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International Yearbook for Hermeneutics2 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 7. 3 Iser, Der Akt des Lesens, S. 38. 4 Wolfgang Iser,

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  • International Yearbook for Hermeneutics

    12 · 2013

  • International Yearbook for Hermeneutics

    Internationales Jahrbuch für Hermeneutik

    edited by

    Günter Figal

    in cooperation with

    Damir Barbarić, Béla Bacsó, Gottfried Boehm, Luca Crescenzi, Ingolf Dalferth, Nicholas Davey, Donatella Di Cesare, Jean Grondin, Pavel Kouba,

    Joachim Lege, Hideki Mine, Hans Ruin, John Sallis, Dennis Schmidt

    12 · 2013

    Focus: ReadingSchwerpunkt: Lesen

    Mohr Siebeck

  • Editorial team/Redaktion:

    Dr. David EspinetTobias Keiling, Ph.D.Jerome Veith, Ph.D.Albert-Ludwigs-Universität FreiburgPhilosophisches SeminarPlatz der Universität 379085 FreiburgGermany

    The Yearbook calls for contributions on topics in Philosophical Hermeneutics and bor-dering disciplines. Please send manuscripts to: [email protected]. All articles, except when invited, are subject to blind review.

    We assume that manuscripts are unpublished and have not been submitted for publica-tion elsewhere.

    Citations are to be made according to the style in the present volume. Detailed infor-mation on formatting manuscripts can be downloaded from: http://www.philosophie.uni-freiburg.de/ijh.

    Das Jahrbuch bittet um Zusendungen zu Themen der Philosophischen Hermeneutik und angrenzender Disziplinen. Bitte senden Sie Manuskripte an: [email protected]. Alle Artikel, die nicht auf Einladung des Heraugebers verfasst worden sind, werden in einem blind review-Verfahren begutachtet.

    Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei eingereichten Manuskripten um unver-öffentlichte Originalbeiträge handelt, die nicht an anderer Stelle zur Veröffentlichung vorgelegt worden sind.

    Literaturhinweise bitte wie im vorliegenden Band. Ausführliche Hinweise für Ma-nuskripte können unter http://www.philosophie.uni-freiburg.de/ijh heruntergeladen werden.

    ISBN 978-3-16-152711-1 ISSN 2196-534X

    Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbiblio-graphie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de.

    © 2013 by Mohr Siebeck Tübingen, Germany. www.mohr.de

    This book may not be reproduced, in whole or in part, in any form (beyond that permit-ted by copyright law) without the publisher’s written permission. This applies particularly to reproductions, translations, microfilms and storage and processing in electronic systems.

    The book was typeset by Martin Fischer in Tübingen using Bembo Antiqua and OdysseaU, printed by Laupp & Göbel in Nehren on non-aging paper and bound by Buchbinderei Nädele in Nehren.

    Printed in Germany.

    978-3-16-152e-ISBN PDF 806-4

  • Inhaltsverzeichnis

    Schwerpunkt: Lesen

    Heike Gfrereis (Deutsches Literaturarchiv Marbach)Nicht-Lesen. Die Entzauberung einer alten Vorstellung . . . . . . . . . . 1

    Bernhard Zimmermann (Universität Freiburg)Ovid liest Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

    John Sallis (Boston College)Doubly Slow Reading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

    Luca Crescenzi (Università di Pisa)Sich wandelnde Wahrheit und selbstkritisches Lesen. Nietzsche-Variationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

    Ben Vedder (Radboud Universiteit Nijmegen)The Historicity of Reading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

    Dennis J. Schmidt (Pennsylvania State University)The Garden of Letters. Reading Plato’s Phaedrus on Reading . . . . . . . 61

    Daniela Vallega-Neu (University of Oregon)At the Limit of Word and Thought. Reading Heidegger’s Das Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

    Gert-Jan van der Heiden (Radboud Universiteit Nijmegen)Reading Bartleby, Reading Ion. On a Difference between Agamben and Nancy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

    Nicholas Davey (University of Dundee)Critical Excess and the Reasonableness of Interpretation . . . . . . . . . 109

  • VI Inhaltsverzeichnis

    David Espinet (Universität Freiburg)Read thyself! Hobbes, Kant und Husserl über die Grenzen der Selbsterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

    Beiträge

    Andrea Kern (Universität Leipzig)Das Kunstwerk zwischen Autonomieanspruch und Wahrheit . . . . . . 147

    Alexander Schnell (Universität Paris-Sorbonne)Kontingenz und Entzug. Zum Transzendentalismus Heideggers . . . . 165

    Enrique V. Muñoz Pérez (Universidad Católica del Maule)Heidegger und Scheler. Ein vergessener Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . 182

    Csaba Olay (Eötvös Universität Budapest)Die Überlieferung der Gegenwart und die Gegenwart der Überlieferung. Heidegger und Gadamer über Tradition . . . . . . . 196

    Eberhard Geisler (Universität Mainz)Hölderlin und die Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

    Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

  • 1

    Schwerpunkt: Lesen

    Nicht-Lesen

    Die Entzauberung einer alten Vorstellung

    von

    Heike Gfrereis (Deutsches Literaturarchiv Marbach)

    Die Erfüllung der Literatur (auch aller anderen Texte) scheint darin zu lie-gen, gelesen zu werden. „Die einzige Bedingung, unter der Literatur steht“, so Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, „ist ihre sprachliche Überlieferung und ihre Einlösung durch die Lektüre.“1 In diesem idealen Reich der Literatur ist Lesen existentiell, teleologisch und absolut. Literatur gibt es, damit und weil gelesen wird, und gelesen wird, weil und damit es Literatur gibt. Das eine geht im anderen auf und ist um des anderen willen da: „Wirkung ist daher weder ausschließlich im Text noch ausschließlich im Leserverhalten zu fassen; der Text ist ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird.“2 „Im Gelesenwerden geschieht die für jedes literarische Werk zentrale Interaktion zwischen seiner Struktur und seinem Empfänger.“3 Der Sinn der Literatur liegt ganz im Leser selbst, in seiner „Einbildungskraft“.4 Nicht zu lesen oder nur wenig oder unaufmerksam, gilt dann als Verweigerung, wenn nicht als Sakrileg: Nicht-Lesen scheint der Literatur ihre Grundlage und ihr Ziel zu entziehen.

    In den Dichterbibliotheken des Deutschen Literaturarchivs Marbach zeugen die Bücher beim genauen Hinsehen jedoch mehr vom Nicht-Lesen

    1 Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke (im Folgenden: GW) Band 1, fünfte durchgesehene und erweiterte Auflage, Tübingen 1986, S. 165.

    2 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 7.

    3 Iser, Der Akt des Lesens, S. 38. 4 Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungs-

    bedingung literarischer Prosa, in: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228–252, hier S. 248: „Es charakterisiert diesen [den li-terarischen Text], daß er in der Regel seine Intention nicht ausformuliert. Das wichtigste seiner Elemente also bleibt ungesagt. Wenn dies so ist, wo hat dann die Intention des Textes ihren Ort? Nun, in der Einbildungskraft des Lesers.“

  • 2 Heike Gfrereis

    als vom Lesen: unaufgeschnittene Bögen, makellos unbenutzte Bände, mittendrin vergessene Buchzeichen, eingelegte Blumen-, Blatt- und Bil-dersammlungen; manchmal wurden Seiten einfach auch überklebt oder ganze Kapitel ausgerissen; ihre Handhabung, Lagerung, die Umzüge und Umnutzungen haben mehr Spuren hinterlassen als die Lektüre.5 Eduard Mörike hat sein lateinisches Lexikon zum Blumenschemel zweckentfrem-det, Gadamer selbst sein Exemplar von Kants Kritik der Urteilskraft zerpflückt und dafür mit anderen Dingen angereichert wie einem Kalender und einer Taxiquittung. Lesen selbst – im herkömmlichen Sinne von: einen schrift-lichen Text verstehen, Buchstaben entziffern und interpretieren – scheint spurlos zu geschehen, sichtbar nur dann, wenn es ins Noch-Nicht oder Nicht-Mehr-Lesen, ins buchstäbliche Begreifen, Selber-Schreiben oder überkonzentrierte Abschweifen übergeht. Eselsohren, Büroklammern, Un-terstreichungen, Kommentare, Einkreisungen, Nummerierungen, Linien, Pfeile, Verknüpfungen und Vernetzungen, Anheftungen, Einmalungen und Überschreibungen sind die Zeichen der intensiven Lektüren, die an die Grenzen des Lesens führen. Sie wuchern immer nur stellenweise, manchmal beschränkt auf einen einzigen Satz oder Vers, der markiert wird, um ihn aus seinem Kontext herauszulösen und aus dem Buch in die eigene Welt hinauszunehmen; so wie diese den Büchern einverleibt wird, indem man sie wie W. G. Sebald und Paul Celan als Sammelstätte für Wörter und Fund-stücke nutzt.

