7
Normal ist nur ein Wort D u bist ja nicht normal“ gehört zu den Lieb- lingssätzen der Österreicher. „Du bist ja nicht herkömmlich“ hat einfach nicht den- selben Biss. „Du bist ja nicht durchschnittlich“ ebenso wenig. Und doch ist die Aussage immer die gleiche. Was ist es also, das den Vorwurf aus- macht? E in Zebra hat keinen pinken Streifen. Das ist nicht normal, das Gehirn wehrt sich gegen diesen Widerspruch. Aber in den wenigsten Fällen ist Normalität so eindeutig. Auch, weil die Bedeutung des Wortes „normal“ verwässert ist. N ormal ist eigentlich einfach zu definieren. „Der Norm entsprechend“ steht in den Wörterbüchern. Es gibt also gesellschaft- liche Normen. Allgemein gültige Regeln. Frauen lieben Männer. Männer lieben neben Autos und Fußball Frauen. Menschen essen Tiere. Tiere es- sen Dinge, von denen wir nichts wissen wollen. Am Urinal wird der Blick nach vorn an die Wand gerichtet, Gespräche sind unerwünscht. Ed-Har- dy-Kleidung ist out und Apple-Produkte sind überteuert. Eben Einschätzungen, mit denen sich ein Großteil der Bevölkerung anfreunden kann. Aber hier wird das Problem deutlich: Eine Mehr- heitsmeinung ist nicht für jeden normal. D as Bild der Apple-Fanboys, die eine Schlan- ge für das neueste iPhone bilden, sollte uns heute genauso wenig stören wie ein Veganer, der von Sojabohnen schwärmt. Ein Faul- pelz, der sein Haus nur zum Arbeiten verlässt, ist nicht mehr oder weniger ungewöhnlich als ein Fitness-Freak, der seine Zeit damit verbringt, im eigenen Schweiß zu baden. Eine psychisch kranke Frau hat das gleiche Recht auf Akzeptanz wie ein Muskelprotz mit glitzernden Totenköpfen auf der Brust, egal wie tief sein Ausschnitt ist. I n Diskussionen über das Normalsein geht es nur selten um Normalität. Es geht um das An- derssein, um das Unbekannte. Ein heterose- xueller Mensch hat nun einmal Schwierigkeiten, sich in die sexuelle Identität eines Homosexuel- len hineinzudenken. Und umgekehrt. Für beide Seiten ist die jeweils andere Sicht fremd, die eige- ne normal. K ontraste sind es, welche die Gesellschaft zu dem machen, was sie ist. Wir sind kein ein- heitlicher Haufen, kein Kollektiv wie ein Ameisenvolk. Zwischen den beiden Extremen schwarz und weiß schillern neben pink alle Far- ben des Spektrums. Sie alle sind gleichzeitig all- täglich und selten. Vertraut und neu. Bewährt und unbekannt. Alles ist normal. Nichts ist normal. Es kommt nur auf die Perspektive an. Abschlussprojekt des 23. Österreichischen Journalisten-Kollegs am Kuratorium für Journalistenausbildung (KfJ). Jahrgang 2014/2015. http://salzburg7.kfj.at von LUKAS SCHWITZER Mehr als Schwarz und Weiß KONTRAST BILD: MARKUS WALTI/PIXELIO.DE

K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

Normal ist nur ein Wort

Du bist ja nicht normal“ gehört zu den Lieb-lingssätzen der Österreicher. „Du bist janicht herkömmlich“ hat einfach nicht den-

selben Biss. „Du bist ja nicht durchschnittlich“ebenso wenig. Und doch ist die Aussage immerdie gleiche. Was ist es also, das den Vorwurf aus-macht?

E in Zebra hat keinen pinken Streifen. Das istnicht normal, das Gehirn wehrt sich gegendiesen Widerspruch. Aber in den wenigsten

Fällen ist Normalität so eindeutig. Auch, weil dieBedeutung des Wortes „normal“ verwässert ist.

Normal ist eigentlich einfach zu definieren.„Der Norm entsprechend“ steht in denWörterbüchern. Es gibt also gesellschaft-

liche Normen. Allgemein gültige Regeln. Frauenlieben Männer. Männer lieben neben Autos undFußball Frauen. Menschen essen Tiere. Tiere es-sen Dinge, von denen wir nichts wissen wollen.Am Urinal wird der Blick nach vorn an die Wandgerichtet, Gespräche sind unerwünscht. Ed-Har-dy-Kleidung ist out und Apple-Produkte sindüberteuert. Eben Einschätzungen, mit denen sichein Großteil der Bevölkerung anfreunden kann.Aber hier wird das Problem deutlich: Eine Mehr-heitsmeinung ist nicht für jeden normal.

Das Bild der Apple-Fanboys, die eine Schlan-ge für das neueste iPhone bilden, sollteuns heute genauso wenig stören wie ein

Veganer, der von Sojabohnen schwärmt. Ein Faul-pelz, der sein Haus nur zum Arbeiten verlässt, istnicht mehr oder weniger ungewöhnlich als einFitness-Freak, der seine Zeit damit verbringt, imeigenen Schweiß zu baden. Eine psychisch krankeFrau hat das gleiche Recht auf Akzeptanz wie einMuskelprotz mit glitzernden Totenköpfen auf derBrust, egal wie tief sein Ausschnitt ist.

In Diskussionen über das Normalsein geht esnur selten um Normalität. Es geht um das An-derssein, um das Unbekannte. Ein heterose-

xueller Mensch hat nun einmal Schwierigkeiten,sich in die sexuelle Identität eines Homosexuel-len hineinzudenken. Und umgekehrt. Für beideSeiten ist die jeweils andere Sicht fremd, die eige-ne normal.

Kontraste sind es, welche die Gesellschaft zudem machen, was sie ist. Wir sind kein ein-heitlicher Haufen, kein Kollektiv wie ein

Ameisenvolk. Zwischen den beiden Extremenschwarz und weiß schillern neben pink alle Far-ben des Spektrums. Sie alle sind gleichzeitig all-täglich und selten. Vertraut und neu. Bewährt undunbekannt. Alles ist normal. Nichts ist normal. Eskommt nur auf die Perspektive an.

Abschlussprojekt des 23. Österreichischen Journalisten-Kollegs am Kuratorium für Journalistenausbildung (KfJ). Jahrgang 2014/2015. http://salzburg7.kfj.at

von LUKAS SCHWITZER

Mehr alsSchwarzund Weiß

K O N T R A S T

BILD: MARKUS WALTI/PIXELIO.DE

Page 2: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

Schlechte Laune klingt anders. „Bei mirist das Glas immer halb voll. Mein persön-liches Naturell ist eigentlich immer gut“,sagt Felix Müller und blickt sich um. „Ge-rade wenn man hier am Grill steht. Dasmacht Spaß.“ Im Hintergrund trällert dasSchweizer Schlagersternchen BeatriceEgli „Ich will dich jetzt und hier für im-mer“, Kinder spielen mit bunten Luftbal-lons, die Erwachsenen unterhalten sich.Es ist Freitag, SPÖ-Sommerfest in Salz-burg, direkt neben der Parteizentrale. Par-tyzeit, trotz Krisenstimmung.

Felix Müller hat den Grill mittlerweileverlassen und raucht eine Zigarette.

Er trägt ein rotes T-Shirt, die Auf-schrift „Team“ prangt auf dem Rü-cken. Felix Müller ist Landesge-

schäftsführer – er muss motivie-ren, das Team bei Laune halten. Sein

Optimismus ist Mittel zum Zweck. Ei-gentlich hätten er und die Besucher allenGrund, verstimmt zu sein. SPÖ-Wahlsiegesind mittlerweile selten. Jahrzehntelangkonnten innere Konflikte ruhig gehaltenwerden. Nun kommen die Brüche zumVorschein. Links versus Rechts, Ost ver-sus West, Männer versus Frauen – die Par-tei driftet auseinander. Jetzt ist auch nochHans Niessl im Burgenland mit der FPÖ indie Koalition gegangen und hat ein altesDogma gebrochen. In Salzburg ein gerngesehener Schritt.

