diese Impfviren ist gering. Die Weiter führung dieses

Screening­Programms wurde aufgrund dieser Tatsache und anderer Gründe, wie z.B. Zeit ver zögerung oder Kosten, infrage gestellt (mittlerweile ist es abgeschafft), dafür wur­den die zwei anderen Über wachungs systeme der Kinder­lähmung, nämlich die „Entero virus Surveillance“, und die Über wachung der schlaffen Parese („Acute Flaccid Paralysis Surveillance“) verstärkt.

4. Migration, Gesundheit und soziale ausgrenzung

4.1 Gesundheitliche Versorgung und soziale Absicherung in ÖsterreichUniv.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windisch-Graetz, Institut für Arbeits- und Sozialrecht, Universität Wien

Für EWR­Bürger, die Ansprüche aus der Koordinierungs­VO 883/2004 haben, gilt:● Europäische Krankenversicherungskarte● System der aushelfenden Sachleistungserbringung

(„Interne Verrechnung der Versicherungsträger“)● Patientengruppen● Wohnort in Österreich, versi­

chert im Ausland: erhält das österreichische Leistungs–spektrum

● Bloßer Aufenthalt in Österreich (Touristen): erhält nur medizinisch notwendige Leistungen

Für „Fremde“ gemäß NAG (Niederlassungs­ und Aufenthaltsgesetz) gilt:● Wenn die allgemeinen Voraussetzungen für einen

Aufenthaltstitel gegeben sind● Alle Risiken abdeckender Krankenversicherungsschutz

einer in Österreich leistungspflichtigen Versicherung● Versicherung über Erwerbsarbeit oder private

Kranken versicherung● Aufgrund der Grundversorgungsvereinbarung 2004 in

das System des ASVG einbezogen: Bund bzw. Länder übernehmen Krankenversicherungsbeiträge zur ASVG­Krankenversicherung (E­Card) für „hilfs­ und schutzbedürfte Fremde, z.B.

● Asylwerber● Nicht abschiebbare Personen● Bestimmte Personen bis zur Abschiebung● Asylberechtigte für die ersten vier Monate● Menschen ohne Krankenversicherung haben folgende

Möglichkeiten:● Privates Honorar● Erste Hilfe gemäß §48 Ärztegesetz und §23 KAKuG

(Krankenanstalten­ und Kuranstalten­Gesetz)● Einrichtungen, in denen gratis behandelt wird, z.B.:● Barmherzige Brüder, Gratisklinik der Diakonie● Gratismedikamente gegen Rezept durch das Rote Kreuz

Dr. Peter Kreidl

Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windisch-Graetz

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Workshop 4: Migration, Gesundheit und soziale ausgrenzung

● Welche Herausforderungen ergeben sich für Kinder und Jugendliche?

● Unbegleitete Kinder und jugendliche Migranten sollten im Mittelpunkt stehen; Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern verloren haben (auf der Flucht oder auch schon davor); psychische Traumatisierungen, auch wenn man diese ge-sundheitlichen Probleme nicht sieht; Eltern, die Kinder durchs Leben begleiten, fehlen

● Bei Jugendlichen in Bezug auf Gesundheitskompetenz und Gesundheitsdeterminanten (Gesundheitsrisiken) ansetzen; wenn verschiedene Determinanten gleich behandelt dargestellt werden, gibt es auch keine Stigmatisierung

● Dolmetschen durch Kinder und Jugendliche ist ein großes Problem

● Welche Herausforderungen ergeben sich für Personen im Erwerbsalter?

● Betriebliche Gesundheitsförderung: Sehr schwie-rig, an Menschen mit Migrationshintergrund (ins-besondere Frauen) heranzutreten; Maßnahmen der BGF sind oft nicht auf die familiäre Situation (Teilzeitkräfte) ausgerichtet

● Personen im Erwerbsalter, aber nicht in Beschäftigung. Sind sehr schwer zu erreichen; Isolation, Problem der Nicht-Erwerbstätigkeit

● Segmentierung von Arbeitsbereichen und Arbeitsmärkten: unterschiedliche Gesundheitsrisiken, unterschiedliche Zugänge zu Gesundheitsleistungen

● Welche Herausforderungen ergeben sich für ältere Menschen?

● Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Zuwanderung nach Österreich ist sehr relevant

● Bleibe- bzw. Rückkehrperspektive zentral● Abhängigkeit von familiären Strukturen oft sehr

stark

● Welche Herausforderungen ergeben sich für Migranten?

● Problem der Sprachkenntnisse (Kinder werden häufig als Dolmetscher eingesetzt, für Kinder psychisch belastend, Qualität der Übersetzung mangelhaft); Einsatz von Piktogrammen hilfreich

● Fehlende kulturelle Sensibilität seitens der Angebotsstrukturen

● Zu wenig muttersprachliche Angebote, insbe-sondere im Bereich der Psychotherapie und Psychiatrie

● Unterschiede im Gesundheitsverhalten (z.B. ge-hen Migranten häufiger in Spitalsambulanzen – Sicherheit eines Krankenhauses, sprachliche, kulturelle, infrastrukturelle Barrieren, mangelnde Systemkenntnis)

● Sozialisation in anderen Gesundheitssystemen● Grundsätzlich: Eher eine Frage des sozioökono-

mischen Hintergrunds (v.a. Bildung), nicht des Migrationshintergrunds

● Wichtig: Definition des Merkmals „Migrationshintergrund“ – Gefahr von Festschreibungen

● Welche Herausforderungen ergeben sich für Männer und Frauen?

● V.a. für Frauen aus patriarchal geprägten Strukturen ist es wichtig, einen Rahmen zu schaffen, wo frauenspezifische Anliegen (z.B. Sexualität und Verhütung) besprochen werden können

● Hintergrundwissen über Geschlechterrollen zu gering ausgeprägt

● Was braucht es in der Ausbildung?● In Schulen: Angebote für Eltern zu Informationen

über Leistungen des Gesundheitssystems● In Ausbildung kann zwar Wissen und Kompetenz

vermittelt werden, das reicht aber nicht aus; Wertschätzung, Interesse und Offenheit ist über Ausbildung hinausgehend notwendig

● Reflexion über eigene kulturelle Prägung notwendig, um andere Kulturen verstehen zu können

● Fortbildungen im Bereich interkulturelle Kompetenz bei Psychiatern bzw. Psychotherapeuten werden gewünscht, aber nicht absolviert (mangelndes Angebot)

● „Interkulturelle Kompetenz“ bzw. „Kultursensibilität“ in die Grundausbildung bringen

Fortsetzung siehe nächste Seite

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● Für Migranten: nicht nur Sprachkenntnisse wich-tig, sondern auch Geschichtskenntnisse (um öster reichische Gesellschaft und deren Werte besser verstehen zu können)

● Was braucht es in der Praxis?● Sprachkompetenz/Genderkompetenz von

Akteuren des Gesundheitssystems ausweisen, z.B. in Form von Suchfunktionen auf Homepages, Auflistungen

● Videodolmetsch verstärkt einsetzen● Nicht nur Sprachkompetenz ist wichtig, sondern

auch kulturelle Kompetenz erforderlich (v.a. sei-tens der Ärzte)

● Ressourcen, die es bereits gibt, bündeln● Basisinformationen über Funktionsweise des

Gesundheitssystems vermitteln (z.B. Will kommens-mappe), z.B. mit versicherungsrechtlichen und -relevanten Informationen für Migranten

● Informationen über versicherungsrechtliche Fragen für Ärzte besser zugänglich machen

● Folder, Informationsmaterial mit Piktogrammen verstärkt einsetzen, insbesondere in ländlicheren Gebieten

● Zentral ist aber, soziale Stabilität herzustellen ● Intersektionale Problemlagen bewältigen, die

nicht vorrangig Probleme des Gesundheits-wesens darstellen

● Lotsen (Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt etc.) einsetzen – Migranten sind die Experten für ihre Lebensrealitäten und können zwischen ihrer Community und dem Gesundheitssystem (Systemwissen) vermitteln