    Das Nicht-Lesen, das möchte ich im Folgenden näher ausführen, ist ein auch hermeneutisch notwendiger Teil des Lesens. Lesen selbst bedeutet als Kulturtechnik sehr viel mehr als einen Text zu lesen und zu verstehen: Lesen ist ein ästhetischer Zustand.

    1. Schreiben als Lesen

    In den Büchern aus Martin Heideggers Bibliothek tauchen immer wieder intensive, oft mehrfarbige, aber auf wenige Seiten konzentrierte Einlas-sungen auf, die manchmal sogar an Umfang den zu lesenden Text über-schreiten. Als habe er immer nur ein bisschen gelesen, ein Stückwerk, nie

    5 Beispiele für diese Marbacher Lesespuren sind u. a. veröffentlicht in: Deutsches Li-teraturarchiv Marbach (Hrsg.), Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne, Marbach 2006; Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.), Ordnung. Eine unendliche Geschichte, Marbach 2007; Ulrich von Bülow/Heike Gfrereis/Ellen Stritt-matter (Hrsg.), Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt, Marbach 2008; Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.), Schicksal. Sieben mal sieben unhintergehbare Dinge, Marbach 2011.

  • 3Nicht-Lesen

    das Ganze – oder zumindest in einem Teil schon alles, als unterzöge er es der extremen strukturalistischen Lektüre, die Roland Barthes an Balzac versucht,6 oder erspähe das unendliche Buch, das Jorge Luis Borges immer wieder beschwört und das wir nur nicht sehen, weil wir vergessen: „streng-genommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestünde. (Cavalieri sagte zu Anfang des 17. Jahr-hunderts, daß jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Flächen ist.) Die Handhabung dieses seidendünnen Vademecums wäre nicht leicht; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleich-geartete teilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.“7

    Gerade der Versuch, die Struktur des Textes zu erkennen, seine Ur-sprungsformel zu entschlüsseln und somit alles zu sehen und ihn dennoch punktgenau zu lesen, entzieht den Text der Lektüre und führt dazu, dass wir ihn nicht mehr lesen. Die Literatur entgleitet uns, je mehr wir sie begreifen wollen: „Denn das Lesen wird erst dort zum Vergnügen, wo unsere Pro-duktivität ins Spiel kommt, und das heißt, wo Texte eine Chance bieten, unsere Vermögen zu betätigen.“8 „[D]er Vorgang des Schreibens schließt als dialektisches Korrelativ den Vorgang des Lesens ein, und diese beiden zusammenhängenden Akte verlangen zwei verschieden tätige Menschen. Die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers läßt das konkrete und imaginäre Objekt erstehen, das das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch den anderen.“9 Bei Hans-Georg Gadamer heißt es fünfzehn Jahre vor Wolfgang Iser, acht Jahre vor Roland Barthes’ La mort de l‘auteur und zwei Jahre vor Umberto Ecos Opera aperta: „Wie wir zeigen konnten, daß das Sein des Kunstwerks Spiel ist, welches sich erst mit der Aufnahme durch den Zuschauer vollendet, so gilt von Texten überhaupt, daß erst im Verstehen die Rückverwandlung toter Sinnspur in lebendigen Sinn ge-schieht.“10 „Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.“11

    Hermeneutisch problematisch ist, dass sich die Texte einer durchgängigen Lektüre entziehen, dass sie nicht auf einen Blick sichtbar und als Ganzes

    6 Roland Barthes, S/Z, Frankfurt 1987, S. 7: „Mit Hilfe der Askese soll es man-chen Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen.“

    7 Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, in: Ders., Erzählungen. 1933–1944, Gesammelte Werke Bd. 3/I, München 1981, S. 145–154, hier S. 154.

    8 Iser, Der Akt des Lesens, S. 176. 9 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur? Ein Essay, übers. von Hans Georg Brenner,

    Hamburg 1958, S. 35, zitiert bei Iser, Der Akt des Lesens, S. 176–177. 10 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 169.11 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 301.

  • 4 Heike Gfrereis

    unmittelbar verständlich sind, sondern erst in der Abwesenheit, im Nicht-Mehr- oder Noch-Nicht-Lesen als solches erscheinen und damit das Nicht-Lesen – das Produzieren von Texten, das Schreiben – unumgänglich Teil des Lesens ist: „Gewiß zeigt die Literatur und ihre Aufnahme in der Lektüre ein Höchstmaß an Entbundenheit und Beweglichkeit. Das bezeugt schon die Tatsache, daß man ein Buch nicht in einem Zuge zu lesen braucht, so daß das Daranbleiben eine eigene Aufgabe des Wiederaufnehmens ist, die im Anhören oder Anschauen kein Analogon hat.“12 Man muss etwas verstehen, was seine Referenz nur im Leser selbst hat und dort selten als festes und gebundenes Gegenüber gegenwärtig ist. Einen Text zu lesen, in der Hand zu halten, die Buchstaben mit den Augen zu verfolgen, Wörter zu for-mulieren, Sätze zu verstehen, ist die Ausnahme unsrer Literaturerfahrung, nicht der Regelfall. Wolfgang Isers Theorie des Lesens ist auch ein (sicher nicht bewusster) Versuch, dieses ‚Wiederaufnehmen‘ und das vorangehende Nicht-Lesen als notwendigen hermeneutischen Bestandteil des Lesens ein-zuführen und zugleich eine Technik zu entwickeln, die das Nicht-Lesen kontrolliert: „Wenn wir den Text pauschal als Ansammlung von Zeichen verstehen, so geschieht im Lesen ein ständiges Gruppieren solcher Zeichen, worin sich eine elementare Aktivität des Strukturierungsprozesses der Lek-türe zum Ausdruck bringt. Gruppierungen verkörpern den Versuch, das zusammen zu sehen, was man im jeweiligen Lektüreausschnitt zu übersehen vermag, so daß das Lesen als ein Vorgang der Konsistenzbildung verläuft.“13 Isers idealer Leser konstituiert den Text permanent neu, er blättert hin und her, liest auf der Stelle und kreuz und quer, aber nicht streng sukzessiv. Er verlässt den Text, um an einer anderen Stelle zu ihm zurückzukommen. Zusammensehen, „was man im jeweiligen Lektüreabschnitt zu übersehen vermag“, das heißt auch: alles andere nicht sehen, das Lesen abbremsen und beschleunigen, vergessen und vorausblättern. Der ideale Leser betreibt ein potenziertes Lesen, ein Lesen hoch drei, eine legitime, weil heuristisch motivierte Methode der Lektürevermeidung. „Diese Intellektuellen lesen ja nie ein Buch von vorne bis hinten, das machen eben nur Kinder wie wir, wie H. und ich“, steht 1975 in der Anthologie Erste Lese-Erlebnisse.14 Wer schon besser lesen kann, so könnte man sagen, schreibt selber.

    12 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 166.13 Wolfgang Iser, Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Rainer

    Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 253–276, hier S. 264.

    14 Gertrud Leutenegger, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frank-furt am Main 1972, S. 145–154, hier S. 145.