Josef lehnt am Stehtisch und nippt aneinem grauen Bierkrug. Sein Fazit: „Es isteine schwierige Situation.“ Er will sich dieLaune nicht verderben lassen. Seit 30 Jah-ren ist Josef Parteimitglied, er habe schonbessere Zeiten erlebt, sagt er: „In den 70erJahren war die Stabilität am größten.“ Da-mals, als Bruno Kreisky mit absoluterMehrheit regierte. Die großen Stützenverlassen die Sozialdemokratie zuse-hends. Politikwissenschaftlerin KathrinStainer-Hämmerle ortet einen „Exodusder Intellektuellen und der Künstler, wel-cher vor 25 Jahren begann.“ Die klassischeArbeiterschaft, auf die sich die SPÖ nochheute beruft, gebe es gar nicht mehr.

Zudem kämpft die SPÖ mit einem viel

Die SPÖ hat derzeit wenig Grund zu Feiern. Die Salzburger Abordnung versuchtees dennoch. Eine Reportage über eine linke Partei, die nach rechts rückt.

Zu Besuch bei derzerrissenen Partei

grundsätzlicherem Problem. Sie ist in Ös-terreich seit Kriegsende in Regierungsver-antwortung, mit wenigen kurzen Unter-brechungen. Dabei verstand sich die Sozi-aldemokratie eigentlich als oppositionel-le Bewegung, als Antagonist derRegierenden. „Das ist nicht ganz kompati-bel“, sagt Stainer-Hämmerle.

Cornelia Ecker ist Nationalratsabge-ordnete und Teil der rot-schwarzen Regie-rungsmehrheit. Sie steht mit einer Schür-ze um den Bauch und professionellem Lä-cheln im Gesicht am Grill. Ein kurzer Satzhier, ein Kommentar da. Politische Basis-arbeit. Im Hintergrund läuft ein Twist ausdem Film „Pulp Fiction.“ Mehr Duell alsTanz ist es auch, den die SPÖ Eckers Mei-nung nach in der Koalition mit der ÖVPaufführt: „Es tut weh, dass wir viele The-men nicht umsetzen können. Wir kom-men nicht oft zusammen“, sagt sie.

Es ist das große Dilemma der SPÖ. Spä-testens seit die Vranitzky-Doktrin denKurs bestimmt – keine Koalition mit denFreiheitlichen – sind die Optionen rar. Derburgenländische LandeshauptmannHans Niessl hat sich nach der Landtags-wahl im Mai entschlossen, mit der FPÖ zukoalieren. Angeführt von den jungen So-zialdemokraten schwappte eine Welle desinnerparteilichen Protests über Niessl.Die Anzahl der Befürworter der rechten

Umarmung nimmt jedoch stetig zu. Spe-ziell in Salzburg. Dort hat die SPÖ der ÖVPnoch nicht verziehen, in die Oppositiongedrängt worden zu sein. Cornelia Eckerzum Beispiel kann der Vranitzky-Doktrinnichts abgewinnen: „Wir sollten uns derFPÖ nicht verschließen.“ Landesge-schäftsführer Müller stimmt zu: „Wirwollen unsere Ideale und unsere Ideenvertreten. Egal, mit welchem Partner wirdas schaffen.“

Gegen Abend lichten sich die schwar-zen Wolken, der blaue Himmel schim-mert durch. Freddy Mercury besingt es: „Iwant to break free“. Einer der Besucherverlässt das Fest. Er setzt seinen Helm aufund schwingt sich aufs Rad. Sein Name istThomas Michalski, Arzt und Sozialdemo-krat. „Aber kein Parteimitglied“, betonter. Den Schritt von Hans Niessl findet ermutig. „In Salzburg kommt eine Koalitionmit der ÖVP nicht mehr infrage. Unddann kommt eh nicht mehr viel.“

Zu den Tönen eines Songs namens„Popcorn“ tritt er in die Pedale und radeltdavon. Ein Lied aus den 50ern, als dieSPÖ-Welt noch in Ordnung war. Die roteZukunft ist ungewiss, die Teilnehmer desSommerfestes wollen sich davon an die-sem Freitag die Laune aber nicht verder-ben lassen. Sie feiern. Bei Bier, Wurst, Mu-sik und unter leicht blauem Himmel .

von MICHAEL PROCK &STEFAN TAUSCHER

„Die FPÖ grenzt sich selbst aus“Wen Sonja Ablinger am Sonntagwählen würde? Sie weiß es nicht.Nach 30-jähriger Mitgliedschaft istdie Linzerin kürzlich aus der SPÖ aus-getreten – wegen Rot-Blau im Burgen-land. „Das Anschmiegen an einerechtspopulistische Partei ist keineStrategie, sondern Selbstaufgabe ei-ner sozialdemokratischen Partei“,sagt die Ex-Nationalrätin. WolfgangMoitzi, sechs Jahre lang Chef der Jun-genSozialisten,pflichtet ihrbei: „Es istkein gottgegebenes Gesetz, dass sichdie FPÖ in einer Regierungsbeteili-

gung selbst entzaubert. Von der FPÖheißt es immer, die SPÖ ist so schiachzuuns,weilwir sie immerausgrenzen.Die FPÖ grenzt sich selbst aus, es gibtjede Woche rechte Ausrutscher“.

AblingerorteteinemassiveOrientie-rungslosigkeit inderSPÖ.Für sie istdasein Ergebnis fehlender kritischerDis-kussionenüber viele Jahre.DasgrößteProblemsei die rasant steigendeAr-beitslosigkeit: „Wir habenkeinewirt-schaftspolitischeAntwort auf dieKrise,dieSozialdemokratie kanndie sozialeFragederzeit nicht formulieren.“

Allen Konflikten zum Trotz: Die SPÖ feierte in Salzburg ihr Sommerfest. Mit Bier, Wurst und Musik. BILD: PROCK

Schwarz,weiß, grau,

pink

Nachdem wir ein Jahr zu hörenbekommen haben, keine Phrasen zudreschen, brechen wir dieses journa-

listische Gebot bereits mit der Abschluss-arbeit: Jeder Mensch ist anders.

Abgegriffen, aber zutreffend. Die Welt istkontrastreicher denn je. Die Reichen werdenreicher, die Armen werden ärmer. Kriege trei-ben Menschen in die Flucht, die Briten stim-men über einen EU-Austritt ab, rechte Eifererhalten das Trennende hoch. Die Alten werfenden Jungen Faulheit vor, die Jungen den Altendie Staatsschulden. Frauen verdienen wenigerals Männer. Grenzen, Unterschiede, Gerangel- Kontraste eben. Auch in unserer Gruppe.

W ir sind 16 Journalisten, die kon-trastreicher kaum sein könnten.Ein junger Student, die beste

Weinsommelière des Landes, der Pressespre-cher des Verteidigungsministeriums, zweiFachmagazin-Journalisten - SpezialgebietLandwirtschaft, Onliner, Printler, TV- und Ra-diojournalisten, Wiener, Kärntner, Bayern,Vorarlberger… Ein Potpourri der österreichi-schen Journalistenwelt. Alle haben etwas ge-

meinsam: Den Wunsch, in ihrem Beruf besser,seriöser und selbstbewusster zu werden.