● Netzwerk unter Ärzten/innen aufbauen bzw. stärken – (Fach)Ärzte sollten jene Ärzte, die eine bestimmte Sprach- bzw. Kulturkompetenz auf-weisen, weiterempfehlen

● Bessere Dokumentation des „Migrationshintergrunds“ bei Therapien und Beratungen, als Argumentationsgrundlage

● Interkulturelle Öffnung der Gesundheitseinrichtungen fördern: Migranten als Personalressource (v.a. auch qualitative in Bezug auf z.B. Sprachkompetenzen) erkennen

● Was braucht es seitens der Politik?● Zugang zum Arbeitsmarkt und arbeitsmarktpoli-

tische Maßnahmen für Asylwerber

● Verbesserungen bei der Wohnsituation von Asylwerbern bzw. anerkannten Flüchtlingen

● Wahlrecht für Migranten überdenken – Wählerinteresse seitens der Politik

● Aufklärungsarbeit, Vorurteilen medial entgegentreten

● Rahmenbedingungen schaffen, damit „Identifikationskrisen“ vermieden werden können

● Welche Rolle spielen rechtliche Rahmen-bedingungen?

● Sehr komplexes System verschiedenster recht-licher Grundlagen

● Ansätze, ein Recht auf muttersprachliche Gesund-heitsberatung und Behandlung aus verschie-denen Gesetzestexten abzuleiten – bestmögliche Behandlung nur möglich, wenn muttersprachlich

● Menschen mit Behinderung (mit oder ohne Migrationshintergrund) sind nicht explizit im Mindestsicherungsgesetz erfasst – anspruchs-berechtigte Gruppen sollten explizit ausgewiesen sein

● Anti-Diskriminierungs- und Gleichstellungsrichtlinien äußerst fragmentiert

● Unterschiedliche Kompetenzen zwischen Bund und Ländern etc.

● Wissen über Unterstützungsstrukturen bzw. Beratungsstellen bei Rechtsfragen (z.B. Diskriminierung) in Österreich besonders gering

● Koordination der Kompetenzen bzw. Zusammenführung von Gesetzestexten wichtig

● Welche Unterstützungsstrukturen/Kooperationen zwischen Akteuren braucht es?

● Zuständigkeiten sind stark fragmentiert● Gesellschaftliche Verantwortung für Integration

(z.B. Erwerb von Deutschkenntnissen) nicht ein-deutig zugeordnet

● Starker Abstimmungsbedarf ● Sozialarbeiter, Psychotherapeuten, Psychologen

etc. mit muttersprachlicher Kompetenz von Anfang an in der Betreuungskette einsetzen (z.B. Aufnahmezentren), v.a. aber auch bei Allgemeinärzten

● Konzept „Primärversorgung Neu“ umsetzen, ver-schiedene Professionen vernetzen, Schnittstellen verbessern, Patienten-Fokus (Individuum im Zentrum)

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4.2 Gesundheitliche Versorgung und soziale Absicherung im internationalen VergleichMMag. Maria M. Hofmarcher-Holzhacker, HealthSystemIntelligence, und MedUni Wien, Department of Health Economics

Öffentliche Sozialausgaben machen OECD­weit etwa 22% des Bruttoinlandsprodukts aus, wobei Österreich im obe­ren Bereich liegt. Österreich ist im europaweiten Vergleich ein Land mit sehr hohen Gesundheitsausgaben pro Kopf.Gewisse Lücken in der Versorgung sind in Österreich für Personen mit Migrationshintergrund erheblich größer als für Österreicher. Dies betrifft z.B. Impfungen (Tetanus, Diph­therie, Polio, Hepatitis A und B), Screening unter suchungen (Gesunden untersuchung, PSA, Kolo skopie). Andererseits sind Rauchen, Adipositas und chronische Erkrankungen bei Per sonen mit Migrations hinter grund häufiger. Im Vergleich zu anderen Ländern – gemessen mit einem umfangreichen

