48
Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– 12.– Monatsschrift auf der Grundlage der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners In Memoriam David Clement Erinnerungen an Ita Wegman R. Steiner: Grenzerlebnisse Interview mit dem Musiker Stefan Mickisch Irdische und kosmische Musik Kosmischer Rhythmus im Markusevangelium US-Drohungen und Halliburton im Iran Ein bisher unveröffentlichter Vortrag

Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

  • Upload
    others

  • View
    9

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008

Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft

2/3Fr

. 19.

– €

12.–

M

onat

ssch

rift

auf

der

Gru

ndla

ge d

er G

eist

esw

isse

nsch

aft

Rud

olf

Stei

ners

In Memoriam David Clement

Erinnerungen an Ita Wegman

R. Steiner: Grenzerlebnisse

Interview mit dem Musiker Stefan Mickisch

Irdische und kosmische Musik

Kosmischer Rhythmus im Markusevangelium

US-Drohungen und Halliburton im Iran

Ein bisher unveröffentlichter Vortrag

Page 2: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

«Die Mitte Europas ist ein Mysterienraum. Er verlangt von der Menschheit, dass sie sich dementsprechend verhalte. Der Weg der Kulturperiode, in welcher wir leben, führt vom Westen kommend, nach dem Osten sich wendend, über diesen Raum. Da muss sich Altes metamorphosieren. Alle alten Kräfte verlieren sich auf diesem Gange nach dem Osten, sie können durch diesen Raum, ohne sich aus dem Geiste zu erneuern, nicht weiterschreiten. Wollen sie es doch tun, so werden sie zu Zerstörungskräften; Katastrophen gehen aus ihnen hervor. In diesem Raum muss aus Menschenerkenntnis, Menschenliebe und Menschenmut das erst werden, was heilsam weiterschreiten darf nach dem Osten hin.»

Ludwig Polzer-Hoditz

«I am keen on meeting people» 3Persönliche Erinnerungen an David Clement

(1911–2007) von Thomas Meyer

Persönliche Erinnerungen an Ita Wegman 5David Clement

Immer mehr Leben ... 8David Clement

«... enorm hilfreich, um die musikalischen Werke tiefer zuverstehen» 9Ein Interview mit dem Musiker und

Wagnerkenner Stefan Mickisch

Die irdische und die kosmische Musik 13Aus einem unveröffentlichten Manuskript

von Hermann Beckh

Schubert und Brahms in ungewöhnlicher Umgebung 17Ein Hinweis auf das junge Camille-Quartett

Der kosmische Rhythmus im Markus-Evangelium 18Imanuel Klotz

«Mit Weihnachten wachsen» 23Zum hundertsten Todestag

von Paula Modersohn-Becker (Teil 1)

Claudia Törpel

Grenzerlebnisse auf dem Wege zu höherer Erkenntnis 27Öffentlicher Vortrag Rudolf Steiners

vom 17. Mai 1915 in Linz

(Erstveröffentlichung, Teil 1)

Die Subprime-Bankenkrise: «Gier frisst Hirn» 35Franz Jürgens

Apropos 40:Das Karma ist ein Bumerang… 39US-Drohungen und Halliburton im Iran

Boris Bernstein

Förderverein statt Förderkreis 43

Impressum 44

Bitte beachten Sie die aktuelleSeite auf www.perseus.ch

Die nächste Nummer erscheint Anfang Februar 2008

Öffentliches Lob für einen Gegner Rudolf Steiners – ein anthroposophisches Weihnachtsmotiv?

«Wir brauchen nicht mehr die Gegner zum Verleumden, wir haben dazu die eigenen Zeitschriften»

Rudolf Steiner am 22. Juli 1923

Die «wissenschaftliche» Methode heutiger Anthroposophie-GegnerIm Zusammenhang mit den erneut aufgewärmten Behauptungen, das Werk Ru-dolf Steiners enthalte rassistische oder antisemitische Äußerungen wurde jüngstvon diversen Gegnern folgende Äußerung Steiners an den Pranger gestellt:

«Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechti-gung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhaltenhat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.»

Dieses Zitat stammt aus einem Aufsatz Steiners aus dem Jahre 1888 über dasVersepos Homunkulus von Robert Hamerling. Steiners Aufsatz verteidigt Hamer-ling gegen den nach Erscheinen seines Epos erhobenen Vorwurf des Anti-semitismus. Die zitierte Äußerung bezieht sich, im Kontext gelesen, auf nichts An-deres als die damals von vielen Juden abgelehnte Idee eines in sich geschlossenenjüdischen Volksgebildes, im Gegensatz zu der von vielen Juden selbst seit Jahr-hunderten vollzogenen Assimilation «innerhalb des modernen Völkerlebens».

Der Europäer hat die Falschinterpretation dieser und anderer Stellen schon imMärz 2000 richtig gestellt. (Der Artikel kann unter dem Titel «Neuere Tendenzenzu geistiger Rückständigkeit...» als PdF-Dokument auf www.perseus.ch herun-tergeladen werden).

Die Methode der meisten damaligen wie heutigen Gegner kann durch folgen-den Vergleich gekennzeichnet werden: Jemand schreibt irgendwo den Namen«Samuel» nieder. Ein anderer kommt und behauptet, dieser Name müsse «ausdem Verkehr gezogen werden», denn er beleidige jedermann, dem er zugerufenwürde. Er enthalte nämlich die Elemente S, A und U, die doch eindeutig «Sau» ergeben! Mit genau derselben Methode werden im Werk Steiners willkürlich Stel-len herausgegriffen und als beleidigend hingestellt. Das Niveau des Vorgehens ist kein anderes. Wer so vorgeht, kann weder Anspruch auf Wissenschaftlichkeitnoch auf Korrektur oder Zensur des Werks Rudolf Steiners erheben.

Seelisch-geistige Immunschwäche in Frankfurt, Berlin und DornachHelmut Zanders Opus gegen Anthroposophie (siehe die Oktober- und Novem-bernummer) hat u. a. auch in «anthroposophischen» Kreisen Zustimmung gefunden. Das ist die eigentliche Katastrophe an dieser Publikation. Der Chef-redaktor von Info 3, Jens Heisterkamp, hält sachliche Kritik an Zander für«symptomatisch für die Unfähigkeit und Unwilligkeit vieler verantwortlicherAnthroposophen, auf diese Herausforderung konstruktiv und auf Augenhöheeinzugehen». Zander, der am 3. November seine pseudo-wissenschaftliche Kri-tik der Anthroposophie auf der Akademie Forum Masonicum in Freiburg i. Br. ver-breitete, durfte kurz zuvor im Rudolf Steiner Haus Hamburg auftreten. Auch dieFreie Waldorfschule Kreuzberg in Berlin bietet ihm gastfreundlich Gelegenheit,in ein «Streitgespräch» zu treten (am 5. Dezember 07).

Wir halten solche Sympathiekundgebungen und Einladungen ins eigene Hausfür ein Symptom von geistig-seelischer Immunschwäche in der sachgemäßenAbwehr unsachlicher Angriffe auf Werk und Person Rudolf Steiners.

(Fortsetzung auf Seite 43 �)

Inhalt

Page 3: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

???

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Erinnerungen an David Clement

3

«I am keen on meeting people»Ein paar persönliche Erinnerungen an David Clement (1911– 2007)

Am Nachmittag des 20. Mai 2007ging David Sydney Clement in

seinem Heim in Broome bei Stour-bridge zwei Monate nach seinem96. Geburtstag über die Schwelle.Clement war am 22. März 1911 inStaines, England, geboren worden.Noch während seiner Studienjahrein Oxford – er machte unter ande-rem eine Examensarbeit über denAgricola von Tacitus – lernte er, an-geregt durch seinen zweieinhalbJahre älteren Bruder Eric, die An-throposophie kennen. Eric wollteden Armeedienst aufgeben undHeilpädagoge werden, starb aberschon 1931 in Indien an Typhus.Kurz zuvor hatte David Clement inDornach zum ersten Mal Ita Wegman erlebt. Es war derWendepunkt seines Lebens, wie er in den untenstehen-den Erinnerungen an Wegman berichtet.

Geistig tief mit seinem verstorbenen Bruder verbun-den, wurde er selbst Heilpädagoge und später Landwirt.In beiden Wirkenssphären setzte er sich ein Leben langmit allen Kräften ein. Bis ins hohe Alter war er Chair-man der Bio-Dynamic Agricultural Association und Be-rater des Sunfield Kinderheims in Clent.

Ich selbst lernte David Clement durch meine Recher-chen für die Biographie über D.N. Dunlop kennen. Ichwurde von der Sekretärin der An-throposophischen Gesellschaft inLondon, Constance Winney, für wei-tere Auskünfte an ihn verwiesen.Ich verabredete mich mit ihm bei ei-ner Autobahnraststätte in der Nähevon Birmingham und erkannte ihnmühelos an der angekündigten ro-ten Krawatte. Er hatte gerade einenGrabstein für D.N. Dunlop anferti-gen lassen, dessen Asche auf demGelände von Clent Grove (wo dasSunfield Kinderheim beheimatetwar) bestattet werden sollte. Daswar so gekommen: Beim Umbau des Hauptgebäudes der Gesellschaft in London beschlossen ConstanceWinney, Owen Barfield und David

Clement, die Urne mit der Aschevon Dunlop «in Sicherheit» zu brin-gen. Alle drei stellten fest, dass Dun-lop so sehr in Vergessenheit geratenwar, dass die zukünftige Existenz derUrne in Frage gestellt schien. Sieschafften sie kurzerhand heimlichaus dem Haus. Niemand bemerkteoder beklagte diese Tatsache. Am nächsten Tag wurde die Plattean der vorbereiteten Stelle in Clentin den Boden eingelassen (sieheAbb. unten). Ich durfte auch die To-tenmaske Dunlops betrachten, diesich in Clements Obhut befand.

D.N. Dunlop war neben Ita Weg-man der Mensch, der in ClementsLeben die wichtigste spirituelle Rol-

le spielte und dem er Zeit seines Lebens ein treues, lebendiges Andenken bewahrte. Seine «Personal Remi-niscences of D.N. Dunlop» die ein paar Jahre vor seinenErinnerungen an Ita Wegman im Anthroposophical Quar-terly erschienen waren, legen ein schönes Zeugnis da-von ab.

Wenn Clement von D.N. Dunlop sprach, ließ er ihn,manchmal durch humorvolle Anekdoten, vor dem Hö-rer aufleben. So erzählte er einmal, wie Dunlop ihn An-fang der 30er Jahre einmal zum Essen einlud, mit ihmVielerlei besprach und ihm die anthroposophische Ar-

beit in England eindringlich ansHerz legte. Insbesondere gab er ihmden Rat, «Menschen zu studieren»,da es heute überall «Spezialisten»gebe, doch kaum Leute, die ein Or-gan für das wirklich Individuelle imanderen Menschen besaßen. Offen-bar setzten sowohl Ita Wegman wieauch Dunlop tiefes Vertrauen undgroße Hoffnungen in David Cle-ment. In seiner übergroßen Beschei-denheit pflegte er zu behaupten,dass sie wohl zuviel in ihm gesehenhätten.

Dunlops Anregung, auf Menschenzu achten, wurde für Clement zurLebenspraxis. Als ich ihn kennenlernte, stand er etwa im 75. Lebens-

David Clement neben der Grabplatte von D.N. Dunlop

David Sydney Clement

Page 4: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Erinnerungen an David Clement

4

jahr. Und mehr als einmal betonte er: «I am keen onmeeting people.» – Ich brenne darauf, Menschen zu be-gegnen. Wer ihm begegnen durfte, konnte erleben, dassdieser Wunsch tief und echt war. Clement konnte ganzOhr werden und immer ermunternd oder ermutigendantworten. Falls sich jemand allzu krass über einen an-deren beschwerte, konnte er einen Spruch wie den fol-genden machen: «Why don’t you go and shoot him?»Er brach damit einer allzu heftigen Antipathiekundge-bung durch eine homöopathisch-therapeutische Über-treibung gewissermaßen die Spitze ab, was zu Heiterkeitund Selbstbesinnung führen konnte.

Clement strahlte etwas von der optimistischenGrundkraft aus, die wir an Emerson bewundern kön-nen. Aber dieser Optimismus war, durch nicht immereinfache Schicksalsereignisse entwickelt, ein durch unddurch errungener. David Clement war der vollendete,man möchte sagen, der durch anthroposophische Arbeitvollendete Gentleman. Höflichkeit und Zuvorkommen-heit waren immer Ausdruck eines echten Herzensbe-dürfnisses und hatten nie etwas von «britischer Förm-lichkeit».

In jungen Jahren eher scheu, war er, wie er mir ein-mal in dem gepflegten ländlichen Steakhouse erzählte,zu dem er seine Besucher zu entführen pflegte, das Ob-jekt der anhaltenden Verehrung der Sängerin GabrieleSale-Joachim gewesen, einer Tochter von Hermann Joa-chim, dem Sohn des berühmten Geigers und Freundvon Helmuth von Moltke. Dies kann etwas von seinerVerbundenheit mit dem mitteleuropäisch-deutschenElement zeigen. Zu den vielen Gästen und Durchreisen-den, die Clent besuchten, gehörte auch Jürgen von Gro-ne, der den englischen Freunden die Bedeutung vonHelmuth von Moltke zu erschließen suchte.

Von diesen Besuchen erzählte Clement gern und leb-haft. In guter Erinnerung waren ihm Vorträge von W. J.Stein. Sie lösten bei den jungen Hörern ein eigenartigesErlebnis aus: «Einmal», so berichtete er, «gingen einigevon uns nach dem Vortrag zu ihm hin und fragten ihn,

wie es komme, dass wir oftmals wussten, was er alsNächstes sagen würde. Er antwortete, dass er uns an daserinnern würde, was wir vor der Geburt gewusst hatten.So nahe konnte der Geist damals erlebt werden.»

Dies kann uns etwas von der spirituellen Sonnen-stimmung offenbaren, die über Clent und seinen Men-schen und Besuchern waltete.

Tiefe Freundschaften verbanden ihn mit unzähligenMenschen jeden Alters; um nur einige zu nennen, mitCecil Harwood, seinem Schwiegervater Fried Geuter,mit Owen Barfield, den er bis zu dessen Tod regelmäßigin Forest Row besuchte, mit A.P. Shepherd.1 An den ver-schiedenartigen Freundschaften zeigt sich etwas vomRadius seines Wirkens, der keine konventionellen, reli-giösen oder weltanschaulichen Grenzen kannte.

Jüngeren Menschen wurde Clement gegen Ende sei-nes Lebens zunehmend ein warmer väterlicher Ratge-ber. Einer jungen Freundin schrieb er einmal beim Teeauf einem Briefumschlag die folgende englische Sentenznieder:

Zwei Wochen vor seinem Tod erzählte David Cle-ment ihn besuchenden Freunden von der Anfangszeitin Clent. Insbesondere erinnerte er sich daran, wie D.N.Dunlop bei der Eröffnungsveranstaltung (siehe neben-stehende Abb.) «allen Anwesenden ans Herz legte, An-throposophie sehr ernst zu nehmen», wie Crispian Vil-leneuve im englischen Newsletter, Oct. 2007, berichtete.

Im Europäer ist ein einziger Beitrag von David Cle-ment erschienen – ein Hinweis auf eine englische Neu-ausgabe des Gilgamesch-Epos (Jg. 10. Nr. 1, S. 8), demseine Liebe gehörte. Bei einem seiner Besuche in derSchweiz war es daher eine besondere Freude, mit ihmund seiner Freundin Beaty Blaik, die als junges Mäd-chen als Mitarbeiterin nach Clent gekommen war – sei-ne Gattin Hilla, eine Tochter von Fried Geuter, warschon in den 80er Jahren verstorben –, einen Ausflug indie Eremitage bei Arlesheim zu machen, eine Gegend,die mit Ita Wegman und der Gralszeit verbunden ist; ei-ne Gegend auch, in der sich das Freundschaftswirken

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Bildmitte: W.J. Stein, D.N. Dunlop (mit Hut), George Adams

Page 5: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Erinnerungen an Ita Wegman

5

zwischen Gilgamesch und Eabanierneuert hat (siehe nebenstehendeAbb.).

Clement studierte fast jedes Jahrden Zyklus «Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen»,einen seiner Grund- und Lieblings-zyklen. Aber auch die philosophi-schen Grundschriften Rudolf Stei-ners nahm er immer wieder vor. Alser gerade wieder einmal mit den«Grundlinien ...» angefangen hatte,wollte ich wissen, weshalb es ihn zudiesen oft und nicht zuletzt von äl-

teren Anthroposophen vernachläs-sigten und scheinbar wenig esoteri-schen Schriften dränge. Er sagte al-len Ernstes: «Not to get knockedover in my next incarnation» – Da-mit es mich im nächsten Lebennicht umhaut. Es ist, wie wenn eineEiche sagte: Ich habe beschlossen,noch eichiger zu werden ...

Thomas Meyer

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Persönliche Erinnerungen an Ita Wegman

Es war während der Englischen Woche am Goethea-num im Jahre 1930: Ich saß im großen Saal und war-

tete auf den Beginn einer Aufführung, als ich sah, wiejemand vorne den Saal betrat, sich im Auditorium um-sah und Platz nahm. Ich war vom Schritt, vom Blick wievon der ganzen Erscheinung dieser Persönlichkeit sofrappiert, dass ich mich dem Mann zuwandte, der ne-ben mir saß und den ich hatte Englisch sprechen hörenund ihn fragte, ob er wüsste, wer da hereingekommenwar. Er sagte: «Dr. Wegman, die Leiterin der Medizini-schen Sektion». Ich bezweifle, ob ich den Eindruck die-ses Augenblicks jemals werde vergessen können. MeinNachbar stellte sich später als Cecil Harwood heraus. Sofreundlich arbeitet Karma, denn die Begegnung mit Dr.Wegman war der Wendepunkt meines Lebens, und fürCecil Harwood empfand ich bald eine Zuneigung, dieim Laufe der Jahre nicht aufhörte zu wachsen.

Ich bin Ita Wegman zum ersten Mal persönlich begeg-net, als sie im Jahre 1931 in Selly Oak, Birmingham, denGrundstein für das Sunfield Kinderheim legte. Es war eineeinfache Feierlichkeit. Die Kinder führten ein Stück auf,das «Der goldene Garten» hieß und herzbewegend war.Dr. Wegman legte ein hölzernes Kästchen, das von denKindern des Sonnenhofes [Arlesheim] mit ihrem Lehrergeschnitzt worden war, in die Mauer. Das Kästchen ent-hielt die sieben Metalle. Ich weiß nicht mehr, was sie sag-te, aber was ich hörte und sah, bewegte mich sehr.

Im darauf folgenden August starb mein Bruder Eric inIndien. Er war gerade etwas vor mir zur Anthroposophiegekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir alles imLeben miteinander geteilt. Er hatte Dr. Wegman in Ar-lesheim getroffen, und sie hatte einem gemeinsamenFreund gesagt, dass er heilpädagogischer Erzieher wer-den sollte, und dies hatte er dann wirklich vor: Er woll-

David Clement und Beaty Blaik in der Eremitage

Tim Clement, dem Sohn David Clements und Gründer das

Anastasi Verlags, sei für diverse Angaben wie auch einige der

reproduzierten Fotos herzlich gedankt.

Für weitere Angaben (mit Photos) zum Leben und Wirken

von David Clement siehe die von Tim Clement eingerichtete

Webseite: http://davidclement.squarespace.com/

1 A.P. Shepherd (1885 –1968) war Domherr der Kathedrale

von Worcester. 1941 publizierte er ein Buch mit einem

bemerkenswerten Thema: The Eternity of Time, zu dem der

Erzbischof von Canterbury, William Temple, ein Vorwort

schrieb. Etwa um die gleiche Zeit entdeckte er die Anthro-

posophie, die er mit unbefangenem Erkenntnisenthusias-

mus aufnahm, der ansteckend wirkte: Noch kurz vor

seinem Tod im Jahre 1944 wollte William Temple von

Shepherd wissen, mit welchem Werk von Steiner er begin-

nen solle. Shepherd verfasste in den 50er Jahren die noch

heute lesenswerte Einführung in Rudolf Steiners Leben

und Werk A Scientist of the Invisible. David Clement gab eine

Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen von Shepherd

heraus, der sich insbesondere um die Neugewinnung des

869 verhüllten Geist-Bewusstseins des Menschen bemühte:

The Battle for The Spirit: The Church and Rudolf Steiner; an

anthology compiled by and with an introduction by David

Clement, Anastasi, Stourbridge 1997.

Page 6: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Erinnerungen an Ita Wegman

6

te die Armee verlassen und zu Fried Geuter und Micha-el Wilson nach Sunfield gehen. Dr. Wegman war kurznach seinem Tod in England, und Dame Florence Simp-son, die sie oft umherfuhr, wenn sie dieses Land be-suchte, brachte sie nach Oxford, wo sie mich besuchenwollte. Ich war von der Freundlichkeit der beiden über-wältigt und war sehr schüchtern. Aber ich fühlte michbald wohler, und nachdem sie meine Zimmer mit de-nen verglichen hatte, die sie in einst in Zürich hatte,setzte sie sich und erzählte mir von meinem Bruder. Sieschrieb einen Spruch für mich nieder, der immer nochin meinem Besitz ist. Ich entsinne mich nicht mehr, wassie sagte, doch der strahlende Eindruck, den sie hinter-ließ, ist mir geblieben.

May love be an offering woveninto the sheaths surrounding you now –may it cool your warmthmay it ease your coldmay you live carried in lightand protected by love.

Ungefähr einen Monat später fuhr ich mit dem Fahr-rad durch die Mendip Hügel und blickte von einemFelsvorsprung über die Ebene von Glastonbury auf dieuntergehende Sonne. Sie ging gerade hinter demGlastonbury Tor unter, und die Wolken verdeckten denobersten Teil der Sonne, so dass das eindrückliche Bildeines Kelches entstand – mit dem Tor als Basis, demTurm auf dem Gipfel als Stiel und der roten Sonne mitder Wolke darüber als dem eigentlichen Kelch. Ich bliebstehen, schaute und dachte: «Dies ist ein Bild des Grals,das mir mein Bruder zeigt.»

Aus diesem Bild entstand in mir die Sehnsucht, jungeMenschen meines Alters zusammenzubringen, um mitihnen zusammen unseren Lebensweg im Zeichen desGrals zu suchen. Ich sehnte mich danach, darüber mitjemandem zu reden, wusste aber nicht, mit wem. Datraf ich, scheinbar zufällig, Fried Geuter am GloucesterPlace 46 (dem früheren Sitz der AnthroposophischenGesellschaft in London), und während ich mit ihmsprach, stürzte alles aus mir hervor. Er sagte: «Das musstdu Dr. Wegman erzählen. Michael Wilson und ich fah-ren zu Neujahr nach Arlesheim. Du musst mitkom-men.» Dank der Freundlichkeit einer Anthroposophin,die mir 10 Pfund gab, die sie sich kaum leisten konnte,fuhr ich mit. Damit konnte man damals die Hin- undRückfahrt bezahlen.

Am Mittag des 1. Januar 1932 erfuhr ich während derPause einer Aufführung des vierten Mysteriendramas,dass mich Frau Dr. Wegman jetzt gleich sehen wolle. Ich

eilte zur Klinik hinunter und wurde in ihr Zimmer ge-führt. Statt ihr zu erzählen, weswegen ich sie eigentlichaufgesucht hatte, sagte ich ihr, dass ich anthroposo-phisch arbeiten wolle und dass ich in Oxford nichtstaugte. Wo sollte ich hingehen? Sie sagte mir, ich sollemit Fried und Michael zurück nach Sunfield gehen. Ichsagte, ich hätte keine Ahnung von zurückgebliebenenKindern und dass ich bezweifelte, ob mich die beidengebrauchen könnten. Da sagte sie einfach: «Fragen Siesie.» Dann erzählte ich ihr mein Erlebnis auf den Men-dip Hügeln und von meiner Sehnsucht, junge Men-schen zusammenzubringen. Sie hörte zu und sagte, dassmein Vorhaben etwas Gutes sei, doch müsse ich es zu-sammen mit älteren erfahrenen Anthroposophen reali-sieren. Wenn ich dies täte, würde sie auch mitmachen.Ich war überglücklich. Ich erzählte dies Fried und Mi-chael, war aber zu schüchtern, um sie zu fragen, ob ichmit ihnen nach Sunfield gehen könne. Wir nahmen amselben Abend den Nachtzug nach England zurück. Friedund Michael schliefen mir gegenüber friedlich, wäh-rend mein Inneres in einem Aufruhr war. Mitten in derNacht hielt ich es nicht mehr aus. Ich beugte mich vorund legte die Hand auf Frieds Knie. Er schlug die Augen

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Ita Wegman in Sunfield

Page 7: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Erinnerungen an Ita Wegman

7

auf. «Frau Dr. Wegman sagte, dass ich vielleicht zu euchnach Sunfield gehen solle.» – «Gut. Komm morgenmit», sagte er, schloss die Augen und schlief wieder ein.Ich selbst macht diese Nacht kein Auge zu.

In Sunfield angekommen fing ich unverzüglich mitder Vorbereitung jener Zusammenkunft an. Wir fandenbald ein Tagungshaus in Glastonbury. Ich wusste, kaumwie man so etwas vorbereitet, doch dank der Hilfe vonFried und Michael war schließlich alles bereit. Am 18. Ju-li 1932 kamen etwa hundert Menschen zusammen. DerTitel der Tagung war: «Wie können wir unser Leben imEinklang mit den Forderungen des Geistes unserer Zeitgestalten?» Es gab kein Programm. Jeder Tag fing mit ei-nem Vortrag von Dr. Stein an, der von George Adams(oder Kaufmann, wie er damals hieß) übersetzt wurde,und zwar über die Weltgeschichte im Lichte des heiligenGral (Diese Vorträge wurden später in gekürzter Form imAnthroposophical Quarterly veröffentlicht.) Danach wur-de jeder Tag aus dem vorhergehenden heraus gestaltet.Wir versammelten uns um Dr. Wegman, beschrieben ihrdie Gespräche, die wir gehabt hatten und die Fragen, dieentstanden waren, und daraus wurde das Programm desfolgenden Tages arrangiert. Ich war noch sehr jung, undim Eifer, das Rechte zu tun, tat ich oft das Verkehrte.Doch die Wirkung auf Frau Doktor war nur, dass sielachte, und dies tat sie oft, doch immer in freundlicherund ermutigender Weise. Für mich war diese Tagung wieein Traum – dass diese großen Persönlichkeiten den gan-zen Weg vom Kontinent herüberkamen: Dr. Stein undseine Frau, Herr und Frau Dr. Kolisko, Dr. Vreede, eineganze Reihe anderer, vor allem natürlich Frau Dr. Weg-man selbst. Aus England kamen unter anderen Mr. Dun-lop, Mrs. Merry (die ein Artusstück verfasste, das auf derTagung einstudiert und aufgeführt wurde). Ich konnte eskaum fassen. Viele junge Menschen kamen und fandenden Weg zur Anthroposophie. Ich hatte von meinemBruder hundert Pfund geerbt, und diese Summe wurdefür jene verwendet, die sich nicht leisten konnten her-zukommen. Alles wurde bis zum letzten Penny ausge-geben und es gab kein Defizit.

In den 30er Jahren besuchte Dr. Wegman dieses Landoftmals. Ihre Besuche in Sunfield (das Heim war inzwi-schen aufs Land gezogen, nach Clent) waren die Festes-zeiten unseres Lebens. Das Haus wurde von oben bis un-ten reingefegt und blitzblank geputzt und mit Blumengefüllt. Dies geschah alles unter der Aufsicht von MariaGeuter, die zusammen mit ihren Köchen mit den be-scheidensten Mitteln die herrlichsten Mahlzeiten berei-tete. Frau Dr. Wegman wurde oft von Dame FlorenceSimpson und von Dr. Stein begleitet, und ich erinneremich daran, dass auch Frau Dr. Deventer und Dr. Bock-

holt kamen. Damals lebte Dr. [Hilma] Walter bei uns.Und was gab es da für Jareszeitenfeste! Mit Liedern undChören, die Michael Wilson zu Texten von Maria Geu-ter komponierte, mit wunderbaren Gemälden von Lia-ne Collot d’Herbois und Jahreszeiten-Spielen, die vonFried Geuter und Cynthia Chance verfasst worden wa-ren. Bei ihrem ersten Besuch in Sunfield, nach einer Rei-se nach Griechenland, verglich Dr. Wegman Sunfieldmit Epidaurus und gab unseren Gebäuden die Namen«Hygeia» und «Aesculapius».

Vieles trug sich in Sunfield zu, das vielleicht bitter be-klagt werden könnte. Wir waren alle noch so unreif.Doch der Geist unter uns war lebendig, und unser Le-ben war von der Sonne beschienen.

Dr. Wegman wünschte, dass ich Arzt würde, was beimir auf einen starken Widerstrand stieß. Dies verur-sachte eine Entfremdung zwischen uns, unter der ichsehr gelitten habe. Erst als ich sie bei ihrem letzten Eng-landbesuch auf unserer Farm herumführte, wandte siesich zu mir und sagte mit strahlendem Lächeln: «Natür-lich sollen Sie nicht Arzt sein, sondern Landwirt.» Ichwar unendlich erleichtert und dankbar.

Ich war bei einem oder zwei Treffen in Kent Terrace10 (Dr. Wegmans Klinik in London) zugegen. Wo sie nurkonnte, gründete sie Zentren für den Heilimpuls, densie mit solcher Kraft in sich trug, oft mit kümmerlichs-ten finanziellen Mitteln. Kent Terrace war keine Aus-nahme. Die Treffen dauerten lange und waren schmerz-haft, da die Probleme und Schwierigkeiten unüber-windlich schienen. Manchmal traten Tränen in ihre Augen. Und dann wurde doch, wie wenn plötzlich dieSonne hervorgetreten wäre, eine Lösung gefunden,meistens, wenn ich mich recht erinnere, durch die wei-sen, aufopfernden Bemühungen von Mr. Dunlop. MeinEindruck war, dass hier jemand war, der, obgleich einMensch, in bemerkenswertester Weise vom Geist erfülltwar. Ich habe das Gefühl, dass alles, was sie gründete,auf so festen geistigen Fundamenten ruhte, dass esnicht sterben wird, welche Schwierigkeiten auch immerauftreten mögen. Wenn sie, nach einem Besuch, weg-gegangen war, dann war es, wie wenn ein Hauch des Michaelwesens selbst bei uns gewesen wäre.

David Clement, 1977

Diese Erinnerungen erschienen unter dem Titel «Ita Wegman –

personal Reminiscences», in Anthroposophical Quarterly, Vol. 22,

No 4, Winter 1977. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte

Thomas Meyer.

In einer folgenden Nummer bringen wir die deutsche Überset-

zung von «Some personal Reminiscences of D.N. Dunlop», a.a.O.,

Vol. 18, Nr. 3, 1973.

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 8: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Immer mehr Leben

8

Während man allmählich in die Anthroposophiehineinwächst, nimmt das Leben eine ganz neue

Bedeutung an. Die Worte Rudolf Steiners «Das Lebenwird klarer um mich, das Leben wird schwerer für mich,das Leben wird reicher in mir» werden immer realer.

Landwirtschaft zu betreiben gibt einem mindestenszwei Vorteile gegenüber fast allen anderen Beschäfti-gungen. Der erste ist, dass man unmittelbar mit der Na-tur zusammenarbeitet; der andere ist, dass es immermehrere Möglichkeiten gibt für das, was zu einem be-stimmten Zeitpunkt zu tun ist. Man bekommt dadurcheine wunderbare Gelegenheit zur Selbst-Erkenntnis undSelbst-Entwicklung, wird in Selbständigkeit, Ausdauer,Geduld und eigentlich fast allen Tugenden unterrichtet,falls man die Möglichkeit dazu beim Schopf ergreift.Landwirte sollten vorbildliche Menschen sein. Weshalbsind sie es nicht? Der alte Adam ist stark und derMensch lernt nur langsam.

Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass man ein Le-ben braucht, um Landwirtschaft zu lernen, ein zweites,um sie zu praktizieren, und ein drittes, um sie erst wahr-haft lehren zu können. Alles geht langsam. Es brauchtein Jahr, bis eine Ernte kommt und etwa fünfundzwan-zig Jahre, um eine ganz aus der Farm heraus gebildeteHerde heranzuzüchten. Man muss Jahre voraus planenund immer mit Veränderungen rechnen. Nichts darffest und endgültig sein. Und doch: nur durch eine kon-tinuierliche Methodik lässt sich ein wirklicher landwirt-schaftlicher Organismus aufbauen.

Ohne Anthroposophie ist dies eine intensiv materia-listische Beschäftigung, und manchmal, leider, auchmit Anthroposophie! Das Leben ist komplex. Es gibt kei-ne fix fertigen Grenzen. Mit Schrecken kann man fest-stellen, dass man von der Erde noch irdischer wird. Sooft und so leicht hält der Sonntag für das Religiöse, dieWerktage für das Geschäftliche her. Woraus bildet manseine Urteile und Entscheidungen? Geschieht es aus derTotalität der Situation, die notwendigerweise auch diegeistigen Wesenheiten einschließen muss, die hinterden Phänomenen liegen? Oder einfach aus Gewohn-heit, aus dem, was andere tun oder aus dem, was einemfortwährend zu tun gesagt wird? Eine ungeheure Machtsteht gegen uns gerüstet. Ahrimans Fangarme erstre-cken sich in jedes Feld, jeden Kuhstall, jedes Landwirt-schaftsgebäude. Um dem zu entkommen, versuchen esmanche, die Naturempfinden haben, mit autonomerLandwirtschaft, möglichst weit von allem um sie abge-schnitten. Für mich ist dies keine Antwort. Wir müssen

mit der Welt kämpfen, wie sie ist, und versuchen, dieganze Art der Landwirtschaft in eine andere Richtungzu bringen, so dass die bio-dynamischen Grundsätze al-le recht denkenden Landwirte erreichen können.

Um dies zu tun, müssen wir demonstrieren, wie neueVerfahren funktionieren, was es bedeutet, in unserenEntschlüssen und Handlungen den gesamten Kosmosmit zu berücksichtigen. Es genügt nicht, einfach die Erde und die Ernten gewissermaßen nach dem Rezept-buch mit den Präparaten, die uns Rudolf Steiner ge-geben hat, zu besprühen, als wären sie als solche schondie Heilmittel gegen alle Übel. Natürlich sind sie vonunsagbarer Wichtigkeit. Doch ihre Wirkungen sind feinund subtil, sie zeigen ihre Tugenden nur langsam. DerBoden ist taub geworden, die Pflanzen durch die mo-dernen Verfahren dumpf, viel, viel schlimmer als zurZeit von Rudolf Steiner. Wir müssen immer mehr leben-dige Substanz in den Boden bringen, damit diese Prä-parate ihre volle Wirkung zeigen können, was unserHauptbemühen ist – und dies im Rahmen der wirt-schaftlichen Bedingungen.

Wir müssen uns bewusst werden, dass wir es mit We-senheiten zu tun haben, mit Elementarwesen. Mit ih-nen müssen wir zusammenarbeiten. Wir müssen daraufhören, was sie uns sagen. Jene, welche den Zyklus DerMensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden undgestaltenden Weltenwortes (GA 230) kennt, werden sichan die Mahnworte erinnern, die dem schlafenden Men-schen zugerufen werden: «Strebe zu wachen» (die Gnomen),«Denke im Geiste» (die Undinen),«Lebe schaffend atmendes Dasein» (die Sylphen)«Empfange liebend Götterwillenskraft» (die Salamander).

Diese Worte müssen von denen, die Landwirtschaftbetreiben, immer tiefer zu Herzen genommen werden.Denn nicht der Landwirt bringt die Ernten hervor. Er istnur Helfer oder Hindernis dazu.

Der heutige Weg der Landwirtschaft ist ein Todesweg.Wir haben keine andere Möglichkeit, als weitgehenddiesen Weg zu gehen – doch in diesen Todesweg müssenwir Leben gießen, immer mehr Leben, indem wir diegeistige Welt um Hilfe bitten.

David Clement, 1979

Erschienen unter dem Titel «... life ever more life ...»

in Anthroposophical Review, Vol. 1, No 1, Frühjahr 1979, S. 11.

Deutsch von THM.

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Immer mehr Leben...

Page 9: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Interview mit Stefan Mickisch

9Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Der Musiker und Pianist Stefan Mickisch hat sich eine be-sondere Aufgabe gesetzt: zum Erleben der verschiedenen

Eigenarten der Tonarten hinzuführen. Es gibt nicht nur einesinnlich-sittliche Qualität der Farben, wie Goethe dies nannteund in seiner Farbenlehre untersucht und dargestellt hat; esgibt auch eine noch wenig anerkannte sinnlich-sittliche Qua-lität der verschiedenen Tonarten. Wer sich unbefangen hörendauf den Charakter jeder Tonart einlässt, wird diesen spezifi-schen Qualitätscharakter mit der Zeit bemerken. Und es ist al-les andere als zufällig oder nebensächlich, in welcher der zwölfDur- und zwölf Moll-Tonarten die großen Werke der Musikge-schichte der Neuzeit komponiert sind. Ja, es ist geradezu dasKennzeichnen für die Größe eines Komponisten, dass er mitBewusstheit oder wenigstens mit instinktiver Sicherheit zu die-ser oder jener Tonart für eine Komposition greift. In höchstemMaße zeichnen sich die Werke Richard Wagners durch einensolchen Tonart-spezifischen Charakter aus. Die sinnlich-sittliche Qualität der Tonarten hat wohl erstmalsHermann Beckh in seiner Schrift Vom Wesen der Tonarten, die1922 in erster Auflage erschienen ist, systematisch dargestellt.Mickisch, der unabhängig von Beckh zu seinen Erkenntnissenkam, vermag, aus einem reichen Musikrepertoire schöpfend,Beckhs und seine eigenen Einsichten Stück um Stück für dasGehör zu belegen.Darin liegt in einer Zeit der verflachenden Sinneseindrückeund des Umsichgreifens von CD-Hörerlebnissen die ungeheu-ere volkspädagogische Bedeutung des Wirkens von Stefan Mickisch für ein vertieftes Erleben des Musikalischen.Das folgende Gespräch fand am 24. August 2007 in Bayreuthstatt, im Beisein von Insa Sikken (IS) und Gerald Brei* (GB). Die Fragen stellte Thomas Meyer (TM).

Thomas Meyer

Zum musikalischen Werdegang von Stefan MickischTM: Herr Mickisch, wie sind Sie dazu gekommen,

musikalische und thematische Einführungen in dieWerke Richard Wagners anzubieten?

SM: Es sind zwei Wege oder zwei Faktoren im Spiel:Die Pianistik einerseits und die Vermittlungsliebe ande-rerseits. Dazu kam als Drittes die seit Jugend vorhande-ne Wagner-Leidenschaft, die sich durch den Besuch vonAufführungen wie auch das Kennenlernen der Klavier-

auszüge befestigt hat. Schon meinem Lehrer in Hanno-ver, Prof. Karl-Heinz Kämmerling fiel diese Leidenschaftauf, obwohl sie bei meinem Klavierstudium nicht um-gesetzt werden konnte, weil Wagner in den entspre-chenden Lehrplänen gar nicht berücksichtigt wird.Mein Lehrer hat mir deshalb von Wagner abgeraten undempfahl mir Liszt und Brahms und Chopin usw. Käm-merling war ein guter Musikprofessor, deutsche Schule,etwas dogmatisch, dennoch hohes Niveau, aber ohnewirkliches Wagner-Verständnis. So habe ich dann mei-ne Wagner-Leidenschaft in Amerika weiter ausgestaltet,anlässlich eines Künstleraufenthaltes 1993, am VirginiaCenter for Creative Arts. Hier wollte man wissen, wasdeutsche Kunst, was deutsche Musik ausmacht, unddann sah ich es als gebotene Aufgabe, offenen Men-schen – darunter jüdischen Künstlern, Schriftstellernund Malern – das Verständnis zu eröffnen.

Ich habe den Schluss der Götterdämmerung für sieeinstudiert. Und dann ging das los, also nicht inDeutschland. Ich konnte dort in einer fremden Umge-bung – wie Siegfried im ersten Akt – herleiten, was ei-gentlich deutsche Musik ist und bedeutet, indem ich dieMusik spielte und Erläuterungen gab. Ich kam also durcheine Fremdstimulation zu meiner jetzigen Aufgabe.

Die Pianistik andererseits konnte sich durch ein uni-versales Klavierstudium – Beethoven, Bach, Schubertusw. – in Wagner hineinfinden.

Dann hat mich 1997 der Richard Wagner-VerbandBayreuth gefragt, ob ich ab 1998 die Einführungsvorträ-ge für alle 30 Festspiel-Aufführungen übernehmen wür-

«...enorm hilfreich, um die musikalischen Werketiefer zu verstehen»Ein Interview mit dem Musiker und Wagnerkenner Stefan Mickisch

* Siehe den Artikel Breis «Wagnerdämmerung in Bayreuth» in

der Oktobernummer 2007.

Stefan Mickisch

Page 10: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

de. Ich sagte zu, und habe bereits im ersten Jahr eineVerdoppelung der Zuhörerzahlen meines geschätztenVorgängers Erich Rappl erzielt.

Später gab es Differenzen, man wollte z.B. den Flügelnicht stimmen, wann ich es für nötig hielt und es gabauch Bevormundungsversuche, mangelnde Unterstüt-zung und dergleichen. So habe ich mich 2002 selbstän-dig gemacht. Seit dieser Zeit bin ich sowohl vom Wag-ner-Verband als auch von den Festspielen (letzteres warsowieso immer der Fall) unabhängig, lebe alleine vonmeiner Leistung.

TM: Interessant, dass Sie über Amerika zu Ihrer Wag-neraufgabe gekommen sind! Die bisher schönste Wag-neraufführung – Die Meistersinger – habe ich selbst inNew York erlebt ...

Vom Verfall der Wagner-RegieTM: Doch zurück nach Deutschland: Wie erleben Sie

die Bayreuther Wagner-Produktionen?SM: Seit 1995 sah ich sie jedes Jahr. Schon 1980/81

hatte ich ein Stipendium, und durch die damaligen Auf-führungen, die sehr gut waren – zum Beispiel PonnellesTristan – ist meine Begeisterung sehr gewachsen. In Be-zug auf die letzten zehn Jahre ist eindeutig ein Verfall zukonstatieren, auf mehreren Ebenen; die Sänger sind oftnicht mehr gut, die ganz großen kommen nicht (mehr),weil man sie auch menschlich schlecht behandelt hat.Bayreuth muss für Sänger aber menschlich und fachlichhochqualitativ sein, da es finanziell ja wenig bietet. Orchester und Chor der Festspiele sind zwar technischnoch gut, leiden aber zunehmend unter Inspirationslo-sigkeit. Das hat zu tun mit dem Verfall der Inszenierun-gen, gekoppelt mit Arroganz der Festspielleitung. In derRegel geht das ja einher miteinander, schlechte Leistun-gen und Arroganz. Ab 2004 ging es so richtig in die Ka-tastrophe hinein, mit dem Parsifal von Schlingensief.Ich verstehe zwar, dass man das Konservativ-Lederne,wenn es nicht mehr inspiriert ist, gerne ablehnt. So wa-ren Wolfgang Wagners letzte Parsifal- und Meistersin-ger-Inszenierungen uninspiriert, weil er auch der Künst-lerschaft entbehrt, letztlich nicht musikalisch ist undauch nicht glaubt, was in den Dramen steht. Ich unter-hielt mich einmal mit ihm über die Gralsritter, im Jahr2000, zu einer Zeit, als ich in ihn noch Vertrauen setzte.Da hat er gesagt: «Das ist reine Fiktion!» Da habe ich ge-merkt, wo er eigentlich steht. Wenn man nicht sieht,dass das mehr ist als eine «Fiktion», wie soll man dasdann glaubwürdig inszenieren?

TM: Das ist natürlich unmöglich!SM: Und in diese Bresche der ledernen Uninspiriert-

heit hat der «Zeitgeist» reingeschlagen, die Kritiker ha-

ben sich derart beschwert, dass Wolfgang Wagner sichgesagt hat: Gut, dann hol ich gleich den Schlingensief,dann überhol ich euch mit Links! Das war eine politisch-taktische Entscheidung. Und seine Tochter Katharinaschlägt ja nun in dieselbe Kerbe, mit der Meistersinger-Inszenierung, die ebenfalls unglaublich destruktiv undgegen Richard Wagners Musik und Text gerichtet ist ...

Tankred Dorst und MerlinTM: Tankred Dorst, der Regisseur des diesjährigen

Ring, scheint auch kein tieferes Verhältnis zur Spiritua-lität des Werks zu haben.

SM: Dorst ist eigentlich noch zu loben, weil er eineanständige Inszenierung gemacht hat, die das Werknicht absichtlich zerstört. Er ist ein bescheidenerMensch, im Gegensatz zu jenen, die ein Werk vorsätz-

Interview mit Stefan Mickisch

10 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Richard Wagner und MerlinEine wichtige Bemerkung Rudolf Steiners von Ilona Schubert

Im Jahre 1921 studierte Marie Steiner den «Merlin» aus denWaldliedern von Nikolaus Lenau ein. Dazu hatte RudolfSteiner die eurythmischen Formen gegeben. Tatiana Kisse-leff übernahm die Rolle des Merlin. Ich bekam die Rolle derKönigin der Elfen. Außerdem waren noch zwei Elementar-wesen bei dieser Darstellung, eine davon wurde von AssjaTurgenieff übernommen.Am Schluss einer der Proben kam Rudolf Steiner dazu, demdas ganze Gedicht vorgeführt wurde. Als wir die Darstel-lung beendet hatten, fragte Marie Steiner, was für eine Mu-sik dazu passen würde. Darauf antwortete Rudolf Steiner:«Nun, denken Sie einmal an den Fliegenden Holländer oderan Tristan.» Marie Steiner rief erstaunt und verblüfft aus:«Lenau und Wagner?»«Nein», erwiderte darauf Rudolf Steiner, «nicht Lenau undWagner, sondern Merlin und Wagner!»Nach einer Weile wiederholte Marie Steiner: «Merlin – Wag-ner», und nochmals, wie erkennend, «Ach, Merlin-Wag-ner!» und dann fragend: «Ist Richard Wagner – Merlin?»«Ja» sagte er, «so ist es. In seiner Musik kann man das he-rausfühlen.»Lange Zeit waren wir daraufhin alle ganz still. Ergriffen san-nen wir dem eben Gehörten nach.Was dann für eine Musik zu dem Merlin-Gedicht gemachtwurde, weiß ich nicht mehr. Aber es war sicherlich nichtsvon Richard Wagner, denn für Eurythmie eignet sich dieseMusik nicht, wie Rudolf Steiner betonte, als er einmal dies-bezüglich gefragt wurde.

Ilona Schubert, «Eine wichtige Bemerkung Rudolf Steiners,» in Das Goetheanum, 9. März 1975. Siehe auch Friedrich Oberkogler Merlin – Richard Wagner. Eine Karmabetrachtung. Selbstverlag Wien o. J.

Page 11: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Interview mit Stefan Mickisch

11Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

lich zerstören wollen und die sehr arrogant sind. Ich ha-be sein Rheingold und seinen Siegfried eigentlich sehrgenossen. Natürlich gibt es da auch Bereiche, wo sichein Mangel an musikalischer Kenntnis, die sich dannunmittelbar auf der Bühne umsetzen sollte, zeigt.

IS: Dorst hat ein Merlin-Drama geschrieben [Merlinoder das wüste Land].

TM: Weiß er vom karmischen Zusammenhang zwi-schen Merlin und Wagner?*

IS: Ich glaube ja.TM: In diesem Zusammenhang ist es ja auch bemer-

kenswert, dass Hans von Bülow 1858 eine Merlin-Operschreiben wollte, das Projekt aber fallen ließ, als ihnWagner bat, einen Klavierauszug zum Tristan anzuferti-gen.**

SM: Allerdings.

Sinnlich-sittliche Betrachtung der TonartenTM: Herr Mickisch, Sie unternehmen ja im Grunde

mit den Tonarten etwas Ähnliches wie das, was Goethemit den Farben gemacht hat: eine sinnlich-sittliche Be-trachtung. Besonders schön und wertvoll scheint mirdabei, dass Sie zu jeder Tonart gleich all die entspre-chenden Beispiele vorspielen. Der Erste, der diesen Zu-sammenhang literarisch dargestellt hat, ist ja HermannBeckh gewesen, dessen Schrift Das geistige Wesen derTonarten 1922 erschien.

SM: Beckh ist mir natürlich bekannt, wie auch Ober-kogler. Beckh war ein profunder Musikwissenschaftler.

IS: Steiner hat seine diesbezüglichen Forschungser-gebnisse bestätigt.

TM: Die meisten Beispiele, die Beckh in seiner Schriftanführt, kann man nun bei Ihnen hören. Das ist wun-derbar!

SM: Ich hatte diese Beispiele und viele andere aller-dings gefunden, bevor ich Beckh kannte! Ich habe dieseTonarten-Charakteristik schon immer in mir getragenund später entwickelt. Erst 2002 habe ich Beckh gele-sen. Im Anschluss an einen Vortrag in Oslo über Tonar-ten kam ein Hörer zu mir und fragte mich, ob ich Beckhgelesen hatte. Und ich kannte ihn nicht! Beckh war fürmich dann die Bestätigung für das, was ich gefundenhatte.

Tonarten und SternzeichenTM: Eine Frage, die gewiss auch manchmal in Ihrem

Publikum lebt: Kann man die Zuordnung der Tonartenzu den Sternzeichen, die Sie wie Beckh machen, mit derAstrologie in Zusammenhang bringen? Beckh weist jaeinerseits auf den Zusammenhang mit den astronomi-schen Tierkreiszeichen hin und macht andererseits eineAbgrenzung von den Sternzeichen der Astrologie.

SM: Ich ging nie von der astrologischen Zuordnungaus, sondern von der Charakteristik der Tonart, derKlangfarbe. Ich selbst fühle mich zum Beispiel zu Des-Dur besonders hingezogen wegen der schöpferischenQualitäten – wie sie bei Wotan vorherrschen oder inNocturnes von Chopin oder bei Schumann vorkom-

* Siehe Kasten auf S. 10

** Oliver Hilmes, Herrin des Hügels – Das Leben der Cosima

Wagner, München 2007, S. 094f.

Page 12: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

men. Aber auch zu Es-Dur, also zur Tonart der Urgrün-de, der Heldenkraft, der Ur-Mythen (Es-Dur – zum Bei-spiel Beginn des Rheingolds oder der Zauberflöte). Daskann sich aber im Laufe des Lebens verschieben.

TM: Es scheint ganz ähnlich zu sein wie auf dem Ge-biet der zwölf Weltanschauungen, die zwar ebenfallsmit den Tierkreiszeichen, nicht aber im astrologischenSinne, zusammenhängen ...

SM: Jedenfalls ist eine solche Betrachtung der Tonar-ten enorm hilfreich, um die musikalischen Werke tieferzu verstehen.

Anklang in BayreuthTM: Welchen Anklang fanden solche Betrachtungen

denn in Bayreuth?SM: Zunächst war es natürlich ein Risiko. Noch im

letzten Jahr schrieben Kritiker: alles nicht beweisbar. Indiesem Jahr haben sie bereits die gesamte Terminologievon mir übernommen. Das sah also vor einem Jahrnoch ganz anders aus. Offenbar hilft da mit der Zeit ge-rade auch der praktische Musikbezug durch die vielenBeispiele.

IS: Dadurch kann die Sache eben zum Erlebnis wer-den.

GB: Es sei denn, der Kritiker ist vollkommen unmusi-kalisch!

SM: Als das möchte aber doch kein Kritiker entlarvtwerden!

Das Abendmahlsmotiv im Parsifal und die Reichen-auer Blutsreliquie

TM: Nun noch eine sehr spezifische Frage zum Parsi-fal-Vorspiel: Sie erwähnen, dass das Abendmahls-Motivschon bei Hermann Contractus auftaucht, der im 12.Jahrhundert im Kloster Reichenau gelebt und gewirkthat. Kannte Wagner Hermann Contractus oder kannteer nur dessen in einer Klosterhandschrift überliefertesAntiphon?

SM: Ich könnte mir vorstellen, dass er ihn in der Tatkannte, weil er immer alles studiert hat. – HermannContractus ist ein Schöpfer von gregorianischen Melo-dien, Texten und Psalmen. Der Wagner inspirierendePsalm heißt «Alma Redemptoris Mater», ein Marienlied.Hermann Contractus war ja körperlich behindert – con-tractus heißt «zusammengezogen», «lahm» –, und wirk-te zwischen etwa 1030 und 1080 als Musiker, Kompo-nist und Dichter in Reichenau.

TM: Reichenau ist der Ort, der mit der Gralsströmungtief verbunden war und an dem eine Blutsreliquie Chris-ti aufbewahrt wurde, wie W. J. Stein in seinem Werk Dasneunte Jahrhundert schildert. Das war Wagner wohl nicht

bewusst, – es wird von ihm nirgends erwähnt –, hätteihn aber auf das Tiefste beglücken müssen.

SM: Das Genie findet manchmal Dinge, ohne es zu«wissen» ...

ZukunftsaufgabenTM: Wie sehen Sie Ihre Zukunft? Sehen Sie Ihre Auf-

gabe besonders mit Bayreuth verbunden oder mit allenOrten, wo Wagners Musik geschätzt wird?

SM: Beides! Ich werde in Bayreuth nicht aufhören,weniger denn je. Es ist wichtig, dass die Festspiele einGegengewicht haben. Dass man in Bayreuth erfahrenkann, wie Wagner wirklich ist. Das klingt zwar vielleichtetwas arrogant, aber ich weiß aus der Rückspiegelungvom Publikum, dass so etwas hier gebraucht wird, weilman es im Festspielhaus nicht mehr bekommt.

Und der Zuspruch ist enorm groß. Das ist natürlichfür einen Künstler auch wichtig.

Aber natürlich fahre ich auch gern in andere Städte.So habe ich jetzt in Wien einen großen Zyklus im Kon-zerthaus und in der Volksoper und mache auch Einfüh-rungen zu Beethoven (Bonn) oder Richard Strauss (Gar-misch). Bayreuth macht etwa die Hälfte meinerkünstlerischen Existenz aus ...

*IS: Rudolf Steiner sagt einmal, wie wichtig das mu-

sikalische Erleben für die Zukunft sei, ein Erleben, woVerstand und Empfindung eine Synthese eingehen...

TM: Steiner macht auch darauf aufmerksam, dass einkünftiges Christuserleben zunächst nur musikalischausdrückbar sei, und weist in diesem Zusammenhang inTorquay (1924) auf die Tonfolge des Abendmahlsmotivsdes Parsifal hin.

Interview mit Stefan Mickisch

12 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

In Aktion ...

Page 13: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Irdische und kosmische Musik

13Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Schon in früheren Nummern brachten wir Teile des Manu-skripts «Der Mensch und die Musik – das Seelische in der Mu-sik der Vergangenheit und Zukunft», das Hermann Beckh vorseinem Tod fast vollendet hinterließ.Wir bringen in dieser Nummer einen Auszug aus dem 11. Ka-pitel. Beckh fasst hier das über die zwei verschiedenen Musik-arten Gesagte zusammen und zieht überraschenderweise ein Werk von August Strindberg als literarischen Beleg für diezwei Formen des Musikalischen heran – Strindbergs Traum-spiel, das zu den nach seiner Inferno-Krise (1895–97) ent-standenen Stücken gehört. Wir möchten bei dieser Gelegen-heit auf die eben erschienene Monographie über Strindbergvon Norbert Glas hinweisen, die Strindbergs Leben und Schaf-fen im Zusammenhang mehrerer Erdenleben betrachtet. Der Hinweis auf dieses Kapitel von Beckhs Arbeit stammt vonChristoph Gerber. Die zum Teil mühsame Entzifferung des indeutscher Schrift geschriebenen Manuskriptes ist Helga undIngrid Paul, Ulm, zu verdanken.

Thomas Meyer

Nachdem wir (...) mit dem Überblick einer wichtigen,einer Vergangenheits-Periode des musikalischen

Schaffens zu einem gewissen Abschluss gekommen sind,rufen wir uns wieder in Erinnerung, wie im Ausgang die-ser Betrachtung zwei Elemente des Musikalischen sich voruns hinstellten: ein an das Luftelement, den Luftodem ge-bundenes, im Ohre sich vermittelndes, als ein irdischesElement, ein Erden-Sinnes-Element der Musik; und einanderes, ein zwischen den mit dem Sinnes-Ohre erfass-baren Tönen liegendes, ein höheres, übersinnliches, einkosmisches Element der Musik, das nur dem ganzen Men-schen erfassbar ist, der eben mehr als bloßer Sinnen-mensch, der selbst kosmisch-übersinnlichen Ursprungsund Wesens ist. Dieses kosmisch-übersinnliche Elementder Musik konnten wir im Sinne der Anthroposophieauch das klang-ätherische Element der Musik, und weilalles Ätherische im Grunde ein Sternenelement ist, auchdas Sternenelement nennen. Dieses ist zugleich wieder-um das geistige Element der Musik; während wir auf derandern Seite, an den Spruch Genesis 2,7 uns dabei erin-nernd, fanden, wie mit dem Erden-Sinnes-Element derMusik, mit dem Luftelemente, zugleich das Seelische derMusik sich verbindet, das dann auch das Sehnsuchts-Ele-ment, das Schmerzens- und Leidens-Element der Musik,das Leidenschaftselement, das Todes-Element in sichträgt. Der Seufzer in der Musik erschien uns wie die an-schauliche Verbindung von Luftodem und Sehnsucht.

Eben dieses seelische und Sehnsuchtselement der Musik,so schien es uns, könnte dasjenige sein, was eine moder-ne, eine allermodernste Musik bewusst oder unbewusst zuüberwinden trachtet, bis einmal eine wahre Zukunfts-Musik, eine heute noch in der Zukunft liegende Musik die Mittel und den Weg gefunden haben wird, um durchdieses Seelische zum eigentlichen geistigen, zum kosmi-schen, zum Sternen-Elemente der Musik hindurchzusto-ßen. Von diesem kosmischen Elemente der Musik spra-chen wir auch als dem wogenden, rauschenden Meere desWeltenmusikalischen – auch das Ätherische wird ja imBilde des «Äthermeeres» vorgestellt – , während das an-dere, das mit dem Luftodem verbundene Seelische derMusik uns im Bilde des Windes, des Seufzer-Wehens, desSturmwindes der Leidenschaft usw. erscheinen konnte.Wind und Woge wurden uns so zu anschaulichen Bildern,um die beiden Elemente des Musikalischen, das irdischeund das kosmische, zu fassen. In der Bachschen Musikfanden wir durchaus die Woge, das rauschende Meer desWeltenmusikalischen vorherrschend. Das Wind-Element,die Sehnsucht, bei Mozart als leises Lüftchen, als zarterkindlicher Seufzer beginnend, fanden wir dann schon beiBeethoven zum Sturm der Leidenschaft anwachsen. Einegrandiose Verbindung der beiden Elemente des Musikali-schen, von Wind und Woge, erlebten wir in Richard Wag-ners Tristan und Isolde.

Die Erkenntnis von den beiden Elementen des Musi-kalischen, in anthroposophischen Schriften und Vorträ-gen in Einzelheiten ausgeführt, ist, so sahen wir, in denFragmenten des Novalis schon im Keime enthalten. Siehat außerdem einen wunderbaren dichterischen Aus-druck gefunden bei einem Dramatiker, dessen Werkeüberhaupt durch einen Reichtum geistiger Erkenntnisse,besser gesagt: des seelischen Erspürens der Weltgeheim-nisse ausgezeichnet sind, bei August Strindberg, imTraumspiel. Und wenn wir in dieser ganzen Betrachtungden Zusammenhang des Musikalischen mit den Welt-geheimnissen suchen, so kann dieser Zusammenhangnicht großartiger, und zugleich künstlerischer, poetischerausgesprochen werden, als es im dritten Akte von Strind-bergs Traumspiel, in jener Szene geschieht, wo sich die Indratochter und der Dichter am Meeresstrand, in derFingalsgrotte treffen. Schon die einleitende szenische Be-merkung «Musik der Winde, Musik der Wogen» deutet bild-haft dasjenige Motiv an, das wir in unserer Betrachtungfür das Geheimnis des Musikalischen – die Beziehung desErdenmusikalischen zum Weltenmusikalischen – als das

Die irdische und die kosmische MusikAus einem unveröffentlichten Manuskript von Hermann Beckh (1875–1937)

Page 14: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Wesentliche erkannten. In der Meeresgrotte selbst findenwir Geheimnisse des Klangätherischen und des musikali-schen Ohres angedeutet. Auf die Frage des Dichters «Wo-hin hast du mich geführt?» antwortet die Tochter: «Weitfort vom Murren und Jammern der Menschenkinder, andes Weltmeers äußerstes Ende, zu dieser Grotte, die man‹Das Ohr Indras›, weil der Himmelsherr hier, wie es heißt,den Klagen der Sterblichen lauscht.»

Und auf die weitere Frage des Dichters erwidert sie:«Siehst du nicht, dass diese Grotte wie eine Muschel ge-baut ist? Doch, du siehst es! Weißt du nicht, dass deinOhr wie eine Muschel gebaut ist? Du weißt es, doch duhast nicht daran gedacht.»

Zunächst sei aus der Indologie darauf hingewiesen,dass Indra, der hier im Namen der Tochter wie in dem-jenigen der Meeresgrotte – «Indras Ohr» –, die wieder als Bild des Menschenohres gedacht ist, vorkommt, imIndischen ja der Herr des Ätherelementes, und zwar inerster Linie des Klangätherischen ist (denn der Klang-äther, Akasha, ist für den Inder der primäre, wesentlicheÄther; wie die Elemente Feuer, Erde, Wasser, Luft als dieTräger des Sichtbaren, des Duftes, des Geschmacks, der

Berührung gelten, so das «Element Äther» , das «fünfteElement», als Träger des Tones.)

Und es spricht die Indratochter, die Wesenheit deskosmischen Klangäthers, in jener Meeresgrotte, die wiedas makrokosmische Urbild des menschlichen Ohresund seines Klangäther-Geheimnisses uns vorgeführtwird, indem sie eine [schneckenförmige] Muschel vomStrande dabei aufhebt, über diese Geheimnisse desKlangätherischen zu dem Dichter: «Hast du als Kind nieeine Muschel ans Ohr gehalten und gelauscht und ge-lauscht ... gelauscht auf das Sausen deines Herzbluts, aufdas Murmeln deiner Gedanken im Hirn, auf das Zerrei-ßen von tausend zarten, verbrauchten Fäden im Gewe-be deines Körpers ... Dies hörst du in der kleinen Mu-schel, nun ermiss’, was diese große da wiedertönt! ...»

