21
Leseprobe Ostermaier, Albert Wer sehen will Gedichte von Albert Ostermaier zu Photographien von Pietro Donzelli Herausgegeben von Renate Siebenhaar. Mit einem Nachwort von Claudius Seidl © Insel Verlag Insel Bücherei 1310 978-3-458-19310-4 Insel Verlag

Insel Verlag · 2015. 8. 18. · Insel Bücherei 1310 978-3-458-19310-4 Insel Verlag. Wer sehen will Gedichte von Albert Ostermaier Zu Photographien von Pietro Donzelli ... schnitte

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Leseprobe

    Ostermaier, AlbertWer sehen will

    Gedichte von Albert Ostermaier zu Photographien von Pietro Donzelli Herausgegeben von Renate Siebenhaar. Mit einem Nachwort von Claudius Seidl

    © Insel VerlagInsel Bücherei 1310978-3-458-19310-4

    Insel Verlag

  • Wer sehen willGedichte

    von Albert Ostermaier

    Zu Photographien von Pietro Donzelli

    Mit einem Nachwort von Claudius Seidl

    Herausgegeben von Renate Siebenhaar

    Insel Verlag

  • Insel Bücherei Nr. 1310

    © Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008© Copyright der Photographien:

    Renate Siebenhaar, Frankfurt am Main – courtesy siebenhaar art projects, Königstein/Ts. 2006

  • Renate SiebenhaarVorwort

    Stadtansichten und Interieurs, aber vor allem Landschaften mit weiten und scheinbar endlosen Horizonten sind die zentralen Sujets der Fotografien von Pietro Donzelli (1915-1998)Sie erzählen vom Leben der Menschen im Italien der fünfziger Jahre. Neben städtischen Zentren wie Mailand und Neapel ist die Po-Ebene Gegenstand seiner metaphysischen Landschaften. Zu dieser Region und ihren Menschen entwickelte Pietro Don-zelli im Laufe seines Lebens eine innere Verbundenheit. Viele sei-ner Bilder sind eine Hommage an das spröde und harte Land der Po-Ebene, die für ihn zum Spiegelbild seiner eigenen Innenwelt wurde.Das »Land ohne Schatten«, wie er später seine Arbeit über diese Gegend bezeichnete, ist das umfangreichste Projekt seines gesam-ten photographischen Werks und macht einen großen Teil der von Albert Ostermaier ausgewählten Bilder aus.Viele der Photographien von Pietro Donzelli sind geprägt von einer Atmosphäre der Einsamkeit und Melancholie. Oftmals sieht man Menschen von der Seite oder in Rückenansicht, den Blick in eine weite Ferne gerichtet. Oder sie erscheinen als Abbild im Spiegel, als schemenhafte Kontur im Nebel oder verschwommen durch eine Glasscheibe.Und es fällt auf, daß Donzellis Blick oft von oben, manchmal auch aus großer Entfernung, auf Menschen gerichtet ist.Wie beiläufig deren Präsenz zunächst erscheint, so spürt der Be-trachter doch schnell, daß Menschen mit ihren Sehnsüchten und Träumen Dreh- und Angelpunkt des Bildes sind.In seinen Photographien bezeugt Pietro Donzelli die Existenz und Lebensweise der Menschen einer vergangenen Epoche – zugleich weisen sie über die Dokumentation des Lebens der Menschen in dieser Epoche hinaus. Anders formuliert: Die Zeit

    5

  • 6

    scheint aufgehoben in diesen Bildern. Pietro Donzellis Photo-graphien bewahren ihre Faszination außerhalb von Zeit und Ort und haben Albert Ostermaier zu dem nachfolgenden Gedicht-zyklus inspiriert.24 Gedichte werden 24 Fotografien gegenübergestellt.Wer sehen will, ist eingeladen, sich auf eine Reise in Wort und Bild, in Gegenwart und Vergangenheit zu begeben.

  • Wer sehen will

  • 9

    spiegelverkehrt

    er sitzt im fenster schwarzes lichtin den adern die pulsadern wieknoten der erinnerung über seinenbleichen handflächen die vergessen wollen was sie berührten letzte nachtwas der spiegel sah über dem bettzwischen den gusseisernen rankener hätte sie fesseln wollen doch sieging der spiegel hätte zerspringensollen doch er empfing das erstelicht der sonne am morgen vondem er erwachte getroffen alleine den arm ausgestreckt ins leere in die auslaufenden wellen des lakenskein zettel kein zeichen keine spurnur ihr geruch in den kissen diespiegelscherben seiner herzwändesein gesicht wie abgeschnitten immerfehlten ihre lippen und der heiterekörper des himmels streckt sichüber die dächer die katzen springenaus den ecken und tief unter ihmstreift sich im hauseingang ein liebespaar unsichtbar den blickender anderen fiele er bliebe der spiegel leer wie das bett sein bild würde ihm nicht fehlen wie sie ihm fehlte hingesie jetzt an seinem hals er würdein die tiefe fallen ein erloschenesstreichholz das in ihrer handeine nacht lang brannte