  • 5Nicht-Lesen

    2. Lesen als ästhetischer Zustand

    Lesen heißt viel mehr als Lesen, bedeutet immer auch: Umgang mit dem Buch, Nicht-Verstehen und Herumblättern, Überblättern, Hängenbleiben, Abbrechen und Aussortieren, Langeweile, Übermüdung, nur noch Buch-staben sehen, Staub und Fliegen fortwischen, Weglegen und Wieder-herholen, Über-einem-Buch-Einschlafen und Wieder-Aufwachen, ein „Lebensstil“,15 in dem das Buch Gegenüber, Begleiter, manchmal Freund und manchmal Feind und unumgänglicher Teil der Welt ist. Je kleiner und zahlreicher die Bücher werden, je schneller und unkörperlicher das Lesen, was um 1800 der Fall ist,16 desto mehr nehmen die Ablenkungen vom Lesen zu, wobei auch das laute Lesen diese zulässt und sogar noch provoziert: Wer ein Gedicht auf den Takt und Reim hin vorliest, versteht zunächst selten, was er liest. Erinnerungen an das Lesen – und nicht nur die eindruckvollsten darunter (diejenigen von Jean-Paul Sartre in Les mots) – erzählen immer auch vom Nicht-Lesen, vom Nicht-Lesen-Dürfen, -Wollen oder -Können. Lesen ist ein Übergangzustand, keine Tätigkeit. Es ist ein Wahrnehmen von Schwellen, ein immer wieder Ins-Lesen-Kommen und Aus-dem-Lesen-Treten. Man muss nur in den Ersten Lese-Erlebnissen blättern: „Bücher, die man immer wieder las, weil man sie vergaß wie einen Traum.“17 – „Ich war als Kind viel krank, und ich lag lange im Bett“.18 – „Ich zerriß den Bind-faden und blies den Staub von den Büchern. Auf jedem der kartonierten Bände war dasselbe Deckelbild“.19 – „Der geborene Leser, für den ich mich halte, hatte das Glück, schon bevor er lesen lernte und die Kraft erwarb, nie ganz verloren zu sein, Bücher geschenkt oder geliehen zu bekommen, sie in der Hand zu wiegen, sie rundherum zu stapeln, eine Burg nicht aus Sand, und eine literarische Welt, das unermeßliche Reich der Gedanken, der Phantasie und der energischen Gefühle neben oder über der Erde der ver-nünftigen Leute zu ahnen.“20 – „Das erste Lese-Erlebnis ist das hundertste Buch, oder das zweihundertunderste. Jeweils bleibt es sperrig stecken in der

    15 Hannelore Schlaffer, Goethe und ein Ende – Lektüre und Lebensstil, Süd-deutsche Zeitung, 10. Mai 2012.

    16 Vgl. Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987.

    17 Ernst Bloch, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 17–18, hier S. 17.

    18 Anna Seghers, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 19–22, hier S. 19.

    19 Peter Huchel, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 25–33, hier S. 26.

    20 Wolfgang Koeppen, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 34–42, hier S. 34.

  • 6 Heike Gfrereis

    Erinnerung; manchmal nur wegen der befremdlichen Umstände, mit denen es verlorenging.“21 – „Wie es sich für ein Erlebnis gehört, sind auch jetzt noch alle Details gegenwärtig: ein sehr klarer Tag, indian summer, mit dem dicken Buch ging ich am Sportfeld vorbei, auf dem die Football-Mann-schaft trainierte, dann ein Pfad in einem Waldstreifen am Rand des Campus, eine Wiese, ein Baum mitten auf dieser Wiese, unter diesen Baum setzte ich mich, blätterte in den rund 1600 Dünndruckseiten herum, las das erste Kapitel mit der Überschrift ‚Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervor-geht‘ – schon hakte sich etwas fest.“22 – „[I]ch war plötzlich erstaunt, wie tief ich in die Geschichte eingedrungen war. Es war ein angenehmes Gefühl der Schwere, ein leichter Druck im Kopf, eine Müdigkeit, auf die ich stolz war, und dann wieder die Anstrengung und der Zwang weiterzulesen, um das körperlose Gefühl beim Tagträumen wiederzugewinnen: Das Sich-selbstverlieren, eine andere Identität anzunehmen, WO ANDERS ZU SEIN, ohne dort zu sein“.23 – „Mein größtes Lese-Erlebnis war ursprüng-lich das Nicht-Lesen. In meiner Kindheit und frühen Jugend verfügte ich nicht über Bücher und Sprache und Dichtung.“24 „[J]etzt denke ich oft, die Augen fallen mir aus und sind zu klein und zu schwach“.25 – „Nimmt doch alles Gelesene in den frühen Jahren als Literatur nur einen schmalen, unscheinbaren Platz ein. Hingegen die Umstände, die Nachwirkungen sind das Erregende, das sich im Gedächtnis Ausbreitende.“26 Aus einer anderen Anthologie, Mein erstes Buch: „Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur“.27 – „Wenig nur habe ich genau gelesen, bestimmte Stellen jedoch allzu eingehend und den Rest gerade so aus den Augenwinkeln … Ich blättere, überfliege; selten einmal lasse ich mich nieder, aber wenn, dann gründlich. […] Es genügt mir oft schon, in einem Buch zu blättern, damit ich dem Reiz nachgebe, mir zu denken, was

    21 Uwe Johnson, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 107–110, hier S. 107.

    22 Dieter Kühn, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 111–118, hier S. 112.

    23 Gerhard Rothe, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 119–121, hier S. 119.

    24 Karin Struck, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am Main 1972, S. 133–144, hier S. 133.

    25 Struck, in: Erste Lese Erlebnisse, S. 134.26 Leutenegger in: Erste Lese-Erlebnisse, S. 145.27 Ossip Mandelstam, Der Bücherschrank, in: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.), Mein

    erstes Buch. Autoren erzählen vom Lesen, Frankfurt am Main 2002, S. 13–16, hier S. 13.

  • 7Nicht-Lesen

    darin stehen mag.“28 – „Oft nahm ich das Buch mit heim und hielt es noch in der Hand, wenn ich einschlief “.29

    Lesen, das ist auch und nicht selten: mit dem Buch einschlafen. In vielen Religionen ist Lesen ein ritueller Akt, der sehr viel mehr ist als nur Entzif-fern, was da steht. Die Bibel, der Talmud oder der Koran entfalten – wie Reliquien und Monstranzen, die nur an Festtagen gezeigt werden – ihre Macht auch da, wo sie nicht gelesen werden. Ihre Anschauung und selbst ihre durch ihren Verschluss verstärkte Gegenwärtigkeit genügen, um an ihnen teilzuhaben, ohne in ihnen zu lesen. Der gute Rat, es genüge, ein Buch unter das Kopfkissen zu legen, um zu wissen, was darin stehe, bewahrt diese Vorstellung noch. „Stimmungen des Lesens“, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt – dieses Als-ob-man-von-innen-berührt-werde –,30 sind nicht an die Lektüre eines konkreten Textes gebunden, sondern an die Umgebung des Buchs und der Literatur. Lesen und Vorlesen sind nicht die einzigen kulturellen Praktiken, in denen sich die Literatur, die Welt der Schrift, der Geschichten und der Ideen erfüllt. Der Leser Borges entdeckt das unendliche Buch, das alle anderen enthält, durch Abschweifen, durch die Erinnerung an Lektüren, durch ein Leben mit Büchern, das sich nicht auf das Lesen begrenzt.31 Eine der schönsten Liebesgeschichten des Mittel-alters, jene von Paolo und Francesca, beginnt in Dantes Divina Commedia mit dem Lesen und endet damit, dass die Liebenden das Lesen vergessen und selbst Literatur werden:

    Wir lasen einst zur Kurzweil, wie die Minne Den Lanzelot bestrickt in ihren Banden; Wir waren einsam, sonder Arg im Sinne.