V erschieden und doch das gleiche Ziel.So ist es mit den Kontrasten. Es gibtkein Weiß und Schwarz. Es gibt Grau-

bereiche,FarbenundimmeretwasVerbinden-des. Wir haben uns vorgenommen, dasTrennende hervorzuheben und – wenn mög-lich – das Verbindende zu suchen. NicoleSchnell und Benjamin Kiechl haben die perso-nifizierte politische Polarisierung untersucht:WladimirPutin.TheresaMairundPetraBaderwaren bei einer Person, in deren Welt es nurSchwarz oder Weiß gibt. Sandra Seiwaldstät-ter-Goder und Dietmar Rust besuchten zweiMädchen, die fast gleich alt sind und trotzdemzwei grundverschiedene Leben führen.

F leisch oder nicht Fleisch? JuliaGschmeidlerundAnjaWeißneggerwid-meten sich der Essensfrage. Maximilian

Mayerhofer hat dazu aktuelle Zahlen recher-chiert. Besonderen Einsatz zeigten Lena Adl-hoch und Susanne Holzmann: Sieübernachteten auf einer Alm und porträtier-ten die zwei bejahrten Bergbewohner. ValerieKrb und Thomas Surrer moderierten einStreitgespräch zwischen einem Mormonenund einem Atheisten. Michael Prock und Ste-fan Tauscher waren beim Sommerfesteiner Partei der Gegensätze zu Gast:Der SPÖ. Und Lukas Schwitzer wid-mete seine Glosse der Normalität.

Die Buslinie sieben fährt vonLehen bis Aigen. Zwei Viertelmit großen Unterschieden.

Im Onlineprojekt „Salzburg 7“ haben wirverschiedeneKontrastederBuslinieherausge-pickt und aufgezeigt. Alles auf salzburg7.kfj.at.Wir wünschen viel Spaß beim Lesen, Hören,Schauen und Klicken.Die Redaktion (mp)

Sieben Gegensätze innerhalbder SPÖ – das sagen SonjaAblinger und WolfgangMoitzi. Plus: Der Niedergangder SPÖ als Timeline.

ImpressumHerausgeber und Medieninhaber:Kuratorium für Journalistenausbildung (KfJ), Karolingerstraße 40, 5020 Salzburg,Internet: www.kfj.atRedaktionelle Leitung: Christian Resch, Gerhard RetteneggerChefs vom Dienst: Michael Prock (Print), Stefan Tauscher (Online)Redaktion: Julia Gschmeidler (Textchefin), Susanne Holzmann (Fotochefin), LenaAdlhoch, Petra Bader, Benjamin Kiechl, Valerie Krb, Theresa Mair, Maximilian Mayer-hofer, Dietmar Rust, Nicole Schnell, Lukas Schwitzer, Sandra Seiwaldstätter-Goder,Thomas Surrer, Anja WeißneggerSatz & Grafik: Michael Einböck, Verlagsort: SalzburgHersteller: Druckzentrum Salzburg, Karolingerstraße 38, 5020 SalzburgDas Österreichische Journalisten-Kolleg ist die Grundausbildung für Journalisten inÖsterreich. Junge Talente und engagierte Quereinsteiger lernen berufsbegleitend undmodular. Organisiert wird das Kolleg vom Kuratorium für Journalistenausbildung derÖsterreichischen Medienakademie: Die Aus- und Weiterbildungsinstitution für Journa-listen in Österreich seit 1978.

s a l z b u r g 7 . k f j . a t

Landeskrankenhaus

EDITORIAL

2

Page 3: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

In Salzburg hat Anastasia Romm vor 25Jahren eine neue Heimat gefunden. DerLiebe wegen zog die Russin nach Öster-reich. „Ich habe mich verliebt, in meinenMann und später auch in Salzburg“, er-zählt sie lächelnd. Zurück in ihre Geburts-stadt St. Petersburg zieht es die 42-Jährigenicht. Wenn die Fremdenführerin überRussland spricht, wird sie nachdenklich.„St. Petersburg ist eine wunderschöneStadt, aber ich möchte nie wieder dort le-ben“, sagt sie. Bis vor wenigen Jahren habesie Russland regelmäßig besucht. „Zumersten Mal in meinem Leben, will ichnicht mehr nach Russland fahren. Die po-litische und wirtschaftliche Lage spitztsich zu, doch davon will in Russland kei-ner etwas hören.“

Lehrer verdienten durchschnittlich700 Euro, Ärzte 1200 Euro monatlich, aufAusbildungsstätten werde nicht geachtet.Zudem herrsche Korruption, die sichdurch alle Gesellschaftsbereiche ziehe.„In schwierigen wirtschaftlichen Situa-tionen geht es bloß darum, einen Schuldi-gen zu finden. Genau das beherrscht derrussische Präsident Wladimir Putin aus-gesprochen gut und schürt damit Hass.“Derzeit mache er die Ukraine und die USAfür die Ukraine-Krise und deren Folgenverantwortlich. Mit dieser Taktik scheinees Putin zu gelingen, die Russen auf seineSeite zu ziehen, sagt Romm.

Auch die Europäische Union entwicklesich zunehmend zum Feind. „Gesprochenwird über die Auswirkungen der Sanktio-nen für die EU, nicht aber darüber, welcheBedeutung Sanktionen für die wirtschaft-liche Lage Russlands haben. Dass man et-wa keinen Käse mehr kaufen kann oderhorrende Summen dafür zahlen muss,darüber wird geschwiegen. Putin konstru-iert ein Lügengeflecht.“ Das Land ent-wickle sich in Richtung Diktatur.

Das wirke sich auch auf die Medien aus:

Anastasia Romm kann sich ein Leben in Russlandnicht mehr vorstellen. Auch wegen Wladimir Putin.

von NICOLE SCHNELL

„Es ist schrecklich, dass es überhaupt kei-ne Pressefreiheit gibt. Den Menschenwerden absurde Nachrichten vorge-spielt.“ Ob es eine Art Zensur gibt? Rommlacht auf. „Zensur? Dafür müsste es docherst etwas zu zensieren geben.“ Zwar gebees einige kritische Medien, jedoch nur imInternet. Der Großteil der Russen infor-miere sich aber über das Fernsehen, einMedium, das fest in der Hand des Kremlssei. Gezeigt werde, was die Bevölkerungsehen solle. Putins große Beliebtheit imVolk – drei Viertel der Russen würden ihnaktuellen Umfragen zufolge wiederwäh-len – überrascht Romm nicht.

Die 42-Jährige informiert sichfast nur mehr über deutschspra-chige Medien. „Ich kann verste-hen, dass jemand für Putin ist,wenn er in Russland lebt. Wo-möglich zweifeln einige Russenden Wahrheitsgehalt von Nach-richtensendungen an. Die meis-ten können sich aber einfachnicht vorstellen, dass auf allen TV-Kanälen gelogen wird.“ Für Putin-Fans in Österreich hat sie aber keinVerständnis: „Schließlich haben wirhier genug Möglichkeiten, uns zuinformieren.“

Mein Putin

Der größte Hecht von allen

Kalte Augen, ein herrischer Blick, einMann von kleiner Statur - und für vieleRussen ein Nationalheld. So sieht er sicham liebsten: Russlands Präsident Wladi-mir Putin präsentiert sich als ehrgeizigerSportler – beim Eishockey, Judo oder An-geln – und gibt den größten Hecht von al-len. Dass es dabei um reine Propagandageht, scheint für viele Russen keine Rollezu spielen.

Treffen Putins Befürworter und Kriti-ker aufeinander, kann das auch für jahr-zehntelange Freundschaften Konsequen-zen haben. Zuletzt beobachtet im eigenenUmfeld: Die russische Großmutter, die

seit fast 20 Jahren in Deutschland lebt,wirft ihm Zensur vor, äußert laut ihr Miss-trauen. Ihre Freundin, aus Moskau zu Be-such, erzählt hingegen wie stolz sie sei, ei-nen solch starken Präsidenten zu haben.Attraktiv sei er zudem auch noch.