Den modernen Erkenntnistheoretiker mag es befrie-digen, wie Strindberg hier zunächst beim Physiologi-schen des Phänomens stehen bleibt. Aber dieses Physio-logische wird hier zum Bilde für jenes Ätherische,Klangätherische, dem wir da auf der Spur sind, wo wirin der ans Ohr gehaltenen Meermuschel – mag reinphysiologisch das Geräusch wie immer zu erklären sein

Irdische und kosmische Musik

14 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Die indische Urwurzel wa als gemeinsamer Ursprung der beiden musikalischen Grundelemente

Alle Schöpfung geht durch den Schmerz: indem die Welten-schöpfung vom Geistig-Ätherischen herabsteigt ins Irdisch-Physische, geht sie auch in den Schmerz, in das Leiden,nimmt sie den Schmerz, das Leiden in sich auf. Es ist etwasaußerordentlich Bedeutsames, Weltenhintergründe Offenba-rendes, wenn wir im Windeswehen den Klageton zu verneh-men glauben, wenn wir vom «Geheul des Sturmwinds» usw.sprechen. So ist es eine weltentiefe Intuition des Sprachgeni-us, wenn in dem Worte Wehen Windeswehen und Schmer-zenswehen, Sehnsuchtswehen zusammentreffen: «Sind’s dei-ner Seufzer Wehen, die uns die Segel blähen? Wehe, wehe, DuWind! – Weh, ach weh, mein Kind!» Wagner, TristanUnd diese Intuition des Sprachgeistes ist gar nicht etwa alleinauf die deutsche Sprache beschränkt, wir finden sie vor allemauch in derjenigen der Ursprache besonders nahestehendenSprache, die wir eben schon streiften, im Indischen: Dort be-deutet die Wurzel wa ebensowohl das Windeswehen (es istdasselbe Wort wie das deutsche «wehen»), wie auch den We-he-Ausruf des Schmerzes. Im Zyklus über ägyptische Mythenund Mysterien [GA 106] spricht Dr. Steiner vom «UrworteWha» (das ist dieselbe Wurzel). Auch in dem für die Mysterienvon Gen. 2,7 so bedeutsamen Jahwe (I-H-W-H)-Namen ist sie,sind alle diese Luftodem-Geheimnisse, diese Geheimnisse desSeelischen, der Sehnsucht und des Leidens enthalten. Sieht man hin auf die ganzen Geheimnisse der indisch-ursprachlichen Wurzel wa/«wehen», so kann man finden,dass in ihr das Urmotiv von Wagners Tristan und Isolde

beschlossen liegt, jenes Urmotiv, das in dem gleich das Vor-spiel eröffnenden Sehnsuchtsmotiv seinen mantrisch-musi-kalischen Ausdruck gefunden hat.Insofern in diesem Motiv das Luftelement, der «wehendeOdem», mit allen seinen Beziehungen zu Sehnsuchtswehen,Schmerzenswehen enthalten ist, fühlen wir in ihm dasjeni-ge, was wir als das sekundäre Element der Musik bezeichne-ten. Dass auch das primäre nicht fehlt, wurde früher betont.Auch in dieser Richtung kann uns das Geheimnis der indi-schen Urwurzel wa ein Stück noch weiterführen.Denn diese Wurzel bedeutet nicht allein «wehen» und «we-he», Windeswehen und Schmerzenswehen, sondern es gibtnoch eine andere Wurzel wa (auch als we von der Grammatikangesetzt), die «weben» bedeutet. Anders ausgedrückt: In derUrwurzel wa fallen das deutsche «wehen» mit seinem Bei-klang von «wehe» und «weben» noch zusammen. Schon imindischen Rigveda ist dieses «Weben» durchaus auch schonein Bild des schöpferischen Weltenwebens. Wo beginnt die-ses schöpferische Weltenweben? Im Ätherischen, im Klangä-therischen. Wo wird das Weben zum Wehen, mit seinem Bei-klang des Schmerzlichen? Da wo die Schöpfung aus demGeistig-Ätherischen heruntergleitet ins Stofflich-Irdische, wodas Erdenstaubelement und mit ihm der irdische Luftodemdem Geschöpfe eingeprägt wird, wo Luftäther zu physischerAtemluft wird. Wo Erdenluft geatmet wird, da beginnt auchdas Leiden und Sterben. Zu zeigen, wie alles dieses nicht nurim Allgemeinen, sondern auch im Musikalischen und für dasMusikalische eine Wahrheit ist, bemüht sich unsere Betrach-tung.

Aus dem sechsten Kapitel.

Page 15: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Irdische und kosmische Musik

15Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

– etwas wie Meeresrauschen vernehmen, als ob dasMeer, dem die Meermuschel, oder Meerschnecke, ent-nommen ist, selbst in ihr forttönte und weiterrauschte.

In einer indischen Upanischad (Chandogya 3, 13, 7.8) ist auch davon die Rede, wie das Ätherische im Men-schen als Lichtphänomen, als Wärmephänomen, alsTonphänomen erlebt wird, jenes Ätherische, das da, woes das höchste Geheimnis des Lebens in sich schließt,das Brahman genannt wird, d.h. die verborgene Wesen-heit, das verborgene Wort, in dem wir leben und webenund sind, genauer übersetzt: werden, vergehen, atmen(tajjalan , sprich Taddschalan): «Was da als Licht jen-seits des Himmels leuchtet, auf dem Hintergrunde desAlls, was zugleich das Licht inwendig im Menschen,dessen Wahrnehmung ist, dass man hier im Leibe, beider Berührung, eine Wärme spürt, und dass man, wennman sich die Ohren zuhält, ein Tönen, ein Geräusch wie vonflammendem Feuer hört.» Diese indische Beschreibungdes Ohrmuschel-Geräuschs weist schon sehr in dieRichtung der Strindbergschen Schilderung des Meermu-schel-Tönens und ist uns hier dadurch interessant, wiesie mit dem Geheimnis des Ätherischen in Zusammen-hang gebracht wird. Ein unmittelbares Bild für das We-senhafte des Klangätherischen ist dem alten Inder wiedem Dichter Strindberg jenes Ohrmuschelgeräusch ...

An die Musik der Wogen, wie Strindberg es nennt, andie Musik des Meeresrauschens erinnert uns das Tönender Meermuschel, die in ihrem Bau der Ohrmuschelgleicht. Und in der Meeresgrotte «Indras Ohr», die in ih-rem Bau selbst wieder der Meermuschel (Meerschnecke),der Ohrmuschel («Schnecke» des Ohres) verglichen wird,ertönt mit der Musik der Wogen die Musik der Winde, diewir als das Bild des sekundären, des Luftelementes derMusik nahmen, so wie die Musik der Wogen als das Bilddes primären, des klangätherischen Elementes der Musikuns erscheinen konnte. Und wir erinnern uns, wie wirmit diesem sekundären, diesem Luftelemente der Musikdas Element des Seelischen, der Sehnsucht, des Schmer-zes, der Klage verbunden fanden. Das kommt nun wie-derum großartig in Stringbergs Traumspiel zum Ausdruckin der Art, wie er nun die Klage der Winde in diese großeMeeresgrotte, Meerschnecke, Meermuschel hereinertö-nen lässt (wir führen die zweite der Strophen an):

«Wir Winde, wir Kinder der Luft, wir tragen der Menschen Klagen.Du hörst uns im Herbst Im Schornstein,im Ofenrohr,durch den Fensterspalt,wenn draußen der Regen

auf die Dächer niederweint;du hörst uns im Winterim schneeigen Wald;auf dem wild wogenden Meerhörst du in Segel und TauStöhnen und Wimmern...Das sind wir, die Winde,die Kinder der Luft.In den Herzen der Menschen,die wir durchzogen,lernten wir diese Töne der Qual...Am Lager des Kranken,auf blutiger Walstatt;am bangsten doch klang unsvom Bettchen der Kleinendas Klagen und Schreienaus Angst vor dem Leben.Das sind wir, die Winde,wir weinen und winseln:Wehe, wehe, wehe!»

So ausdrucksvoll lässt Strindberg den Sturmwind vomLeiden des Irdischen, vom Schmerz und Weh der Erdeerzählen. Er lässt uns empfinden, wie in dem, was indem Luftelement sein Dasein hat – und das trifft auchalles Musikalische – der allem Irdischen beigemischteSchmerz seinen Ausdruck sucht.

Indras Tochter, die aus reineren Daseinssphären in diesesIrdisch-Menschliche herabgestiegen ist, nimmt teil anallen diesen Schmerzen des Irdisch-Menschlichen. Sosehr nimmt sie Anteil daran, dass sie sich ihren eigenenUrsprungswelten wie entrissen fühlt, dass sie den inne-ren Zugang dorthin nicht mehr findet, dass sie sich ganz

Im Anschluss an die oben angeführte Klage der Windefolgt im Traumspiel die von Beckh nicht zitierte «Musik derWogen»:«Die Tochter [zum Dichter]: Sei still! Die Wogen singen.Spricht zu leiser Musik:Das sind wir, die Wogen, wir wiegen die Winde zur Ruh!Grüne Wiegen sind wir, netzend und züngelndgleichen wir Flammen,feuchten Flammen;brennend und kühlend,badend und spülend,zeugend, empfangend.Wir, wir WogenWir wiegen die Winde Zur Ruh!»

Page 16: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

ins Irdische niedergezogen, an die Erdenelemente gefes-selt fühlt: «Meine Gedanken haben das Fliegen verlernt;Lehm an den Schwingen, Kot an den Füßen ... und ichselbst (erhebt die Arme) – ich sinke, ich sinke! ... Hilf mir,Vater, Himmelsgott! (Schweigen). Ich höre seine Antwortnicht mehr! Der Äther trägt den Hauch seines Mundes nichtzu den Gewinden meiner Ohren ... Der Silberfaden ist zerris-sen ... Weh mir, ich bin an die Erde gebunden!»

Ganz unmittelbar ist in diesen Worten wieder ein Ge-heimnis des Musikalischen, ist das Geheimnis der beidenElemente des Musikalischen ausgesprochen. Der «Silberfa-den» ist die geheime ätherische Verbindung, die vomSinnlichen, vom Erdenelement der Musik zum Über-sinnlichen, zum Kosmischen, zum Sternenelemente derMusik führt. Schon in der alten indischen Esoterik desAtharvaveda finden wir ähnliche Bilder. Diesen «Silber-faden» wieder zu finden, ist Aufgabe des geistigen Er-kenntniswegs. Auch der Musiker von heute wird seinerbedürfen, wenn er in die höheren, in die kosmischenGebiete, in die Sternengebiete der Musik, in das eigent-liche Zukunftsgebiet des musikalischen Schaffens denEingang finden will ...

Noch manches ist in Strindbergs Traumspiel hinein-geheimnisst, was gerade vom Musikalischen spricht:Die Boje, die man auf dem immer stürmischer werden-den Meer schwimmen sieht, trägt die Form von Lungeund Kehlkopf ... das Bild des Seesturmes, das wir ausdem Evangelium, das wir im Musikalischen aus Tristanund Isolde kennen, steigt vor uns auf, mit ihm das Bilddes über die Wogen wandelnden Christus, das die Men-schen, in denen «der Silberfaden gerissen ist», doch nurwieder in schreiende Angst versetzt ... «Wind» und«Woge», deren symbolische Bedeutung auch für die Pro-bleme der Musik wir zu erkennen versuchten, finden indiesem Bilde des über die Wogen Wandelnden eine hö-here Synthese, die uns ahnen lässt, in welcher Richtungdie großen Zukunftsprobleme des musikalischen Schaf-fens einmal gefunden werden können ...

Die «Klage der Winde» in Strindbergs Traumspiel, siekann uns an vieles erinnern, dem wir im Musikalischenschon begegnet sind... Das «Stöhnen und Wimmern inSegel und Tau auf dem wild wogenden Meer» kann unswie die Musik des Fliegenden Holländer klingen. ZumTraumspiel selbst gibt es eine melodramatisch begleiten-de Musik von [Emil Nikolaus] Reznicek, die bei Bühnen-aufführungen gerne verwendet wird. Gerade die musi-kalische Begleitung der «Klage der Winde» ist da sehrausdrucksvoll, trifft sehr den Ton, auf den das Ganze in-nerlich wirklich abgestimmt ist. Aber es will uns schei-nen, als wären wir dieser «Stimmung» schon einmal be-gegnet, in jenem Präludium von Chopin, das, seiner

Vorzeichnung (oder Nicht-Vorzeichnung) nach in A-moll stehend, in Wirklichkeit jenen eigenartigen, fastatonalen Charakter hat, besonders an jener Stelle, woDurterz und Mollterz so charakteristisch alternieren.Und das ist auch die Stelle, die uns am meisten an Rez-niceks Musik zur «Klage der Winde» erinnern kann. Eswar davon die Rede, wie dieses, für alle möglichen Pro-bleme des Musikalischen so aufschlussreiche Präludiumvon Chopin einen historischen Zusammenhang hat mitdem dumpfen Klang von Trauerglocken, den die Lüfteweithin tragen ... Den Zusammenklang menschlichenSeelenschmerzes mit dem, was im Luftelemente lebtund webt, ließ uns ja gerade Chopins Musik deutlich er-leben. Und Strindbergs Traumspiel zeigt uns in dichteri-schen Bildern, aber eindrucksvoll deutlich in der «Mu-sik der Winde», in der «Klage der Winde» das irdischeElement der Musik als ihr Element des Schmerzes, derSehnsucht, der Leidenschaft, in der «Musik der Wogen»,besonders da, wo sie aus der Meermuschel geheimnis-voll widertönt, ihr überirdisches, ihr kosmisches Ele-ment, das schöpferische Weben im Klangätherischen...

Hermann Beckh

Irdische und kosmische Musik

16 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

A U S D E M V E R L A G S P R O G R A M M

www.perseus.ch P E R S E U S V E R L A G B A S E L

Buchbestellungen über den Buchhandel

Norbert Glas:

August Strindberg1849–1912

Wiederverkörperung – Schicksal – Krankheit – an einem historischen Beispieldargestellt

Mit den Erinnerungen von C.L. Schleich

In den Jahren 1911 und 1923 – 24 hat Rudolf Steiner besondere In-dividualitäten aus seiner Forschung dargestellt, um an ihnen dieTatsachen der wiederholten Erdenleben klarzumachen. So enthüllte er in einem der Dornacher Vorträge, am 7. September1924 unter anderem den tiefen Schicksalshintergrund des Dichtersund Schriftstellers Johan August Strindberg. Es kann sich hier nichtdarum handeln, eine umfangreiche Biographie dieses Mannes zugeben, deren es ja heute genug gibt. Aber viele Tatsachen seines Le-bens erhalten erst dann einen Sinn, wenn sie unter dem Gesichts-punkte dreier vergangener Erdenleben betrachtet werden. Ohne ei-nen solchen Rückblick muss vieles in Strindbergs Leben rätselhaftbleiben.

(Aus der Einleitung von Norbert Glas)

Europäer-Schriftenreihe, brosch., 212 S., Fr. 26.– / € 16.–ISBN 3-907564-46-4

Page 17: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Das Camille-Quartett

17Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Am 8. September dieses Jahres fand ein ungewöhnli-ches Konzert statt. Das junge Camillequartett aus

Basel spielte Schuberts Streichquartett in d-Moll, «DerTod und das Mädchen», und nach einer Pause folgte dasStreichquartett in a-Moll von Johannes Brahms. DieAufführung dieser Quartette ist gewiss nichts Außerge-wöhnliches. Aber dass sie am Rande eines Friedhofs auf-geführt werden, ist wohl eher ungewöhnlich. An einemWaldrand, hoch über dem Hörnli-Friedhof in Riehen,bei einsetzendem Sonnenuntergang, mit Blick auf die inleichtem Dunst liegende Stadt Basel und das verhüllteRheinknie, ertönten um 19.00 die ersten Klänge Schu-berts. Es war ein unheimlich-schöner Augenblick. DieFrische und zugleich Innigkeit der Interpretation unddas perfekte Zusammenspiel des jungen Quartetts rühr-ten zweifellos an das Herz jedes einzelnen der wenigenZuhörer, die sich hergewagt hatten. Es lag eine unwirk-liche Atmosphäre über Szenerie und Spiel – vielleichtbesser: eine fast überirdische Atmosphäre, passend zumausklingenden Sommer wie zu den Moll-Kompositio-nen.

Aus Anlass dieses unwiederholbaren Konzertes stell-ten wir der Quartett-Gründerin Kristina Camille einpaar Fragen:

E: Frau Camille, wann wurde das Quartett, das IhrenNamen trägt, ins Leben gerufen?

CK: Das Quartett wurde zusammen mit der CellistinGiulia Ajmone-Marsan am Anfang dieses Jahres von mirgegründet.

E: Wo haben Sie Ihre musikalische Ausbildung ge-habt?

CK: Ich habe in England studiert, in einer Musik-schule eines Internates, später an der Guildhall Schoolin London. Dann studierte ich in Basel weiter. Seit mei-nem zehnten Altersjahr wollte ich Quartette spielen.

E: Was haben Sie für eine Vision für dieses jungeQuartett?

CK: Wenn man Quartette spielt, dann weil man dasentsprechende Repertoire liebt. Es ist keine Frage vonGeld oder Renommee – das ist ja mehr Glückssache, ei-ne Frage der richtigen Kontakte etc. Da spielt man gele-gentlich auch vor einem ganz kleinen Publikum. Das istaber nicht wichtig. Was wichtig ist, ist dass wir uns alsQuartett wie auch als einzelne Musiker entwickeln.

E: Haben Sie die beiden Quartette vom 8. Septemberlange geübt?

CK: Wir haben gewissermaßen «lateral» geübt, indemwir während der letzten acht Monate drei verschiedeneProgramme einübten, also nicht ausschließlich das vom8. September; zudem lernt man sehr viel auf der Bühneselbst; wie die anderen spielen und wie man selbst rea-giert. Im Übrigen machen wir seit August ein Studiummit Karoly Schranz, einem Mitglied des Takacs Quartetts.

E: Ein weltberühmtes Quartett! – Nochmals kurz zu-rück zum Konzert vom 8. September: Wie wichtig ist ei-ne solche Umgebung für das Spiel?

CK: Das spielt schon eine Rolle, aber während desSpiels konzentriert man sich natürlich auf das, was mantut. Ich bemerke auch erst nachher, wie viele Menschenda waren. Aber man nimmt natürlich vorher schon dieStimmung wahr. Draußen zu spielen ist nie leicht, esfehlt einem die Holz-Akustik. Es geht natürlich einigesverloren. Aber die Menschen im Publikum fanden es ex-trem schön, auch wegen der ungewöhnlichen Kombi-nation, mit Sonnenuntergang usw.

E: Wie kam es zur Wahl der Kompositionen?KC: Es war ein Auftragskonzert. Wir wurden darum

gebeten, diesen Schubert zu spielen. Den Brahms habenwir dann selbst dazu gewählt.

E: Nächste Vorhaben und Aufführungen?KC: Im Moment ist nichts geplant. Wir hatten einen

intensiven Anfang mit mehreren Tourneen. Jetzt übenwir verschiedene Repertoires ein.

E: Dann werden wir uns überraschen lassen!

(Die Fragen wurden von Th. Meyer gestellt.)Webseite: www.camillequartett.com

Schubert und Brahms in ungewöhnlicher UmgebungEin Hinweis auf das junge Camille-Quartett

Camille-Quartett aus Basel

Page 18: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Kosmologie im Markusevangelium

18

Der Impuls zur Erneuerung des Christentums, dersich im Laufe des 20. Jahrhunderts für viele Men-

schen aus der Anthroposophie Rudolf Steiners heraus-gebildet hat, birgt ungeahnte Möglichkeiten des religiö-sen und kulturellen Lebens, die in der Zukunft entfaltetwerden können. Manches hat sich schon früh ange-kündigt, ohne gleich in seiner Tragweite erkannt zuwerden. Hierzu kann die Kosmologie des Christentumsgerechnet werden, die mit dem Wandeln des ChristusJesus auf der Erde durch die zwölf Tierkreiszeichen ver-bunden ist. Wie eine in das Erdendasein eingeschriebe-ne, durch die zwölf Tierkreiszeichen führende Sonnen-bahn stellte Hermann Beckh die Wege des ChristusJesus in Schriften dar, die heute fast gänzlich in Verges-senheit geraten sind, die aber schon Anfang des letztenJahrhunderts wie ein Frühlicht vor Tagesanbruch er-schienen und heute vielleicht auf die Stunde ihres Son-nenaufgangs harren.

Die spirituelle Wirklichkeit der christlichen KosmologieHermann Beckh (4. 5. 1875 – 1. 3. 1937) war durch seinLeben in der Anthroposophie1 und durch seine Kennt-nisse altindischer, altpersischer und anderer Sprachenund deren Mythen in der Lage, das Leben des ChristusJesus als eine im Erdensein vollzogene, kosmisch impul-sierte Wanderung – durch Ereignisse mit den Qualitätendes Tierkreises – zu erkennen. In zwei Schriften hat erdiese Geheimnisse in Bezug auf das Markus-Evangelium(1928) und das Johannes-Evangelium (1930) darge-stellt.2 Die grundlegenden Entdeckungen sind in demWerk: Der kosmische Rhythmus im Markus-Evangeliumniedergelegt.

Einleitend bemerkt er, «dass in der Erzählung desMarkus-Evangeliums ein mit dem Durchgang der Sonnedurch die zwölf Tierkreiszeichen irgendwie in Bezie-hung stehender kosmischer Rhythmus gefunden wer-den kann, diese Tatsache ist zuerst von einer aller Geis-tesforschung, Anthroposophie und Theosophie ganzfernstehenden theologischen Forschungsrichtung gese-hen worden.3 Sternentatsachen, so meinte man, Him-melsvorgänge und Himmelskonstellationen seien imEvangelium beschrieben. Ein Sonnenleben, so fandman, nicht ein Erdenleben wird vom Evangelisten(Markus) erzählt. Im Wesen einer solchen ‹astralmytho-logischen› Forschung liegt es, dass sie die Tatsachen …nicht in dem Sinne ernst nehmen kann, dass sie irgendetwas von einer Christus-Wirklichkeit darin finden

könnte.»4 Hernach weist Beckh auf Rudolf SteinersWerk «Die geistige Führung des Menschen und derMenschheit», in dem die anthroposophischen Erkennt-nisse dieser christologischen Kosmologie geschildertwerden, auf die seine eigenen Forschungen gegründetsind.

Die zentrale Erkenntnis zu dieser Kosmologie wirdda u. a. mit folgenden Worten ausgesprochen: «Wäh-rend Jesus von Nazareth als Christus Jesus in den letzten drei Jahren seines Lebens vom dreißigsten bis zum dreiunddreißigsten Jahre in Palästina auf Erdenwandelte, wirkte fortwährend die ganze kosmischeChristuswesenheit in ihn herein. Immer stand derChristus unter dem Einfluss des ganzen Kosmos, ermachte keinen Schritt, ohne dass die kosmischen Kräf-te in ihn hereinwirkten. Was hier bei dem Jesus von Na-zareth sich abspielte, war ein fortwährendes Verwirkli-chen des Horoskopes; denn in jedem Moment geschahdas, was sonst nur bei der Geburt des Menschen ge-schieht. Das konnte nur dadurch so sein, dass der gan-ze Leib des nathanischen Jesus beeinflussbar gebliebenwar gegenüber der Gesamtheit der unsere Erde lenken-den Kräfte der kosmisch-geistigen Hierarchien. Wennso der ganze Geist des Kosmos in den Christus Jesus he-reinwirkte, wer ging dann zum Beispiel nach Kaper-naum oder sonstwo hin? Was da als ein Wesen auf derErde wandelte, das sah allerdings wie ein andererMensch aus. Die wirksamen Kräfte darin aber waren diekosmischen Kräfte, die von Sonnen und Sternen ka-men; sie dirigierten den Leib. Und je nach der Gesamt-wesenheit der Welt, mit welcher die Erde zusammen-hängt, geschah das, was der Christus Jesus tat. Daher istso oft die Sternkonstellation für die Taten des ChristusJesus in den Evangelien leise angedeutet …»5 Hier weistSteiner auf die Tageszeiten wie Abend und Morgen so-wie auf die Stunden des Tageslaufes hin, die als «zehnteStunde», «sechste Stunde» usw. immer wieder in denEvangelien angegeben werden. Das entspricht der Tat-sache, dass die Sonne im Verlauf eines Tages den gan-zen Tierkreis durchwandert und in diesem Sinne direktauf den Wandel Christi auf Erden deutet.

So wie der Tageslauf, kommt gleichzeitig, in einemübergeordneten Rhythmus, auch der Jahreslauf für dasDurchwandern der Sonne durch den Tierkreis und denWandel Christi auf Erden in Betracht. Diesen Jahres-lauf, der von Monat zu Monat im Sinne der Tierkreis-zeichen voranschreitet, hat, wie gesagt, Hermann Beckin dem Werk «Der kosmische Rhythmus im Markus-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Der kosmische Rhythmus im Markus-Evangelium

Page 19: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Kosmologie im Markusevangelium

19

Evangelium» dargestellt. In diesem Evangelium er-kennt er einen Weg, der im Zeichen des Steinbocks beginnt und dann durch das Zeichen des Wasser-manns, der Fische, des Widders, des Stieres, der Zwil-linge, des Löwen, der Jungfrau, der Waage, des Skor-pions und des Schützen als erste Runde hindurch geht.Dann folgen eine zweite und danach eine dritte Rundedurch den Tierkreis. Dadurch wird, wie Beckh sagt, «das heute noch von manchen für eine ‹schlichte Er-bauungsschrift› gehaltene Markus-Evangelium … zumeinzigartigen Panorama eines gewaltigen Geistgesche-hens, dessen Bilder in einer erschütternden, zu immergrößeren Höhepunkten emporstrebenden Dramatik an

uns vorüberziehen. Tatsachen eines in die Tiefen deschristlichen Mysteriums führenden Geistesweges wer-den in diesen Bildern offenbar.» Dieser Geisteswegkann in Form von drei Kreisen vorgestellt werden, dievon außen nach innen führend, durch die sechzehnKapitel des Markus-Evangeliums wie ein roter Fadenhindurchgehen.

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Der kosmische Rhythmus im Markus-Evangelium nach HermannBeckh, dargestellt als drei Runden einer Tierkreis-Spirale. Jede Runde beginnt im Steinbock. Das Christusleben selber beginntaber erst im Zeichen der Fische. Von den einzelnen Tierkreis-Gesten sind nur Stichworte angegeben.

Page 20: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Kosmologie im Markusevangelium

20

Einige Hinweise mögen erläutern, wie sich der kosmi-sche Rhythmus im Markus-Evangelium durch die Tier-kreiszeichen anbahnt.

Johannes der Täufer im Zeichen von Steinbockund WassermannDer Anfang des Markus-Evangeliums – gemäß Beckhim Zeichen des Steinbocks – beginnt mit dem Ruf Jo-hannes des Täufers: «Ändert euren Sinn». Johannes hatsich in die Einsamkeit der Wüste zurückgezogen undernährt sich von wildem Honig und Heuschrecken. AlsIndologe erkennt Beckh die Wüste, in der Johannes derTäufer predigt, nicht nur als geographische Angabe,sondern macht geltend, dass man «in alten Zeiten …das Tierkreiszeichen des Steinbocks die himmlischeWüste genannt» hat und der «wilde Honig» als ein«Honig der himmlischen Wildnis, Lebensäther der Ster-ne» bedeutet, den die Inder «himmlischen Soma» nann-ten. Zum Beispiel wurde «dem noch im Mutterleibeweilenden Buddhakind – so kommentiert Beckh weiter– von Göttern in einer Schale von Beryll ein kosmischerHonigtropfen als Atzung gereicht». Damit ist auf kosmi-sche Kräfte im Zeichen des Steinbocks gedeutet, dieauch bei der Inkarnation des Menschen wirksam sind.Dazu kommt, dass auch die Geburt des Weihnachts-kindes, die Markus ja nicht beschreibt, ebenfalls imZeichen des Steinbocks steht, das die Zeit vom 21. De-zember bis zum 20. Januar umschließt. Johannes derTäufer hingegen deutet in diesem Zeichen nun ebennicht auf die Geburt des physischen Leibes aus derGeistwelt, sondern auf die Erhebung zu dem geistigenUrsprung der Geburt, auf die «himmlische Wüste» imZeichen des Steinbocks.

Auf das Zeichen ‹Steinbock› folgt das des Wasser-manns, mit der Wassertaufe. Die Wassertaufe bewirktzunächst eine geistig-seelische Lockerung, die demMenschen das Bekennen seiner Sünden ermöglicht.Zweifellos ist damit nicht nur ein Bekennen einzelnerVergehen gemeint, sondern das Gewahrwerden desmenschheitlichen Falles in die Sünde, des in der Gene-sis geschilderten Sündenfalls. Durch das Gewahrwer-den dieses Umstandes wird dem Menschen bewusst,dass er sich in einem Zustand befindet, in dem er vonder göttlich-geistigen Welt abgesondert ist. Diese Son-derung ist die eigentliche Sünde, die uns erst unsereErlösungsbedürftigkeit bewusst macht und von innenheraus auf Christus als Erlöser und Heiland hoffendhinschauen lässt. Wassertaufe und Sündenbekenntnisstehen beide im Zeichen des Wassermanns und gehö-ren zusammen.

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Das Wesen des kosmischen Rhythmus

Um das Wesen des im Markus-Evangelium enthaltenen (...)kosmischen Rhythmus zu verstehen, ist es nicht notwen-dig, sogleich zum Sternhimmel aufzuschauen, in einseitigerWeise nur an Sternentatsachen und Sternkonstellationendabei zu denken. In diesem Punkte gerade kann diese Dar-stellung einer (...) theologisch-astralmythologischen Rich-tung, die bei der Betrachtung der einzelnen Evangelien-Abschnitte fortwährend auf alle möglichen Details derSternkarte Bezug nimmt, nicht folgen. Sie kann die oft-mals sehr äußerliche Art, wie da in gewissen Schriften (vondenen Das Markus-Evangelium von Arthur Drews am be-rühmtesten geworden ist) sozusagen alle möglichen Punkteder Evangelien-Erzählung über die Sternkarte hin verteiltwerden, nicht mitmachen. Es soll damit keineswegs vonvornherein in Abrede gestellt werden, ob es nicht in der Zu-kunft vielleicht auch einer wirklich spirituellen Betrach-tung einmal noch gelingen könnte, solche weitergehende«Sternentatsachen» in der Evangelienerzählung aufzufin-den. Bis heute aber ist eine wirklich spirituelle Darstellungder fraglichen Tatsachen weder gefunden noch gegebenworden. Und die gegenwärtige Darstellung wird sich zu-nächst und im wesentlichen darauf beschränken, den zum Gang der Sonne durch die zwölf Tierkreiszeichen inBeziehung stehenden Evangelien-Rhythmus, diesen abernicht in der äußerlichen Art gewisser astralmythologischerSchriften, sondern in einem mehr geistigen Sinne aufzu-zeigen.Der hier gemeinte, in der Erzählung des Markus-Evangeli-ums enthaltene «kosmische Rhythmus» ist eine geistigeTatsache, die in dem jährlichen Gang der Sonne durch diezwölf Tierkreiszeichen nur gleichsam ihr äußeres Abbild inder «Himmelsschrift» hat. (Über das Wesen einer solchen inNatur- und Himmelstatsachen enthaltenen «großen Chif-fre-Schrift» findet man schöne Sätze im Eingang der dichte-rischen Prosaschrift «Die Lehrlinge zu Sais» des Novalis).Der geistigen Tatsache des kosmischen Rhythmus könnenwir uns im eigenen Leben wie im Miterleben des Jahreslau-fes, in der Betrachtung der Menschengestalt und des geisti-gen Menschenwesens wie des Wesens der Töne und Ton-arten unmittelbar bewusst werden. Auch dieses kann (wiein der Schrift «Das geistige Wesen der Tonart» zu zeigen ver-sucht wurde) wie eine Parallele desjenigen empfunden wer-den, was im Jahreslauf und Jahresrhythmus sich offenbart.Und dieser Rhythmus hat wiederum sein kleines Abbild in demjenigen des Tageslaufes, so wie er im «platonischenWeltenjahr», in der rückläufigen Verschiebung des Früh-lingspunktes durch alle zwölf Tierkreiszeichen im Laufe von25 920 Jahren, sein größeres kosmisches Gegenbild hat. Erstwenn wir in der Verschiedenheit der in Betracht kommen-den Offenbarungsgebiete das Gemeinsame auffinden, drin-gen wir tiefer in das geistige Wesen des hier gemeinten kos-mischen Rhythmus ein.