Indi katoren set – droht die soziale Gerech tig keit in Öster reich abzu­nehmen. Nicht nur Länder wie Schweden, Dänemark oder Groß­britannien schneiden besser ab als Öster reich, sondern auch Estland, Litauen oder Tschechien. Die einkommensbedingte Un­gleichheit im Gesund heits system in Öster reich muss stärker in den Fokus rücken.Dass hier in Österreich Reform­

bedarf besteht, zeigt sich z.B. an einem Kommentar des Rech nungs hof aus dem Februar 2015, in dem es heißt: „Die für die Umsetzung des Rahmen­Gesund heitsziels ,Gesund­heit liche Chancen­Gerechtigkeit‘ gebildete Arbeitsgruppe hatte rund ein Jahr nach Beschluss der Rahmen­Gesund­heitsziele noch immer keine Indikatoren für die Ziel­erreichung festgelegt.“

4.3 Ärzte als Berater in sozialen Fragen?Dr. Irene Holzer, Ärztliche Leiterin Marienambulanz, Graz

Zielgruppe der Marienambulanz sind Menschen, die einen erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem haben, sei es aufgrund von Nicht­Versichertsein, Sprache oder Kultur. Es sind ca. 45% unserer Patienten nicht krankenversichert, 55% haben eine Krankenversicherung. Laut Armutsbericht der Stadt Graz: leben ca. 3.000 Unversicherte in Graz. Das heißt, dass von diesen geschätzten 3.000 unversicherten Men­schen rund ein Viertel (765) in der Marien ambulanz in Betreuung sind.

Zum Thema, ob Ärzte als sozialrechtliche Berater zur Ver­fügung stehen sollen, seien im Folgenden die Frage­stellungen aufgezählt, mit denen die Pati enten in die Be­ratung durch die Sozial arbeiterin kommen. Die Patienten sind fast immer sehr arm, leben in prekären Wohn­ und fi­nanziellen Verhält nissen, der Be­darf an einer sozialrechtlichen Beratung ist also enorm:

● Thema „keine Kranken­versicherung“, manchmal auch zu Mit­ oder Selbst­versicherung

● Unterstützung zur Erlangung der Befreiung von Rezept­gebühren und andere Befreiungen

● Beratung wegen Hauskrankenpflege und Pflegegeld ● Unterstützung bei der Übernahme der Zuzahlung zu

Heil­ und Hilfsmitteln, Zahnersatz ● Beratung zum Umgang mit offenen (Krankenhaus­)

Rechnungen ● Fragen zu Grundversorgung und Aufenthalts­

bescheinigung ● Wohnen und Schwangerschaft bei Nichtversicherten

In einer Zeit des Ärztemangels und einer überbordenden Bürokratie für medizinisches Personal bedarf es viel Zeit und Aufwand, diese komplexen Fragestellungen, die bei Patienten, die einen erschwerten Zugang zum Gesund­heitssystem haben, zu klären. Das ist in erster Linie eine sozialarbeiterische und nicht eine ärztliche Aufgabe. In den Ordinationen und Krankenhäusern sollte jedoch Wissen über Anlaufstellen vorhanden sein, an welche die Patienten verwiesen werden können. So gibt es in nahezu allen österreichischen Großstädten Einrichtungen, in de­nen unversicherte Patienten betreut werden können.

● Graz: Marienambulanz, ● Wien: Ambermed, NeunerHaus, KH der Barmherzigen

Brüder, Louise Bus● Salzburg: Virgilbus● Innsbruck: Medcare● Linz: Vinzenzstüberl ■

MMag. Maria M. Hofmarcher-Holzhacker

Dr. Irene Holzer

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Programm/inhalte

● Grundlagen und Auswirkungen von Sucht bei Migration Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Lehhofer, Ärztlicher Leiter der Drogenberatung des Landes Steiermark, Landesklinikum Sigmund Freud

● Sucht bei MigrantInnen und AsylwerberInnen – Praxisbeispiele der Betreuung Dr. Walter North, medizinischer Leiter Verein Dialog

● Migration als suchtauslösender Faktor? Dr. Robert Muhr, psychotherapeutischer Leiter Grüner Kreis