Man kann Putin lieben oder hassen.Aktuelle Umfrageergebnisse fallen deut-lich aus: Drei Viertel der Russen würdenden 62-jährigen Staatspräsidenten wie-derwählen, fast 90 Prozent schätzen sei-ne Arbeit.

Bei den beiden Freundinnen hatte dieDiskussion zur Folge: Kapitulation aufbeiden Seiten, der Freundschaft wegen.Über Politik wird in Zukunft nicht mehrgesprochen.

von NICOLE SCHNELL

Любовьиненависть

У него холодной взгляд, oн мужчинамаленького ростa – и для многихроссиян национальный герой. Втаком образе он видет себя сам:президент России, Владимир Путин,представляет себя как честолюбивыйспортсмен – играет в хоккей,занимаетcя дзюдо или ходит нарыбалку. Tо, что это пропаганда,многих россиян не волнует.Когда встречаются сторонники икритики Путинa, то даже ихмноголетняя дружба можeт плохокончиться. Вот пример из семейногоокружения: русская бабушка,

HикольШнелль живущая уже 20 лет в Германии,упрекаeт его в цензуре и заявляет освоем недоверии. Ее подруга изМосквы, в свою очередь, оченьгордится иметь такогo сильногопрезидентa. Он еще ипривлекательный.Путина можно любить илиненавидеть. Актуальные результатыопроса показывают: три четвертироссиян переизбирали бы 62-летнигопрезидентa, почти 90 процентоввысоко ценят его работу.Дискуссия двух подруг имелипоследствия: капитуляция обеихсторон – ради дружбы. B будущемполитику обсуждать больше не будут.

Es gibt nicht viele Personen, die außerhalbvon Russland positiv über Wladimir Putinreden. Ekaterina Spechtenhauser ist einedavon. Die 43-jährige Moskauerin betreibtein russisches Café in Innsbruck. „Er ist eininteressanter Mann, clever, intelligent, re-präsentativ. Und er weiß, was er will“, sagtsie. Sollte sich der Präsident wider Erwar-ten nach Tirol verirren, um etwa seinenFreund Karl Schranz zu besuchen – im CaféMoskau würde er sich wohlfühlen: Die rus-sische Fahne steht am Tresen, die traditio-nellen Puppen „Matrjoschka“ schmückendas Lokal. Ekaterina Spechtenhauser, vonihren Gästen Katja genannt, hat eine Offi-ziersmütze mit Sowjetstern über eine Fla-sche gestülpt. Aufgesetzt wird sie nur sel-ten – etwa, wenn der Wodka reichlichfließt.

Ihren Mann aus Österreich lernte dieRussin kennen, als sie für ein Reisebüro ar-beitete. Sohn Thomas ist 15 Jahre alt. Ge-

nauso lange hält Wladimir Putin imKreml die Zügel in der Hand. Er sei derrichtige Mann für den Job, sagt Spech-tenhauser: „Ich kenne die Zeiten un-

ter Gorbatschow und Jelzin. Putinwill das Land modernisieren.“Nach dem Ende der Sowjetunion

seien die Menschen perspektiven-los gewesen. „Die Wirtschaft war ka-

putt, der Staat wäre beinahe zu Grun-de gegangen.“ Putin habe erreicht, dassdie Russen wieder selbstbewusst sind.Silberne Ohrringe, goldenes Armband.

Spechtenhauser hat sich herausge-putzt. „Ich verstehe die

Wer sich in Österreich positiv über Putin äußert,eckt an. Ekaterina Spechtenhauser ist das egal.

von BENJAMIN KIECHL

Menschen aus anderen Regionen Russ-lands, die mit meiner Meinung nicht ein-verstanden sind“, sagt sie. „Aber ich habein Moskau immer gut gelebt, keine Proble-me gehabt.“ Der Kontrast zwischen Stadtund Land sei krass. Sie fordert: „Putin mussauch in die Dörfer gehen!“ Schwächt dannaber ab: „Es ist schon vieles besser gewor-den.“

Infos über ihre Heimat bekommt siebeim staatlichen TV-Sender „Erster Kanal“und aus der meistgelesenen russischenWochenzeitschrift „Argumenti i Fakti“.Gibt es in Russland Pressefreiheit? „Ichglaube schon. Im Vergleich zu früher redenheute alle Leute was sie wollen.“ Ob dasPutin-Gegner Alexei Nawalny, der nachProtesten gefangen genommen wurde,auch so sieht? Spechtenhauser weicht aus,sagt nur, dass sie keinen Aufstand gegenPutin will. Den Medien misstraut sie.„Auch russische Sender verbreiten Blöd-sinn, aber in Europa sind 80 Prozent derBerichte über Russland ausgedacht.“ Miteiner schnellen Handbewegung wischt sieüber den Tisch, als wollte sie Putin-kriti-schen Berichten den Garaus machen.

Kehrt der Kalte Krieg zurück? „Nein“,sagt sie und atmet tief durch. „Russlandtritt mit eigenen Ideen in der Welt auf. DieUSA und Europa wollen das nicht. Aber siewerden sehen, dass man nicht abgeschot-tet voneinander existieren kann.“ Putinpolarisiert, Spechtenhauser gefällt’s: „Mirhat kürzlich ein Österreicher gesagt, er hät-te gerne Putin als Präsidenten. Heinz Fi-scher sei langweilig“, erzählt sie. „Abermeinen Putin gebe ich nicht her!“

AnastasiaRomm hat kei-ne Freude mit„Putin-Verste-hern“. BILD: SCHNELL

EkaterinaSpechtenhau-ser sieht PutinsRussland aufeinem gutenWeg. BILD: KIECHL

3

BILD: EPA

Page 4: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

Christina Gruber (Anm. Name von der Re-daktion geändert) sitzt in der Ecke ihresSofas. Die blitzblanke Wohnung naheSalzburg teilt sie mit ihrem Partner, zweiKatzen und einem Hund. Sie kümmertsich um die Tiere, geht gern Gassi mit demHund, doch es fällt ihr schwer, eine emo-tionale Bindung zu ihm aufzubauen. „Al-les was mit Verantwortung zu tun hat, istfür mich generell ein bisschen schwierig“,sagt die 27-Jährige. Hochgekrempelte Ja-ckenärmel lenken den Blick auf Grubersbunte Tattoos. Darun-ter sind Narben zu er-kennen. Sie erzählenvon einer Vergangen-heit, die für Gruberabgeschlossen ist,aber zu ihrem Lebengehört: betreutesWohnen, Selbstverlet-zungen, Suchtmittel,wechselnde Partner.„Ich habe nichts aus-gelassen.“ Gruber hatdas Borderline-Syn-drom – in einer abge-schwächten Form, wiesie sagt. Oft aber stößtsie an ihre Grenzen.