Aus: Der kosmische Rhythmus im Markus-Evangelium, Kapitel «Das Wesen des kosmischen Rhythmus».

Page 21: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Kosmologie im Markusevangelium

21

Vom Wirken Christi im Zeichen der FischeAuf den Wassermann folgt das Tierkreiszeichen ‹Fische›.In diesem Zeichen ereignet sich die von Johannes demTäufer vollzogene Taufe Jesu im Jordan. Die ‹Fische› selber sind das Zeichen der Sonnenkräfte des Christus,die sich jetzt mit der Erde und der Menschheit verbin-den. Hiermit beginnt die Inkarnation Christi als kosmi-sche Tatsache, die sich dann im Laufe der drei Jahrevollenden wird. Das erste Jahr des Christus-Lebens gehtnach dem Tierkreiszeichen der Fische durch Widder,Stier, Zwillinge, Krebs (der Löwe wird gemäß Beckh imMarkus-Evangelium ausgespart), Jungfrau, Waage, Skor-pion, Schütze, Steinbock und Wassermann. Dann be-ginnt das zweite Jahr von Christi Erdenwandel wieder-um im Tierkreiszeichen der Fische. Die zweite Runde –beginnend im Zeichen der Fische, fängt mit der «Spei-sung der Fünftausend» an.

Voran geht die Enthauptung von Johannes dem Täu-fer. Dadurch sind viele Menschen, und zwar jene «fünf-tausend», wie es heißt, ohne «Hirten», deren sich nunChristus annimmt, ihnen predigt und sie am Abendspeist. Er nimmt fünf Brote und zwei Fische, dankt mitzum Himmel erhobenem Blick und gibt sie den Jün-gern, die sie an die Menschen verteilen, die sich inzwi-schen in kleinen Gruppen lagerten. Am Ende der Spei-sung sind alle satt geworden, und immer noch werdenvon den übrigbleibenden Brocken zwölf Körbe voll auf-gelesen.

Hier ist wichtig, dass es zu jedem Tierkreiszeichen einGegenzeichen gibt. Die Verbindung von Zeichen undGegenzeichen ist immer in der einen oder anderen Wei-se wirksam. Den Fischen gegenüber steht das Zeichender «Jungfrau» (siehe Zeichnung). Während die Spei-sung der Fünftausend im Zeichen der Fische steht, stehteine zweite Speisung, von der die Evangelien berichten,die für viertausend Menschen erfolgt, im Tierkreiszei-chen der Jungfrau. Gerade bei den zwei Speisungswun-dern fällt der Zusammenhang von «Fischen» und «Jung-frau» als Zeichen und Gegenzeichen unmittelbar auf.Dazu kommt, dass Brot und Korn nicht nur in den bei-den Speisungswundern, sondern auch in dem Sämanns-gleichnis und dem Abendmahl, die ebenfalls im Zei-chen der Jungfrau wie in einer Linie liegen, aufeinanderbezogen sind.

Die Substanzen, die bei der Speisung der Fünftausendangeführt werden, deuten mit fünf Broten, zwei Fischenund zwölf Körben auf weitere Zusammenhänge mit denTierkreiszeichen, wovon nur angedeutet sei, dass dieZahl «zwölf» auf die Ganzheit der zwölf Tierkreiszei-chen hinweist.

Ein- und ausstrahlende kosmische KräfteDie zwölf Körbe in dem Speisungsgeschehen, die zuletztgleichermaßen «voll» sind, deuten in der Weise auf diekosmischen Kräfte, dass sie unabhängig von der Diffe-renzierung in zwölf qualitativ verschiedene Abschnittedes Tierkreises etwas grundlegend Gleiches beinhalten.Ebenso allgemein strömt fortwährend aus allen Rich-tungen des Sternenkosmos eine geistige Grund-Sub-stanz auf die Erde, die das menschliche Leben mit demGeistkosmos kontinuierlich verbindet. Rudolf Steinerschildert: «… Dasjenige, was den Vermittler abgibt zwi-schen dem geistigen Weltall – denn das Weltall ist mitGeist und Geistern erfüllt – und der Erde, wo wir woh-nen, das ist nicht Ruhe; da strömt fortwährend eine fei-ne Substanz, die man nicht im chemischen Laborato-rium erzeugen kann, weil sie nicht zu den chemischenElementen gehört. Diese feine Substanz strömt fortwäh-rend aus dem weiten Weltenall auf die Erde ein. So dass,wenn man das schematisch zeichnen will, man so sagenkann: Wenn hier die Erde ist im Weltenraume (sieheZeichnung), so strömt fortwährend von allen Seiten aufdie Erde Weltenmaterie ein, eine feine Weltensubstanz(Pfeile einwärts); diese feine Substanz dringt sogar etwasunter die Erde hinein. So dass fortwährend dies da ist:Aus dem ganzen Weltenraume senkt sich Substanz ge-gen die Erde hinein. Es ist eigentlich nicht physischeSubstanz, es ist nicht ein chemisches Element, es ist et-was Geistiges, aber es ist wirkliche aurische Substanz,die sich bis unter den Boden der Erde hineinzieht. Indieser Substanz liegen die Kräfte, die wir benützen,wenn wir aus der geistigen Welt heruntergehen auf dieErde, um in einem physischen Menschenleib Platz zufinden.

Nun ist es bedeutsam, dass diese Substanz, welche zurErde strömt und von der Erde wieder fortströmt, dassdiese Substanz, wenn sie fortströmt von den Menschen,wenn sie sterben, benützt wird, um wiederum die Kräf-te zu finden, in die geistige Welt hineinzukommen. Die-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 22: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Kosmologie im Markusevangelium

22

se Materie, die ich hier im Zuzuge zur Erde einwärts an-gedeutet habe, die geht bis zu einer gewissen Tiefe inden Erdboden hinein, strömt dann wiederum fort (siehePfeile nach auswärts); so dass man fortwährend wahr-nehmen kann eine Art Einatmen von Äther oder auri-scher Substanz in die Erde, und wieder ein Ausatmen.

Es ist dieses eine Beobachtung, die man nicht soleicht machen kann. Aber wenn man sie einmal ge-macht hat, wenn man einmal darauf gekommen ist,daß die Erde eigentlich fortwährend geistige Substanzeinatmet und ausatmet, dann weiß man sie auf alleVerhältnisse und vor allen Dingen so auf das menschli-che Leben anzuwenden, wie ich es jetzt gesagt habe. Al-so mit dem, was ich hier in der Zeichnung mit Pfeileneinwärts angedeutet habe, kommen wir herein in unse-re Leiblichkeit; mit dem, was ich mit Pfeilen auswärtsangedeutet habe, kommen wir wiederum heraus im To-de.6 Diese Geistigkeit lebt während des ganzen Erdenle-bens im Menschen. Sie ist der Träger der mannigfaltigenDifferenzierungen durch die einzelnen Tierkreiszeichenund Planeten, deren Qualitäten sie dem Menschen zu-gänglich macht, womit sie ihn geistig gewissermaßenernährt.

Alte und neue Einrichtungen geistiger ErnährungVon geistiger Ernährung wird schon in alten Zeiten derMenschheit berichtet, zum Beispiel auch im Alten Tes-tament. Als Moses die Israeliten aus Ägypten durch dieWüste in das Land Kanaan führt und keine Nahrungund kein Wasser vorhanden ist, sodass die Menschenvon Hunger und Durst bedroht werden, erbittet Mosesvon Gott Hilfe. Zuerst kommt vom Himmel ein «Brot»,Mannah genannt, das wie vom Tau auf die Erde getra-gen, jeden Morgen aufgelesen werden kann und dieMenschen während der Wüstenwanderung ernährt. Esist eine geistige Substanz, die ausdrücklich vom Him-mel kommt, das heißt aus dem Kosmos, und damit inder von oben nach unten gehenden Strömung er-scheint. Dann wird den Israeliten zum Löschen ihresDurstes ein Felsenquell eröffnet. Hierfür schlägt Mosesauf Geheiß Gottes mit seinem Stab an einen Felsen,aus dem alsbald das Wasser hervorströmt. Selbstver-ständlich kann kein physisches Wasser aus einem Fel-sen hervorkommen. Aber jene ätherischen Kräfte, dieerst von oben einströmen, etwas in die Erde eindrin-gen und dann wie eine Quelle wieder nach oben drin-gen, können im Bild dieses Felsenquells erkannt wer-den. So erscheinen das Mannah und der Felsenquell als Bilder der ein- und ausstrahlenden Kräfte, die in der«Wüste» als geistige Nahrungssubstanzen empfangenwerden.

Was den alten Israeliten durch Moses zuteil wurde,hat Paulus direkt mit der Wesenheit des Christus ver-bunden. Im ersten Brief an die Korinther schreibt er: Ichwill euch, liebe Brüder, nicht darüber in Unwissenheitlassen, was es heißt, dass unsere Väter alle … die gleichegeistige Speise gegessen haben und den gleichen geisti-gen Trunk getrunken haben. Denn sie tranken aus demgeistigen Felsen, der ihren Weg begleitete, und dieserFels war der Christus (1. Kor. 10, 1–4). Paulus deutet da-mit an, dass die christliche Kosmologie bereits in dervorchristlichen Zeit wirksam war.

Im Urchristentum selber gibt es sodann die religiöseSitte des Brot-Brechens, bei der sich die Menschen imAngedenken Christi in ihren Häusern versammeln. Hierwird wohl ebenfalls eine Vergegenwärtigung des kosmi-schen Christentums erlebt, worauf auch Bilder aus denKatakomben und anderen Versammlungs- und Gebets-räumen des Urchristentums hinweisen.

Auch heute ist die geistige «Ernährung» durch diechristliche Kosmologie möglich. Im Anschauen derTierkreis-Gesten des Evangeliums kann eine geistigeEmpfänglichkeit für die kosmischen Kräfte entstehen.Beckh hat als methodischen Hinweis auf ein innerlichesAnschauen und Bewegen dieser Tierkreis-Gesten desEvangeliums hingewiesen, indem wir – «genau wie imErleben irgendeines anderen großen Dramas, einfach je-ne Bilder (des Evangeliums) auf uns wirken lassen, dasswir sie erlebend in uns denken. Dann werden sich bei ge-nügender innerer Hingabe von selbst, beim einen frü-her, beim andern später, innere Spürorgane der Seeleentwickeln, deren Regung ihm dann schon sagen wird,ob und inwieweit eine geistige Wirklichkeit hinter je-nen Bildern steht, und von welcher Art und Beschaffen-heit diese Wirklichkeit ist.» In diesem Sinne kann dieBeschäftigung mit dem kosmischen Rhythmus im Mar-kus-Evangelium zur geistigen Erfahrung als einer geisti-gen Ernährung werden, wofür Gemeinschaftszusam-menhänge nötig sind.

Imanuel Klotz

1 Hermann Beckh war auch Priester in der Christengemein-

schaft

2 Hermann Beckh, Der kosmische Rhythmus im Markus-Evange-

lium, Basel 1928 und Der kosmische Rhythmus im Johannes-

evangelium, Basel 1930.

3 Es knüpft sich diese Forschungsrichtung vor allem an die

Namen Erbt, Drews, Jensen, Njemojewski.

4 Beckh, Der kosmische Rhythmus, S. 7.

5 Rudolf Steiner, Die geistige Führung des Menschen und der

Menschheit, Dornach 1963, GA 15, Seite 76 f

6 Rudolf Steiner, Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse,

Vortrag vom 13. Januar 1918, GA 180

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 23: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

In Memoriam Paula Modersohn

23

Sie gehört zu den großen Vorreitern der modernen Malerei:Paula Modersohn-Becker (1876–1907). Die Worpsweder

Künstlerin starb mit 31 Jahren; ihr künstlerischer Werdegangist auf nur zehn Jahre verdichtet – ein Grund, warum sie vonihren Biographen immer wieder als «Frühvollendete» bezeich-net wurde. Den besonderen kunsthistorischen Stellenwert ih-rer Malerei zu würdigen, ist das Anliegen zweier Ausstellungenin Bremen, die noch bis 24. Februar 2008 zu sehen sind: DieBremer Kunsthalle konzentriert sich auf Berührungspunkte mit berühmten Künstlern in Paris um 1900, und das PaulaModersohn-Becker-Museum vergleicht einige ihrer Portraitsmit antiken Mumienportraits aus dem 1. bis 4. Jh. n. Chr.

Vollendung eines kurzen intensiven Lebens«Wie kann man das Leben verstehen, wenn man es nichtauffasste als das Arbeiten jedes einzelnen am Geiste, mankann wohl sagen, am heiligen Geiste.»1 schrieb Paula Mo-dersohn-Becker knapp ein Jahr vor ihrem Tod. Die Art,wie die Künstlerin vor 100 Jahren – am 20. November1907 – aus dem Leben schied, erweist sich als würdigerAbschluss ihres reichen kurzen Daseins:

Ungefähr drei Wochen, nachdem sie ihr Kind zurWelt gebracht hatte, durfte sie mit ärztlicher Erlaubnisvom Wochenbett aufstehen. Sie bereitete sich feierlichauf dieses Ereignis vor, ließ sich einen Spiegel ans Fuß-ende ihres Bettes stellen, kämmte ihr rotbraunes Haar,flocht es, steckte es hoch, dass es aussah wie eine Kroneund schmückte sich mit Rosen. In Begleitung ihres Man-nes und ihres Bruders ging sie ins Wohnzimmer, wo un-zählige Kerzen brannten. Dort bat sie, man möge ihr dasKind in die Arme legen. Als dies geschehen war, sagte sie:«Nun ist es fast so schön wie Weihnachten.» Doch plötzlichschmerzte das Bein so sehr, dass sie es hochlegen muss-te. Als man ihr zuhilfe kam, sagte sie nur «schade», dannkonnte sie bloß noch röcheln. Ihr Tod kam völlig über-raschend; sie starb an einer Lungenembolie.

Innerer SonnenscheinPaula Beckers positives Verhältnis zum Weihnachtsfestdokumentiert auch ein Brief vom 25. Dezember 1900 an ihren Verlobten Otto Modersohn: «Alle sind beflügelt von einer Festfreude,» berichtet sie aus ihrem Elternhaus,«und dieser innere Sonnenschein, den ein jeder in sich trägt,der macht goldene Brücken. Ich wärme mich an diesem StückChristentum und nehme es entgegen wie ein Märlein. Unddann, weißt Du, ist es solch ein Fest für Frauen, denn dieseMutterbotschaft, sie lebt ja immer noch weiter in jedem Wei-

be. Das ist alles so heilig. Das ist ein Mysterium, das fürmich so tief und undurchdringlich und zart und allumfas-send ist. Ich beuge mich ihm, wo ich ihm begegne. Ich kniedavor in Demut. Das und der Tod, das ist meine Religion,weil ich sie nicht fassen kann.»2

Der «innere Sonnenschein», von dem Paula Beckerim Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest spricht,sowie die Frage nach Geburt und Tod sind auch in ih-rem malerischen Werk zu spüren. Ihre Kinderbildnisseund die Mutter-Kind-Darstellungen, die im Laufe ihresKunstschaffens immer mehr an Tiefe gewinnen, ent-springen keineswegs nur dem eigenen Kinderwunsch.Liest man ihre Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, sokann man den Eindruck bekommen, dass sich PaulaModersohn-Becker bei aller Reflektiertheit und intelli-genter Aufgewecktheit eine kindliche Unbedarftheitund Ehrfurcht vor den Wundern der Schöpfung be-wahrte. Dieser kindhaft-schöpferischen Seite in sich sel-ber verdankt sie vermutlich auch ihre erstaunliche Fä-higkeit, sich in das Kindwesen hineinzuversetzen. Anihren Bruder schrieb sie am 26. April 1900: «Es ist wun-derbar, wie solch ein kleines Kindergemüt ein Ding ergreiftund von ihm innerlich durchtränkt wird, sich dem Eindruckin seiner Unbewusstheit völlig hingebend. Diese Auffassung

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

«Mit Weihnachten wachsen»Zum hundertsten Todestag von Paula Modersohn-Becker Teil 1

Abb. 1: Paula Modersohn-Becker«Zwei Mädchen in weißem und blauem Kleid, sich an der Schulterumfassend», Mai/Juni 1906. Pappe, 58,5 x 40 cm. Privatbesitz Hamburg

Page 24: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

In Memoriam Paula Modersohn

24

in unsere bewussten Jahre mit hinüber zunehmen, das ist etwas Wunderbares.»3 Ineinem Buch über Paula Modersohn-Be-cker erläutert Boda Hülsmann, wie dieKünstlerin es vermochte, «das göttlicheKind im irdischen Kind zu gestalten»4, jaman kann sagen, dass viele ihrer Bilderauf eine ganz unkonventionelle Art dieWeihnachts-Botschaft verkünden; dieBotschaft von der Ankunft des «Mensch-heitskindes» in einer dunklen, liebear-men Zeit. (Abb. 1)

Leuchten ohne SonneZu den Schwierigkeiten, im zeitgemäßenSinne «das irdische Kind für das göttlicheKind transparent werden zu lassen», äußertsich Boda Hülsmann.5 Notwendige Vo-raussetzung ist, dass die Malerei selbst ei-nen «Geburtsvorgang» beziehungsweiseeinen «Umstülpungsprozess» durchläuft.Ende des 19. Jahrhunderts – so Hüls-mann – hatte der Impressionismus einenHöhepunkt erreicht und rief aus sich he-raus «eine Art Umstülpung» hervor, «näm-lich die Einfachheit geistig erlebter Urformenund einen neuen Farbensinn.»6 Dies mein-te wohl auch Paula Modersohn-Becker,wenn sie erklärte, man müsse mit dem«verarbeiteten, verdauten Impressionismus»arbeiten.7 Das Licht der Impressionistenhat die Kunst in einer Weise befruchtet,dass es nun aus der Dunkelheit herausselbst als gestaltende Kraft wirksam wer-den kann. Unabhängig von einer äuße-ren Lichtquelle leuchten die Farben jetztvon innen heraus, und es war Paula Mo-dersohn-Beckers Bestreben, Farbe undForm so zu vereinigen, dass sich das We-senhafte der Dinge aussprechen kann.

Schon Anfang Mai 1900 spricht Paula Becker vom«farbigen Leuchten im Schatten» und vom «Leuchten ohneSonne», nach welchem sie strebe.8 Ihre Fähigkeit, Farbenals innere Qualitäten wahrzunehmen, hat sie mit densogenannten Vätern der Moderne – Gauguin, Cézanneund van Gogh – gemeinsam, mit denen sich die Quali-tät ihrer Bilder durchaus vergleichen lässt. Doch nichtnur die Farbe, auch die Linie wird mehr und mehr in ih-rer Eigengesetzlichkeit – ihrem gestischen Charakter –erfahren. Wie sehr die Künstlerin diesbezüglich ihrerZeit voraus war, zeigt die derzeitige Ausstellung in der

Kunsthalle Bremen. Paula Modersohn-Becker ist zudem neben Cézanne eineder ersten, die die Überwindung derräumlichen Perspektive vollzogen.

Innere Verwandtschaft zur AntikeInteressanterweise führt diese Suchenach neuen Gestaltungsmöglichkeiten invieler Hinsicht wieder zu alten Darstel-lungsweisen zurück. Es ist dies ein be-wusstes Ergreifen von Gestaltungsprin-zipien, die früher – wie Rudolf Steinermehrfach ausführt – noch aus einemhellseherischen Bewusstsein heraus sogewählt wurden, dass sich Geistiges da-rin ausdrücken kann. Insofern ist es keinWiderspruch, wenn Paula Modersohn-Becker sich einerseits von den (damalsnoch recht unbekannten) Avantgarde-Malern und andererseits von der Antikeinspirieren lässt.Die Künstlerin, die eigentlich in Worps-wede beheimatet war, reiste insgesamtviermal nach Paris. Dort besuchte sie pri-vate (akademisch ausgerichtete) Kunst-schulen und studierte zusätzlich die mo-dernen Kunstrichtungen sowie die imLouvre und anderen Museen ausgestellteältere Malerei. Während ihres zweitenParis-Aufenthaltes 1903 entdeckte sieauch die Antike für sich: «Ich fühle eineinnere Verwandtschaft von der Antike zurGotik, hauptsächlich die frühe Antike, undvon der Gotik zu meinem Formempfinden.Die große Einfachheit der Form, das ist et-was Wunderbares. Von jeher habe ich michbemüht, den Köpfen, die ich malte oderzeichnete, die Einfachheit der Natur zu ver-leihen. Jetzt fühle ich tief, was ich an denKöpfen der Antike lernen kann. Wie sind

die groß und einfach gesehen! Stirn, Augen, Mund, Nase,Wangen, Kinn, das ist alles. Es klingt so einfach und ist dochso sehr, sehr viel.»9

Mumienportraits aus FayumIm Louvre war es auch, wo Paula Modersohn-Becker aufantike Portraits stieß, die im oberägyptischen Oasenge-biet Fayum ausgegraben worden waren. Die Holztafeln,auf die mit Tempera- oder wachshaltigen Farben mensch-liche Gesichter gemalt sind, waren einst Bestandteile vonMumienhüllen, in deren Kopfteil sie eingearbeitet waren

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Abb. 2: Mumie eines Mannesmit eingelassenem Portrait, um160 –180 n. Chr.Fitzwilliam Museum, Cambridge

Page 25: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

In Memoriam Paula Modersohn

25

(Abb. 2). Die Mumien samt der Portraitsstammen aus dem römisch besetzten,also kaiserzeitlichen Ägypten und wur-den innerhalb eines Zeitraumes hervor-gebracht, der ungefähr zwischen 33 n.Chr. und dem Verbot heidnischer Kultegegen Ende des vierten Jahrhundertsliegt. Es handelt sich bei den Mumien-portraits weder um Erzeugnisse der alt-ägyptischen Epoche noch um spezi-fisch ägyptische Kunst. Wenngleich dieägyptische Tradition des Mumifizierensdamals übernommen wurde, so sinddie Portraits, welche die früheren ägyp-tischen Totenmasken ersetzten, eineeindeutig römische Zutat. Diese römi-schen Bildwerke, in denen die posthumoder zu Lebzeiten gemalten Verstorbe-nen als Individualität erkennbar sind,zeugen von jenem Persönlichkeitsbe-wusstsein der vierten nachatlantischenKulturepoche (747 v. Chr. – 1413 n.Chr.), die Rudolf Steiner als Epoche derVerstandes- und Gemütsseele bezeich-nete. (Abb. 3)

Fenster ins JenseitsWas diese Mumienportraits so interes-sant macht, ist, dass sie in jener Zwi-schenzeit entstanden sind, in der alteverlöschende, «heidnische» Weisheitund aufkeimendes Christentum ne-beneinander existierten. Man geht au-ßerdem davon aus, dass sie über By-zanz die Ikonenmalerei beeinflussthaben. Als Vorläufer der Ikonen undals Nachfolger der ägyptischen Mu-mienmasken bilden sie sozusagen eineBrücke zwischen vorchristlicher undchristlicher Ikonographie, wobei dieallen drei Bildtypen gemeinsame Be-deutung darin besteht, eine Art «Fens-ter» zwischen Diesseits und Jenseits zusein.10 Viele Jahrhunderte lang warendie Mumienportraits in Fayum unterdem Wüstensand vergraben, bis sieEnde des 19. Jahrhunderts wieder zumVorschein kamen, das heißt gerade in jener Zeit, in welcher sich der be-schriebene «Umstülpungsprozess» inder Kunst vollzog.

Auf die Ähnlichkeiten der Por-traits und Selbstbildnisse Paula Mo-dersohn-Beckers mit den Mumien-portraits wird immer wiederhingewiesen, doch handelt es sichkeineswegs um «Nachahmungen»,sondern um ganz eigenständigekünstlerische Arbeiten. Die Künst-lerin fand in den Mumienportraitseine Bestätigung dessen, was sie fürsich selbst erstrebte: «bei intimsterBeobachtung die größte Einfachheitanstreben»11. Auffallende Parallelenzu den Grabportraits weist zum Bei-spiel eines ihrer bedeutendstenSelbstbildnisse auf (Abb. 4), welcheszur Zeit in der Ausstellung «PaulaModersohn-Becker und die ägyptischenMumienportraits» bestaunt werdenkann. Mit Bernsteinkette und einemZweig des immergrünen Kamelien-strauchs präsentiert sie sich hier vorleuchtend hellblauem Hintergrund.Bemerkenswert ist vor allem dieHand, die wie ein großes goldenesSamenkorn aussieht, aus dem derKamelienzweig herauswächst.

Mütterliche ErdmächteAngeregt durch die antike Formen-sprache fand Paula Modersohn-Be-cker auch einen neuen Zugang zuden Menschen, die sie in ihrer Hei-mat Worpswede malte. Diese meistaus dem Armenhaus stammendenMenschen standen ihr jetzt nochstärker als bisher in ihrer Urbildhaf-tigkeit vor Augen. So sieht sie in denalten Frauen, die ihr mühsames undsorgenvolles Leben im WorpswederMoor verbracht und sich durch ihreArbeit mit den Naturkräften der Erde verbunden haben, die Offen-barung mütterlicher Erdmächteschlechthin. Jedoch gerade in ihrerSchwere und Ernsthaftigkeit strah-len sie zugleich eine Innerlichkeitaus, welche sie gleichsam heiligt.Besonders berührend in ihrer Hal-tung stiller Ergebenheit wirkt die«alte Bäuerin mit auf der Brust ge-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Abb. 3: Portrait einer jungen Frau, 120 –130 n. Chr., Enkaustik auf Holz, mit Blattgold, 34,2 x 16,4 cm.er-Rubayat, Privatbesitz

Abb. 4: Paula Modersohn Becker«Selbstbildnis mit Kamelienzweig», 1906/07.Pappe, 61,5 x 30,5 cm. Museum Folkwang, Essen

Page 26: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

In Memoriam Paula Modersohn

26

kreuzten Händen» von 1907 (Abb. 5). Hier wird der Al-terungsvorgang als ein Geschehen aufgefasst, bei demdie im Laufe des Daseins zur Lebensfrucht herangereifteund verdichtete Erdenerfahrung mit Hilfe der Herzkräf-te durchlichtet werden kann. Es ist ein leiser, sich in al-ler Stille vollziehender Erweckungsvorgang, und in demAntlitz der Frau klingt etwas von dem tieferen Weih-nachtsgeheimnis an, der «Geistgeburt im Innerseeli-schen»12.

Versöhnung mit dem TodPaula Modersohn-Becker hat sich nicht nur in ihren Kinderbildern und Mutter-Kind-Darstellungen, sondernauch in ihren Bildnissen alter Menschen Stufe um Stufeden geistigen Dimensionen der Weihenacht genähert.An Rainer Maria Rilke schrieb sie am 25. Dezember 1900,dass Weihnachten «ein Fest für alle Menschheit» sei unddass sie das Gefühl habe, man müsse «mit Weihnachtenwachsen». «Mir ist als ob dann Barrikaden fallen, die manmühsam und kleinlich gegen so vieles und viele aufgebauthat, als ob man weiter würde und das Gefäß allumfassender,auf dass darin jedes Jahr eine neue weiße Rose aufblühe undden andern zuwinkt und in sie hineinleuchtet ... Und das istLeben, und ist ein Leben wie ein Gebet, ... welches immer tie-

fer hinabsteigt in den Sinn des Seins, dessen Auge größer wirdund ernster, weil es viel gesehen. Und wenn es alles gesehendas letzte, dann darf es nicht mehr schauen, dann kommt derTod. Und vielleicht versöhne ich mich in diesem Sinne mitdem Tod, weil ich ihn ja auch einst leiden muss.»13

Claudia Törpel, Berlin

(Fortsetzung mit Bildbeispiel in der Februarnummer)

Paula Modersohn-Becker und die Kunst in Paris um 1900.

Von Cézanne bis Picasso

13.10.2007– 24.2.2008

Kunsthalle Bremen, Am Wall 207, 28195 Bremen,

Telefon: 0421-329 08-0

Öffnungszeiten: Di 10 – 21 Uhr, Mi –So 10 – 18 Uhr

www.paulainparis.de

Paula Modersohn-Becker und die ägyptischen

Mumienportraits

13.10.2007 – 24.2.2008

Paula Modersohn-Becker Museum, Böttcherstraße 6 –10,

28195 Bremen, Telefon: 0421-33 88 222

Öffnungszeiten: Di 10–21 Uhr, Mi–So 10–18 Uhr

www.paula-2007.de

1 Brief an die Mutter vom 19.1.1906. In Günter Busch und Liselotte von Reinken: Paula Modersohn-Becker in Briefen und

Tagebüchern, S. Fischer-Verlag, 2. Auflage 1979, Frankfurt amMain, S. 430.

2 Brief an Otto Modersohn vom 25.12.1900 (Anm. 1, S. 252 f.)3 Brief an Kurt Becker vom 26. April 1900 (Anm. 1, S. 216)4 Boda Hülsmann: Paula Modersohn-Becker, In Freiheit zu sich

selbst, Urachhaus, 1988, S. 28.5 ebenda. S. 286 ebenda. S. 12 f.7 Brief an Bernhard Hoetger, Sommer 1907 (Anm. 1, S. 473)8 Brief an Otto und Helene Modersohn, Anfang Mai 1900

(Anm. 1, S. 222)9 Tagebuchaufzeichnung vom 25.2.1903 (Anm. 1, S.345)

10 siehe Claudia Törpel: «Vom Gesicht zum Antlitz – Alexej Jawlensky und die Ikonenmalerei», in: Der Europäer,Heft 6 und 7, 2004.

11 Tagebuchaufzeichnung vom 20.2.1903.12 Die Geistgeburt im Inneren erwähnt auch Rudolf Steiner in

vielen seiner Weihnachtsvorträge. War es in vorchristlichenZeiten nur auserwählten Menschen möglich, durch eine besondere Einweihung in der «Weihe-Nacht» die «mitter-nächtliche Sonne» gerade in der dunkelsten Zeit des Jahres zuschauen, so kann heute, seit sich der Sonnengeist mit der Erdeverbunden hat, der Mensch von sich aus dazu kommen, «dasssein Bestes, nämlich sein Lichtvolles aus seiner Finsternis ge-boren werde» (Rudolf Steiner, Das Verhältnis der Sternenwelt

zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt, GA 219, Verlagder Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach 1966, S. 133.