  • 10

  • 11

    minotaurus

    er stiert auf den boden den tanzendenstaub der mittag glüht seine hitzedurch die schlitze der jalousien und zugezogenen blumenstoffe er kann denschweren atem sehen das hereinfallende licht das immer einen weg findet seinelabyrinthischen gänge um ihn zu ziehen um sein herz das die gebrochenenflügel sammelt die schmetterlinge diees auf seine hörner nahm zu fliegenfür einen tag die taubheit der beinezu vergessen das ungeheuer das inseinem körper schlief gegen seine brustdrückte ohne dass er es spürte er fühltnur das gewicht seine unendlichkeitund den wunsch wenn sie unter seinemfenster schreien ein schatten zu seinder an ihren bewegungen hing und derchoreographie der sonne folgte ihrenstechenden strahlen in seinen augen jetzt wo er zum schlagenden rahmen rollte den schmerz im nacken das hemd offendas man den roten faden sah der dortlief von seinem herz zu den füssenund durchschnitten war von einernarbe einer saite die zu schwingenbegann für einen augenblick wenner den kopf in den vorhang tauchtein die klinge des windes und den gesangder gräser deren erinnerung überseinen rücken lief bis zum horizont

  • 12

    suchbild

    die menschen wie druckfehlerameisen mit falschen buchstabenall ihre wege ergeben keinen sinn von hier oben auf dem dach nichts alsirrwege umkehrungen abkürzungenvon einem herz zum anderen blickeüber die schulter zurück ins augedes entgegenkommenden stummeabsprachen missverständnisse wolken ziehen vorüber das glückmäntel über der schulter denunterarmen die hitze die kälte keiner erkennt die verabredeten zeichen verzeihen sie bitte ichausgefaltete zeitungen die zuboden fallen und von kindernzu papierflugzeugen gefaltetwerden handtaschen geöffnetgeschlossen lippenstifte kippenein taschenspiegel das ist er nein er geht vorbei müde beine entzündete augen katalogisiertehoffnungen das versprochene glückin halle acht den hut ziehen dietür aufhalten springen ich springejetzt warum nicht springen diearme wie schwingen in deinearme fallen der platz ist leerdie stille vergisst die geräuscheder menschen die herzschlägeund seufzer die flüche und

  • 13

  • 14

    beschwörungen das flüsterndie redeflüsse und aufgestautewut das sagen und wiedersagenich habe dich nicht kommengehört ich sah dich nicht gehenwie ich auf das dach kam ichweiss es nicht mehr ich dachteich fände dich und nicht meineeinsamkeit dort fliegt mein blattder wind liest es

  • 15

    il conformista

    wenn ich in den spiegel sehekomme ich mir anders vorals die anderen ich gehein den schatten wer istglücklicher als ich meinschatten eilt mir voraus ersucht in der schwärze wasich verbergen will dass ichanders bin er färbt mein hemd schwarz und verrätmich nicht ich erkennemeine umrisse auf denbrandmauern auf den torender fabriken in den gassenerkenne ich sie nicht unterden fahnen gleicht meingesicht im grellen tageslichtden gesichtern neben mir ich nehme den schattender realität für die realitätim schatten wachsen meineängste vor der helligkeitich habe geträumt ich seierblindet und fühlte michsicher während alle micherkannten bis ich einsah sie sehen mich du fehlst mir die kühle des metalls in meiner hand der lauf andeinen glühenden schläfen ich sitze in einem wagen

  • 16

  • 17

    und habe mich eingeschlossen in die dunkelheit den kragendes mantels hochgeschlagen den hut tief in der stirnder schnee vor dem fenstermacht mich blind für deineroten weidwunden augen dasreh wittert den jäger und läuftin den wald ein baum gleichtdem anderen ich liebe die wälder die zukunft gehörtden ununterscheidbaren denkugeln bist du gleichgültig siehätten auch mich treffen könnenhätten sie mich getroffen wäreich über mich lachend verblutetdie zeit des nachdenkens istvorbei die zeit des handelnshat sie ausgelöscht wie dieschatten mich auslöschen werden nur ein paar schritteweiter und ich habe aufgehörtein anderer zu sein

  • 18

    via santo spirito

    gefangen tief in der kehleein fels von schreien er hatte ihnaus seinem herz schreien wollendas herz lag auf seiner zungeblutend zitterte doch der stein blieb in seinem hals stecken als müsste er an ihm verrecken wenn er keine luft mehr bekam zu atmen keinen hauch um die wunden worte über die lippen zu bringen über die mauer derstummheit er blieb stumm schluckte aber der stein bewegtesich nicht fiel nicht zurück erwuchs eine wand grösser als er unüberwindbar wie seine angst er lief zwischen steinen geröll den kopf gesenkt die scherenschnitte der schatten über ihm die sonne war nur da seineschrecken auszuleuchten dersommer hat alles verbranntaber der mohn wird sichwieder mit blut füllen unddie zärtlichkeit des grases unterseinen nackten sohlen wirder nie vergessen in diesennächten wenn er barfuss imverschwindenden licht steht seine schuhe mit glühendenkieseln füllt sollen sie seine

  • 19

  • 20

    schritte machen solange der mond wie eine abrisskugel über ihm schwankt und nichtzu halten ist wie der leuchtkäferin seiner faust in seiner tascheer wird ihn durch die dunkelheit begleiten bis sie ihm die augenöffnet