● Übergewicht und Diabetes – ein steigendes Gesundheitsproblem bei Menschen mit Migrationshintergrund Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, 1. Medizinische Abteilung, KH Rudolfsstiftung, Wien

● Übergewicht und Adipositas bei Kindern mit Migrationshintergrund Anna-Kristin Brettschneider (MSc, MPH) und Dr. Ute Ellert, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert-Koch-Institut, Berlin Dr. Liane Schenk, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitations wissenschaft, Charité – Universitätsmedizin Berlin

● Veränderte Essgewohnheiten und Übergewicht – genderspezifische Unterschiede? Univ.-Prof. Dr. Beate Wimmer-Puchinger, Wr. Frauengesundheitsbeauftragte

● (Re­)Emerging diseases durch Migration Univ.-Prof. Dr. Christoph Hatz, Abteilung Epidemiologie und Prävention übertragbarer Krankheiten, Zentrum für Reisemedizin, Universität Zürich

● Meldepflichtige Infektionskrankheiten bei Personen mit Migrationshintergrund Dr. Daniela Schmid, AGES – Institut für medizinische Mikrobiologie und Hygiene

● STDs bei Personen mit Migrationshintergrund Univ.-Prof. Dr. Michael Binder, Leiter des Ambulatoriums zur Diagnose und Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten, MA15, Wien

3. SymposiumMigration – epidemiologische, soziokulturelle und medizinische aspekte26. Februar 2015, Wien

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IMPRESSUM: Medieninhaber (Verleger) und Herausgeber: Medical Dialogue Kommunikations­ und PublikationsgmbH., Schloß 4, 2542 Kottingbrunn, Tel.: 0699/11616333, Geschäftsführung: Karl Buresch, Redaktion dieser Ausgabe: Dr. Norbert Hasenöhrl. Layout & DTP: Konstantin Riemerschmid. Fotos: Medizinische Universität Wien/Matern/Ursula Wiedermann (1), Inge Prader (1), beigestellt; Mit finanzieller Unterstützung: Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der MedUni Wien.

● Kommentar Riskmanagement im Rahmen der Primär­ und Sekundärprävention Dr. Peter Kreidl, zum Zeitpunkt der Präsentation: Gesundheitsministerium, Abteilung IV, Übertragbare Erkrankungen, Krisenmanagement, Seuchenbekämpfung

● Gesundheitliche Versorgung und soziale Absicherung in Österreich Prof. Michaela Windisch-Graetz, Institut für Arbeits- und Sozialrecht, Universität Wien

● Gesundheitliche Versorgung und soziale Absicherung im internationalen Vergleich MMag. Maria Hofmarcher-Holzhacker, HealthSystemIntelligence

● ÄrztInnen als BeraterInnen in sozialrechtlichen Fragen? Dr. Irene Holzer, ärztliche Leiterin Marienambulanz Graz

Workshops

● Sucht und Migration Moderation: Univ.-Prof. Dr. Gudrun Biffl, Donau-Universität Krems Rapporteurin: Mag. Lydia Rössl, Donau-Universität Krems

● Migration und Übergewicht – Konzepte der Adipositasprävention Moderation: Univ.-Prof. Dr. Beate Wimmer-Puchinger, Wr. Frauengesundheitsbeauftragte Rapporteurin: Dr. Angelika Wagner, Institut für Spezifische Prophylaxe u. Tropenmedizin, MedUni Wien

● Infektionsprävention bei Personen mit Migrationshintergrund – Erreichbarkeit, Annahme, Verbesserung Moderation: Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt, Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin, MedUni Wien Rapporteurin: Priv.-Doz. Dr. Maria Paulke-Korinek, zum Zeitpunkt der Präsentation: Institut für Spezifische Prophylaxe u. Tropenmedizin, MedUni Wien, nunmehr BMG, Abt. III/7

● Migration, Gesundheit und soziale Ausgrenzung Moderation: Mag. Sabine Parrag, Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien Rapporteurin: Mag. Anna Faustmann, Donau-Universität Krems