13 Brief an Rilke vom 25.12.1900 (Anm. 1, S. 253)

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Abb. 5: Paula Modersohn Becker«Alte Bäuerin mit auf der Brust gekreuzten Händen», 1907.Leinwand, 75,6 x 57,8 cm. The Detroit Institute of Arts

Page 27: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

27

Der im Folgenden abgedruckte Vortrag hatte den Titel: «Die übersinnliche Erkenntnis und ihr Wert für die Menschenseele – ei-ne geisteswissenschaftliche Betrachtung im Hinblick auf unsereschicksaltragende Zeit».Nachdem wir schon in früheren Nummern (Jg. 9, Nr. 2/3; Jg.10,Nr. 5, 6 und 8) eine Abschrift dieses Vortrags zum Abdruck ge-bracht hatten, wurde uns von Brigitte Schreckenbach eine ausdem Nachlass von Paul Michaelis stammende Typoskriptfassungzugesandt, die von Rudolf Steiner durchgesehen und stellenweisehandschriftlich korrigiert und erweitert worden war. Es handeltsich um eine Abschrift des Stenogramms des Wiener Vortrags glei-chen Titels, den Steiner am 6. Mai gehalten hatte. Ludwig Polzer-Hoditz hatte, wie schon im Jahre 1908*, für die Mitschrift des Wie-ner Vortrags einen Reichsratsstenografen beauftragt. Polzerschreibt in seinen Erinnerungen an Rudolf Steiner (Dornach1985, S. 57): «Im Mai kam dann Dr. Steiner nach Österreich. Ersprach in Wien zweimal [am 6. und 8. Mai] öffentlich über dasThema ‹Die übersinnliche Erkenntnis und ihr Wert für die Men-schenseele – eine geisteswissenschaftliche Betrachtung im Hinblickauf unsere schicksaltragende Zeit›. Auch zu Mitgliedern sprach er.Derselbe öffentliche Vortrag sollte auch in Linz gehalten werden.Die Staatspolizei verlangte dort vorherige Bekanntgabe des gan-zen Textes. Daher ließ ich die von einem Reichsratsstenografen ge-machte Nachschrift gleich in Maschinenschrift übertragen, undRudolf Steiner korrigierte sie dann noch handschriftlich. Das korri-gierte Original ist in meinem Besitz. Von Wien begleitete ich Dr.Steiner, bevor er nach Linz kam, noch nach Prag. Die Tage in Pragverliefen ähnlich wie die in Wien. Am 17. Mai war dann der öf-fentliche Vortrag in Linz. Der Tag darauf war besonders für michsehr feierlich, weil Rudolf Steiner den besuchten Vortrag für Mit-glieder im Vortragsraum unserer Wohnung, Pfarrplatz 12, hielt.»Der von Steiner durchkorrigierte Text des Wiener Vortrags weichtnaturgemäß in manchen Formulierungen von der im Europäerveröffentlichten Nachschrift des dann frei gehaltenen Linzer Vor-trages ab. Wir drucken im Folgenden den ersten Teil. Die Zwischentitel stam-men von der Redaktion. Der ganze Text des Wiener Vortrags wirdneben anderen erstmals im Europäer veröffentlichten VorträgenSteiners im nächsten Jahr in Buchform erscheinen.

Thomas Meyer

Sehr verehrte Anwesende!Schon vor einiger Zeit durfte ich hier in Linz vortragen ausdem Gebiete desjenigen, was ich mir zu nennen erlaube diegeisteswissenschaftliche Weltanschauung. Die Freunde die-ser unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung hier

in Linz haben die Meinung gehabt, dass auch in dieser unserer bewegten, schicksaltragenden Zeit es nicht unange-messen scheinen könnte, einen Vortrag aus diesem geistes-wissenschaftlichen Gebiete dieses Jahr zu halten, und diesdürfte wohl aus dem Grunde sein, weil ja dieses geistes-wissenschaftliche Gebiet berührt der Menschenseele tiefsteUntergründe; jene Untergründe, in denen die Menschensee-le zusammenhängt mit den Mächten, die wir die ewigennennen, mit denjenigen Mächten, auf welche sich das Goe-thesche Wort bezieht: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleich-nis.» Auf jene Untergründe der menschlichen Seele ins-besondere ist ja eine Betrachtung aus dem Gebiete derGeisteswissenschaft gerichtet, aus denen hervorgehen so-wohl des Lebens herbste Enttäuschungen, des Lebensschwerste Prüfungen, wie auch die bewunderungswürdigenTaten, die in unserer Zeit für Menschenheil und Menschen-fortschritt in so bedeutungsvoller Weise verrichtet werden.Geisteswissenschaft, sehr verehrte Anwesende, steht auf einem Lebensgesichtspunkte, der in unserer Gegenwartdurchaus nicht zu den anerkannten gehört, auf einem Ge-sichtspunkte, der gerade von den Geschultesten unserer Ge-bildeten aus den mannigfaltigsten Gründen gänzlich abge-lehnt wird, abgelehnt wird auf der einen Seite, weil man ihnfür vollkommen widersprechend hält all dem, was wissen-schaftliche Weltbetrachtung unserer Zeit erbracht hat, weilman ihn auf der anderen Seite, wie wir ja sehen werden, in ganz missverständlicher Art in Zusammenhang bringtmit den Untiefen menschlichen Aberglaubens, weil manihn ferner irrtümlich für einen solchen Gesichtspunkt be-trachtet, der vielen Menschen dasjenige nimmt, was ihnen Halt und Sicherheit im Leben gibt, das rechte Fest-halten am religiösen Bekenntnis. Ich hoffe, sehr verehrteAnwesende, dass alle drei Verkennungen des geisteswissen-schaftlichen Gesichtspunktes wenigstens einigermaßendurch dasjenige, was die heutige Betrachtung sich bemühenwird, zu bieten, aus dem Felde geschlagen werden können.Dennoch muss es von vorneherein gesagt werden, dass dieGegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft, ja sogar die An-klage, dass diese Geisteswissenschaft völlig dem widerspre-che, was in weitesten Kreisen heute der gesunde Menschen-verstand sogar genannt wird, dass alle diese Anfechtungenund Anklagen gerade demjenigen voll verständlich sind, derganz auf dem Boden dieser Geisteswissenschaft steht. Undso begreiflich, so verständlich sind sie gerade diesem, dass er immer wieder daran erinnern muss, wie im Laufe dermenschlichen Entwicklung dasjenige, was einer verflosse-nen Zeit als das Selbstverständliche, als das allein dem gesunden Menschenverstande Entsprechende erscheint,durch völlig Entgegengesetztes ersetzt werden muss. Immerwieder muss erinnert werden an einen solchen Umschwungin der menschlichen Entwicklung, wie er erlebt worden ist

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Grenzerlebnisse auf dem Wege zu höherer ErkenntnisÖffentlicher Vortrag Rudolf Steiners vom 17. Mai 1915 in Linz Teil 1

* «Das Wesen des Menschen als Schlüssel zu den Geheimnissender Welt», öffentlicher Vortrag, Wien, 24. November 1908, erst-mals abgedruckt in Der Europäer, Jg. 2, Nr. 9, Nr. 10/11

Page 28: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

28

zur Zeit, als die neuere Naturwissenschaft Besitz ergriffenhat von der menschlichen Weltanschauung. Damals, als Kopernikus eine neue Anschauung heraufführte über dasRäumliche im Universum, da war es, dass die Menschen mitall dem brechen mussten, was Jahrhunderte, ja man kannsagen Jahrtausende als dasjenige gegolten hat, was die ge-sunden fünf Sinne zeigen und was der gesunde Menschen-verstand einsehen kann. Die Menschenseele hängt an dem-jenigen auch in ihrem Denken, in ihrem Vorstellen, in dassie sich eingewöhnt hat, so wie es – wenn das auch ein gro-teskes Beispiel ist – Menschen gibt, die, nachdem sie eineneue Wohnung genommen haben, in Gedanken, wenn sieabends nachhause gehen, noch nach ihrer alten Wohnunggehen. Wie die Menschen in einem solchen grotesken Bei-spiel zeigen, wie sie hängen an ihrer Denkgewohnheit, sotun sie es auch in Bezug auf dasjenige, was die großen Welt-anschauungsfragen und Weltanschauungsgesichtspunktesind. Jahrhunderte lang ist die Menschheit erzogen worden,hat sich eingewöhnt in einer Weltanschauung, die dem, wasGeisteswissenschaft der Gegenwart und der Zukunft bringenwill, entgegengesetzt ist. Und so müsste man sich heutemehr wundern, wenn, ich möchte sagen, auf einen erstenAnhub hin irgend jemand, der von Geisteswissenschaft indem Sinne, wie sie hier gemeint ist, noch nichts gehört hat, etwa sogleich mit irgend etwas einverstanden wäre, alswenn sich Widerspruch über Widerspruch erhöbe bei solcherstem Bekanntwerden mit der Geisteswissenschaft.

Ich habe ja, verehrte Anwesende, in meinem letzten hiesigen Vortrage die Wege zu beleuchten versucht, die zudieser Geisteswissenschaft führen. Ich werde heute, weilich gern dasjenige, was der Geisteswissenschafter empfin-den kann und darf in unserer schicksaltragenden Zeit, miteinigen Worten im zweiten Teile meines Vortrages berüh-ren möchte, ich werde heute nur kurz und skizzenhaft an-deuten können, wie Geisteswissenschaft zu ihren Erkennt-nissen, zu diesen heute eben so angefochtenen, so wenigeinleuchtenden Erkenntnissen kommt.

Zwei Vorurteile gegenüber der GeisteswissenschaftDer erste Einwand, der sich erheben muss, ganz begreif-licherweise gerade in den Seelen der Gegenwart erhebenmuss, die zu den geschultesten gehören, ist, dass Geistes-wissenschaft in allem, was sie vorzubringen hat, zu wider-sprechen scheint dem, was auf dem sicheren Boden der Na-turwissenschaften gewonnen worden ist. Schwierig ist eseinzusehen, dass gerade diese Geisteswissenschaft für unse-re Zeit und für die nächste Menschheitszukunft dasjenigebringen will für das Gebiet der geistigen Erkenntnis, für dasGebiet des seelischen Wissens, was Naturwissenschaft fürdas äußere, räumliche und zeitliche Wissen und seine Ver-wertung im praktischen menschlichen Leben gebracht hat.Schwierig ist es auch einzusehen, dass diese Geisteswissen-schaft, wenn man sie gründlich betrachtet, im allervoll-kommensten Einklang steht mit all dem, was an so bewun-derungswürdigen Fortschritten die Naturwissenschaft imLaufe der letzten Jahrhunderte zustande gebracht hat; ja

dass sie gar nichts anderes sein will, diese Geisteswissen-schaft, als die Fortsetzerin des naturwissenschaftlichenWelt-Anschauens für das geistige Gebiet. Allerdings, geradeweil sie dies sein will, muss sie als geisteswissenschaftlicheMethode sich zu allen menschlichen Verrichtungen, insbe-sondere zu den intimsten menschlichen Verrichtungen desDenkens, Fühlens und Wollens, ganz anders verhalten alsdie äußere heute anerkannte Wissenschaft.

Wenn oftmals geltend gemacht wird, dass Geisteswis-senschaft nicht in Einklang stehe mit dem religiösen Füh-len des Menschen, so beruht auch diese Meinung auf ei-nem völligen Missverstehen. Das Gegenteil vielmehr istrichtig. Ja, man kann sagen, während die äußere Naturwis-senschaft die Menschen oftmals dem religiösen Empfindenwirklich entfremdet hat, während diese bewirkt hat, dasssich viele besonders aufgeklärt wähnen, wenn sie alles Reli-giöse ablehnen, wird Geisteswissenschaft, weil sie die Seeleauch wissenschaftlich auf das Geistige verweist, in den Ge-mütern das religiöse Leben gerade verstärken. Sie wird dieMenschen im schönsten Sinne des Wortes der Religionwieder zurückführen, während die äußere Naturwissen-schaft sie derselben entfremdet hat. (Siehe Faksimile S. 31)

Methode der Geisteswissenschaft: Gedankenkonzentration und MeditationVor allem sei eingegangen auf den Weg, den Geisteswissen-schaft zu ihren Erkenntnissen nimmt. Im Genaueren istdieser Weg ja beschrieben in meinem Buche Wie erlangtman Erkenntnisse höherer Welten, auf das ich verweisen muss,da ich hier nur einige, ich möchte sagen Kohlenstriche zurZeichnung des geisteswissenschaftlichen Weges angebenkann. Das menschliche Denken, das menschliche Vorstel-len, sie müssen in einer ganz anderen Weise für die Ziele derGeisteswissenschaft behandelt werden, als sie behandeltwerden für die Ziele der äußeren Wissenschaft und des äu-ßeren Lebens. Wie verhalten wir uns denn, verehrte Anwe-sende, wenn wir das Denken, wenn wir das Vorstellen inden Dienst der äußeren Wissenschaft, in den Dienst des äu-ßeren Lebens stellen? Wir verhalten uns so, dass wir uns ander Hand desjenigen, was uns unsere Sinne in der Umweltzeigen, Begriffe, Vorstellungen, Ideen machen von dem,was uns umgibt. Und wir sind mit Recht in Bezug auf dieseäußere Weltenbetrachtung befriedigt, wenn wir dazu kom-men, dass unsere Ideen, unsere Vorstellungen uns Bilder ge-ben von dem, was draußen in der Natur und im Menschen-leben vor sich geht. Nach einem Vorstellungs-Abbild vondem Naturleben und von dem Geschichtsleben streben dieMenschen im gewöhnlichen Verlaufe des Daseins. Alleinschon die Kraft des Denkens, die in dieser angedeutetenWeise für die gewöhnliche Wissenschaft und das gewöhnli-che Leben gebraucht wird, muss in einer ganz verändertenArt gebraucht werden, wenn der Weg der Geistesforschungbeschritten wird. Da handelt es sich nicht darum für denGeistesforscher, sich Gedanken über dasjenige zu machen,was die Sinne äußerlich dem Menschen offenbaren, da han-delt es sich nicht darum, durch den Gedanken ein Abbild

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 29: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

29

einer äußeren wahrgenommenen Wirklichkeit zu gewin-nen, sondern da handelt es sich darum, den Gedanken wieeine lebendige Kraft zu gebrauchen, welche im rein innerenSeelenleben, ich möchte sagen in einer auf die Seele ange-wendeten Selbsterziehung sich auslebt. Der Gedanke wirdnicht als Abbild der äußeren Wirklichkeit gebraucht, derGedanke wird so gebraucht, dass er in dem Bewusstsein er-lebt wird. Und er wird innerlich so erlebt, dass die Seele sichauf diesen Gedanken richtet, so richtet, dass sie ihre Auf-merksamkeit lange Zeit lediglich auf einen Gedanken odereinen einförmigen Gedankengang hinwendet, so dass nichtin Betracht kommt dasjenige, was man denkt, sondern inBetracht kommt jene innere Seelenanstrengung, jener innereSeelenaufwand, den man zu durchleben hat, wenn mandurch innere Anstrengung, durch innere Konzentration al-le Aufmerksamkeit auf einen inneren Punkt hin, auf einenGedanken, auf eine Vorstellung konzentriert. Da wo die ge-wöhnliche Wissenschaft, wo das Denken des gewöhnlichenLebens aufhört, da beginnt erst die Arbeit des Geistesfor-schers. Was abgeschlossen im Auge behalten werden mussfür die gewöhnliche Wissenschaft, das wird aufgenommendurch die geisteswissenschaftliche Methode und wirdgleichsam wie ein Keim in den Seelenboden hineinversenkt.Die Frage stellt man dem eigenen Erleben: Was macht deinGedanke, auf den du dein ganzes Seelenleben, mit Aus-schluss des Aufmerkens auf alles andere, richtetest, wasmacht der in dir, wenn du dich ihm ganz hingibst, wenn dualles vergisst, was du jemals wahrgenommen hast, was dujetzt wahrnimmst, was deine Gewohnheiten, deine Erleb-nisse, deine Neigungen, deine Leidenschaften sind; wenndu einzig und allein in diesem Gedanken lebst, ihn ganzeinsenkst in dein Seelenleben? Man kommt sich selbst miteiner Erleichterung zu Hilfe bei dieser geisteswissenschaftli-chen Methode, wenn man gar nicht einmal einen Gedan-ken nimmt, der dem äußeren Leben entlehnt ist. Bei einemsolchen Gedanken, der etwas aus dem Gebiet des äußerenLebens abbildet, ist man zu sehr versucht, auf diese äußereWahrheit des Gedankens zu schauen, aber auf diese äußereWahrheit kommt es in diesem Falle nicht an, sondern da-rauf, was der Gedanke in uns bewirkt und was wir erleben,wenn wir den Gedanken als einen lebendigen Wesensinhaltin der Seele wirken lassen. Daher ist es am besten, einensinnbildlichen Gedanken, einen Gedanken, der nichts Äu-ßeres abbildet, innerlich gleichsam zu fixieren. Ich will sa-gen: Der Gedanke «Weisheit leuchtet im Lichte» ist ein ein-facher Gedanke; er ist ganz gewiss im Sinne einer äußerenWissenschaft keine Wahrheit. Aber darauf kommt es nichtan, sondern darauf, dass ein solcher Gedanke in den Mittel-punkt des Seelenlebens gestellt wird und dass alle Kräfte derSeele, wie ich eben geschildert habe, auf diesen Gedankendurch eine gewisse Zeit hindurch gerichtet werden. Mitdem Erleben des Gedankens, bis zu dem das äußere Lebenund die gewöhnliche Wissenschaft gehen, beginnt erst dieForschung auf dem geistigen Gebiete. Man nennt, wennman mit dem Worte nicht irgend welche im schlechten Sin-ne mystische Begriffe verbindet, ein solches Leben und We-

ben im Gedanken, das lange, lange in Geduld und Ausdau-er und innerer Energie fortgesetzt werden muss, ein Medi-tieren im Gedanken, ein sich Konzentrieren auf bestimmteGedanken. Dies sind gewissermaßen technische Ausdrückeder geisteswissenschaftlichen Methode. Der Geistesforscherkann ja, im Grunde genommen, wenn er diese Dinge schil-dert, nicht anders als so reden, wie der Chemiker, wenn erschildert in Kürze die Methoden, die er in seinem Laborato-rium anwendet, um dies oder jenes den Naturkräften undden Naturerscheinungen abzulauschen. In ein inneres See-lenlaboratorium, in dem gesucht wird, was zusammen-hängt mit unserem Seelenglück, mit unserer Seelenerhe-bung, mit all den tiefsten Seelenrätseln, Seelenschmerzenund Seelenfragen, in ein solches Laboratorium muss derGeistesforscher sich begeben. Und was er in diesem rein in-nerlichen Laboratorium erlebt, davon allein kann er spre-chen, von den Erlebnissen dessen, was nicht in äußerer An-schauung, was nicht vor den äußeren Augen dargestelltwerden kann; sondern allein im intimen inneren, aber ob-jektiven, nicht subjektiven inneren Erleben erfahren wird.Dass es eine solche innere geistige Laboratoriumsarbeit gibt,dies allmählich der geistigen Menschheitskultur einzuver-leiben als eine feste Weltanschauung, das ist die Aufgabeder Geisteswissenschaft.

Vorwurf der Autosuggestion und leibfreies ErlebenEs ist jeder einzelne Einwand, welcher von seiten der natur-wissenschaftlichen Weltanschauung gemacht wird, verehrteAnwesende, ebenso gut dem Geistesforscher bekannt wiedasjenige, was gegen seine Forschung im allgemeinen gesagtwerden kann. Es ist dem Geistesforscher z.B. bekannt, dassbehauptet werden kann, dasjenige, was also die Seele er-reicht, indem sie ihre Aufmerksamkeit ganz fixiert auf dasVerweilen von Gedanken im intimen Seelenleben, sei nurdies, dass dadurch die Seele sich selber suggestionieren kön-ne, dass alles dasjenige, wozu sie kommt auf diesem Wege eine Art von Selbstsuggestion sei. Gewiss, das ist dem Geis-tesforscher bekannt, aber demjenigen, der nicht die Geistes-wissenschaft kennt, sondern nur dasjenige, was die äußereNaturwissenschaft heute über die Methoden der Suggestionzu sagen weiß, ist unbekannt, dass durch die besondere Art,wie der Geistesforscher sich rein innerlich mit all den See-lenkräften, die er bewusst entwickelt hat, in voller Bewusst-heit richtet auf irgend einen Gedanken, auf ein inneres Er-leben – es kann ja auch ein Willenserlebnis sein – dieserGeistesforscher gerade innerlich lebt in demjenigen Teileseiner Seele, der eingeschläfert wird in der hypnotischenSuggestion. Gerade dasjenige, was in der hypnotischen Suggestion in Schlaf versetzt wird, während das Äußere,Räumliche, ich möchte sagen, nachahmt die seelischenFunktionen, gerade das wird durch die Methode der Geistes-wissenschaft entwickelt, gerade diejenigen Kräfte werdenherausgeholt aus dem innersten Seelenleben, über welchesSchlaf, Lähmung gebreitet wird in der gewöhnlichen Sug-gestion. Alle Methoden der Geistesforschung wirken daraufhin, das innere Erleben unabhängig zu machen vom äuße-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 30: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

30

ren, physischen Erleben, im inneren Erleben jene starkenKräfte zu erwecken, durch die das Denken, das Vorstellenein eigenes Leben in sich entfaltet. Und wenn in genügendlanger Zeit der Geistesforscher so im «Laboratorium seinereigenen Seele» gearbeitet hat, dann tritt – und es handeltsich nicht darum, dass man dies macht, sondern darum,dass man es abwartet, wie man abwarten muss bei der Pflan-ze, bis sie blüht, bis ihre Wachstumskräfte durch den objek-tiven Weltenzusammenhang soweit entwickelt sind, dass sieblüht –, dann tritt dasjenige ein, was phantastisch, träume-risch, absurd, paradox unserer gegenwärtigen Denkgewöh-nung erscheinen muss. Denn was auf diese Weise bewirktwird, das ist ein vollständiges Loslösen des geistig-seelischenErlebens von dem körperlichen, von dem leiblichen Erle-ben. So unwahrscheinlich, als es demjenigen, der nie etwasvon Chemie gehört hat, erscheint, dass man das Wasser, dasman vor sich hat, zerlegen kann durch die Kräfte der Elek-trizität oder auf andere Weise in Wasserstoff und Sauerstoff,dass man den Wasserstoff, der ganz verschieden ist vomWasser, wirklich herausbekommen kann aus dem Wasser, sounwahrscheinlich das jedem erscheinen muss, der niemalsetwas von Chemie gehört hat, so unwahrscheinlich muss es selbstverständlich demjenigen erscheinen, der sich nichteinlassen will auf Geisteswissenschaft, dass es solche innere,ich möchte sagen im Inneren wachsende Denkvorgängegibt, durch die losgelöst wird dasjenige im Menschen, waskeiner Geburt und keinem Tode unterworfen, keinem äuße-ren Leben unterworfen ist, sondern das durch Geburten undTode als das Ewige des Menschen geht, dass dies wirklichlosgelöst wird von den körperlichen Bedingungen und dasses in seiner Selbständigkeit, in seiner ewigen Bedeutung,von der alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, wissen-schaftlich ergriffen wird.

Leibgebundenes und leibfreies ErlebenEs liegt ja nahe, dass gerade in unserer Zeit Einwände aufsto-ßen auf Schritt und Tritt gegen dasjenige, was in dieser Wei-se geltend gemacht wird. Es ist ja ganz selbstverständlich,dass nun jemand, der sozusagen geschult ist in den neuerenso wohlbegründeten Denkgewohnheiten, kommt und sagt:Da kommt nun der Geistesforscher und redet davon, dass esgar innerliche Methoden des seelischen Erlebens gibt, wo-durch das Seelisch-Geistige losgelöst werden kann, so dass eserscheint in seiner Ureigenheit unabhängig von Geburt undTod, wie Wasserstoff erscheint, wenn er losgelöst ist vomWasser, von allen Eigenschaften desselben und seinem gan-zen Verhalten. Können wir denn nicht sehen, dass dies infinsterste Tiefen des Aberglaubens hineinführt, nachdem Na-turwissenschaft so gründlich nachgewiesen hat, wie das geis-tig-seelische Erleben abhängig ist vom körperlich-leiblichen,wie dies geistig-seelische Erleben heranwächst, indem derMensch sich von Kindheit auf durch Jahre entwickelt. Indemselben Maße wie die körperlichen Funktionen sich ent-wickeln, wächst ja auch das geistige Erleben. Man sieht, wiedas geistige Leben wieder hinschwindet im Alter, wenn diekörperlichen Funktionen nachlassen oder allmählich abge-

lähmt werden, man sieht ferner – und das ist ja gerade ver-dankt den großen Fortschritten der psychiatrischen For-schung – wie mit der Verletzung nur irgend eines Teiles desmenschlichen Gehirns und Nervensystems ausgeschaltetwerden die seelischen Funktionen. Bemerkt man da nicht,wie alles Seelisch-Geistige im eminentesten Sinne nur eineWirkung ist des Physisch-Leiblichen? Nun kommt der Geis-tesforscher und erklärt, dass dies Geistig-Seelische losgelöstwerden kann von dem Physisch-Leiblichen! Ja, verehrte An-wesende, wenn der Geistesforscher nötig hätte, gegen diewohl begründeten Annahmen neuerer Naturwissenschaftsich aufzulehnen, dann dürfte er keine Hoffnung haben, je-mals sein Wissen in die Weltanschauung der Menschen ein-zuführen, denn eben diese neuere Naturwissenschaft ruhtauf guten Gründen, wenn sie auch dies oder jenes Hypothe-tische oder Unbegründete heute noch unter ihren Behaup-tungen hat. Ihre ganze Gesinnung, ihre ganze innere Le-benstendenz ist vollberechtigt und führt zu den größtenErrungenschaften der Menschheit. Das wird Geisteswissen-schaft nicht leugnen, sondern ebenso gut zugeben wie jederNaturwissenschafter oder zur Naturwissenschaft sich Beken-nende es zugeben muss. Aber sehr verehrte Anwesende, Geis-teswissenschaft im wahren Sinne des Wortes steht auchnicht auf einem anderen Boden als die Naturwissenschaft,selbst nicht in Bezug auf alles dasjenige, wovon die Natur-wissenschaft reden kann. Wenn wir betrachten das gewöhn-liche Denken des Alltags und der gewöhnlichen Wissen-schaft, wie erscheint es denn dem Geistesforscher? Ihmerscheint es durchaus so, dass dieses gewöhnliche Denken,dass dasjenige, was der Mensch aufbringt an Denken undVorstellen im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichenWissenschaft, im strengsten Sinne gebunden ist an dasmenschliche Leibesleben, im engeren Sinne an das mensch-liche Nervensystem. Und insoferne die Naturforschung heu-te schon Anfänge aufweist zu einer Erkenntnis nach dieserRichtung hin, die versprechen, noch vielmehr künftig zu ge-ben, steht der Geistesforscher völlig auf dem Boden der Na-turforschung. Aber es handelt sich für die Naturforschungnur um das gewöhnliche Denken, um die noch nicht vondem Leiblichen losgelöste innere Kraft des Denkens; vondem, was im Alltag gedacht wird, von dem, was in der ge-wöhnlichen Wissenschaft vorgestellt werden kann, weiß ge-rade der Geistesforscher: All dieses Denken des Alltagslebensist ebenso an das Leibliche gebunden, wenn es dem Men-schen zum Bewusstsein kommen soll, wie gebunden ist dasBild, das uns von uns selbst erscheinen soll, an den Spiegel,vor den wir treten. Gerade Geisteswissenschaft erkenntdurch Zusammenhänge, in die sie hineinsieht, wenn sie aufden Wegen fortschreitet, die geschildert worden sind, dassdasjenige, was jetzt als eine höhere Kraft in der Denkkraft geschildert worden ist und zu dem die Geisteswissenschaftkommen kann, dass das sich spiegelt, tätig spiegelt an denOrganen des Leibeslebens und dass nichts in das Leben zwi-schen der Geburt und dem Tode hereintreten kann in das Be-wusstsein als dasjenige, was mit Hilfe der das Seelenlebenspiegelnden Leiblichkeit dem Bewusstsein erscheint. Wie der

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 31: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

Mensch vor dem Bilde steht, das ihm der Spiegel zurückwirft,und wie er sich selbst nicht sieht, sondern das Bild, das ihmder Spiegel zurückwirft, so steht die Seele, die ausgerüstet istmit der Kraft, die erst entdeckt wird auf dem Wege der Geis-tesforschung, hinter demjenigen Denken, das das Denkendes Alltags ist; und das Denken des Alltags ist ein vorüberhu-schendes Spiegelbild, aus dem Leibesleben gespiegelt. Allediejenigen Erkenntnisse, die Naturwissenschaft geben kannauf ihrem Felde, sind wahr, weil sie handeln von demjeni-gen, was noch nicht aufgewiesen ist als die eigentliche Kraft,die hinter dem gewöhnlichen Bewusstseinsleben steckt unddie durch Geburten und Tode geht, die einer ganz anderenWelt angehört als die Welt ist, die wir mit unseren Sinnenschauen. So kann man sagen, Geisteswissenschaft sagt zunichts «Nein», was die Naturwissenschaft sagt, sie erklärtnur, dass man ebenso über dieses Naturwissenschaftliche hi-nausgehen kann, wie man über die Handgriffe des gewöhnli-chen Lebens in der wissenschaftlichen Chemie hinausgeht.Und derjenige, der sich vom naturwissenschaftlichen Stand-punkte gegen Geisteswissenschaft wenden will, der wendetsich nicht aus dem Grunde gegen sie, weil irgend etwas Na-turwissenschaftliches durch Geisteswissenschaft bezweifeltwird, sondern er wendet sich aus reiner Tyrannis gegen dieGeisteswissenschaft, aus dem Wollen, nichts anderes geltenzu lassen, als was gelten zu lassen ihm gefällt. Man muss sichkünstlich auf den Standpunkt stellen, dass niemand etwasanderes wissen darf als dasjenige, was man selber weiß, wennman Geisteswissenschaft in ihrer Berechtigung, den Weg derNaturforschung fortzuführen, ablehnen will.

Erleben der Todeskräfte, EinsamkeitNun, aber, meine sehr verehrten Anwesende, ich sagteschon, der Geistesforscher, er kann gewissermaßen hinein-schauen lassen den anderen, der noch nicht an die Geistes-forschung herangetreten ist, in dasjenige, was sein «seeli-sches Laboratorium» ist. Denn dieses Leben im seelischenLaboratorium des Geistesforschers bringt mancherlei, dasnun auch nicht bekannt ist dem gewöhnlichen Erfahrenund Erleben. Verbunden ist die Geistesforschung nicht bloßmit denjenigen Erlebnissen, mit denen die äußere Wissen-schaft verbunden ist, verbunden ist die Geistesforschungmit den tiefsten Erschütterungen des Seelenlebens, mit derinnersten Tragik des Seelenlebens, mit dem Hinauftragendes Gemütes in einsame eisige Höhen, mit dem Hinunter-stürzen des Gemütes in furchtbare Abgründe des Daseins.Gewiss, sehr verehrte Anwesende, die ersten Schritte derGeistesforschung, wie sie angedeutet sind in meinem BucheWie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten, sie kann jederleicht machen und jeder kann sich dadurch überzeugen, inwelchem Sinne dies richtig ist, worauf der Geistesforscherdeutet. Aber wenn man den Weg der Geistesforschung zuEnde geht, führt er durch Erlebnisse, wie sie eben angedeu-tet worden sind. Vor allen Dingen, in dem Augenblicke, woman dahingelangt, durch jene Methode, die geschildertworden ist, die innere Kraft des Denkens loszulösen von jener Unterstützung, die sie im Gehirn hat, in dem Augen-blicke, wo man mit seinem Denken in seinem seelisch-geis-tigen Erleben aus seinem Leibe – ich darf es sagen, weil es

Handschriftliche Ergänzung Rudolf Steiners (siehe S. 28)

Page 32: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

32

wörtlich richtig ist – heraussteigt, in demselben Augen-blicke, wo wirklich des Menschen ewige Kräfte in der Seelegeschaut werden, in diesem Augenblicke fühlt man sich alsGeistesforscher so, wie wenn man, ich möchte sagen, in derPflanze deren Wachsen erleben könnte.