„Man kann davonausgehen, dass vierbis sechs Prozent derBevölkerung eine Bor-derline-Symptomatikzeigen“, sagt Psychia-ter Wolfgang Aich-horn. Laut dem Ober-arzt werden an derSalzburger Universi-tätsklinik für Psychi-atrie jedes Jahr etwa 300 Patienten mit„Borderline“ betreut. „Es ist zu erkennen,dass diese Zahlen massiv ansteigen. Inden psychiatrischen Abteilungen zeigenbis zu 50 Prozent der Menschen zumin-dest eine emotional instabile Symptoma-tik“, sagt er. Aichhorn geht von einer ho-hen Dunkelziffer aus. Viele Betroffenewürden ohne Hilfe lernen, damit umzu-gehen, auch weil sich ihre Umwelt an sieangepasst hätte: „Borderline-Persönlich-keiten suchen sich meist den entspre-chenden Partner.“

Zwei Drittel der Betroffenen sind Frau-en. Sie neigen dazu, ihre Aggressionen ge-gen sich selbst zu richten, indem sie sichverletzen. Wie Gruber, die damit begann,sich den Unterarm aufzuritzen. So hat sieein Ventil gefunden, um ihre innerenSpannungen abzulassen. „Das kann soweit führen, dass sich die Betroffenenschwer verletzen“, schildert Aichhorn.Vor allem Männer mit Borderline neigenzu gefährlichem Verhalten und Gewalt-

Ausraster und Selbstverletzungen – Menschen mitdem Borderline-Syndrom führen ein Leben an der

Grenze. Eine Betroffene spricht über ihreErfahrungen.

ausbrüchen. Das kann halsbrecherischesMountainbiken ohne Helm sein oder derHang, sich in Schlägereien zu verwickeln.„Frauen mit Borderline sind eher in denpsychiatrischen Einrichtungen zu finden.Männer im Gefängnis.“ Aichhorn schätzt,dass bis zu einem Viertel der Männer inHaft „Borderline“-Symptome aufweisen.

Doch was ist dieses Syndrom über-haupt, medizinisch betrachtet? Border-line-Persönlichkeiten haben laut Aich-horn Probleme, ihre Impulse zu kontrol-lieren. „Sie flippen aus, sind sofort massivgekränkt.“ Die Betroffenen würden sichsehr nach einer Beziehung sehnen, doch

extreme Stimmungs-schwankungen undein geringes Selbst-wertgefühl machtendas schwierig. AuchChristina Gruberkennt das. „Wenn ichjemanden gern hab,fange ich zu klammernan. Wenn ich jeman-den wegstoßen will, istmir der Mensch egal.Da ist zum einen dieextreme Liebe, zumanderen der extremeHass.“ Dazu kommenoch ein chronischesGefühl der Leere, derAbgestumpftheit, sagtder Arzt. Viele leidenihm zufolge unter Ess-störungen oderZwangsneurosen, sinddepressiv oder drogen-krank.

Christina Gruberkennt den Grund fürihr Verhalten nicht.„Persönlichkeitsstö-

rungen sind immer tief verwurzelt“, sagtder Mediziner Aichhorn. In den meistenFällen könne man schon in den Jugendjah-ren Anzeichen erkennen, die auf Border-line hinweisen. Um von Borderline zu spre-chen, müssten die Symptome über einenlangen Zeitraum bestehen. Dem Expertenzufolge wird bei Jugendlichen oft zuerst ei-ne Anpassungsstörung diagnostiziert.„Borderline ist eine Trauma-Folgestö-rung“, erklärt er. VernachlässigteKinder, die sexuell oder körperlichmisshandelt werden, haben lautAichhorn ein hohes Risiko.

Borderline-Persönlichkeiten sei-en nicht ohne Grund unfähig, stabileBindungen einzugehen. Vielfach hätten siediese im Familienkreis selbst nicht erfah-ren können. „Das passiert, wenn die Elternzum Beispiel nie da, depressiv oder alko-holkrank sind. Nicht alle Kinder entwi-ckeln eine Störung. Manchmal gibt es eineBezugsperson im Umfeld, die den Mangelausgleicht“, sagt Aichhorn.

Die Experten sehen es so: Am Anfangeiner Psychotherapie ist die Ursa-

chenforschung zweitrangig. Zuerstgeht es darum, die Impulse besserzu kontrollieren, eigene Fähigkei-

ten zu erkennen und zu festigen.An der Uniklinik für Psychiatrie in

Salzburg gibt es klare Voraussetzungen:Wer aufgenommen werden will, mussdrogenfrei sein und darf sich nicht mehrverletzen. Nach drei Monaten sollen diePatienten gelernt haben, wie sie ihr Ver-halten besser steuern können. Parallel be-ginnt die Psychotherapie, die bis zu fünfJahre dauern kann. Ziel ist: Vertrauen ler-

von PETRA BADER &THERESA MAIR

nen und den Selbstwert steigern. Im Zugeder Therapie kommen die Patienten unterUmständen auch dem Auslöser der Prob-leme auf die Spur.

Christina Gruber sagt, sie habe sichvor fünf Jahren zum letzten Mal geritzt:„Der ausschlaggebende Punkt war, dassmein Lebensgefährte gesagt hat dass ergeht, wenn ich das noch einmal mache.Dann habe ich erkannt, dass es jetztreicht.“ Außerdem wäre es ihr „zu scha-de“ gewesen, ihre Tattoos zu zerschnei-den. Im Oktober 2014 raffte sie sich zurTherapie auf. „Ich habe mich lange ge-weigert, weil ich meinte, dass ich das

Das Lebenals

Balanceakt

„Da ist zum einen dieextreme Liebe, zumanderen der Hass.“

Borderline ist Leben amschmalen Grat. DieAudio-Aufzeichnung von derBetroffenen und weitereInformationen finden Sieonline.

s a l z b u r g 7 . k f j . a t

Ein Tattoo soll die Narben amOberschenkel verdecken. BILD: MAIR

Peilsteinerstraße

Für Borderline-Patienten ist esschwierig, einGleichgewicht imAlltag zu finden.BILD: BADER

Sara und Sarah – Was sie unterscheidet, was sie eint. Über den Alltag zweierMädchen und die Frage, wie sehr die Herkunft das Leben bestimmt.

„Ich bin Sara(h)“: einName, zwei Welten

„Geschwister können manchmal ziem-lich nervig sein.“ Darüber sind sich diebeiden Mädchen einig. Eine der beidenist Sara. Die Elfjährige wohnt mit ihrenEltern und zwei jüngeren Brüdern in Roi-tham, einer kleinen Gemeinde im SüdenOberösterreichs. 45 Minuten Autofahrtentfernt, lebt die zwölfjährige Sarah. Siewohnt in Hallein, der zweitgrößten Stadtim Bundesland Salzburg. Sie hat drei jün-gere Geschwister.

Geboren wurden die beiden Mädchenin Österreich. Während Sara aus einerösterreichischen Familie kommt, hat Sa-rah türkische Wurzeln. Ihre Eltern ka-men als Kinder im Zuge der Arbeitsmig-ration der 1960er und 1970er Jahre insLand. Rund 1,6 Millionen Migranten le-ben zurzeit in Österreich. Davon sind428.000 Menschen Migranten der zwei-ten Generation – so wie Sarah.

Morgens um Viertel vor sechs läutetder Wecker in Saras Kinderzimmer inRoitham. Die Wände leuchten in sattemOrange. Toast mit Marmelade gibt eszum Frühstück, das ihre Mutter für sieund ihre Brüder zubereitet hat. Die Klei-dung für den Tag wählt sie allein aus. Da-nach fährt sie mit dem Bus zur Schule.