    Bei diesem Lesen oft einander fanden Die Augen sich, entfärbten sich die Wangen; Doch eines wars, wo wir nicht widerstanden:

    Die Stelle, wo dem liebenden Verlangen Ersehnten Kusses lächelnd ward Gewähr. Da küßt’, an dem ich ewig werde hangen,

    28 Paul Valéry, Fragereiz, in: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.), Mein erstes Buch. Autoren erzählen vom Lesen, Frankfurt am Main 1972, S. 129–130, hier S. 129.

    29 Ilse Aichinger, Der Engländer im Wiener Klosterinternat, in: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.), Mein erstes Buch. Autoren erzählen vom Lesen, Frankfurt am Main 1972, S. 135–137, hier S. 137.

    30 Hans Ulrich Gumbrecht zitiert Tony Morrison: „touched like from inside“ (Hans Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Li-teratur, München 2011, S. 3.).

    31 Vgl. Heinz Schlaffer, Borges, Frankfurt am Main 1993, S. 7–13.

  • 8 Heike Gfrereis

    Da küßte bebend meinen Mund auch Er. Verführer war das Buch und ders verfaßte – An jenem Tage lasen wir nicht mehr.32

    3. Sich lesen

    Man muss wissen, was Lesen ist und was ein Buch, Erinnerungen haben an Namen und Geschichten, Zustände, Stimmungen und Atmosphären des Lesens, aber man muss nicht lesen, um der Literatur und den Büchern zu sich selbst zu verhelfen. Dazu gibt es auch andere Wege. Pierre Bayard hat das in Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat zugespitzt und die Arten des Nichtlesens rubriziert: „Bücher, die man nicht kennt“33 – „Bücher, die man quergelesen hat“34 – „Bücher, die man vom Hörensagen kennt“35 – „Bücher, die man vergessen hat“36. Die letzte von ihm im Fall der Nichtlektüre „empfohlene Haltung“37 ist: „Von sich sprechen in dem man mit Oscar Wilde zur Schlussfolgerung gelangt, dass die angemessene Lesedauer eines Buches zehn Minuten beträgt, da man sonst vergessen könne, dass die Be-gegnung mit einem Text hauptsächlich eine Anregung ist, seine Autobiografie zu schreiben“.38

    Damit schließt sich der Kreis zum Lesen, wie es sich in den Marbacher Büchern und den Erzählungen vom Lesen findet und wie er auch ohne Lesen vorkommen kann, als Erscheinung einer ästhetischen Gestimmtheit oder eines Denkprozesses: Lesen ist ein Zustand zwischen Sich-Vergessen und Sich-Finden. Heideggers intensive, nicht extensive Lektürespuren mar-kieren die Arbeit an der Grenze, sie rücken den primären Text weg vom Leser, legen Schichten (oder mit Borges: Blätter) dazwischen, sie positionie-ren aber auch den Leser im Text, helfen ihm, ihn für sich zu verstehen. Die Energie des Lesers ist immer auch auf sich selbst und seine Beziehung zur Welt gerichtet, ganz in der etymologischen Bedeutung von legere: sammeln, auswählen, lesen und der Urverwandtschaft von read: erraten. Wer liest, gibt der Schrift seine Stimme, den Wörtern seine Ohren und den Sätzen seine Augen. Er kommt ins Denken und Schreiben, liest dann aber auch nicht

    32 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. von Karl Bartsch, Wiesbaden 2010, S. 66.

    33 Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, übers. von Liz Künzli, München 2007, S. 21.

    34 Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 33.35 Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 52.36 Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 69.37 Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 141.38 Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 199.

  • 9Nicht-Lesen

    mehr nur den Text. Der ‚Sinn‘ in Gadamers Satz „Lesendes Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn“39 liegt im Leser selbst. Lesen ist Sich-Selbst-Finden: „Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung. Ihre Überwindung, das Lesen des Textes, ist also die höchste Aufgabe des Verstehens.“40 Martin Walser greift bei seinen Lese-Erinnerungen auf Marcel Proust zurück: „Bei Proust las ich später, ein Leser sei, wenn er liest, ‚ein Leser seiner selbst‘. Das Werk des Schriftstellers sei ‚dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.‘ […] Manchmal wird dann aus einem Gedicht eine Lebens- und Zeitlandschaft, und wenn man es wieder liest, ist man wieder dort, wo man auf keinem anderen Weg mehr hinkommen könnte, und jetzt beim Wiederlesen ist man vielleicht noch mehr dort als damals, man weiß jetzt ein bißchen besser, warum einem das Gedicht damals so gut in den eigenen Kram paßte“.41

    Lesen ist Zeitvertreib, Sich-Vergessen auf der einen Seite und Sich-Ge-meint-Fühlen auf der anderen. „Der Leser beginnt einen Dialog mit dem Autor und, im Falle der liebsten und wesentlichsten Bücher, den Dialog mit sich selbst“, führt Siegfried Unseld in die Ersten Lese-Erlebnisse ein.42 Lesen ist in der Erinnerung und Vorahnung gegenwärtig und auch nur hier eine ganz glückliche, ungestörte Erfahrung. Wenn wir lesen, so werden wir immer wieder dabei gestört, wir können keinen ganzen Text mit ein und derselben Aufmerksamkeit, Intensität und Faszination lesen, mit demselben Grad der Ich-Vergessenheit und des Bei-Sich-Seins lesen, selbst wenn wir ihn ‚verschlingen‘. Wir blenden dann bewusst immer wieder Zeit und Raum und die Bedürfnisse des Körpers aus. Die ästhetische Erfahrung des Lesens und Betrachtens hat ebenso ihre Grenzen wie das Verstehen: „knappe Zeit, äußere Störung, innere Zerstreutheit“.43 So gesehen ist weder das Lesen noch das Betrachten von Kunst einem historischen Wandel unter-worfen, der Wandel ist Folge einer Idealisierung, eines ewigen Traums vom idealen Lesen, das es nicht gibt: „Walter Benjamin hat zerstreute Wahr-nehmung als Folge der modernen Massen sowie ihrer Medien erklärt und ihnen die Versenkung ins originale Kunstwerk entgegengehalten, wie sie

    39 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 396.40 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 394.41 Martin Walser, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am

    Main 1972, S. 79–90, hier S. 89.42 Siegfried Unseld, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt

    am Main 1972, S. 9–13, hier S. 13.43 Heinz Schlaffer, Flüchtige Wahrnehmung von Kunst. Ein Adonisfest in Alexan-

    drien, in: Merkur, Nr. 710, Juli 2008, S. 555–564, hier S. 561.

  • 10 Heike Gfrereis

    früher (wann war das wohl?) Sitte gewesen sei. […] Vermutlich ist es nicht einem historischen Wandel, sondern der menschlichen Grundausstattung geschuldet, wenn selbst so auffällige und bedeutsame Sinnbilder, wie die Kunst sie geschaffen hat, nur flüchtig bemerkt werden. Zur Meditation ist nicht jeder fähig, weshalb sich dafür die Spezialberufe des Mönchs und des Kunstgelehrten herausgebildet haben. Beider Tätigkeit orientiert sich an der erst spät erfundenen Technik der Schrift. Lesen erfordert, im Unter-schied zum Sehen, Konzentration und Ausdauer.“44

    Lesen, dieses Sich-Vergessen und Anders-Finden, ist der Traum dessen, der gerade nicht liest. Das Nicht-Lesen ist seine Voraussetzung, aber auch seine höchste Erfüllung. Die poetischen Existenzen, die die Literatur selbst entwirft – alles deutliche Gegenbilder zum Mönch, Kunstgelehrten und Literaturwissenschaftler: Musensöhne, göttliche Kinder, Abenteurer und Taugenichtse, Dandys und Bohemiens –, lesen nicht. Sie sind ganz bei sich, weil sie in sich aufgehen. Eichendorffs Taugenichts und Goethes Mignon können nicht lesen, die letzte stirbt gar, als sie es dann lernt. Der Musensohn pfeift, was er im Blut hat, nicht, was er liest. Sein Lindenbaum ist ohne Lesezeichen und dennoch scheint er uns einen Idealzustand des Lesens vorzuführen:

    Durch Feld und Wald zu schweifen, Mein Liedchen wegzupfeifen, So geht’s von Ort zu Ort! Und nach dem Takte reget, Und nach dem Maß beweget Sich alles an mir fort.