Nehmen wir an, die Pflanze könnte erleben, sie könnteerleben ihre eigene Eigenschaftlichkeit, all ihre eigene We-senheit, wie sie sich entfaltet von Blatt zu Blatt, zur Blüte,zur farbenprächtigen Blüte hin, und dann müsste sie, in-dem sie sich zur farbenprächtigen Blüte hin entwickelt hat,mit ihrem ganzen Sein eintauchen in die Kräfte, die den Sa-men bilden, der nun gar nicht bestimmt ist für dieses Lebender Pflanze in der Gegenwart, sondern der dieses Leben derPflanze aus der Gegenwart hinübertragen soll in die Pflan-ze, die sich in der Zukunft aus dieser Pflanze entwickelt; diePflanze würde erleben, indem sie alle ihre Erlebekräfte indiesen Keim hineinkonzentriert, wie wenn sie im Zusam-mennehmen dieser Kräfte gerade das entwickelte, was wieein Töten, wie ein Absterben der äußeren, in den Blättern,in den farbenprächtigen Blüten entwickelten Wesenheit ist.Sie würde erleben, wie wenn sie dasjenige, was sie war, sel-ber absterben machen müsste, damit sie weiter leben kanndurch den Keim. So muss die Menschenseele erleben, wennsie dasjenige wirklich durchmacht, was mit einigen Kohlen-strichen eben vor Sie hingezeichnet ist, verehrte Anwesen-de. Da erlebt der Geistesforscher, wie er immer mehr undmehr eingeht nur in dasjenige, was seine Seele verbindetmit dem, was er in seinen Gedanken hereingenommen hat.Aber das erscheint ihm jetzt in seinem seelischen Lebennicht so, wie wenn er etwa nur Neues erleben würde, son-dern so, wie wenn er jetzt in den Kräften leben würde, diedurch ihre innere Eigentümlichkeit tötende Kräfte für dasäußere Leben wären, die zusammenhingen mit all dem, wasdas äußere Leben absterben macht, was das äußere Lebenvon Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde lähmt. Und so ist es,wie wenn man darin gestanden hätte im Leben, alle Freude,alle Lust im Leben, alle berechtigte Freude, alle berechtigteLust im Leben empfunden hätte, alle Tatkraft im Leben ger-ne angewendet hätte und jetzt, um zu erkennen, herausmuss aus diesem Leben, aber gerade zu denjenigen Kräftensich hinwenden muss, welche dieses Leben fortwährend be-kämpfen. Man möchte sagen, aus der Geselligkeit des Le-bens, aus dem geselligen Zusammensein mit der Natur, ih-rer großen Schönheit und Erhabenheit muss man eintretenin die Einsamkeit, wo man so recht nur bei sich selber ist,wo man den Blick nur wenden kann auf dasjenige, was dieeigensten innersten Kräfte sind.

Nun könnte es scheinen, verehrte Anwesende, als wenndieser ganze Vorgang der Geistesforschung etwas höchstUngesundes wäre. Aber bedenken müssen wir, dass er einErkenntnisvorgang ist. So wenig als irgend etwas in diesemSaale in Bezug auf sein äußeres Aussehen dadurch verändertwird, dass meine Augen auf diesen Saal gerichtet sind, dassmeine Gedanken diesen Saal sich vorstellen, so wenig dieseErkenntnis irgend etwas ändert an diesem Saal, so wenigändert der Vorgang, den ich eben beschrieben habe, irgend

etwas an dem inneren Seelenleben des Menschen. Alles das-jenige, was der Geistesforscher also erlebt, ist Erkenntnis, alldas, was er dann durch seine Erkenntnis schaut, ist unten –nur für das äußere Leben unvermerkt – auf dem Grunde ei-nes jeden Seelenlebens. Der Geistesforscher überzeugt sichnur durch das Anschauen, was wirklich in jeder Seele lebt.In jeder Seele leben die Kräfte, die unablässig von Stunde zuStunde, von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekundeam Leben zehren, wie der Pflanzenkeim an der gegenwärti-gen Pflanze zehrt, nur in diesem Anschauen, verehrte An-wesende, in dieser Vertiefung in des Lebens zerstörendeMächte lebt man sich ein in die Erkenntnis, wie immerfortüberwunden wird dasjenige, was der Tod ist. Denn wie mansieht, dass das Leben unterhalten wird dadurch, dass unab-lässig von der Geburt bis zum physischen Tode die Kräfte tä-tig sind, die also der Geistesforscher erlebt, also überzeugtman sich eben durch die Geistesforschung, dass dieselbenKräfte auch den Tod, der wie ein Tor das physische Lebenabschließt, überwinden und den Menschen einführen indie Welt des Geistigen. Nicht so begreift die Geisteswissen-schaft den Tod, wie man ihn erkennen will heraus aus derFurcht vor dem Tode, heraus aus der Erwartung eines ande-ren Lebens, sondern so erkennt ihn die Geisteswissenschaft,dass sie die geistigen Erkenntniskräfte der Seele bis zur An-schauung des Todes führt und dann sieht, wie das ganze Le-ben hindurch der Tod am Menschen arbeitet, damit, wenner dann seine Summe zieht, er durch dieselben Kräfte über-wunden werden kann, die also immer auf dem Untergrun-de unserer Seelen sind.

«Verlust» des Gedächtnisses und GeistesgegenwartNoch eine andere Schwierigkeit stellte sich ein, verehrteAnwesende, für den, der also die geistige Welt, ich möchteimmer wieder sagen: in einem inneren Seelenlaboratoriumerforscht. Diese andere Schwierigkeit ist diese, dass, wenndas Denken, wenn das Vorstellen sich also losgelöst hatvon dem Körperlichen, wenn der Mensch nunmehr weiß:du lebst jetzt in dem Geistig-Seelischen so, dass du nicht indeinem Körper bist, dass du dich rein im Gewebe des Geis-tig-Seelischen selber bewegst, wenn der Mensch bis zu die-sem Grade sich entwickelt hat in seinem inneren geistigenLaboratorium, dann lebt er in seelischen Kräften, welcheam wenigsten, am denkbar wenigsten, verwandt sind dem-jenigen, was wir unsere Gedächtniskräfte nennen. Undwenn wir bedenken, was alles an unseren Gedächtniskräf-ten hängt, wie unser ganzes Leben im Alltag nicht beste-hen könnte, wenn wir im nächsten Moment nicht erinner-ten, was wir im vorhergehenden erlebt haben, wenn wir inunserem ganzen Leben nicht erinnern würden, was in un-ser Leben Zusammenhang bringt, wenn wir bedenken, wasGedächtnis, was Erinnern bedeutet, dann werden wir ver-stehen können, wie anders auf die Seele jene Kräfte wirken,die geradezu vor der Kraft des Gedächtnisses stehen blei-ben müssen, die in nichts appellieren an die gewöhnlicheKraft des Gedächtnisses im alltäglichen Leben. So ist es,dass zunächst, wenn der Geistesforscher bis zu demjenigen

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 33: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

33

Punkte gelangt, wo er wirklich in seinem geistig-seelischenLeben frei wird vom leiblichen Leben, dass sein Vorstellendahinhuscht wie ein Traum, an den man sich nicht mehrerinnern kann, und erst wenn man immer wieder in Ge-duld die Übungen fortsetzt, von denen gesprochen wordenist, die Übungen in Meditation und Konzentration, dannentwickelt sich an der Stelle des gewöhnlichen Gedächt-nisses, das dabei nicht mitwirkend sein darf, eine andereKraft, die wir nennen können eine innere Gewohnheits-kraft. Wir werden imstande, immer wieder das zu vollzie-hen gewohnheitsmäßig, was wir uns also als inneres Erle-ben angeeignet haben. Wir verrichten gleichsam die innereGeste immer wieder von Neuem. Geisteswissenschaft kannnicht arbeiten auf Grund des Gedächtnisses, sondern siegeht hinaus über diese gewöhnliche Grundkraft des Le-bens, über das Gedächtnis, und prägt dem Geistig-Seeli-schen, das frei geworden ist vom Leiblichen, solche Ge-wohnheiten ein, dass man immer wieder aufs Neue dieinneren Verrichtungen vollziehen kann, die vollzogen wer-den müssen, damit man sich mit seinem freien Geistig-See-lischen in der geistigen Welt darin stehen fühlt.

Wenn ich, verehrte Anwesende – es ist nur, um etwasdeutlicher zu machen –, dabei etwas Persönliches berührendarf, so sei es dieses: Wenn man von Dingen redet, diedurch die äußeren Sinne erfahren werden, dann ist es so,dass man, wenn man, ich will sagen z.B. einen Vortrag ein-mal gehalten hat, sich erinnert, wie man ihn gehalten hat,so dass, wenn man ihn zum zwölften, zum dreißigsten Ma-le hält, man ihn ganz auf andere Weise aus seinem Innernvorbringt als das erste, zweite, dritte Mal, wo man ihn nochnicht ganz seinem Gedächtnis eingeprägt hat. Das ist,wenn man in aller Aufrichtigkeit über Dinge der Geistes-wissenschaft spricht, nicht der Fall. Sondern da muss jedesMal wieder aufs Neue durch die der Seele angewöhnten in-neren Gesten das heraufgeholt werden, was Inhalt derGeisteswissenschaft ist, da ist es ganz einerlei, ob man überetwas zum erstenmal oder zum hundertstenmal spricht,weil einem das Gedächtnis im Grunde genommen eherstörend ist, als dass es einem helfen könnte. Man kannselbstverständlich dasjenige, was man gesprochen hat überden Inhalt der Geisteswissenschaft, auch aus dem Ge-dächtnis immer erzählen, aber der, der auf dem Boden ech-ter Geisteswissenschaft ehrlich und aufrichtig steht, fühlteine innere Verpflichtung dafür, in immer erneuerter Le-bendigkeit darzustellen dasjenige, was er selbst erlebt. Da-her muss er es immer wieder aufs Neue erleben, denn erstellt es nicht gedächtnismäßig vor, nicht durch ein Wis-sen, sondern durch ein Können, das er sich erworben hat.

Gewahrwerden eines mechanischen WollensAber noch in einer anderen Weise wird unser ganzes inneresSeelenleben verändert. Wenn wir in der geschilderten Weiseintim seelisch vorgehen, immer wieder und wieder solche in-nere, wir können jetzt sagen, rein vorstellungsmäßige Wil-lenshandlungen vornehmen, durch die wir einfache Denkin-halte in den Mittelpunkt unseres Bewusstseins stellen und

ganz in sie aufgehen, dann erleben wir ja auch durch unse-ren Willen etwas. Aber dieses Willensleben ist ein anderes alsdasjenige, das den äußeren Handlungen zugrunde liegt. Wasden äußeren Handlungen zugrunde liegt, entwickelt ein Wil-lensleben, in dem der Wille halb schläft, denn in der Tat, wieder Mensch eingreift mit seinen Gedanken in seinen Willen,das ist ja eine alte Rätselfrage der Philosophie – auf sie sollhier weiter nicht eingegangen werden; der Zusammenhangzwischen dem Gedanken und der äußeren Handlung, er istin den tiefen Untergründen des Seelenlebens. Aber gerade indiese tiefen Untergründe des Seelenlebens muss hinabstei-gen die Geisteswissenschaft, wenn sie zu übersinnlicher Er-kenntnis aufsteigen will. Und indem man immer wieder wie-derholt, immer wieder innerlich lebendig macht dasjenige,was Gegenstand der Meditation und Konzentration im Den-ken ist, indem man so aus innerem Willen, aus starken inne-ren Seelenkräften heraus immer wieder – auf die Wieder-holung kommt es an – dabei vollzieht, was man einmalvollzogen hat, treten andere Verrichtungen des Organismus,als es die des äußeren Handelns sind, in der Seele auf. Es tre-ten in der Seele solche Verrichtungen auf, die sich nicht sovollziehen wie äußere Handlungen, wo wir immer mit unse-ren Gedanken eingreifen müssen, sondern solche, die sichmit Regelmäßigkeit, ich möchte sagen innerlich automatischwiederholen. Das ist oftmals das Störende derjenigen, die mitgeisteswissenschaftlichen Methoden sich abgeben, dass, in-dem sie üben und immer wieder ihre Seele fixieren auf diesenoder jenen Gedanken – aber sie müssen es wiederholt tun,geduldig, energisch, ausdauernd – das ist oft das Störende,dass wie mechanisch das ganze innere Handeln wird, sowird, wie das Atmen für den Leib wird, wo wir uns auchnicht bewusst sind, wie der Impuls des Atmens eingreift.Während wir auf der einen Seite uns hinaufheben in denhöchsten geistigen Wachzustand des Bewusstseins, des Ge-dankens selbst, der uns zu dem, was hinter dem Gedankensteht, führt, zu dem innerlichen Erleben der Denkkraft, wer-den gerade die Verrichtungen, die wir in immerwährenderWiederholung vollziehen, wie zu etwas Mechanischem, sodass wir allmählich verspüren lernen, wie etwas in diesemlosgelösten Seelenleben sich vollzieht, das ihm so eigentüm-lich ist, in rhythmischer Folge eigentümlich ist, wie demLeib das Atmen in rhythmischer Folge eigentümlich ist. Wirerleben unsere Leiblichkeit als außer uns und wir erleben un-sere Seele herausgehoben aus dem Leiblichen, so aber, dasssie wie im inneren Handeln ist, mit diesem inneren Handelnaber nun dem Leibe gegenübersteht. Dies ist wiederum ver-knüpft, verehrte Anwesende, mit demjenigen, was man nen-nen könnte tiefste innere Seelenerschütterungen. So wieman in eine Einsamkeit, in eine alles äußere Welt-Miterlebenertötende Einsamkeit steigt, wenn man zu der einen Seiteseelischer Kraftäußerungen sich begibt, durch die im Grundegenommen all unser alltägliches Leben besteht, so steigtman auf der anderen Seite hinab wie zu dem automatischenLeben, wie zu dem Leben, das sich in uns, aber ohne unserZutun vollzieht; wie wir auf der einen Seite ganz tätig wer-den, so tätig, dass wir nicht einmal durch das Gedächtnis un-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 34: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

R. Steiner: Grenzerlebnisse

34

terstützt werden, werden wir auf der anderen Seite gewahr,wie in uns etwas ist, was durch sich selbst tätig ist, was wirnur anschauen können, dem wir nur zuschauen können.Wahrhaftig das ist so, dass wir uns wie verzaubert, wie ge-bannt in einem solchen Automatismus des Lebens, der mituns durch das Leben geht, fühlen. Alle Kleinmütigkeit desLebens fühlen, alles dasjenige, was die Schwere, das Gewichtdes Lebens zeigt, all dies kann uns überkommen, und derje-nige, der nicht in richtiger Methode und nicht in genügen-der Vorbereitung zu der Stufe der Erkenntnis kommt, von dereben gesprochen wird, der kann leicht bis zu einer vollstän-digen Verzweiflung an dem inneren Leben kommen, wenner also sieht, was in ihm steckt. Denn wiederum ist es nur Erkenntnis, durch die wir gewahr werden, was in uns steckt,was auf dem Grunde des Lebens an Lebensautomatismus ist,wenn man also sieht, wie man hineingestellt ist ins Lebenund was durch den Menschen durchgreift wie durch ein Uhr-werk – aber nun eben in geistiger Weise, nicht mechanischwie beim Uhrwerk – durchgreift dasjenige, was im ganzenUniversum als die kosmischen Lebenskräfte ausgebreitet ist.Da lernt man sich einfühlen in das ganze Universum als einStück, als ein Teil von diesem Universum, aber man fühltsich in ihm so, wie wenn man sich selbst vollständig ent-fremdet wäre, zur Versteinerung, zum Petrefakt in diesem Le-ben geworden wäre.

Innerer Kampf zwischen Versteinerung und AktivitätDann merkt man, dass alles, was man so erlebt, nur ist Er-kenntnis desjenigen, was da unten in der Seele ist. Und dasist ein immerwährender Kampf zwischen dem, was alsosich versteinert in uns, wie zur Automatik strebt, und aufder andern Seite wie in die geistige Einsamkeit zu immer-währender Tätigkeit steigt, ein innerer Krieg, ein inneresKampfesleben, das uns entzogen wird im Anblick der All-täglichkeit. Das Geschilderte ist auf dem Grunde unsererSeele. Und aus einem solchen inneren Kampfesleben, auseinem Kampf, der sich in jeder Seele vollzieht, den derGeistesforscher nur anschaut, aus einem solchen Kampfes-leben holt er seine Erkenntnis heraus. Und dasjenige, wasSie in der Literatur der Geisteswissenschaft finden, ist he-rausgeholt aus dem Untergrunde der Seele, herausgeholtaus diesem Kampfesleben. Gewiss, ich sage, es kann ein Je-der die Anfänge der Geistesforschung durchmachen unddadurch kann sich jeder heute überzeugen, dass das richtigist, was die Geistesforschung darbietet; aber dasjenige, wasman durchzumachen hat, wenn man zu entscheiden-den Wendepunkten in Bezug auf die geistige Erkenntniskommt, das stammt aus kampferfüllten, aus wildbewegten,aus tragisch durchlebten inneren Erlebnissen der Seele, dasstammt aus Regionen der Seele, die alles, alles aufwühlen,und man bekommt eine ehrerbietige Anschauung von demganzen Leben und von dem, was im ganzen Leben als die-ses Leben durchwebende Weisheit waltet, wenn man ge-wahr wird, dass zum alltäglichen Leben der Mensch dieGnade verliehen hat, dass ihm ein Schleier gewoben istüber all dasjenige, was auf dem Grunde seiner Seele ist.

Notwendigkeit einer Bewusstseins-EntwicklungAber die Menschheit ist in Entwicklung! Und die Entwick-lungszeit, in der die Menschen einzig und allein lebenkonnten im Bewusstsein, dem durch einen Schleier entzo-gen ist dasjenige, was im Untergrunde des Seelischen wal-tet und webt, diese Zeiten nähern sich ihrem Ende, und dieZeiten gehen auf, in denen die Menschheit ihre tiefsteSehnsucht durch die natürlichen Seelenkräfte haben muss,bekannt zu werden mit dem, was da in den Untergründendes Seelischen lebt und webt. Gerade so wie in einem be-stimmten Zeitpunkte der menschlichen Entwicklung Men-schen der Star gestochen werden musste in Bezug auf dieAnschauung des früheren gesunden Menschenverstandes,dass die Erde stillstehe und der Sternenhimmel und dieSonne sich um sie bewege, so muss, das liegt in den Kräftender Erdentwicklung, der Menschheit der Star gestochenwerden darüber, wie sich alles Seelenleben auf einem sol-chen Untergrunde auferbaut, wie er eben geschildert wor-den ist. Die Menschheit will erkennen, dass dasjenige, waswir durch das Leben tragen an Lebenssorgen, an Lebens-überwindungen, an Lebenslust und -leid, an Lebenskraft,an Lebensenttäuschungen und was wir an unseren Mit-menschen bewundern an Lebenstaten, dass das alles errun-gen wird durch einen Sieg, der sich vollzieht auf dem Un-tergrunde des unterbewussten seelischen Erlebens. Wie wirleben dadurch, dass Kräfte walten hinter der Sinnenwelt,die im lebendigsten Kampfe das zu erringen haben, worü-ber wir uns freuen, womit wir unser Leben vollbringen, daswird in der Zukunft dem Menschen stärkende Seelenkraftgeben, wenn er wissen wird, wie durch unbekannte Mäch-te hinter der Sinneswelt erkämpft werden muss dasjenige,was sein Lebensgut, auch was sein Lebensleid, was seine Lebensüberwindung ist, so dass wir daran, als in dem Be-wusstsein, was das Lebenswirkliche ist, die stärkste Lebens-sicherheit haben. Das wird dem Menschen die lebendigeEmpfindung seines Zusammenhanges geben mit den geis-tigen Mächten, die hinter der Sinneswelt stehen. Undwenn der Mensch also die beiden Kampfesgebiete des vonder Leiblichkeit losgelösten Gedankenlebens und des vonder Leiblichkeit losgelösten Willenslebens, wenn er alsodiese beiden Kampfesgebiete überschaut, dann tritt er ein in diejenige Erkenntnis der wiederholten Erdenleben,die heute so phantastisch, obzwar sie Lessing innerhalb desGeisteslebens der neueren Menschheit geltend gemachthat, den Gedankengewöhnungen erscheint. Und er trittein in die wirklichen Zusammenhänge des menschlichenSchicksals, die uns so viele Rätselfragen aufgeben. Was ichheute noch berühren möchte, ist, dass uns, wenn wir alsoauf das Leben schauen, dass uns dieses Leben erscheint mitdem, was es dem Alltag äußert, wie durch Siege und Kriegeunbekannter geistiger Mächte, aber zu erkennender geis-tiger Mächte bewirkt ist, und wenn wir also das Leben er-kennen, erkennen wir auch die großen Zeitereignisse in ei-ner andern Weise als sonst.

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 35: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Immobilien-Krise

35

Schneller als gedacht sind weitere Tributzahlungen der Konti-nentaleuropäer1 an die Hegemonialmacht fällig: Alleine im drit-

ten Quartal 2007 mussten der Schweizer Bankkonzern UBS unddie Deutsche Bank gigantische vier Milliarden Schweizer Frankenbzw. zwei Milliarden Euro2 auf verbriefte Forderungen3 mindererQualität («Subprime»4) nordamerikanischer Hypotheken abschrei-ben. Für heute soll einmal das ausgeklügelte Werk, von einerskrupellosen Junta zur Finanzierung völkerrechtswidriger Kriege inSzene gesetzt, in den Focus genommen werden.

Dreister Druck der US-RegierungDie FAZ pflegt eine gewisse ideologische Nähe zur US-Politikund zum Raubtierkapitalismus, die vor allem in ihren Leitar-tikeln und Kommentaren zum Ausdruck kommt. Plötzlichaber prangern die Leitartikler sowohl im Politik-, als auch imWirtschafts- und im Finanzteil an, was sie sonst preisen, undwas man unter der Überschrift Amerika hat den Bogen über-spannt5 lesen konnte, ist tatsächlich eine Dreistigkeit sonder-gleichen: «Um ihre politischen Ziele in Iran zu erreichen,setzt die amerikanische Regierung mit ihrer Finanzmacht diedeutsche Wirtschaft in bisher unbekanntem Maße unter Druck*.Mehrfach hat sie hochrangige Delegationen nach Deutsch-land entsandt. Kaum waren diese wieder zu Hause, zogensich die großen deutschen Banken aus dem Irangeschäft zu-rück.» Die Iran-Geschäfte waren sowohl nach deutschem alsauch europäischem und internationalem Recht legal undverstießen auch nicht gegen das Teilembargo der UN, hältder Leitartikler fest und fährt fort: «Die amerikanische Regie-rung übte ihren Druck nicht auf die Tochtergesellschaftendeutscher Banken in den Vereinigten Staaten aus, sondernauf die Mutterhäuser selbst, und das in Deutschland. Keinerweiß, welche Drohungen ausgesprochen wurden. Ein Vertreter ei-ner Bank sprach von ‹Erpressbarkeit›.»

«Tatsache ist, dass sich die deutschen Banken dem Druckbeugten und sich ‹freiwillig› aus dem Iran-Geschäft zurück-gezogen haben. Selbst langjährigen privaten Stammkunden,die dem Regime fernstehen, kündigten sie die Konten. Ohnedie Finanzierung über die Banken werden keine Geschäftemehr abgeschlossen, und ohne funktionierendes Bankwe-sen findet kein Außenhandel mehr statt. Eingetreten ist eingefährlicher Präzedenzfall. Was heute gegen Iran praktiziertwird, kann morgen in China angewandt werden und über-morgen in anderen Märkten. Deutschland hat in den vergan-genen Wochen einen Teil seiner außenwirtschaftspolitischen Sou-veränität eingebüßt. Denn die deutschen Unternehmen undBanken können nicht länger jene Geschäfte tätigen, die mitdem geltenden Recht vereinbar sind. Nicht die Bundesregie-rung hat entschieden, wo für deutsche Unternehmen undBanken die Grenzen des Iran-Geschäfts liegen, auch nichtdie EU. Diese Entscheidung hat ihr – nicht gerade elegant –die Regierung in Washington abgenommen.»

Gezielt eingesetzte KrisenDass die US-Administration damit noch nicht am Ende ihrerForderungen angelangt ist, geht aus dem weiteren Kommen-tar hervor: «Mit ihrer Finanzkraft haben die VereinigtenStaaten ihre Entscheidung dem alten Kontinent aufgezwun-gen. Offenbar will Washington nicht akzeptieren, dass seineVerbündeten beim Thema Iran abweichende Meinungeneinnehmen oder dass jene (noch) zu Konzessionen gegen-über China und Russland bereit sind.» Der Autor verwech-selt zwar «Finanzkraft» mit «Militärkraft», aber es geht unge-schminkt weiter: «Einen Vorgeschmack auf die Zukunft liefertein amerikanischer Vorschlag, der bei der OECD6 kursiertund der im Rahmen einer schärferen Kontrolle der interna-tionalen Finanzströme die Banken verpflichten will, bei in-ternationalen Transaktionen das Grundgeschäft zu prüfen.Banken sollen also eine private Ersatzbehörde für die amerikani-sche Exportkontrolle werden. Sie sollen nicht mehr das Funk-tionieren der Wirtschaft sicherstellen, sondern einen poli-tischen Auftrag erfüllen.» Mit dem trefflichen Ausdruck«Leisetreterei» endet der nächste Abschnitt des Kommenta-tors: «Weder erfolgte ein Protestgeschrei der deutschen Wirt-schaft, noch erhebt die Bundesregierung Einspruch. Weißdie Bundesregierung überhaupt, wann und welche Regie-rungsvertreter Deutschland ihre Besuche abgestattet ha-ben? Kennt sie den Inhalt dieser Gespräche? Viel Phantasiebraucht es nun nicht mehr, sich vorzustellen, dass nach denBanken die Industrie an die Reihe kommt ...»

Gewisse Gruppen inszenieren bewusst gewisse Szenarienunter Inkaufnahme von Katastrophen. Das gilt für Militär-schläge – an die Sprengung des «World Trade Center» durchdie Handlanger der US-Junta am «09/11/2001» sei erinnert –aber auch für Wirtschaftskatastrophen wie den Subprime-Betrug. Der Möglichkeiten sind gar viele, wer den Ariadne-Faden aufnimmt, kann auch hier aufgrund von Ähnlich-keiten das Strickmuster erkennen. Die Erpressbarkeit kon-tinentaleuropäischer Banken ist angesichts der gewaltigenMengen fauler Kredite für Hedge- und Private-Equity-Fondsund «Subprimes», die ihnen US-Institute verhökert haben,sehr groß. Diese in einer sozusagen neutralen, weil US- undwirtschaftsnahen Gazette skizzierten bzw. kritisierten Faktendes völkerrechtswidrigen Vorgehens der US-Junta wurdender Berichterstattung über die Subprimes hier vorangestellt,um aufzuzeigen, dass bewusst inszenierte Wirtschaftskriegekeine Verschwörungstheorien, sondern leider traurige Wirk-lichkeit des 21. Jahrhunderts sind.

Künstlicher Aufschwung durch SubventionenDas schnellste Mittel, die gesamte Volkswirtschaft eines Lan-des in Schwung zu bringen, ist die Förderung des Immobi-liensektors, der Bauwirtschaft: Rohstoffe werden benötigt,Transporte angekurbelt, Handwerksbetriebe und die Indus-trieproduktion prosperieren, Arbeitsplätze entstehen, alleMenschen, die vom Bauboom profitieren, steigern ihren pri-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Skizzen zur Geschichte und Zeitgeschichte:

Die Subprime-Bankenkrise: «Gier frisst Hirn»

* Hervorhebungen durch Kursivstellung stammen vom Verfasser

Page 36: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Immobilien-Krise

36

vaten Konsum, usw. usf. Als Beispiel für einen solchen Pro-zess sei die «Wende» 1989/90 genannt: der starke Zuzug vonMenschen aus dem Osten Deutschlands löste (mit explodie-renden Miet- und Immobilienpreisen) im Westen einenBoom sondergleichen aus (der dann nach 1992 in einer dergrößten Rezessionen überhaupt verpuffte); der Boom basier-te auf dem soeben skizzierten Phänomen. Am meisten freu-en sich an solcher Wirtschaftsprosperität die (auslösenden)Politiker (wegen der Wiederwahl), die Finanzinstitute, diedas alles in irgendeiner Weise finanzieren oder aber die Erlö-se anlegen und natürlich die Ölindustrie. Ganz besondersaber freut das natürlich den, der alle drei genannten Grup-pen unter (s)einem Hut vereinigt. Ach ja: Jeder (Politiker)weiß natürlich, was er anstellt, wenn er das (willkürlich) insRollen gebrachte System willkürlich wieder stoppt ...

Alle Politiker wissen um diese Effekte und nutzen sieweidlich aus: Die staatliche Förderung des privaten selbstge-nutzten Wohneigentums machte beispielsweise in Deutsch-land in den Neunzigerjahren für eine vierköpfige Familiebinnen acht Jahren über 60 000 DM aus. Direkte Subven-tionen sind in den wirtschaftsliberalen angelsächsischenLändern natürlich verpönt. Stattdessen verwendet(e) maneinen Kunstgriff, der genauso wirkt: Der langjährige Durch-schnitt für Baufinanzierungszinsen mit zehnjähriger Zins-festschreibung lag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertsin Deutschland bei ca. 7,5% p.a. Wer, wie in den U.S.A. lan-ge üblich, stattdessen nur 2,5% p.a. zahlen muss, bei demfallen 5% weniger Zinsen pro Jahr an: fast 100 000 $ Zinsenweniger für eine Finanzierung von 200 000 $ und insgesamt30-jähriger Kreditlaufzeit schon im ersten Jahrzehnt – oder825 $ im Monat. Auch das kann man steuern...

Der US-Sparkassenbetrug als VorbildBleiben wir bei den «gezielten» Subventionen, die aktuellenBetrügereien sind ja nichts Neues. Zwar sind die Methodenetwas ausgefeilter als im letzten Jahrhundert, aber die, die indie Röhre gucken (von den bedauernswerten nordamerika-nischen Immobilienkäufern einmal abgesehen) sind nunnicht mehr US-, sondern kontinentaleuropäische Steuerzah-ler, ansonsten hat sich wenig geändert. Seit 1976 war GeorgeBush (sen.) CIA-Präsident, ab 1981 US-Vize unter PräsidentReagan und bis 1993 selbst US-Präsident. In diese Zeit fälltdie berüchtigte Krise lokaler Kredit- und Sparbanken «Loan-and Savings-Banken» (L & S-Banken): Unmittelbar nach Re-gierungsübernahme deregulierte die Reagan-Administrationdie staatlich abgesicherten L & S-Banken. Minimale 1% derBilanzsumme reichten fortan für die Gründung oder Über-nahme eines solchen Institutes aus; gleichwohl garantierteder Staat alle Kundenspareinlagen bis jeweils 100 000 US-$für jeden Kunden. Die folgenden Bankrotte von ca. 2000 L & S-Instituten in den Jahren 1986–1993 haben den Staatbzw. Steuerzahler ca. 500 Mrd. $ gekostet. Mindestens 22 jener L & S-Bankrotte bringt R. Kohler in seiner Internet-En-zyklopädie über regierungsamtliche Verbrechen der Verei-nigten Staaten seit 1850 in Verbindung zum organisiertenVerbrechen und zur CIA (als Geldwaschanlage für verdeckteOperationen), auch prominente Nutznießer verschweigt ernicht: «Da der Staat die Garantien übernommen hat, wur-

den so riesige Vermögen von den Steuerzahlern zu einer klei-nen Elite von Bankern, Mafiosi, Geheimdienstleuten und re-publikanischen Politikern wie George Bush (sen.) ... transfe-riert»7. Mittels dieser L & S-Kredite wurde der Boom derReagan-Ära finanziert. Als Bush sen. das Ruder übernommenhatte, flankierte die gleiche Administration – respektive AlanGreenspan8 mit seiner Fed9 – dann die Abwicklung der L & S-Banken mit einer Politik niedriger Zinsen. Nicht nur der vielzitierte Börsen-Crash von 1987 war Grund für die Green-spansche Niedrigzinsphase – diese Vertrauenskrise urstände-te im Prinzip im skizzierten L & S-Debakel!