Sarahs Tag in Hallein beginnt um halbsieben. Ihr Kinderzimmer teilt sie sichmit zwei Geschwistern. Der Platz für per-sönliche Dinge ist rar. Auch für sie ist eswichtig, dass sie sich selbst einkleidendarf. „Meine Mama sucht immer altmo-dische Sachen aus. Sie glaubt, dass To-tenköpfe noch in sind“, sagt sie undgrinst. Kakao und ein paar Schokokeksesind ihr Frühstück, wenn es morgenseinmal schnell gehen muss. „Unter derWoche frühstücken wir nicht gemein-sam. Dafür gibt es am Wochenende dann

von DIETMAR RUST &SANDRA SEIWALDSTÄTTER-GODER

immer ein großes türkisches Frühstückmit Gurken, Tomaten und Rührei.“

Bevor sich die zwölfjährige Sarah aufden kurzen Fußweg zur Schule macht,weckt sie ihre kleine Schwester. Frühergingen sie gemeinsam den Weg zurVolksschule. Jetzt besucht Sarah dieerste Klasse des ansässigen Gymnasi-ums. „Speziell bei den Kindern der zwei-ten Generation legen die Eltern sehr vielWert auf die Ausbildung. Sie wünschensich, dass es ihre Kinder einmal besserhaben“, sagt Cornelia Grünwald, Dip-lom-Sozialarbeiterin der Kinder- und Ju-gendanwaltschaft Salzburg. „Dabei istder Druck auf Mädchen oft sehr groß.“Bei Sarah kommt der Druck nicht von

„Eine Frau hat direktneben mir

,Ausländer raus’ gesagt.“

Im Hier und Jetzt: Sara (11) aus Oberösterreich muss sichnoch keine Gedanken über ihre Zukunft machen. BILD: RUST

den Eltern. Es war ihr eigener Wunschein Gymnasium zu besuchen. „Denn insGymnasium gehen die Klugen“, sagt sie.Sie möchte unbedingt die Matura ma-chen, danach Medizin studieren und alsChirurgin arbeiten. Da verdiene man vielGeld und könne alle unterstützen, dieman liebt. Sarah hat ein klares Bild ihrerZukunft. Sie möchte drei Kinder bekom-men und einen guten Mann heiraten.Was einen guten Mann ausmacht? „Dasser mich nicht hintergeht und zu mirhält“, sagt sie.

In Oberösterreich besucht Sara die ersteKlasse eines Privatgymnasiums. Als dieSchulwahl zur Debatte stand, war für dasMädchen wichtig, in welche Schule dieMutter gegangen war. Ausschlaggebend

Fertig geplant: Sarah (12) aus Salzburg will Chirurgin werdenund „einen guten Mann“ heiraten. BILD: SEIWALDSTÄTTER-GODER

für den Bildungsstand der Kinder sei derBildungshintergrund der Eltern, sagtGrünwald. Sie bestätigt, dass „es dabei egalist, ob es sich um Kinder mit oder ohne Mi-grationshintergrund handelt.“ Keine Ant-wort hat Sara auf die Frage, wie denn ihrspäteres Leben aussehen soll. Die Elfjähri-ge hat sich noch keine Gedanken über ei-nen Beruf gemacht. Heirat und Kinder sindfür das Mädchen in weiter Ferne.

Nach der Schule und den Hausaufga-ben ist Zeit für Hobbys. Sara aus Oberös-terreich ist eine Leseratte und liebt Fan-tasy-Bücher. Einen Band ihrer Lieblings-romanreihe „Warrior Cats“ hat sie vorKurzem an nur einem Nachmittag ausge-lesen. Mit ihrer besten Freundin und einpaar Schulkolleginnen dreht sie jetzt ei-nen Film. Darin geht es um die Abenteu-er eines Detektivclubs. „Das haben wiruns selbst einfallen lassen“, sagt sie. DasMädchen ist mit fast allen in ihrer Klassebefreundet. Gibt es Streit, hat sie gelernt,dass „man sich alles ausredet, bis es ge-klärt ist“. Ungerecht findet sie, wenn je-mand ausgegrenzt wird.

Sarah kennt dieses Thema nur allzugut. Oft ist sie es, die ausgegrenzt wird.Freundschaften in der Schule zu knüp-fen, fällt ihr schwer. Die Hänseleien derSchulkollegen ärgern sie und gehennicht spurlos an ihr vorbei. Manchmalhört sie auf der Straße, wie Menschenüber Ausländer schimpfen. Erst neulichhabe eine ältere Frau neben ihr „Auslän-der raus“ gesagt. Das mache sie traurig.Nachmittags ist sie meist zuhause. Ent-weder lernt sie für die Schule, liest Aben-teuergeschichten oder macht Turnü-bungen im Wohnzimmer.

So unterschiedlich ihre Herkunft auchist und ihr Alltag verläuft, so einig sindsie sich bei der Frage nach der eigenenIdentität. „Ich bin Sara(h)!“, antwortenbeide und lachen.

GESAGT

4

GESAGT

5

nicht brauche. Es ist eine Gesprächsthe-rapie, ab und zu machen wir Fantasierei-sen. Einfach abschalten und alle Gedan-ken frei herausreden“, erzählt sie.

Momentan fühle sie sich gut und siegehe deswegen auch nur einmal im Mo-nat zum Therapeuten. „Ich weiß aber,dass wieder andere Zeiten kommen undich wöchentlich hin muss.“ Ihr größterWunsch für die Zukunft: „Ich will Kar-riere machen. Ich wollte schon immerins Marketing und jetzt habe ich es ge-schafft.“ Sie könne sich aber auch vor-stellen, irgendwann eine Farm für Tierevon der Straße zu eröffnen.

Page 5: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

Vegetarisch und vegan sind hip. Schonjeder zehnte Österreicher isst keinFleisch. Jeder Hundertste verzichtetkomplett auf tierische Erzeugnisse. So-gar große Fleischkonzerne setzen mitt-lerweile auf vegane Produktlinien. Aberich mache da nicht mit. Ich esse bewusstFleisch, Joghurt und Eier. Tierische Pro-dukte gehören für mich zu einer ausge-wogenen Ernährung dazu. Und ich weiß,dass die Nutztiere in Österreich in allerRegel gut behandelt werden.

Ich will mich gesund ernähren. Tieri-sche Produkte gehören für mich zu einerabwechslungsreichen Kost dazu. Eisen,Zink, Selen und B-Vitamine sind imFleisch besser verfügbar als in veganerKost. Fleisch ist auch ein „Resorptions-vermittler“. Es hilft dem Körper, Nähr-stoffe aus pflanzlichen Lebensmittelnbesser aufzunehmen. Was ich besondersschätze, ist seine Vielfalt. Von Geflügelüber Schwein und Rind bis hin zu Wildschmeckt alles gut – und alles anders.Und auch die Zubereitungsmöglichkei-ten sind durch die unterschiedlichenTeilstücke fast unbegrenzt.

Ich esse Fleisch mit gutem Gewissen.Ich weiß, wie Tiere in Österreich gehal-ten werden. Durch meinen Beruf habeich täglich mit Landwirten zu tun. Ich le-be am Bauernhof und kenne den Alltag

Warum es für mich nicht infrage kommt, auf Fleisch,Joghurt und Eier zu verzichten.

Schnitzel-Plädoyer

in der Landwirtschaft. Deshalb weiß ich,dass Landwirte ihre Tiere gut behandeln.Schwarze Schafe unter den Bauern müs-sen natürlich – wie in allen anderen Be-reichen auch – bestraft werden.

Österreichs Tierhaltungsgesetz ist ei-nes der strengsten in Europa. Daher ach-te ich darauf, Lebensmittel aus Öster-reich zu kaufen. Außerdem unterstützeich mit meinem Fleischkonsum viele An-gestellte. Ich sichere Arbeitsplätze, abernicht nur jene der Landwirte. Neben derFleischverarbeitung braucht der Tierhal-ter Berater, Tierärzte und Futtermittel-händler. Jeder sechste Arbeitsplatz inÖsterreich hat eine Verbindung zurLand- und Forstwirtschaft. Insgesamtsind das mehr als 600.000 Beschäftigte.Baut der Landwirt einen Stall, kauft erBaustoffe und Stalleinrichtung von hei-mischen Firmen. Der Landwirt erhältmit seinen Tieren die Kulturlandschaft.Ohne Rinder würden Almen undWiesen zuwachsen. Und wenwürden die Urlauber dann foto-grafieren, wenn die Kuh mit Glo-cke fehlt und die Wanderwegenicht mehr frei sind?