    Ich kann sie kaum erwarten, Die erste Blum’ im Garten, Die erste Blüt’ am Baum. Sie grüßen meine Lieder, Und kommt der Winter wieder, Sing’ ich noch jenen Traum.

    Ich sing’ ihn in der Weite, Auf Eises Läng’ und Breite, Da blüht der Winter schön! Auch diese Blüte schwindet, Und neue Freude findet Sich auf bebauten Höhn.

    Denn wie ich bei der Linde Das junge Völkchen finde, Sogleich erreg’ ich sie.

    44 Schlaffer, Flüchtige Wahrnehmung von Kunst, S. 561.

  • 11Nicht-Lesen

    Der stumpfe Bursche bläht sich, Das steife Mädchen dreht sich Nach meiner Melodie.

    Ihr gebt den Sohlen Flügel, Und treibt durch Tal und Hügel Den Liebling weit von Haus. Ihr lieben holden Musen, Wann ruh’ ich ihr am Busen Auch endlich wieder aus?45

    Summary

    One has long assumed that reading amounts to the fulfillment of literature. It arises and is actualized in the reader. Yet this view omits the fact that a not-reading attaches to every reading, and that not-reading is a necessary element in the analysis and the understanding of literature. Thus, one could conversely state: the prerequisite for the understanding of literature is not-reading.

    Zusammenfassung

    Lesen, davon ist man lange ausgegangen, ist die Erfüllung der Literatur. Sie entsteht und realisiert sich erst im Leser. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass zu jedem Lesen das Nicht-Lesen gehört und sogar notwendiges Element der Analyse und des Verstehens von Literatur ist. Umgekehrt ließe sich daher sagen: Die Voraussetzung für das Verstehen von Literatur ist das Nicht-Lesen.

    45 Johann Wolfgang von Goethe, Der Musensohn, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurter Ausgabe in 40 Bänden, Band 1 (Gedichte 1756–1799), hrsg. von Karl Eibl, Frankfurt am Main 1987, S. 644.

  • 12

    Ovid liest Klassiker

    von

    Bernhard Zimmermann (Universität Freiburg)

    1.

    Wenn man die antike, griechisch-römische Literatur unter der Fragestel-lung des Lesens betrachtet, denkt man natürlich zunächst an die am Pa-radigma des frühgriechischen Epos, an Homer und Hesiod, sowie an der archaischen Lyrik entfachte Diskussion über oral poetry, über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in dieser frühen Phase griechischer Literatur. Man denkt vielleicht weniger an die römische Literatur, ob-wohl gerade deren Beginn im Jahre 240 v. Chr. dazu Anlass gibt, als ein als freigelassener Sklave in Rom lebender Grieche namens Livius Andronicus im Auftrag der für den Festbetrieb in der Stadt zuständigen Beamten ein Drama aus dem Griechischen ins Lateinische übertrug – später ließ er eine Übersetzung der homerischen Odyssee folgen – und damit den Beginn der römischen Literatur einleitete. Die nachfolgenden römischen Tragiker und Komödiendichter – Plautus, Terenz, Naevius, Ennius, Pacuvius und Accius, um nur einige wenige zu nennen – verfuhren in ähnlicher Weise. Sie über-trugen griechische Originale ins Lateinische, wobei bis heute extensiv und kontrovers der Grad der Freiheit diskutiert wird, den sich die Römer bei ihren Bearbeitungen nahmen.Römische Autoren sind also von Anfang an ‚lesende Dichter‘, die sich

    mit griechischer Literatur auseinandersetzten und aus dieser Auseinander-setzung im Verlauf kurzer Zeit eine eigene Literatursprache schufen und die wichtigsten Gattungen der Griechen in Rom heimisch machten, und sie bleiben – vor allem in augusteischer Zeit – lesende Dichter, die mit einem an der alexandrinischen Literaturtheorie geschulten theoretischen Bewusstsein der griechischen eine qualitativ genauso hochstehende lateini-sche Literatur an die Seite stellen wollten. Als poetae docti schrieben sie für ebenso literarisch gebildete Leser. Die Werke eines Vergil und Horaz, eines Properz oder Tibull sind Palimpseste ganz im Sinne Genettes, sie enthalten eine Vielzahl von Prätexten, die die Autoren zu einem neuen Ganzen

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    zusammenfügen. Prätext und neuer Text stehen dabei in einer spannungs-reichen Beziehung: Die Prätexte tragen entscheidend zum Sinn des neuen Werkes bei und können ihrerseits in dem neuen Zusammenhang eine neue Deutung erhalten. Viele dieser Prätexte sind für uns heute nicht mehr greifbar, so dass einige der Schichten des Palimpsests für uns unentschlüsselt bleiben müssen, ohne dass wir dies überhaupt bemerken. Wir müssen uns also immer bewusst sein, dass uns Dimensionen antiker Texte aufgrund des bruchstückhaften Erhaltungszustandes der griechisch-römischen Literatur verschlossen bleiben müssen.

    In besonderer Weise kann man Ovid als lesenden Dichter bezeichnen. Er steht am Ende der augusteischen Periode – er stirbt im Exil am Schwarzen Meer um 17 n. Chr. – und blickt somit sowohl auf eine eigene römische Klassik als auch auf die exemplaria Graeca, die als vorbildhaft angesehene griechische Literatur, zurück. Man könnte in allen seinen Werken die produktive Lektüre griechischer und lateinischer Werke nachzeichnen, be-sonders deutlich allerdings an den Heroides.

    2.

    Die Heroides sind eine Sammlung von 15 poetischen Briefen, die – mit Ausnahme des 15. Briefes – aus dem Mythos bekannte Frauen an ihre ab-wesenden Ehemänner oder Geliebten schreiben. Der 15. Brief – Sappho an Phaon – ist in seiner Authentizität in der Forschung umstritten.1 In den Heroides spielen mehrere Dominaten und Subdominanten zusammen: Durch die metrische Form des elegischen Distichons werden die poetischen Briefe der Gattung Elegie zugewiesen.2 Dies wird auf der inhaltlichen Ebene durch die ständige Verwendung elegischer ‚termini technici‘ und elegischer Vorstellungen wie der Liebe als Wahn und Raserei (insania, furor amoris), der Liebe als verzehrender Flamme (urere) sowie der Liebe als Sklaven- oder Kriegsdienst (servitium amoris, militia amoris) verstärkt. Als Subdominante kommt die Form sowohl des Briefes und des dramatischen Monologs als auch der tragischen Klage, des Threnos, hinzu. Da Ovid schließlich seine schreibenden Frauen der Mythologie entlehnt, erschließt sich für den zeitgenössischen Leser eine weitere Dimension: der Mythos und vor allem die literarischen Bearbeitungen des jeweiligen Mythos in den

    1 Zur Diskussion vgl. Peter E. Knox, Ovid. Heroides. Select Epistles, Cambridge 1995, S. 86–315, hier S. 278–315.

    2 Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass für den Rezipienten der Antike zunächst das Metrum das visuelle und akustische Signal der Gattungszuordnung abgab.

  • 14 Bernhard Zimmermann

    verschiedenen literarischen Gattungen, insbesondere in der Tragödie und des Epos, auf die der Brief Ovids anspielen könnte.