Aber die steuernden Machtzirkel der USA haben aus derKrise der Achtzigerjahre gelernt: Billiges Geld wurde im neu-en Jahrtausend erneut produziert, die bewährten Tricks zurAnfachung der Wirtschaft durch einen Bauboom wieder an-gewendet. Die Aufblähung der Schein- bzw. Zeichenwerte,denen keine realen Werte (Güter) gegenüberstehen, wurde sounverschämt-geschickt eingefädelt, dass die Risiken hierausals verbriefte Forderungen3 problemlos zinsgierigen Europä-ern in die Depotkonten geschoben werden konnten. Sollte esdoch noch zu Verwerfungen auf dem US-Markt kommen – sorichtig werden die Auswirkungen dort wohl doch erst spür-bar werden, wenn George W. Bush 2009 ab- und (nach Tru-man, Bush senior, Clinton) als vierter US-«Uranpräsident» indie Geschichtsbücher eingetreten sein wird10…

Die Kopie: Der Subprime-BetrugDie gezielt herbeigeführten Niedrigzinsphasen der Fed9 inder langjährigen Ära von Alan Greenspan8, dienten nur der(Zins-)Subvention – und hatten die geschilderten Aspekte(Wirtschaftsboom) als triftigsten Grund. Durch diese Zins-politik erfolgte die Ankurbelung (= Bauboom) der inländi-schen Wirtschaft, die, stark mitgenommen durch die völ-kerrechtswidrigen Kriege der Regierung, im Grunde demUntergang entgegentaumelt, Ausnahmen (Öl-/Finanz-/Mili-tärindustrie) bestätigen die Regel. Herr Greenspan hatte dieVerlogenheit, mit geschickten Aussagen zum niedrigen Zins-niveau die Menschen zum Kauf von Immobilien, bzw. zuhoher Verschuldung zu animieren – um dann peu à peu dieZinsen hochzuschleusen: Variable Konditionen beinhaltendas Risiko von Zinssteigerungen – wenn sich bei einem kre-ditfinanzierten Hauskauf mit variablen Hypothekenzinsendiese von beispielsweise 2,5% auf 5% verdoppeln, wird fürviele Kreditnehmer die nun fast doppelt so hohe Monats-rate zum Albtraum. Können viele Kunden die gestiegenenZinssätze nicht bezahlen, haben alle Banken ein Problemund kurz danach die ganze Volkswirtschaft: Immobilienkommen zu Schleuderpreisen auf den Markt (oder unter denHammer) und ein breiter Verfall der Immobilienpreise be-ginnt. In kurzer Folge stellen die Banken fest, dass auch an-dere Finanzierungen wegen des Preisverfalls die vorher er-rechnete Grenzbeleihung überschreiten und kündigen auchdiese Kredite, der Teufelskreislauf beginnt.

Den handelnden Akteuren war bei Initiierung des Subpri-me-Betrugs völlig klar, dass die Kreditnehmer ihre Verbind-lichkeiten niemals bei einem Zinsniveau von ca. 5% p.a.und darüber abzahlen konnten. Da nun aber der «Auf-schwung» für die Finanzierung der Kriegsabenteuer in Af-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 37: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Immobilien-Krise

37

ghanistan und Irak dringendst benötigt wurde, ersann manein Mittel, die Folgen der einerseits gezielt inszenierten, an-dererseits von vorneherein absehbaren kapitalen Pleitendiesmal nicht nur dem eigenen Steuerzahler aufzubrum-men, sondern auch ahnungslosen Kontinentaleuropäernmittels verbriefter Forderungen3 unterzujubeln: Die ab 2005in großem Stil gehandhabten Subprimes.

«Kollateralschäden»Verbriefte Forderungen3 sind an sich langjährig erprobte Fi-nanzierungsmittel und hochriskante Forderungen werdeneben mit entsprechenden (Risiko-)Abschlägen verkauft. Wieimmer wird die Angelegenheit erst kriminell, wenn die Wa-re nicht mehr dem entspricht, was auf der Verpackung steht.Ob man jemals erfahren wird, ob die Käufer dieser Zinspake-te gewusst haben, was sie kaufen, sei dahingestellt. Es stehteher zu vermuten, dass die verantwortlichen Personen inden Bank-, Investmentfonds-, Versicherungs-Konzernenüberhaupt nicht verstanden haben, was ihre Händler nachdem Motto «Gier frisst Hirn» für Risikopapiere gekauft ha-ben. Da sich über 60% der Subprime-Verbriefungen3,4 mitt-lerweile nicht mehr im Besitz von Banken, sondern vonsonstigen Anlegern11 befinden, gilt dies leider gleicherma-ßen für die (privaten) Käufer von Lebensversicherungenoder für (professionelle) Anleger in Geldmarktfonds. Derar-tige Anlagen versprachen angeblich eine bessere Verzinsungals «langweilige» Spar- oder Festgeldkonten... Das einzige,was wir von Akteuren aus der ersten Reihe zum Subprime-Skandal hören, sind Beschwichtigungen. Nachdem JosefAckermann von der Deutsche Bank in einer TV-Talkshow ge-standen hatte, dass sein Institut rund 30 Mrd. ? seiner ver-brieften Forderungen3 neu bewerten müsse, wurde ein Ma-kel, den die FAZ im Leitartikel des Finanzteils unter demTitel Die Stunde der Banker5 festhielt, besonders unterstri-chen: «Die Anleger dürfte auch nicht gerade beruhigt haben,dass Deutschlands wichtigster Bankmanager den Vorwurfunwidersprochen stehen ließ, Banker seien notorische Lügner.»

Peu à peu tröpfeln die Informationen der Insider und daswahre Ausmaß der Krise wird langsam deutlich: Von 2005bis 2007 wurden in Amerika Subprime-Darlehen über 1800Mrd. US-$ vergeben; der Präsident der deutschen Sparkassen-organisation erwartet bis zu 20% Ausfälle.11a Das ist wohl ei-ne zurückhaltende Prognose, aber auch 360 Mrd. US-$ Kre-ditausfälle dürften das (weltweite) Bankensystem und damitdie (Konjunktur aller) westlichen Volkswirtschaften bis insMark erschüttern – der Goldpreis ist nicht umsonst imHerbst dieses Jahres auf 770 US-$ geklettert.11b

Die suboptimalen Subprime-Verbriefungen sollen von derWall-Street-Spekulationsindustrie (Investmentbanken) groß-mehrheitlich nach Europa verkauft worden sein – was die vonder FAZ genannte «Erpressbarkeit» (siehe oben) erklärenkönnte. Auch einzelne US-Investmentbanken12 erleiden (Mil-liarden-)Verluste, das sind allerdings nur «Kollateralschäden»,die dadurch entstehen, dass sie diese «Giftpillen» nichtschnell genug über den Atlantik verkaufen konnten. Diegrößte und die älteste Investmentbank sind offensichtlichfast «unversehrt»: Die alten Strategen von J.P. Morgan Chase,seit 100 Jahren im Geschäft mit der Regierungspartei und

Goldman Sachs, die Glücksritter des PNAC13 (spätestens seit1989/90 die führenden Bankhandlanger der Skull&Bones-Ge-nossen), sind wohl von ihren Washingtoner Freunden in dieGeschäfte eingeweiht worden und konnten die «Giftpillen»frühzeitig weiterreichen14. Das «Geschäft» dürfte mittlerweilemausetot sein: US-Investmentbanken, die gar kein direktesBaufinanzierungsgeschäft betreiben, schließen(!) ihre «Hypo-thekenabteilungen» – gemeint sind deren Verbriefungs- undVerkaufseinheiten. Den gewaltigen Umfang des Geschäfts er-hellt die FAZ-Nachricht5: Lehman Brothers beispielsweise, dieNummer vier der New Yorker Spekulationsindustrie, entlässtaus der «Hypothekenabteilung» 2500 Menschen ...

Die Zeche zahlt KontinentaleuropaEiner der Herausgeber der FAZ schrieb in seinem Leitartikelauf Seite 1 des Blattes: «Auf fast allen Märkten wuchert Miss-trauen, ein solches Ausmaß allgemeiner Verunsicherung haben selbst erfahrene Banker und Aufseher nicht erlebt.»Und: «Die kräftige Zinssenkung der Fed kann nicht nur alsRettung in der Not, sondern auch als Auftakt zur nächstenSpekulationswelle verstanden werden, vor allem dann, wenndie amerikanische Notenbank noch einmal eine Spekulations-krise, zu der sie mit Zinsen fast zum Nulltarif eingeladen hatte,zu lange mit zu billigem Geld zu bekämpfen versuchen soll-te.» Dass das nun aber eigentlich wieder gewollt ist (sieheoben), blickt der gute Mann leider nicht. Und dass bei einemsolchen Horrorszenario auf den Finanz- und Wirtschafts-märkten die Washingtoner Junta, die damit ungestraft ihrevölkerrechtswidrigen Kriege in aller Welt finanziert, dann auchnoch hiesige Banken erpressen und Deutschen legale Ge-schäfte verbieten will, passt zwar ins Bild, ist aber ein Skan-dal, der den um die Subprimes noch um ein Vielfaches über-trifft. Etwaige Folgen sind sogar für einen Menschenschlagabsehbar, der ansonsten eine Geschäftspolitik betreibt, diegestandene Wirtschaftswissenschaftler gelegentlich mit«Gier frisst Hirn» klassifizieren.

Nur zwei Jahrzehnte, nachdem Bush senior und seineMannschaft mittels den damaligen Sparkassenbetrügereienprimär die Wirtschaft des Landes ankurbelte, sekundär sei-nen Geldsäckel stopfte7 und per Saldo dem Staatshaushaltein 500-Mrd.-$-Desaster besorgte, haben die damaligenHerrschaften ihre Lektion gelernt. Die Wirtschaft des Landeshaben sie nach dem gleichen Strickmuster wie vor zwanzigJahren angekurbelt, aber ihre eigenen Geldsäckel stopfen siemittlerweile mit Hedge- und Private-Equity-Fonds15. Nurden damals einzigen Negativaspekt haben sie ausgemerzt:Die Zeche zahlt diesmal auch der kontinentaleuropäischeSteuerbürger – während die Mannschaft ihre Lektion gelernthat, haben die Europäer geschlafen!

«Eine Fälschung der Weltbuchführung»Vor diesem Hintergund ist dem FAZ-Leitartikler durchausbeizupflichten: «Amerika hat den Bogen überspannt»16. Aberneben den machtpolitischen Ungeheuerlichkeiten darf beidieser Katastrophe die horrende Opferzahl der betroffenenMenschen nicht vergessen werden. Zusätzlich zu den zahl-reichen Entlassungen in der Spekulationsindustrie5 kommendie Menschen, die durch eine rückläufige Konjunktur (zual-

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 38: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Immobilien-Krise

38

lererst in der Baubranche) ihren Arbeitsplatz verlieren. Unddann dürfen die Käufer dieser Immobilien, die schändlichstbetrogen wurden, nicht vergessen werden. Teilweise hat man– der schnellen Provision wegen – Objekte mit Finanzierun-gen verkauft, bei denen die Immobilienerwerber erst nachJahresfrist mit der Ratenzahlung beginnen mussten – unddann (erst) feststellten, dass die Rate zu hoch und nicht auf-zubringen war. Die Käufer mussten wieder ausziehen. Nichtnur die Finanzierungen, auch die verkauften Immobilien wa-ren vielfach «suboptimal», das heißt das Geld nicht wert, dasdie übers Ohr gehauenen Käufer dafür bezahlt hatten.

Es scheint ein fatales Symbol15 des noch jungen Jahrhun-derts zu sein, dass der reale Wert eines Wirtschaftsguts undder dafür zu zahlende Geldbetrag immer weiter auseinan-derklaffen, dass man einen reellen Zusammenhang zwi-schen Wert und Zeichenwert nicht mehr erkennen kann.Der Volksmund nennt so etwas schlicht und einfach: «Be-trug». Rudolf Steiners Schüler Walter Johannes Stein hat fürähnliche «Betrügereien» einmal eine andere Wortwahl ge-funden17: «Wo Geldbeträge oder überhaupt irgendwelcherfinanzieller Wert ohne wirtschaftliche Gegenleistung auf-taucht, bringt er Zerstörung, weil er irgendwie eine Fäl-schung der Weltbuchführung darstellt»...

Franz Jürgens, Freiburg

1 Räuberhöhle, Der Europäer, Jahrgang 11, Nr. 8/Juni 2007 und

Eine Menschheitsaufgabe unserer Zeit, Der Europäer, Jahrgang 11,

Nr. 9/10/Juli-August 2007

2 http://www.boersenzeitung.de/online/redaktion/aktuell/

pt/189013.htm (2.10.2007) und:

http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,509239,00.html

(3.10.2007)

3 Der Einfachheit und Übersichtlichkeit halber werden im ge-

samten Text alle Zertifikate, Commercial Papers (CP), Asset-

backed Securities, Mortgage-backed Securities usw. als «ver-

briefte Forderungen» bezeichnet. Banken fassen normale

Kundenkredite zu «verbrieften Forderungen» zusammen, um

sie handelbar, also veräußerbar zu machen. Als Erläuterung

für ein solches Zertifikat sei das «Bankerlatein» für die

ABS/MBS angefügt: Ein ABS (Asset-backed Security) ist ein

Wertpapier (Anleihe/Schuldverschreibung) oder eine «ver-

briefte Forderung», das Zahlungsansprüche gegen eine aus-

schließlich dem Zweck der Transaktion des forderungsbesi-

cherten Wertpapiers dienende Zweckgesellschaft (sogenannte

Special Purpose Vehicle, SPV) zum Gegenstand hat (MBS =

«Mortgage-backed Security», Mortgage = Hypotheken).

4 «Subprime»: Sind Kreditrisiken minderwertig, sind sie «sub-

optimal», eben: «Subprime». Variable Finanzierungen werden

von den kreditgebenden Instituten variabel refinanziert, in

Abschnitten von 3-12 Monaten mittels sogenannter CP’s oder

ABS, bzw. MBS (siehe oben). Damit holen sich die Hypothe-

kenfinanciers das Geld, das sie dann auf eigene Rechnung an

ihre Kunden als Kredit ausreichen. Die Hypotheken sind nun

die Risiken des Financiers, sein Obligo, seine Forderungen an

die Häuslebauer (Obligo = Gläubiger: «Ein Gläubiger ist je-

mand, der glaubt, er bekommt sein Geld zurück.»). Von der

Marge zwischen Kundensatz und Zertifikatsatz lebt der Hypo-

thekenfinancier; steigen die Refinanzierungskosten, steigen

auch die Zinssätze für die Häuslebauer, können diese die er-

höhten Zinsen nicht mehr zahlen, hat die Bank ein Problem

und der Kunde muss sein Heim verkaufen, eventuell sogar

(zwangs-)versteigern. Verluste aus Kreditrisiken trägt die Bank

– es sei denn, dieser Kredit wurde «weiterverkauft», was in

großem Umfang geschehen ist. Investmentbanken haben aus

den vielen dieser Kredite neue «Verbriefungen» gebündelt,

die dann schnellstmöglich an andere Banken sowie private

und institutionelle Anleger (Firmen, Fonds, Versicherungen)

weiterverkauft wurden.

5 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.9.2007, Seiten 1, 11, 19

6 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-

lung (soviel zur Aufgabe von supranationalen Institutionen...)

7 R. Kohler: Mafia, Geheimdienste und Politik der USA;

http://www.us-politik.ch/teil12.htm_Sparkassenskandal

8 Alan Greenspan, *6.3.1926 in New York, vom 11.8.87–

31.1.2006 Vorsitzender der Fed. Nachfolger: Ben Shalom Ber-

nanke, *13.12.1953 in Georgia.

9 Fed: Federal Reserve System oder Federal Reserve oder kurz Fed

genannt. Die Fed ist im Gegensatz zu allen anderen Notenban-

ken der Welt ein Institut mit privaten Eignern und nimmt für

die USA die Funktion der Zentral- oder Notenbank wahr. Die

Fed wurde auf Vorschlag von Paul Moritz Warburg, Teilhaber

der Warburg-Bank Hamburg u.a. am 23.12.1913 nach einem

Kongressbeschluss durch Woodrow Wilson gegründet. Neben

Warburg zähl(t)en auch J.P. Morgan, Goldman Sachs und die

Rothschilds zu den Gründern und Eigentümern. Häufig wird

als wichtigster Grund für die Ermordung John F. Kennedys die

von ihm initiierte Verstaatlichung der Fed genannt – Lyndon

B. Johnson, sein Vizepräsident und Nachfolger soll noch im

Flugzeug von Dallas nach Washington ein Dekret unterzeich-

net haben, das den Verstaatlichungsbeschluss wieder aufhob.

10 Bush sr., Clinton und Bush jr. brachten uran-angereicherte

Sprengköpfe mit verheerender Wirkung zum Einsatz. Mehrere

Artikel dazu unter: http://www.zeit-fragen.ch/ausga-

ben/2007/nr31-vom-6-august-2007/

11 «Banker gestehen Schuld an der Finanzkrise ein», FAZ vom

23.10.2007

11a «Mehltau über Washington», FAZ vom 22.10.2007

11b «Der hohe Goldpreis ist ein Warnsignal», FAZ vom 23.10.2007

12 Nur die mehr im traditionellen Geschäft verankerte Citigroup

ist mit ca. 80. Mrd. US-$ in diesem Markt selbst aktiv (FAZ

vom 18.10.2007).

13 PNAC: «Project of a New American Century» (Projekt für ein

neues amerikanisches Jahrhundert; offizielle Verkündung durch

George Bush senior am 11.9.1991: «The New World Order».)

14 Laut FAZ vom 18.10.2007 meldet J.P. Morgan Chase im drit-

ten Quartal 2007 einen Anstieg des Nettogewinns!

15 siehe auch: Carlylegate, Der Europäer, Jahrgang 11, Nr. 5/März

2007

16 Wenn in dieser Skizze (auch in Zitaten) von «Amerika», bzw.

den «USA» oder Ähnlichem die Rede ist, sind immer die von

Rudolf Steiner bezeichneten gruppenegoistischen Logen mit

ihren Handlangern in Politik, Administration, Militär und

Wirtschaft, also im «MIK» (Militärisch-Industrieller-Komplex

= Politik, Militär, Geheimdienste und Wirtschaft) gemeint.

17 Walter Johannes Stein: Das Gold in Geschichte und Gegenwart,

Orient-Occident-Verlag, Stuttgart 1932

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 39: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Apropos

39

W erden wir richtig informiert? Nur wenn wir den Guruunserer eigenen individuellen Vernunft in der rich-

tigen Weise wirksam werden lassen. Das heißt: wenn wiruns um die nötigen Informationen bemühen und sie den-kend verarbeiten. Sonst laufen wir Gefahr, von Medien,Behörden oder auch Wissenschaftlern (manchmal ab-sichtlich) in die Irre geführt zu werden. So wie es zum Beispiel George W. Bush und seine Regierung – nicht nurbeim Irakkrieg – sozusagen notorisch tun, was an dieserStelle immer wieder belegt worden ist.

Deutschland: der wichtigste Handelspartner des IranSo auch jetzt wieder – oder immer noch (hier wurde schonmehrmals darauf hingewiesen) – in der Auseinanderset-zung mit dem Iran. Periodisch erreichen uns Meldungenwie: «Druck auf den Iran wächst: Die USA, Frankreich undGroßbritannien erhöhen den Druck auf den Iran weiter»;sie haben «einen Katalog mit weiteren Fragen an Teheranerarbeitet. Wenn der Bericht der IAEA (der InternationalenAtomenergiebehörde. B.B.) als nicht hinreichend einge-stuft wird, werden weitere UN-Sanktionen gegen den Iranimmer wahrscheinlicher.»1 Oder: «USA wollen Iran denGeldhahn abdrehen: Die USA haben im Alleingang um-fassende Sanktionen gegen Iran verhängt. Verhindert wer-den soll, dass das Land weiter sein Nuklearprogramm ver-folgen und internationale Terroristen unterstützen kann...Es sind die weitreichendsten Sanktionen gegen Iran seitder Machtübernahme der Ajatollahs vor fast 30 Jahren.»2

Oder manchmal auch ein bisschen raffinierter: «Merkelund Bush drohen Iran: Nachdem es in der US-Regierungzuletzt Überlegungen zu einem möglichen Militärschlaggegen Teheran gegeben hatte, sprach Bush nach einemTreffen mit Merkel auf seiner Ranch in Crawford in Texasausschließlich vom Willen zu einem diplomatischen Er-folg. Merkel zeigte sich in Texas ‹zutiefst überzeugt›, dassdies erreicht werden kann. Sie will die deutsche Wirtschaftzur Einschränkung ihrer Exporte in den Iran bewegen, umden Druck auf Teheran zu erhöhen. Zum Atomstreit sagteBush, es sei der ‹große Wunsch› beider Seiten, Teheran aufdiplomatischem Weg von seinem Kurs abzubringen. Dieiranische Führung müsse begreifen, dass ‹wir weiter zu-sammen arbeiten, um dieses Problem diplomatisch zu lö-sen›. Das bedeute, dass der Iran weiter isoliert werde, sagteBush. Auf die Frage, wann die Geduld mit dem Iran endenkönne, sagte er, das gehöre ‹in die hypothetische Katego-rie›. Erst kürzlich hatte Bush mit Blick auf das iranischeAtomprogramm vor einem Dritten Weltkrieg gewarnt. (…)

Nach Ansicht von Merkel werden schon bald weitereSanktionen des Weltsicherheitsrats folgen, sollte Teherannicht einlenken. Nach den Worten der Kanzlerin wird sieunabhängig von neuen Sanktionen die deutsche Wirt-schaft drängen, ihre Ausfuhren in den Iran zurückzufah-ren: ‹Die Zeichen sind, wenn die Entwicklung weiter sonegativ verläuft, darauf gestellt, dass wir unsere Handels-aktivitäten auch einschränken.› Dabei denkt die Kanzlerinoffenbar daran, auch die Exporte solcher Technologieneinzuschränken, die dem Iran nur mittelbar beim Bau derAtombombe helfen könnten. Dazu könnten auch Bau-maschinen zählen. Deutschland ist bislang der wichtigsteHandelspartner des Iran.»3

Die große Angst vor den USAEinmal mehr bläst die deutsche Bundeskanzlerin demLügen-George, der – wie hier schon mehrfach dargelegt –als Kriegsverbrecher in die Geschichte eingehen wird, Pu-derzucker in den Hintern, anstatt mit ihm Tacheles zu re-den. Offenbar aus Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen.Denn nur einen Tag vorher konnte man zur Kenntnisnehmen: «USA stören Iran-Geschäft: Deutsche und euro-päische Konzerne ziehen sich unter amerikanischemDruck reihenweise aus dem Iran zurück. Warnungen ausWashington erreichen Firmen und Verbände. Diploma-ten drohen mit Einbußen im US-Geschäft.» Da wird berichtet «von Firmenbesuchen zweier US-Beauftragter.Diese wiesen auf ‹mögliche Auswirkungen auf Geschäftein den USA› hin.» Und: «Führende deutsche Banken las-sen ihre Geschäfte mit dem Iran schon seit geraumer Zeitauslaufen. (...) Ein Sprecher der Deutschen Bank verwiesdarauf, dass Neugeschäfte im Iran wegen der verschärftenVorschriften von Vereinten Nationen, der EU und desBundeswirtschaftsministeriums ‹nicht mehr wirtschaft-lich vertretbar› seien.»4 (Den Hinweis auf den hinter all dem stehenden Druck aus den USA lassen die Bank-manager aus geschäftlichen Gründen lieber gleich ganzweg…) Kürzlich wurde zudem bekannt, dass – nebenDeutscher Bank und Commerzbank – «auch die DresdnerBank ihre Geschäfte komplett einstellen will. Die Insti-tute fürchten Einbußen im für sie enorm wichtigen Geschäft mit den USA. Im vorigen Jahr hatten weitereGroßbanken ihren Dollar-Zahlungsverkehr mit Iran ein-gestellt, darunter Credit Suisse, UBS, ABN Amro sowieBanken aus Frankreich und Großbritannien.»5 (Vgl. dazuauch die «Skizze» von Franz Jürgens in dieser Europäer-Nummer: Die Subprime-Bankenkrise: «Gier frisst Hirn».)

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Apropos 40:

Das Karma ist ein Bumerang…

Page 40: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Apropos

40

«Doppelzüngigkeit» der USAFrau Merkel wird sich nicht damit herausreden können,nichts gewusst zu haben (was ohnehin ein Armutszeug-nis wäre). Denn ihr Parteifreund (!) Ruprecht Polenz, derVorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im deutschenBundestag, hat schon Wochen vorher den Klartext zu-mindest angedeutet, als er den USA «Doppelzüngigkeit»vorwarf: «Amerikanische Firmen treiben über Tochter-gesellschaften oder über Drittländer durchaus weiterHandel mit Iran.» Als Beispiele nannte der CDU-Politiker«die Firmen Coca Cola und Pepsi Cola und fügte hinzu:‹Von Halliburton ganz zu schweigen.› Dem Konzern werden fragwürdige Geschäfte mit Iran vorgeworfen. US-Vizepräsident Dick Cheney war von 1995 bis 2000 Vor-standschef der Firma.»6

Im Frühling kam zwar die Meldung: «Halliburtonmacht Schluss: Der US-Ölfeldausrüster Halliburton ziehtsich vollständig aus dem Iran zurück. Alle vertraglichenVerpflichtungen im Iran seien beendet worden. (…) Amselben Tag hatte der Iran bekannt gegeben, dass der Golf-staat inzwischen in der Lage sei, nuklearen Brennstoffherzustellen. Halliburton hatte bereits im Januar 2005angekündigt, nur noch bestehende Verträge zu erfüllenund dann seine Geschäftstätigkeit im Iran einzustellen.Mitte März hatte Halliburton seine Konzernzentrale vonTexas nach Dubai verlagert. Mit dem Umzug in die Verei-nigten Arabischen Emirate wolle der Konzern sein Ge-schäft auf der Osthalbkugel ausbauen, hatte es zur Be-gründung geheißen.»7

Die Spielchen von HalliburtonAber man beachte die Daten und vergleiche mit folgen-der Meldung, auf die hier schon einmal hingewiesenwurde: «Ein Tochterunternehmen des texanischen Öl-und Gasserviceunternehmens Halliburton, die 1975 aufden Cayman Islands registrierte Halliburton Products &Services Ltd. (HPSL), hat im Januar 2005 von der staatli-chen iranischen Pars Oil and Gas Co. einen Auftrag imWert von etwa 300 Mio. US$ erhalten. Bei dem Projekthandelt es sich um die neunte und zehnte Ausbauphasein South Pars, dem weltweit größten Erdgasfeld. Der Ge-schäftsführer der Pars Oil and Gas Co., Akbar Torkan, er-klärte im iranischen Fernsehen, Halliburton und OrientalKish seien die Gewinner der internationalen Ausschrei-bung. Das Projekt ist auf eine Realisierung innerhalb voninsgesamt 52 Monaten ausgelegt.» Der Auftrag dauert al-so bis ins Jahr 2009. «Als Hauptauftragnehmer tritt aller-dings die in England registrierte Oriental Kish Co. auf. Ei-ne Halliburton-Sprecherin bestätigte die Beteiligung andem Vorhaben, erklärte aber gleichzeitig, Halliburton ha-be den Vertrag nicht unterschrieben. Es gibt in den USASpekulationen, dass Oriental Kish als ‹Front Company›

im Auftrag von Halliburton operiert. Dies wird jedochvon Halliburton bestritten.» Also hat Halliburton mit derSache gar nichts zu tun? Falsch! Denn: «Nach Auffassungvon Halliburton verstoßen die Iran-Aktivitäten der HPSLnicht gegen das amerikanische Außenwirtschaftsrecht,da das ausländische Tochterunternehmen unabhängigagiere und keine US-Personen beschäftige. Die Firma hatihren Hauptsitz in Dubai und unterhält seit 2000 ein ei-genes Büro in Teheran. In den letzten Jahren hatte dasIran-Geschäft der HPSL ein Volumen von 30 Mio. bis 40Mio. US$ p.a. Die jetzt erfolgte Ausweitung des Hallibur-ton-Engagements in Iran hat einige Beobachter ange-sichts der gegen Halliburton weiterhin laufenden Ermitt-lungen verwundert.»8

Ein bisschen Licht in das Rätsel bringt ein Blick in dasGerman American Law Journal. Zu den «Halliburton Iran-Geschäften» heißt es da: «Im Bereich der Wiederausfuh-ren werden eigenständige Geschäfte ausländischer Töch-ter gesondert behandelt und können legal sein, selbstwenn die US-Mutter das Embargo beachten muss.» Aller-dings: «Halliburton wird nun öffentlich vorgeworfen, indie Entscheidungen ausländischer Töchter Einfluss ge-nommen zu haben. Ein Halliburton-Angehöriger am Per-sischen Golf soll Presseanfragen nach Houston verwiesenhaben – ein starkes Indiz für unselbständiges und damitrechtswidriges Handeln der Tochter.»9

Halliburton verkaufte dem Iran NukleartechnologieDoch auch ein solcher Vorwurf ist nicht so schlimm,wenn man eine schützende Hand ganz oben im WeißenHaus über sich weiß… Vor allem auch wenn das Ganze seitJahren eingeübt worden ist. An der kalifornischen Sono-ma State University gibt es eine Medienforschungsgruppemit dem Namen Project Censored, die sich damit beschäf-tigt, Medienberichte von sozialer Brisanz und Bedeutungzu erfassen, die aber aus unerklärten Gründen in den US-Medien verschwiegen wurden. Sie verfasst jährlich eine«Top-25»-Liste der bedeutendsten, aber zensierten Berich-te. Punkt 2 der Liste des Jahres 2007 gilt einer besondersbrisanten Geschichte: «Halliburton, die Firma des White-House-Fadenziehers Cheney, hat eine lange Tradition, US-Handelsembargos zu brechen. In den 90er Jahren, als Che-ney Firmenchef des Konzerns war, hat Halliburton trotzInvestitionsverbots umfangreiche Handelsbeziehungenmit dem Iran aufgebaut. Halliburton hat auch bis mindes-tens 2005 Nukleartechnologie an den Iran verkauft, mitder Urananreicherung möglich wird. Das ist dieselbe Tech-nologie, die die US-Regierung mit dem selbigen Cheneydem Iran verbieten will und als Kriegsvorwand darstellt.Falls es wirklich eine Invasion des Irans geben wird, sindHalliburton und Cheney eine der Hauptursachen.»10 (Wiewar das gleich mit Saddam Hussein und den Taliban?)