Aus diesen Gründen esse ich Fleisch.Aber nicht jeden Tag und nicht um jedenPreis. Fleisch muss von guter Qualitätsein. Das ist mir besonders wichtig. Unddafür gebe ich auch gerne etwas mehrGeld aus.

von ANJA WEIßNEGGER

Soja-Würstel und Seitan-Schnitzel pola-risieren am meisten. Ich habe aufgehörtzu zählen, wie oft ich nach dem Sinn die-ser Fleischersatzprodukte gefragt wor-den bin. Wer bewusst auf Fleisch und tie-rische Produkte verzichtet, dem wird dasRecht auf Pflanzen in Steakform abge-sprochen. Es ist nicht so, dass mir einSchnitzel nicht schmeckt. Ich kann esnur nicht mit meinem Gewissen verein-baren, dass für meine Fleischeslust einTier sterben muss und zeitgleich weni-ger Menschen mit dem vorhandenen Ge-treide ernährt werden können, weil die-ses an Tiere verfüttert wird.

65 Kilogramm Fleisch vertilgt ein Ös-terreicher im Jahr. Das meiste davonstammt aus der Massentierhaltung, inder Ferkel ohne Betäubung kastriert wer-den, Kälber am Tag ihrer Geburt von den

Müttern getrennt werden und neunHühner auf einem Quadratmeter

zusammengepfercht sind. Des-halb verzichten rund 84.000 Ös-terreicher auf alle tierischen Pro-

dukte wie Milch, Eier und Honig.Und in weiterer Folge auf Lederschu-

he, Daunenjacke und Kosmetik-Artikel,die an Tieren getestet wurden.

Ist es möglich, die anderen vom tier-leidfreien Leben zu überzeugen? Ichhabe die Erfahrung gemacht, dass Mis-sionieren nichts bewirkt - und zu Wi-derstand führt. Denn trotz der wach-

Warum es für mich nicht infrage kommt, tierischeProdukte zu konsumieren.

Tofu-Appell

senden Anzahl an veganen Supermärk-ten braucht es noch eine große PortionDisziplin, um im Schnitzelland Öster-reich kulinarisch zu überleben. Dazulassen mich die argwöhnischen Blickeder Gastronomen immerzu spüren, et-was zu tun, das nicht gesellschaftskon-form ist. Mitleid mit den getöteten Tie-ren hat in einem Land, in dem ein hal-bes Kilo Faschiertes im Discounter 2,50Euro kostet, einfach keinen Platz. Dassein Stück Steak einmal ein fühlendesLebewesen war, ist vielen gar nichtmehr bewusst.

Will man trotzdem Überzeugungsar-beit leisten, wirken am ehesten die ge-sundheitlichen Argumente. Laut Ernäh-rungsmedizinern ist Milch ein Kalzium-räuber, durch vegane Ernährung kommees zu einer Reduktion der Zivilisations-krankheiten. Das kann sogar Menschenüberzeugen, die von den Schmerzen derTiere wissen, sich aber nicht mit der Rea-lität von Massentierhaltung undSchlachthäusern beschäftigen wollen.

Veganer können die Welt nur ein kleinwenig besser machen. Ein bewussterUmgang mit unseren Lebensmitteln undderen Herkunft setzt aber einen ersten,wichtigen Schritt. Und vielleicht unter-scheiden wir irgendwann nicht mehrzwischen Schoßhund Daisy, der im Bettschlafen darf, und dem namenlosenSchwein, das nur zwei Monate nach sei-ner Geburt als Spanferkel auf unserenTellern landet.

von JULIA GSCHMEIDLER

Anja Weißnegger isst bewusst und mit gutem Gewissen Fleisch. BILDER: HOLZMANN Julia Gschmeidler ernährt sich vegan und schätzt die Vielfalt der pflanzlichen Lebensmittel.

Das Geschäft mit dem Tofu-Schnitzel

Würstel, Schnitzel und Leberkäse. Wo Kä-se oder Wurst draufsteht, sind tatsächlichSoja und andere pflanzliche Stoffe drin-nen. „Die Produkte sind alle vegan,“ gibtder Verkäufer des Sortiments, StephanWallner, an. Er ist Geschäftsführer des ve-ganen Supermarkts Veganz in Wien. Diedeutsche Kette ist ein Paradebeispiel fürden zunehmenden Handel mit veganenLebensmitteln. Die Zahl der Veganer istlaut der Veganen Gesellschaft Österreichseit 1995 um 20 Prozent gewachsen. Unddavon profitiert auch der Einzelhandel.Der Marktführer für MilchersatzprodukteALPRO erzielte 2014 eine Umsatzsteige-rung von 20 Prozent. Der Anteil von Soja-joghurt in den heimischen Kühlschrän-

ken ist sogar um 43 Prozent gestiegen.Der vegane Wirtschaftsboom endet

aber nicht bei Lebensmitteln. Waschmit-tel, Seife und auch Hundefutter werdenbereits frei von tierischen Inhaltsstoffenangeboten. Diese Entwicklung erinnertan den Erfolg von Bioprodukten in den1990ern. Die vegane Lebensweise hat esnämlich – wie die Bio-Produkte - in diebürgerliche Mitte geschafft und somit einzahlungskräftiges Klientel gefunden. Er-nährung wurde zum Statussymbol.

Fraglich bleibt, wie lange sich der vega-ne Trend hält, schließlich tauchen fastmonatliche neue Ernährungstrends auf.Der neueste ist die sogenannte Paleo-Diät– Ernährung nach dem angeblichen Re-zept der Steinzeit: Gemüse, hochwertigeTierprodukte, Nüsse und Obst.

von MAXIMILIAN MAYERHOFER

Veganismus ist in der zahlungskräftigen bürgerlichen Mitte angekommen.

25...Mill. EuroUmsatzwurden2014mit

pflanzlichenMilch-alternativen lukriert.

35... Prozent haben vega-neWürstchenbereitsprobiert, 49Prozentsinddemgegenüber

aufgeschlossen.

6... von92KochkursenanderVHS inWien

sind vegan.

77...veganeKochbüchersind2014aufDeutscherschienen,2011wa-

renes zwölf.

45... Mill. Euro Jahresum-satz macht die burgen-ländische Firma Joyamit Sojaprodukten.

In24... Prozent der veganenHaushalteÖsterreichsleben Leute unter29

Jahren.

ZAHL

EN

Vegane Wurst und Bio-Rind-fleischwürstel – Hans W.bietet beides. Fotos und einVideo finden Sie online.

s a l z b u r g 7 . k f j . a t

Mönchsbergaufzug

6

QUELLEN: IFES 2013, STATISTA, VHS, APA, YOUGOV

Page 6: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

Es ist kalt und regnet seit Tagen. Knappzwei Grad zeigt das Thermometer EndeJuni hier auf fast 1.800 Metern Seehöhe.In der Almhütte ist es nur ein paar Gradwärmer. Die beiden Altsenner Kathi undSepp liegen um fünf Uhr früh in ihren Bet-ten, die dicken, blau-weiß karierten Dau-nendecken haben sie bis zur Nase hoch-gezogen. Die Hütte ist nicht isoliert, nurdie Holzschindeln am Dach und die Bret-ter an den Seiten trennen sie von dem rau-en Klima draußen, es zieht.

Eine Tür knarrt und fällt ins Schloss.Marika ist aufgestanden, um die Kühe zuholen. Sie ist eine der beiden jungen Sen-nerinnen, die Kathi und Sepp auf der Almunterstützen. Jeder ihrer Schritte über-trägt sich im Haus, wenn sie die alte Holz-treppe runterläuft. Auch für die beidenfast Achtzigjährigen wird es Zeit, aufzu-stehen.