    Doch zunächst sind einige allgemeine Worte zu Ovid als Elegiker von-nöten. Man kann drei Gruppen elegischer Dichtungen im Oeuvre Ovids unterscheiden: die Liebesdichtungen – Amores (Liebeselegien in der Nach-folge des Gallus, Tibull und Properz), Heroides, Ars amandi (Liebeskunst), Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe) und im weiteren Sinne die Medicamina (Kosmetikhandbüchlein) –, die Verbannungsdichtungen – Tri-stia (Trauergedichte), Epistulae ex Ponto (Briefe vom Schwarzen Meer) und Ibis (ein Spottgedicht) – und als einen erratischen Block die Fasten (Fest-kalender). Ovid spielt in diesen drei Gruppen die Möglichkeiten durch, die nach dem antiken Verständnis die Gattung Elegie bietet. In der Gruppe der Liebesdichtungen führt er, wie er an zahlreichen Stellen betont, die typisch römische Form der subjektiven Liebeselegie in vielfältiger Weise zur Voll-endung. In der Verbannungsdichtung, in den Tristia und den Epistulae ex Ponto, isoliert er ein Element, das seit den frühen griechischen Elegikern mit der Gattung verbunden ist und auch in einer falschen Etymologie des Wortes „Elegie“ seinen Niederschlag findet: das Element der Klage – Elegie wurde von dem griechischen ἒ λέγειν (wehklagen) abgeleitet. Einen Vor-läufer dieser speziellen Form finden wir im 3. Buch der Amores im Nach-ruf auf Tibull, in dem die personifizierte Gattung Elegie angerufen wird, ganz ihrem Namen gemäß in die Klagen um den toten Dichterkollegen einzustimmen.3 Im Ibis erweitert Ovid die Klage des Verbannten um das Element der Verfluchung (Schetliasmos) eines einflussreichen, anonymen Feindes, den er in Rom hat. In den Fasten schließlich schließt er sich den aitiologischen Dichtungen des Kallimachos an, die Properz in Rom hei-misch gemacht hatte.

    Auffallend ist, dass Ovid in allen elegischen Dichtungen versucht, ver-schiedene Rollen, verschiedene personae, durchzuspielen: In den Amores mimt er – ganz in der Tradition der römischen Liebeselegie – den seiner Herrin Corinna ergebenen elegischen Liebhaber. In der Ars amandi, den Remedia amoris und den Medicamina übernimmt er in der Tradition der Lehrdichtung die Rolle des mit Autorität ausgestatteten magister amoris und praeceptor cultus, des Lehrers der Liebe und der Kultur, der unabdingbaren Voraussetzung der Liebe; in den Fasten schlüpft er in die Rolle des, wenn man so will, Fremdenführers durch Roms Festkalender, eine Rolle, die Pro-perz im 4. Buch seiner Elegien vorgeprägt hatte. In den Tristia und Epistulae

    3 Ovid, Amores III 9, 3–4.: Flebilis indignos, Elegia, solve capillos / A! nimis ex vero nunc tibi nomen erit – „Tränenreiche Elegie, löse deine Haare, die es nicht verdient haben. Weh! Allzusehr der Wahrheit entsprechend wirst du deinen Namen jetzt tragen.“ Die Überset-zungen aus dem Lateinischen stammen vom Verfasser.

  • 15Ovid liest Klassiker

    ex Ponto schließlich wird die Elegie zum Ausdruck der Klage, ja, man ging sogar soweit, auch in der Klage ein Rollenspiel zu sehen und deshalb Ovids Verbannung ans Schwarze Meer, ans Ende der Welt als literarische Fiktion abzutun.4

    Aus dieser Reihe fallen, was die Erzählhaltung und das Rollenspiel des Dichters angeht, die Heroides ganz und gar heraus: In ihnen sprechen die verlassenen Frauen direkt zu uns, in personaler Erzählweise teilen sie sich mit.5 Sie sind also schon unter narratologischen Gesichtspunkten ein litera-risches Experiment: Sie sind der Versuch, unmittelbar, ohne die Zwischen-instanz eines wie auch immer gearteten Erzählers in geradezu dramatischer Weise die Situation der Frauen darzustellen.

    Das literarische Experiment findet dabei in einem steten Zusammenspiel zwischen poeta doctus und lector doctus auf mehreren Ebenen statt: Durch die metrische Form, das elegische Distichon, verweist Ovid den römischen Leser zunächst auf die Basisgattung,6 die Liebeselegie mit ihren bekannten Situationen und Begriffen wie der Liebe als Sklaven- und Kriegsdienst; dem Liebhaber wird – in der für die römische Elegie typischen Um- oder Neu-bewertung traditioneller Begriffe – ein Treueschwur (fides) auf ewig abver-langt, der ihn zu einem ewigwährenden Bündnis (foedus aeternum) seinem Mädchen (puella) gegenüber verpflichtet, die er als seine Herrin, als seine domina, ansieht. Vor diesem Hintergrund gewinnen gewisse inhaltliche Be-sonderheiten der Heroides ihren eigenen Reiz: Wirbt in der Liebeselegie der Mann um seine Geliebte, ist das Verhältnis in den Heroides umgekehrt. Hier bemüht sich die Frau um den Mann. Dadurch geraten unweigerlich die dem Leser aus den Liebeselegien bekannten Begriffe in ein anderes, häufig ironisch gefärbtes Licht. Exempli gratia sei auf den 4. Brief, das Liebeswer-ben Phaedras um den spröden Hippolytus, verwiesen. Gleich im zweiten Vers bezeichnet sich Phaedra mit dem aus den Amores geläufigen Begriff als puella, als Mädchen, das gerade seine ersten Liebeserfahrungen macht,7 obwohl klar ist, dass sie um einiges älter als Hippolytus ist und bereits zwei Kinder von Theseus hat.

    Eine starke Spannung besteht zwischen Form und Inhalt: Zur leichten elegischen Kleinform passen ganz und gar nicht die schreibenden Personen, die mit Ausnahme Sapphos aus den hohen Gattungen Epos und Tragödie stammen. Das heißt: In den Heroides werden Personen der erhabenen li-

    4 Vgl. gegen diese immer wieder durch die Forschung geisternde Meinung zuletzt überzeugend Niklas Holzberg, Ovid. Dichter und Werk, München 1997, S. 36.

    5 Zum monologischen Charakter der Heroides vgl. zuletzt Ulrike Auhagen, Der Monolog bei Ovid, Tübingen 1999, S. 63–92.

    6 Vgl. Friedrich Spoth, Ovids Heroides als Elegie, München 1992.7 Vgl. Ovid, Heroides 4, 21–24.

  • 16 Bernhard Zimmermann

    terarischen Formen mit den Augen der Elegie gesehen und interpretiert, sie werden als Privatpersonen in einer privaten Situation und Umgebung vor-geführt. Die Gegenüberstellung von erhabener Gattung und privater Elegie ist ein Leitmotiv der Amores. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, in Amores II 18, 1–4 und 11–12 der epischen Dichtung, einer Achilleis von Ovids Freund Macer, die friedliche Elegie entgegengestellt, und wie im Eröffnungsgedicht der Amores macht Ovid Amor, den Gott der Liebe, dafür verantwortlich, dass er ihn von größeren, erhabenen Dichtungen abhalte und zwinge, Privates zu besingen.

    Carmen ad iratum dum tu perducis Achillem primaque iuratis induis arma viris, nos, Macer, ignava Veneris cessamus in umbra, et tener ausuros grandia frangit Amor. […] Vincor, et ingenium sumptis revocatur ab armis, resque domi gestas et mea bella cano.8

    Während du dein Gedicht zum Zorn des Achill hinführst und den Männern, die sich eidlich dazu verpflichtet hatten, die ersten Waffen anlegst, lasse ich es mir im Schatten gut gehen, und der zarte Amor bricht mein großes waghalsiges Vorhaben einfach entzwei. […] Ich gebe mich geschlagen, und mein Talent wird von den Waffen, die es gerade anpackte, zurückgerufen, und ich besinge häusliche Taten und meine Art von Kriegen.

    Weitere literarische Formen tragen in den Heroides dazu bei, dass Ovid mit Recht von sich behaupten kann, neue Wege, die vor ihm noch kein anderer betreten habe, eingeschlagen und ein neues literarisches Werk, ein novum opus, geschaffen zu haben (ignotum hoc aliis ille novavit opus – „jener schuf dies Werk – d. h. diese Form der Elegie –, das den anderen bisher unbe-kannt war“9).