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 41: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Apropos

41

Die Angaben beruhen auf Recherchen des amerikani-schen Journalisten Jason Leopold, der früher das Los-An-geles-Büro der Nachrichtenagentur Dow Jones geleitethat. In einem Artikel vom August 2005 schrieb Leopold:«Der skandalumwitterte Halliburton-Konzern (…) hat einer iranischen Öl-Entwicklungsfirma Schlüsselkompo-nenten für einen Atomreaktor verkauft, sagen Hallibur-ton-Quellen, die intime Kenntnis von den Geschäftsbe-ziehungen der beiden Firmen haben. Halliburton arbeiteim Geheimen derzeit mit einem der führenden irani-schen Verantwortlichen für das Nuklearprogramm anProjekten, die mit Erdgas zu tun haben, und habe imApril die Komponenten an die Öl-Entwicklungsfirma desVerantwortlichen verkauft, sagen die Quellen.»11 In ei-nem Bericht des Nationalen Sicherheitsrates der USA hieß es Anfang August 2005, «der Iran sei ein Jahrzehntvom Besitz einer Atombombe entfernt». Jason Leopoldmeint dazu: «Dieser Zeithorizont, könnte man mit gutenGründen behaupten, könnte deutlich länger sein, wennHalliburton, dessen militärische Abteilung gerade einen284-%igen Anstieg ihrer Profite im zweiten Quartal (2005.B.B.) aus den Wiederaufbau-Verträgen im Irak vermeldete,die iranische Regierung nicht aktiv mit den Mitteln zumBau einer Atomwaffe versorgen würde.» Dabei spielte die bereits oben erwähnte Firma Oriental Kish eine Rolle,sie ist «im Besitz von Rafsandjanis Kindern und anderenVerwandten»; Haschemi Rafsandjani ist der frühere irani-sche Präsident. Leopold gibt seine Informationen wieder,wonach «Halliburton mit seiner langen Geschichte derVerletzung von US-Gesetzen durch Geschäfte mit Län-dern, die nach Aussage der Bush-Administration Verbin-dungen zum Terrorismus haben, mit Cyrus (oder: Sirus.B.B.) Nasseri bei Projekten der Öl- und Gas-Entwicklungin Teheran zusammenarbeite, dem Vizepräsidenten desVorstands der Oriental Kish, einer der größten privatenÖlfirmen Irans. Nasseri ist auch ein ausschlaggebendesMitglied des iranischen Nuklear-Entwicklungsteams undhat über die Fragen der iranischen Nuklearentwicklungmit der EU und bei der IAEO verhandelt. ‹Nasseri, ein füh-render iranischer Diplomat, der mit Europa über das strit-tige iranische Nuklearprogramm verhandelt, befindetsich gleichzeitig im Zentrum von Geschäften mit US-Öl-firmen zur Entwicklung der Ölindustrie des Landes›, be-richtete die Financial Times.»11 Der deutsche Übersetzerdes Leopold-Artikels trifft den Nagel auf den Kopf, wenner feststellt: «Es wäre nicht das erste Mal, daß die herr-schenden Kreise der USA andere Regierungen hinter denKulissen bei Aktivitäten ermuntern oder sogar direkt un-terstützen, aus denen die US-Regierung sodann eine knal-lige Propaganda bis hin zur Kriegshetze genau gegen die-se Partner selbst ableitet, um ihre eigenen Aggressionenplausibel erscheinen zu lassen.»

Mit Folterlektionen der NazisIn einem anderen Artikel meinte der amerikanischeJournalist Jason Leopold: «Der eigentliche Skandal» sei,dass die Bush-Administration unwahre Geschichten ver-breiten lässt, «um öffentliche Zustimmung für ihr Iran-Projekt zu gewinnen», das sie schon lange geplant hat –«noch vor ‹Operation Freiheit für Irak›. Bevor die USAden Irak militärisch niedermachten, erteilten die Neo-konservativen solch hocheinflussreicher Thinktanks wie‹American Enterprise Institute› (AEI) oder ‹Project for theNew American Century› (PNAC) Bush-Leuten wie Ver-teidigungsminister Rumsfeld Ratschläge, wie man dieHerrschenden in Iran (…) und Syrien am besten stürzenkönnte – nach dem Irak-Krieg.» Michael Ledeen, «ein-flussreicher Scholar des AEI», findet: «Die BevölkerungIrans hat sich als die amerikafreundlichste Bevölkerungin der ganzen muslimischen Welt erwiesen, aber das Re-gime des Iran ist unbestreitbar das antiamerikanischsteauf Erden. Unterstützen wir also die Bevölkerung, helfenwir ihr, dieses Regime zur Strecke zu bringen.»12 Wennsich der Herr nur nicht täuscht … Daniel Kovalik, An-walt für Menschenrechte und Arbeitsrechtler in Pitts-burgh, jedenfalls hält es für «sinnvoller, einmal unserkollektives Gewissen zu erforschen und über die Rollenachzudenken, die die USA so viele Jahre im Iran ge-spielt haben, vor allem über jene drei Jahrzehnte vor derIranischen Revolution 1979 – im Prinzip waren es dieseJahre, die die Revolution heraufbeschworen.» Kovalik erinnert an einen Artikel der New York Times vom 11. Juni 1979, laut dem «die CIA einen Mann (in den Iran)geschickt hat, der dem Savak, dem Geheimdienst desSchah, Verhörmethoden beibringen sollte, dieses Trai-ning beinhaltet Folterlektionen, die von den Nazis über-nommen wurden.» Trainiert durch die CIA bzw. mit Hil-fe der CIA «folterte und exekutierte» der Savak über 30Jahre lang «politische Gefangene, unterdrückte Dissensund entfremdete die religiösen Massen». Amerika «sätedabei die Saat des Antiamerikanismus, die sich später ineiner Revolution gegen die Monarchie manifestierensollte». Dabei war es «in erster Linie jenes schändlicheVerhalten Amerikas, das im Iran eine fundamentalis-tische Regierung an die Macht brachte – die die USA heute fürchten.»13 Apropos: Punkt 14 der erwähnten2007-Liste des «Project Censored» heißt: «Das Heimat-schutzministerium hat der Halliburton-Tochter KBR einen 385-Millionen-Dollar-Auftrag zum Bau von In-ternierungslagern (früher wohl Konzentrationslager ge-nannt) innerhalb der USA erteilt.»10

Eine Hand wäscht die andere…Was hat das alles mit Vizepräsident Cheney zu tun? Derwar zwar Halliburton-CEO, aber doch nur bis zum Jahr

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 42: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Apropos

42

2000. Nach anfänglichem Leugnen gab er inzwischen zu,seit 2001 jedes Jahr zwischen 162 392 und 211465 US-Dollar (2005) von Halliburton10 erhalten zu haben (alsUS-Vizepräsident erhielt er etwas über 200 000 pro Jahr);das seien aber «verzögerte Zahlungen». Nun, 2005 ver-steuerte er gemeinsam mit seiner Frau Lynne 8,8 Mio.Dollar – hauptsächlich «von Aktiengewinnen – vor allemdurch seine Beteiligung am Halliburton-Konzern»14 (Ge-samtvermögen, «hauptsächlich von Halliburton»: etwa94 Mio. Dollar10). Wenig bekannt ist, dass – wie der Jour-nalist Jason Leopold in einem weiteren Artikel festhält –im Oktober 2002 die Nachricht die Runde machte, derHalliburton-Konzern sei gezwungen, Konkurs anzumel-den. Ihm war eine Entschädigung «für die Opfer vonKrankheiten, die durch Asbest verursacht wurden», auf-gehalst worden und «der Konzern litt durch einen Rück-gang bei der inländischen Ölproduktion. Der Preis fürHalliburton-Aktien reagierte schnell und fiel auf 12,62Dollar, nachdem er im Jahr zuvor einen Höchststand von 22 Dollar erreicht hatte.» Doch – oh Wunder! – derkommende Irakkrieg sollte die Firma retten. Denn imgleichen Oktober beschloss das US-Verteidigungsminis-terium, «der zweitgrößten Gesellschaft der Welt fürDienstleistungen im Ölgeschäft» die «vollständige Kon-trolle über Iraks Ölfelder», also über die «zweitgrößtenÖlreserven der Welt», zu übergeben, sobald sie denn er-obert sein werden – ein Geschäft, das «im Endeffekt ei-nen Wert von 7 Milliarden Dollar haben könnte»15. Aberwas kann denn Cheney dafür? Das war doch eine Ent-scheidung von Verteidigungsminister Donald Rums-feld… Gewiss! Nur: Rumsfeld und Cheney sind schon seitJahrzehnten verbandelt. Als Rumsfeld Chef des «Office ofEconomic Oppurtunity (OEO)» war, stellte er Cheneyschon im Jahr 1968 ein. Auch als Rumsfeld 1975 Penta-gon-Chef wurde, holte er wieder den damals 32-jährigenCheney, um seinen Platz im Weißen Haus als Personal-chef unter Präsident Ford zu übernehmen.16 Cheney ver-dankt seine weiteren Karriereschritte vor allem der engenBeziehung zu Rumsfeld. Wie heißt es doch: Eine Handwäscht die andere…

Quigley, Clinton, Bush und Rudolf SteinerDieses Prinzip ist ja nicht ganz neu. Auch das Aufbauenund Fördern von Popanzen, die man dann in einem be-stimmten Moment (mit Waffengewalt) abservieren kann,ist erprobt. Das wurde schon von Prescott Bush, demGroßvater des jetzigen US-Präsidenten, zusammen mitdem Demokraten Averell Harriman praktiziert, als sie so-wohl Lenin als auch Hitler an die Macht finanzierten.Das ist eine der Methoden des «anglo-amerikanischenEstablishments», wie es der amerikanische HistorikerCarroll Quigley genannt hat. Quigley war als Professor an

der (jesuitischen) Georgetown Universität in WashingtonBill Clintons Lehrer, der ihn in einer Wahlrede als seinen«geistigen Mentor» bezeichnet hat. Im Perseus Verlag ist– es sei nochmals darauf hingewiesen – eine verdienst-vollerweise vom Publizisten Andreas Bracher getroffeneAuswahl aus Quigleys Hauptwerk Tragedy and Hope zumersten Mal auf Deutsch erschienen. Es ist eine bemer-kenswerte Darstellung der menschlichen Geschichte von etwa 1895–1965; aufschlussreich ist allerdings auch,dass er den eigenen Hintergrund, den jesuitischen, ver-schweigt.

Die erwähnte Clique, zu der auch die US-Demokratengehören, hat zurzeit nicht nur in den USA die Macht,sondern bestimmt auch weltweit die Geschichte. Die Fra-ge ist nur, ob den Herrschaften «die Wohltat des Kar-ma»17 bekannt und bewusst ist – das Gesetz, das sozusa-gen wie ein geistiger Bumerang wirkt: «Was als Tat voneiner Persönlichkeit ausfließt (…), das kommt ihr als äu-ßeres Schicksal im nächsten Leben entgegen.»18 RudolfSteiner beschreibt «die Technik des Karma»: «Das Böse,das ich einem Menschen angetan habe, ist geschehen,dadurch hat er gelitten. Nun sterbe ich, gehe ins Kama-loka. (…) Dann lebe ich mein Leben zurück. (…) da mussich den ausgehaltenen Schmerz des anderen Menschennun selbst erleiden» – und dann in einer neuen Verkör-perung ausgleichen19. Wir werden das ganz konkret be-obachten können, wenn wir dereinst mit den jetzt Han-delnden wieder verkörpert werden.

Boris Bernstein

1 AP-Meldung vom 14.11.2007

2 www.tagesschau.de/ 17.11.2007

3 Frankfurter Rundschau, 11.11.2007

4 Frankfurter Rundschau, 10.11.2007

5 Spiegel Online, 10.11.2007

6 www.tagesspiegel.de/ 27.10.2007

7 www.n-tv.de/788942.html 10.4.2007

8 www.n-bfai.de/ 9.3.2005

9 www.recht.us/amrecht 7.3.2005

10 www.projectcensored.org/censored_2007/index.htm

Und: http://moeglichkeiten.stolze.us/ 29.5.2007

11 http://freepress.org/departments/display/ 10.8.2005.

Übersetzung: www.neue-einheit.com/deutsch/is/is2005/

ir2005-64.htm

12 http://zmag.de/artikel/ 28.5.2003

13 http://zmag.de/artikel/ 15.7.2005

14 Spiegel Online, 15.4.2006

15 http://zmag.de/artikel/ 23.5.2003

16 www.heise.de/ 04.05.2003

17 Rudolf Steiner, GA 107, 22.3.1909

18 Rudolf Steiner, GA 96, 15.10.1906

19 Rudolf Steiner, GA 95, 29.8.1906

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Page 43: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Förderverein statt Förderkreis

43

( � Fortsetzung von Seite 2)

Den diesbezüglichen bisherigen Höhepunkt stellt eine fastdurchwegs lobende Rezension von Zanders Buch auf derWebseite H-Soz-u-Kult der Humboldt-Universität Berlin dar. Der dort angegebene Absender ist sage und schreibe die «Forschungsstelle Kulturimpuls, Dornach/Schweiz», derVerfasser Robin Schmidt.1 Schmidt, Mitglied der Anthro-posophischen Gesellschaft und Leiter der ursprünglich in Heidelberg u.a. vom heutigen Vorstandsmitglied Bodo von Plato begründeten Forschungsstelle stellt zwar fest: «Hel-mut Zander beschränkt sich bei der Analyse der Texte Stei-ners meist auf Kritik auf der Wortebene.» Aber er findet:«Das ist verzeihlich, denn es hätte den Einstieg in werk-immanente Interpretationen gefordert.» Genau das mussselbstverständlich von jedermann, der eine ernstzunehmen-de Kritik der Anthroposophie vorlegt, erwartet werden kön-nen! Die Dornacher Forschungsstelle aber begnügt sich mitHerrn Zanders Wortebene-Kritik und schließt mit dem Satz:«Das Werk hat so das Potenzial, die Initialzündung für einneues akademisches Diskursfeld zu werden.»

Die erste Lobhudelei auf das pseudo-wissenschaftlicheBuch von Zander, die auf der Webseite jener Universitätprangt, die ihm für einen Teil dieses Werks einen akademi-schen Titel umgehängt hat, kommt also aus Dornach! Da-mit hat Dornach, im Namen von «Forschung», ZandersZerrbild der Anthroposophie noch eine Krone aufgesetzt.Das Dornach dieser Rezension wird von deren Lesern fata-lerweise, aber zurecht, mit dem Dornach des Goetheanumsassoziiert, wo sich bekanntlich der Hauptsitz der Allgemei-nen Anthroposophischen Gesellschaft befindet.

Handschuhe und Schlafmittel für den Umgang mitGegnern?Die echte Abwehr von unsachlichen Angriffen gegen Stei-ner muss sich daher gegenwärtig ausdrücklich vom «Welt-zentrum für Anthroposophie» distanzieren!

Daran ändert die Tatsache nichts, dass ein Vorstandsmit-glied der AAG, S. Prokofieff, jüngst einen kritischen Artikelzu Zanders Buch geschrieben hat. Prokofieff veröffentlichteihn nur in der Mitgliederbeilage der Zeitschrift Das Goethea-num (Nr. 45/07). Der Autor verweist auf Rudolf Steiners bei-spielhafte «Gelassenheit» im Zusammenhang mit gegneri-schen Angriffen, verschweigt jedoch, dass diese in der Tatbei Steiner stets nachweisbare «Gelassenheit» sich in hei-ligem Zorn äußerte, wo seine eigenen Schüler glaubten,Gegner mit Glacéhandschuhen anfassen zu sollen. Para-debeispiel: die Veröffentlichung eines verleumderischenArtikels von Pastor Dr. Lempp in der Zeitschrift Anthroposo-phie (im Juli 1923), der von Friedrich Rittelmeyer wohlwol-lend kommentiert wurde.2 «Man behandelt mich mitDreckanschmeißen und behandelt die Leute mit Hand-schuhen», rief Steiner am 14. Juli 1923 auf der «Sitzungmit dem Dreißigerkreis» in Stuttgart aus. «Mir ist die An-spielung eines moralischen Auswürflings ganz gleichgül-tig» – Steiner nahm die Attacke selbstverständlich nichtpersönlich, in dieser Beziehung blieb er gelassen. Aber er füg-te hinzu: «Mir ist es nicht gleichgültig, wenn dieser Menschglorifiziert wird.»

Steiner, der damals kein Mitglied der Anthroposophi-schen Gesellschaft war, sondern in ihr nur lehrend wirkte,

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

«Erfreuliche Stimmen aus dem Goetheanum»Aus dem Goetheanum, der Zentrale der Anthroposophi-schen Gesellschaft, sind übrigens erfreuliche Stimmen zuhören zu Zanders Studie. Der Pressesprecher sagt, man sei«erfreut über die differenzierte Analyse, die ja in Kontrastzu unserer Binnensicht steht». Und Robin Schmidt, Mit-arbeiter der «Forschungsstelle Kulturimpuls», schreibt ineiner ausgewogenen Stellungnahme, Zanders Buch liefereüber Jahre hin Stoff für weitere Arbeiten.

Süddeutsche Zeitung, 18.7.2007

Auf Initiative einiger Mitglieder des bisherigen Förderkrei-ses wurde im Herbst dieses Jahres der Perseus Förderverein

gegründet, der an die Stelle des bisherigen Förderkreises tritt.Dieser ist seit Dezember 2000 erfolgreich und im Alleingangvon Ruth Hegnauer betreut worden, auf deren menschlicheund administrative Vorarbeit wir mit Dankbarkeit aufbauen.

Anlass zu dem neuen Schritt gaben zwei Gründe. Der neueVerein hat in der Schweiz im Gegensatz zum Förderkreis denStatus der Gemeinnützigkeit und erfüllt damit die Vorausset-zungen zur Steuerbefreiung. Das bedeutet, dass es ab sofortmöglich ist, jede Spende an den Verein, unabhängig von derVereins-Mitgliedschaft, in der Schweiz steuerlich geltend zumachen. Das zweite Motiv bei der Vereinsgründung war, dass

für das nächste Jahr geplant ist, an Stiftungen heranzutretenmit der Anfrage um finanzielle Unterstützung für bestimmteProjekte und Kulturveranstaltungen des Verlages. Für einensolchen Schritt ist ein Verein mit eigener Rechtspersönlichkeitbesser geeignet als Privatpersonen. Eine entsprechende Ver-einsgründung in Deutschland ist in Vorbereitung

Wer noch für das Jahr 2007 oder nächstes Jahr eine Un-terstützung leisten möchte, kann sie für den «Perseus För-derverein» (bitte vermerken!) auf das PostFinance Konto Nr. 60-407651-6 überweisen (IBAN: CH03 0900 0000 6040 7651 6,BIC: POFICHBEXXX).

Dr. Gerald Brei (Präsident des Fördervereins)Thomas Meyer (Leiter des Perseus Verlags)

Der Perseus Förderverein löst den Perseus Förderkreis ab

Page 44: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

44 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008

Leserbriefe

Leserbriefe

Helmut Zander und die Berliner his-torische Fakultät auf dem PrüfstandDas Buch Anthroposophie in Deutschlandträgt die Merkmale einer Kampfschrift,mit der der Gegner – in diesem Fall Ru-dolf Steiner und die ganze Anthroposo-phie – diffamiert werden soll. Um das zuerreichen, bedient sich der Verfasser ver-schiedener Mittel und «Kniffe» wie z.B.sinnveränderte Zitate, Weglassen vonTatsachen, nicht belegte Behauptungen.Geht es dabei nur um die freie Mei-nungsäußerung eines Andersdenken-den? Möglicherweise geht es um mehr.Wenn es zutrifft, dass sich Herr Zandermit dieser Schrift habilitiert hat*, dannstünde er nicht allein auf dem Prüfstandvor der Öffentlichkeit, sondern mit ihmauch alle Gutachter (die es bei einer Ha-bilitation braucht) und die involviertenFakultätsangehörigen, also die «crème

de la crème» der Wissenschaft. In die-sem Fall wäre zu fragen, wie es möglichist, dass jemand mit einer solchenSchrift, die die wissenschaftlichen Krite-rien grob missachtet, dennoch die aka-demischen Hürden nehmen und dieLehrberechtigung an einer Hochschuleerwerben kann?

Jutta Schwarz, Zürich

* Anm. der Red.: In Zanders Werk heißt es imNachwort, auf. S. 1717: «Rüdiger von Bruch,Historiker an der Humboldt-Universität inBerlin, hat das Risiko auf sich genommen, dieBetreuung für einen Teil dieser Arbeit als Ha-bilitationsschrift zu übernehmen.» WelcherTeil das ist, gibt Zander nicht an.

Das Christentum als trinitarischeReligionSchon eine anfängliche Beschäftigungmit der Kirchengeschichte und ihremReligionsverständnis lehrt, dass die Kon-

verlangte eine Richtigstellung, ansonsten würde er «von der Anthroposophi-schen Gesellschaft zurücktreten» (a.a.O).

Pastor Lempp durfte in der Zeitschrift Anthroposophie veröffentlichen, Hel-mut Zander darf in anthroposophischen Institutionen auftreten. Das läuft imWesentlichen ganz auf denselben Effekt hinaus: «Man denkt dadurch, dass es viel ernster zu nehmende Persönlichkeiten sind» (Steiner 1923, a.a.O.). DieAffäre Lempp ist ein Lehrstück für die Art, wie man in den Augen Steiners in sol-chen Fällen vorgehen oder vielmehr nicht vorgehen soll. Sie könnte auch für gegenwärtige Funktionäre der AAG zur Orientierung für das Verhalten in der«Affäre Zander» dienen.

Dass dies nicht durchgreifend geschehen ist, zeigt auch der redaktionelle Vorspann des Artikels von Prokofieff: «An dieser Stelle soll nicht die öffentlicheDiskussion weitergeführt werden, sondern für die Mitglieder auf geisteswissen-schaftliche Hintergründe geblickt werden.» Eine derartige, rein interne Behand-lung der Sache durch die Empfehlung ganz einseitig verstandener «Gelassen-heit» kommt einer Verabreichung von Schlafmitteln gleich und vermag die aufeiner weltweit zugänglichen Universitäts-Webseite veröffentlichte Glorifizierungvon Zander aus demselben Dornach in keiner Weise aufzuwiegen.

*Dies scheint kein weihnachtliches Editorial geworden zu sein.

Doch ist ein ungefärbtes Wahrheitslicht auf die hier mitgeteilten Tatsachenweniger weihnachtlich als die das Ansehen der Geisteswissenschaft untergra-benden Bemühungen derer, die gegenwärtig glauben, einem pseudo-seriösenGegner Steiners wie Helmut Zander im Namen der Anthroposophie öffentlich huldigen zu sollen?

Thomas Meyer

1 http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=10229

2 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft 1923

(GA 259), S. 817ff.

Impressum

P E R S E U S V E R L A G B A S E L

Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft

Monatsschrift auf der Grundlage der Geisteswissen-schaft Rudolf Steiners (Hg. von Thomas Meyer)

Jg. 12 / Nr. 2/3, Dezember/Januar 2007/2008

Bezugspreise:• Einzelheft: Fr. 11.– / € 7.– (zzgl. Versand)• Doppelheft: Fr. 19.– / € 12.– (zzgl. Versand)• Jahresabonnement: Fr. 115.–/ € 70.– (inkl. Versand)• Luftpost/Übersee: Fr. 165.– / € 110.– (inkl. Versand)• Probeabonnement (3 Einzelnrn. oder 1 Einzelnr.

und 1 Doppelnr.): Fr. 30.– / € 20.– (inkl. Versand)• AboPlus (Jahresabo plus Spende): Fr. 160.– / € 100.–

Erscheinungsdaten:Einzelnummern erscheinen immer in der ersten Woche des entsprechenden Monats, Doppelnummernum Monatsmitte.

Kündigungsfrist:Eine Kündigung muss bis spätestens am 1. Oktoberbei uns eingetroffen sein, sonst wird das Abonnementautomatisch um einen Jahrgang verlängert.Der Jahrgang beginnt jeweils im November und endetim Oktober. Geschenkabonnements sind auf 1 Jahr befristet.

Redaktion:Thomas Meyer (verantwortlich), Brigitte Eichenberger, Andreas Flörsheimer, Christoph Gerber, Ruth Hegnauer, Lukas Zingg.

Redaktionsanschrift: Perseus Verlag, Leonhardsgraben 38 A, CH-4051 BaselTel: 0041 (0)61263 93 33 Fax: 0041 (0)61261 68 36E-Mail: [email protected]

Abonnemente, Probenummern, Anzeigen etc.:Ruth HegnauerGeneral Guisan-Strasse 73, CH-4054 BaselTel/Fax: 0041 (0)61 302 88 58E-Mail: [email protected]

Anzeigenpreisliste auf Anfrage oder im Internet.Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst.

Leserbriefe: E-Mail: [email protected] oder:Brigitte Eichenberger, Metzerstrasse 3, CH-4056 BaselTel: 0041 (0)61 383 70 63 Fax: 0041 (0)61 383 70 65

Leserbriefe werden nach Möglichkeit ungekürzt (ansonsten immer unverändert) wiedergegeben. Bei unaufgefordert eingesandten Manuskripten ohne Rückporto kann Rücksendung nicht garantiert werden.

Produktion:Layout: Zimmermann Gisin Grafik, BaselDruck: Freiburger Graphische Betriebe

Bankverbindungen:

D: Postbank Karlsruhe BLZ 66010075Konto-Nr. 355119755IBAN-Nr. DE79 6601 0075 0355 1197 55Swiftcode (BIC) PBNKDEFFPerseus Verlag

CH: PC-Konto 70-229554-9IBAN-Nr. CH55 0900 0000 7022 9554 9Swiftcode (BIC) POFICHBEDER EUROPÄER, BaselPerseus Verlag

GA =Rudolf Steiner Gesamtausgabe.

Sämtliche Artikel und Zeichnungen dieser Zeit-schrift sind urheberrechtlich geschützt. © Perseus Verlag Basel

ISSN 1420–8296 www.perseus.ch

Page 45: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008 Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

Die 24-Stunden-Apotheke für alle, auch homöopathische und anthroposophische Heilmittel

Kurierdienst und rascher Versand

Leitung: Dr. Roman SchmidTheaterstrasse 14 / am Bellevueplatz, 8001 Zürich

Tel. 044 / 266 62 22, Fax 044 / 261 02 10, [email protected]

troverse darüber, ob das Christentum eine monotheistische oder eine trinita-rische Religion ist, zugunsten letztererentschieden werden muss; und zwarnicht aufgrund einer übermächtigen Au-torität, sondern aufgrund der Tatsachen.Das trinitarische Prinzip ist im Glau-bensbekenntnis und im Neuen Testa-ment verankert; die Verehrung und An-betung bezieht sich auf die Trinität oderspricht deren einzelne Wesenheiten di-

rekt an; das Christentum ist ohne dieVerkörperung des göttlichen Sohnes immenschlichen Fleisch undenkbar. AlleVersuche, das Christentum (der Be-quemlichkeit halber) in eine monotheis-tische Religion umzuformen, scheiternan dieser Realität. Wir haben es ebennicht mit einem Einheitsgott zu tun.Von einem Geschichtswissenschaftlerwie Huntington, der seine Thesen aufüber 500 Seiten vor allen Dingen auf die

Religionen baut, die den verschiedenenKulturen zugrunde liegen, darf man er-warten, dass er sich diesen deutlichenUnterschied des Christentums zur isla-mischen und jüdischen Religion be-wusst macht – unabhängig davon obdieses oder jenes Lexikon etwas anderesbehaupten.

Alexander Morawitz

Leserbriefe

INNENARCHITEKTURSTEIGER & PARTNER

ATELIER FÜR RAUMGESTALTUNG UND WOHNDESIGNGRENZACHERSTRASSE 97 CH-4058 BASEL - TEL. 061-691 32 89 FAX 061-691 32 30

Damit Ihre Persönlichkeit Raum erhält.

Stefan Mickischspielt und erklärt –jeweils auf Doppel-CDs

Mozart (Zauberflöte) – Beethoven (Missa Solemnis) –Schumann (Klaviermusik) – R. Wagner (sämtliche 13Opern von den «Feen» bis zum «Parsifal» mit Aus-nahme von «Rienzi») – R. Strauss («Ariadne», «Elek-tra») – Tonartencharakteristik bei Wagner – Tonartenund Sternzeichen – Diverse Solo-Einspielungen (u.a.«Ring-Finali» und «Tristanfantasie») – 28 Titel insgesamt, das gesamte Programm könnenSie sehen/anfordern und daraus bestellen beiwww.mickisch.deoderFax +49 9431 996473Tel. +49 173 9647766

Eva Brenner Seminar für Kunst- und Gestaltungstherapie

Berufsbegleitende Grundausbildung zum/zur Kunsttherapeuten/in (2 Jahre)Aufbaustudium zur Fachanerkennung (2–4 Jahre)Ausbildung zum/zur Biographiebegleiter/in (1-mal monatlich werktags, 3 Jahre)Berufsbegleitendes Studium zum/zur Kunsttherapeuten/in im Bereich Plastizieren (3 Jahre)Eduqua-Qualitätsanerkennung und Fachverband für Kunsttherapie FKGInterkulturelle und anthroposophische Grundlage

Studienbeginn: Frühjahr

Sekretariat und Ausbildungsunterlagen:Eva BrennerPostfach 30668503 FrauenfeldTel. 052 722 41 41, Fax 052 722 10 48, [email protected]

Page 46: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

Page 47: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008 Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

Auge

Links Rechts

fUer Ein

C SOPTIMUM I

ANDURCHBLICK CIN JEDEM AUGENBLICK H

BIIIERLI OPIIKStephan Bitterli, eidg. dipl. Augenoptiker SBAO

Hauptstrasse 34 4144 Arlesheim Tel 061/701 80 00Montag geschlossen

Page 48: Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 2/3 · Jg.12/Nr. Dezember/Januar 2007/2008 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 19.– € 12.– Monatsschrift auf der Grundlage

Der Europäer Jg. 12 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2007/2008Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

P E R S E U S V E R L A G B A S E Lwww.perseus.ch P E R S E U S V E R L A G B A S E Lwww.perseus.ch

-Samstag

Veranstaltung im Gundeldinger Casino(10 Minuten zu Fuss vom Hinterausgang Bahnhof SBB)Güterstrasse 213 (Tellplatz, Tram 15 /16), 4053 Basel10.00 –12.30 und 14.00 –17.30 Uhr

Samstag, 26. Januar 2008

Kursgebühr: Fr. 70.–

Anmeldung erwünscht!Telefon 0041 (0)61 302 88 58 oder 0041 (0)61 383 70 63,oder [email protected]

Veranstalter:

PHILOSOPHIE UNDANTHROPOSOPHIESeminar anhand des gleichnamigen Aufsatzes von Rudolf Steiner, GA 35

Steffen Hartmann, Hamburg

L X I I I .

Weshalb nicht ein EUROPÄER-Geschenkabonnement?

Möchten Sie Ihren Freunden, Verwandten oder Bekannten etwas zu Weihnachten schenken? Weshalb nicht ein EUROPÄER-Geschenkabonnement?

Bestellen Sie jetzt

� 1 Jahres- oder Geschenkabonnement Fr. 115.– / € 70.–

� 1 AboPlus (1 Jahres- oder Geschenkabonnement plusSpende) Fr. 160.– / € 100.–

Alle Preise inkl. Versand

Bestellungen: DER EUROPÄERGeneral Guisan-Str. 73, CH– 4054 BaselTel./Fax: 0041 (0)61 302 88 58 oder E-Mail: [email protected]

Die Zeitschrift erscheint im Perseus Verlag

Mehr als 1800 Seiten umfaßt das in kleinster Auflage erschie-

nene zweibändige Werk «Anthroposophie in Deutschland»

des Historikers Helmut Zander. Sein Erscheinen war von

massivem Medien-Echo begleitet. Schließlich soll es sich

dabei um die erste umfassende wissenschaftliche Aufarbei-

tung der Anthroposophie Rudolf Steiners handeln. Karen

Swassjan hat das Werk als einer der wenigen wirklichen

Leser einer vollständigen kritischen Lektüre und gründlichen

Analyse unterzogen, deren Ergebnisse er hier vorlegt.

Dieses Buch ist weit mehr als nur eine Streitschrift. In kon-

ziser und konzentrierter Form bietet Swassjan darüber

hinaus einen Aufriss der geisteswissenschaftlich-methodo-

logischen Prämissen der Anthroposophie und ihres eigenen

Geschichtsbegriffs. Er situiert und kontextualisiert sie im

Gesamtraum der abendländischen Kulturgeschichte und stellt

auf diesem Hintergrund Rudolf Steiners genuine Leistung

in ihrer Bedeutung für Geschichte und Gegenwart in einem

eindrucksvollen Überblick dar.

Karen Swassjan

AUFGEARBEITETE ANTHROPOSOPHIE

Wozu noch Rudolf Steiner?

2007, 160 S., kart.,

Euro 14.– / Fr. 24.–,

ISBN 978-3-7235-1324-8