    Zur ‚Neuheit‘ der Heroides tragen in erster Linie die Briefform und die direkte Rede der Frauen bei, die man aus dem Drama als Monolog oder Threnos (Klage) kennt.10 Durch die Form des Briefes wird der Leser selbst angesprochen, als ob er – ganz der rhetorischen Theorie entsprechend – selbst anwesend wäre, und wird in einen Dialog mit der Heroine verwickelt. Er wird dazu genötigt, selbst der Frau zu antworten. Aus dem ‚halbierten Dialog‘, als den die antike Literaturtheorie und Rhetorik den Brief ansah,11 wird ein tatsächliches Gespräch zwischen dem Autor, der Heroine und dem Leser. Dass dies schon in Ovids Zeit so verstanden wurde, belegt die Tatsache, dass ein gewisser Sabinus offensichtlich nach dem Erscheinen

    8 Ovid, Amores II 18, 1–4 und 11–12. 9 Ovid, Ars amatoria III, 346.10 Vgl. dazu Auhagen, Der Monolog bei Ovid, S. 63–92.11 Vgl. zuletzt Auhagen, Der Monolog bei Ovid, S. 45–51.

  • 17Ovid liest Klassiker

    der Einzelbriefe jeweils die Antwortschreiben der Adressaten verfasste.12 Schließlich wird der Leser dazu gebracht, sich die Lage der Briefschreiberin in einer Art von innerer Dramaturgie ständig vorzustellen. Dies bewirkt Ovid insbesondere durch die Technik der Ekphrasis und durch das Ein-streuen ekphrastischer Elemente, die den Leser – wiederum der antiken Literaturtheorie entsprechend – aktiv am poetischen Prozess beteiligt:

    Nunc quoque non oculis, sed, qua potes, adspice mente haerentem scopulo, quem vaga pulsat aqua.13

    Jetzt auch schau – nicht mit den Augen, sondern, womit du es kannst, mit dem Geist –, wie ich an einem Riff hänge, das die unstete Woge peitscht.

    Die Annäherung an das Drama wird nicht nur, was die Form des tragischen Monologs oder des Threnos angeht, sondern auch inhaltlich im 9. Brief (Deianira an Hercules) auf die Spitze getrieben. Mitten in ihrem Brief an Hercules, der wie in den sophokleischen Trachinierinnen gerade die Stadt Oichalia eingenommen hat, wird Deianira von der verderblichen Wirkung des vermeintlichen Liebesmittels, des Nessus-Blutes, informiert:

    sed quid ego haec refero? scribenti nuntia venit fama virum tunicae tabe perire meae. ei mihi! quid feci? quo me furor egit amantem? inpia quid dubitas Deianira mori?14

    Aber warum berichte ich dies eigentlich? Während ich noch schreibe, ereilt mich die Nachricht als Gerücht, dass mein Gatte durch das Gift meines Gewands zugrunde geht. Weh mir! Wozu hat mich in meiner Liebe der Wahnsinn getrieben? Was zögerst du noch, ruchlose Deianira, in den Tod zu gehen?

    Die Herakleis aus weiblicher Perspektive und in Briefform wird unter-brochen, in das Epyllion bricht unvermutet die Tragödie herein.

    Dass der tragische Threnos eine Quelle der Heroides sein könnte, wird durch Vers 345 des 3. Buchs des Ars nahegelegt: Ovid schlägt den ge-bildeten jungen Damen Roms vor, seine Heroides mit getragener Stimme vorzutragen, wie dies eben in der Tragödie üblich war (vel tibi composita cantetur Epistula voce). Hinter dieser Anweisung könnte die im 1. Jahrhundert

    12 Vgl. Ovid, Amores II 18, 27–28: Quam cito de toto rediit meus orbe Sabinus / Scriptaque diversis rettulit ipse locis. „Wie schnell kam aus der ganzen Welt mein Sabinus zurück, und brachte eigenhändig von verschiedenen Orten die Antwortschreiben“. Zu den Sabinus-Briefen vgl. Bruno W. Häuptli, Publius Ovidius Naso, Ibis, Fragmenta, Ovidiana, Zürich/Düsseldorf 1996, S. 118–141. Als Autor der drei unter Sabinus’ Namen über-lieferten Briefe (Ulixes an Penelope, Demophon an Phyllis, Paris an Oenone) galt der Humanist Angelo Sani di Curi (2. Hälfte 15. Jahrhundert), Häuptli nimmt dagegen einen antiken Ursprung der drei Briefe an (S. 358–359).

    13 Ovid, Heroides X, 135–136.14 Ovid, Heroides IX, 143–146.

  • 18 Bernhard Zimmermann

    n. Chr. beliebte Theaterpraxis stehen, Glanzstücke aus den Klassikern als Arien (fabulae cantatae) oder als Soli zur Kitharabegleitung (sogenannte Kitharodien) vorzutragen.15

    Ovid bringt also, wenn man das Zusammenspiel der Gattungen in den Heroides betrachtet, tragische und epische Inhalte in eine elegische Form, kleidet sie in das Gewand des Briefes und lässt die Frauen schließlich in aus dem Drama bekannten Ausdrucksformen (Monolog, Monodie und Threnos) in personaler Erzählweise sich unmittelbar an den Leser wenden.

    In keinem anderen Werk des Ovid ist in diesem Maße ein literarisch ge-bildeter Leser, ein lector doctus, gefordert wie in den Heroides. Zunächst ist es erforderlich, dass der Leser den mythologischen Zusammenhang, dem die Episode entnommen ist, erkennt. Ovid liebt es, erst allmählich in einer langsamen Enthüllung die handelnden Personen einzuführen. So werden zum Beispiel im 4. Brief, Phaedra an Hippolytus, die Briefschreiberin und der Adressat zu Beginn nur verklausuliert genannt:

    Quam nisi tu dederis, caritura est ipsa salutem, mittit Amazonio Cressa puella viro.16

    Den lieben Gruß und das Glück, das sie selbst, solltest du es ihr nicht geben, nicht haben wird, schickt und wünscht das Mädchen aus Kreta dem Amazonensohn.

    Beim Namen genannt wird Hippolytus, der Adressat, erst viel später (Vers 36). Ebenso verschlüsselt ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen, der Be-ginn des 9. Briefs, den Deianira an Hercules schreibt:

    Gratulor Oechaliam titulis accedere nostris; victorem victae subcubuisse queror.17

    Ich gratuliere dir dazu, dass die Stadt Oichalia zu unseren Siegestiteln dazugekommen ist; dass der Sieger der Besiegten sich zu Füßen geworfen hat, beklage ich.

    Hercules, der Sieger, der sich in die Besiegte, Iole, verliebte, wird dann in Vers 18 mit Namen angeredet.

    Sodann muss der Leser die Situation rekonstruieren, in der die Heroine ihren Brief schreibt; er muss die von Ovid vorausgesetzte Situation in sein literarisches Gedächtnis einordnen. Vor diesem Hintergrund weiß der Leser natürlich, welcher Erfolg dem Brief der Frau beschieden sein wird. Da-durch geraten die Briefe ständig in das Licht einer tragischen Ironie.

    15 Vgl. Joachim Fugmann, Römisches Theater in der Provinz, Aalen 1988, S. 18–23; Bernhard Zimmermann, Seneca und der Pantomimos, in: Gregor Vogt-Spira (Hrsg.), Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur, Tübingen 1990, S. 161–167.

    16 Ovid, Heroides IV, 1–2.17 Ovid, Heroides IX, 1–2.

  • 19Ovid liest Klassiker

    Neben der mythologischen Rekonstruktionsarbeit, die der lector doctus leisten muss, geht es vor allem auch darum, die literarische Vorlage oder die Vorlagen zu identifizieren, auf die Ovids Texte Bezug nehmen. Zwar lassen sich die Briefe auch einschichtig als Psychogramm einer verlassenen oder verzweifelten Frau lesen, ihre volle Wirkung entfalten sie jedoch erst, wenn man die Prä- und Hypotexte – ganz im Sinne von Genettes Palimpsest – mitliest.

    3.

    Diese allgemeinen Überlegungen zu Ovid literarischen Technik sollen nun paradigmatisch durch die Interpretation des 7. Briefs der Heroides, den Ovid Dido an Aeneas schreiben lässt, in die Praxis der Einzelinterpretation umgesetzt werden. Der 7. Brief bietet sich in besonderer Weise an, da wir in diesem Fall exakt den Prätext bestimmen können, das 4. Buch der Aeneis Vergils, und die Transfomation nachvollziehen, die Ovid vornimmt und die einige Brisanz in sich birgt, da er sich an den Klassiker des augusteischen Roms heranwagt.

    et profugum Aenean, altae primordia Romae, quo nullum Latio clarius extat opus.18

    und den flüchtigen Aeneas, den Ursprung des erhabenen Rom – kein Werk in lateinischer Sprache ist bedeutender als dieses.

    Das Distichon aus der Ars amatoria verdeutlicht, dass die Aeneis schon wenige Jahre nach Vergils Tod im Jahre 19 v. Chr. zum Klassiker, zum Nationalepos geworden war, das von keinem anderen Werk übertroffen werden könne. Die Beziehung zwischen Rom, der Größe Roms, von Roma triumphans und Vergils Werken, der Hirtendichtung der Eclogen, dem Lehr-gedicht der Georgica, in dem in der Nachfolge Hesiods der Jahreskreislauf und die darin anfallenden ländlichen Arbeiten beschrieben werden, und der Aeneis, wird eindrücklich auch im Literaturkanon von Amores I 15, 25–26 betont, ja, Vergil und Rom werden praktisch gleichgesetzt:

    Tityrus et fruges Aeneiaque arma legentur, Roma triumphati dum caput orbis erit. 19

    Tityrus (also die Hirtendichtung) und die Früchte (die Georgica) und die Waffen des Aeneas (die Aeneis) werden gelesen, solange Rom Haupt des bezwungenen Erdkreises ist.

    18 Ovid, Ars amatoria III, 373–374.19 Ovid, Amores I 15, 25–26.

  • 20 Bernhard Zimmermann

    Wenn also Ovid im 7. Brief der Heroides Dido einen Brief an Aeneas schreiben lässt, wagt er sich an den Klassiker der augusteischen Zeit und interpretiert ihn aus einer neuen, ungewohnten Perspektive, auf die er selbst in Amores II 18, 31, im Überblick über seine elegischen Dichtungen, hin-weist: „Schon griff der fromme Aeneas zur Feder und antwortete Dido“ (iam pius Aeneas miserae rescripsit Elissae).20 Das Epitheton ornans pius, das Ovid ganz nach dem vergilischen Vorbild Aeneas beigibt, macht klar, dass er sich in seinem Dido-Brief auf den offiziellen Aeneas, eben auf den pius Aeneas Vergils, bezieht.

    Im Gegensatz zu anderen Briefen können wir beim siebten exakt den Prätext bestimmen: Bezugspunkt ist das 4. Buch der Aeneis, und zwar die Passage, in der Aeneas durch Mercur an seine Sendung, Rom zu gründen, und an seine Verantwortung seinem Sohn Ascanius gegenüber erinnert wird:

    Tu nunc Karthaginis altae fundamenta locas pulchramque uxorius urbem extruis? heu, regni rerumque oblite tuarum! […] Ascanium surgentem et spes heredis Iuli respice, cui regnum Italiae Romaeque tellus debetur.21

    Du legst nun die Fundamente des hohen Karthago und baust – frauenhörig, wie du bist – eine schöne Stadt? Weh, da du deine Herrschaft und deinen Auftrag vergisst! […] Denke an den heranwachsenden Ascanius und an die Hoffnungen deines Erben Iulus (anderer Name für Ascanius), dem die Herrschaft über Italien und das römische Land geschuldet wird.

    Bevor Aeneas, mit derart harschen Worten an seine Pflicht erinnert, Dido sein Vorhaben mitteilen kann, ahnt diese in ihrer besorgten Liebe, wozu er sich anschickt.22 Nachdem sie sich beruhigt hat, hält sie ihm vor, dass er nach allem, was sie für ihn und die heimatlosen Trojaner getan habe, nun vor ihr davonlaufe.23 Aeneas weiß darauf nichts anderes zu erwidern, als dass sein Herz an der verheißenen neuen Heimat der Trojaner hänge, wie Dido ihrerseits ja auch ihre neue Heimat Karthago liebe.24 Nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag der Götter fahre er nach Italien. Zornent-brannt schleudert ihm Dido entgegen, dass er sich den Gefahren des Meeres

    20 Ovid, Amores II 18, 31.21 Vergil, Aeneis IV, 265–267, 274–276.22 At regina dolos – quis fallere possit amantem? – / praesensit. „Die Königin jedoch merkte

    im Voraus – denn wer könnte eine Liebende tauschen? – die List.“ Vergil, Aeneis IV, 296–297.

    23 Vgl. Vergil, Aeneis IV, 314–318.24 Vgl. Vergil, Aeneis IV, 347.

  • 21Ovid liest Klassiker

    aussetzen und in die verheißenen Lande aufmachen solle (i, sequere Italiam ventis, pete regna per undas – „Geh doch, versuche mit den Winden Italien zu erreichen, suche dein Reich auf den Wogen!“25). Die Trojaner rüsten sich zur Abfahrt; Aeneas fügt sich dem Willen der Götter und mustert seine Flotte (iussa tamen divum exsequitur classemque revisit – „Trotzdem folgt er dem Geheiß der Götter und mustert die Flotte“26).

    Auf diese höchst emotionale Szenenfolge fügt Vergil einen auktorialen Kommentar ein, der den Blick des Lesers auf Didos Lage und Didos Emp-findungen angesichts dieser Vorgänge lenken soll:

    quis tibi tum, Dido, cernenti talia sensus, quosve dabas gemitus, cum litora fervere late prospiceres arce ex summa, totumque videres misceri ante oculos tantis clamoribus aequor! improbe amor, quid non mortalia pectora cogis! ire iterum in lacrimis, iterum temptare precando cogitur et supplex animos summittere amori, ne quid inexpertum frustra moritura relinquat.27

    Was hast du, Dido, damals, als du dies bemerktest, empfunden, was für Seufzer stießest du aus, als du von dem höchsten Punkt der Burg sahst, wie der Strand weithin in Auf-ruhr war und das Meerestosen vor deinen Augen mit so lauten Rufen sich vermischte! Ruchloser Amor, wozu zwingst du nicht Menschenherzen! Immer wieder in Tränen auszubrechen, immer wieder ihn bittend anzugehen wird sie gezwungen und demütig den Stolz der Liebe zu unterwerfen, damit sie nicht irgendetwas unversucht lasse und umsonst in den Tod gehe.

    So bittet Dido ihre Schwester Anna, Aeneas wenigstens dazu zu bewegen, die Abfahrt ein wenig hinauszuschieben,28 doch auch dies vergebens.29 Das Schicksal steht dem im Wege und verschließt die sonst doch so geduldigen Ohren des Mannes (fata obstant placidasque viri deus obstruit aures).

    An dem eingeschobenen auktorialen Kommentar der Verse 408–415 lässt sich exakt Ovids Ansatzpunkt für seinen Dido-Brief festmachen. Der Rezipient Vergils wird, wie dies durchgängig in Ovids Heroides der Fall ist, durch die direkte Anrede Didos dazu genötigt, die Szenerie aus Didos Augen zu betrachten (prospiceres arce ex summa),30 ihre Gefühle mitzuemp-finden, mit ihr zu seufzen und zu leiden (sensus, gemitus). Die Passage der Aeneis ist elegisch durchtränkt: Die direkte Anrede Amors (improbe Amor),

    25 Vergil, Aeneis IV, 381.26 Vergil, Aeneis IV, 396.27 Vergil, Aeneis IV, 408–415.28 Vgl. Vergil, Aeneis IV, 416–439.29 Vgl. Vergil, Aeneis IV, 440.30 Wir haben hier erneut das typische ekphrastische Signal: Der Rezipient wird dazu

    aufgefordert, sich die Szene vor seinem inneren Auge vorzustellen.