Kathi und Sepp arbeitenjeden Sommer auf derDraugsteinalm. Ein Paarsind die beiden fastAchtzigjährigen nicht.Kathi ist erzkatholisch,trotzdem teilen sich diezwei ein Schlafzimmer.

Doppelleben

Sepp ist ein herzlicher und gemütlicherMensch. Er hat keine Sorgen,steigert sich nirgends rein,behält die Ruhe und hilftmit. Aufrecht zu gehen, fälltSepp inzwischen schwer, be-klagt hat er sich darübernoch nie. Seit 58 Jahren ist ervon Juni bis Ende Septemberauf der Draugsteinalm imSalzburger Pongau. Früherwar Sepp mit 15 oder 16 Kühenhier, hat sie mit der Hand ge-molken und mit reiner Mus-kelkraft Käse und Butter ge-macht. Oft stand er um dreiUhr früh auf, suchte die Küheallein, stundenlang. Zäune gabes im Almgebiet nicht, auchkeinen Strom oder Maschinen.Dafür eiskaltes Bergquellwas-ser zum Waschen.

Das Läuten der Glocken inder Ferne kündigt an, dass Ma-rika die zwölf Pinzgauer Kühegefunden hat. Während Marikadie Rinder Richtung Stall treibt, schlägtKathi ihre Decke zurück, setzt sich auf,zieht eine Wollstrumpfhose, Rock, Bluseund zwei Strickwesten übereinander anund schlüpft in die schwarzen Lederpan-toffeln. Auch Sepp, dessen Bett auf derrechten Seite des großen Zimmers steht,sitzt inzwischen auf dem Bettrand, drücktsich mit beiden Armen vom Bettgestell,zieht ein kariertes Hemd aus warmenStoff und eine der modernen Multifunkti-ons-Arbeitshosen an, wie sie auch diejungen Landwirte im Tal tragen.

Vorsichtig steigen sie hintereinanderdie steile Holztreppe hinunter und haltensich mit beiden Händen am Holzgeländer

von LENA ADLHOCH &SUSANNE HOLZMANN

fest. Mit kleinen, langsamen Schrittengeht Sepp zum Stall, dem großen Raum inder Almhütte neben der Stube.

„Sepp war ein unglaublich starkerMann“, erzählt Kathi. Zweimal in der Wo-che legte er den zweistündigen Weg zumHof zu Fuß zurück, brachte Käse, Milchund Butter ins Tal und trug Proviant nachoben. Manchmal schnallte er zwei KistenBier auf den Rücken schleppte sie Rich-tung Alm. „Die letzten Meter ist er denHang hinaufgekrochen“, erinnert sich Ka-thi. Auch sie ist schon ihr Leben lang Sen-nerin und hat einige Almen in Hüttschlag

Verbringen ihre Sommer seit jeher auf der Alm: Kathi und Sepp. BILDER: HOLZMANN

„Die letzten Meter ister den Hang

hinaufgekrochen.“

„Wir lebenwie Gott

in Frankreich.“

bewirtschaftet. Bald dürfte es der drei-ßigste Sommer werden, den Kathi auf derDraugsteinalm zusammen mit Sepp ver-bringt; so genau hat sie nicht mitgezählt.

Kathi ist streng katholisch. Sonntagszwischen zehn und elf Uhr hört sie denGottesdienst im Radio. Auch auf der Almist ihr der Glaube wichtig. Sie betet viel,nach dem Essen macht sie ein Kreuzzei-chen. Und trotzdem teilen sich die beidenstets ein Zimmer. Ein Paar sind sie nie ge-worden, sagen sie. Sie bleiben auf Ab-stand, Kathi ein wenig mehr als Sepp.

Rund um die Almhütte hat die Grasnar-

be dem Gewicht der Kühe nachgegeben;der Regen hat die Wiesen in Matschflä-chen verwandelt. Auf den steilen Hängenist es anstrengend, die Kühe vor sich her-zutreiben. Eine Arbeit, bei der sich Kathiund Sepp gerne helfen lassen. Seit zwölfJahren sind zwei Sennerinnen auf derDraugsteinalm, holen morgens undabends die Kühe, legen die schwerenMelkgeschirre an, kümmern sich um dieGäste. Während Kathi in der Käserei denRahm vom Vorabend zu Butter verarbei-tet, macht Sepp die Euter der Kühe sauber.Leicht nach vorn gebeugt setzt er einenFuß vor den anderen und geht zu einemgroßen Eimer. Er zieht ein paar Tücherheraus, steckt sie in die rechte Jackenta-sche und geht zur ersten Kuh. Als er sichzum Euter der Kuh beugt, rutscht ihm dieFischermütze ins Gesicht. Langsamschaut er unter der Mütze zur Seite undsieht, dass Marika ihm zusieht und lä-chelt. Dann tut Sepp das, was er am liebs-ten tut. Er kneift ein wenig die Augen zu,gleichzeitig formt er sein Mund zu diesembreiten, ehrlichen Lachen und rückt seineFischermütze gerade.

Eine dreiviertel Stunde später sind dieKühe gemolken und zurück auf der Wei-de. Schon vor dem Käsen hat Kathi denOfen in der Stube eingeheizt, der einzige

Raum der Hütte, in dem mansich aufwärmen und die nassenSachen trocknen kann. Tina, diezweite Sennerin, konnte diesmalein wenig länger schlafen. Inzwi-schen ist auch sie auf den Beinen,hat Wasser gekocht, den Tischmit selbstgebackenem Brot, Mar-melade, Honig und Butter ge-deckt. Dazu gibt es wärmendenTee. Gemeinsam stärken sie sichfür den Tag auf der Draugstei-nalm. In Hüttschlag brechen gera-de die ersten Wanderer zur Almauf.

Kathi und Sepp lachen viel. Erist der Lausbub, sie diejenige, dieihn immer wieder mal in dieSchranken weist; wenn auch miteinem Lächeln. Hier oben, sagt Ka-thi, fehle es ihnen an nichts. „Wirleben wie Gott in Frankreich.“ Diebeiden wissen, wie entbehrungs-reich und hart das Leben auf derAlm vor fünfzig Jahren war. Heute

läuft die Milch automatisch in den Tankder Käserei. Beim Buttern und Käsema-chen helfen Zentrifuge und Butterma-schine. Kathi und Sepp haben eine Mate-rialseilbahn, eine Waschmaschine undein Bad mit warmem Wasser, ein Diesel-aggregat und eine Solarstromanlage aufdem Dach. Wenn Ende September, nachvier Monaten auf der Alm, die erstenSchneeflocken das Ende der Saison an-kündigen, freuen sie sich auf den Winterim Tal. Zwei, drei Wochen hätten sie esaber schon noch auf der Alm ausgehalten,sagt sie.

GESAGT

GESAGT

7

Oben: Sepps alte Lederhose.Rechts: Liebevolle Dekoration grüßtWanderer schon am Hütteneingang.

Page 7: K O N T R A S T - KfJ · 2019. 12. 3. · Freddy Mercury besingt es: „I want to break free“. Einer der Besucher verlässt das Fest. Er setzt seinen Helm auf und schwingt sich

Herr Wimberger, wieso glaubenSie nicht an die Existenz Gottes?

WIMBERGER: Natürlich kann man nichtwissen, ob es einen Gott gibt. Aber ich binüberzeugt, dass er nicht existiert. Der Ur-mensch hat Gott erfunden, weil er Angstvor Blitz, Donner und Sturm hatte. Da ent-stand der Glaube, dass da oben eine Machtsein muss. Ich selbst brauche keinen Gott.

GRÜNAUER: Für mich ist Angst kein Mo-tiv. Mir geht es bei meinem Glauben umHoffnung. Wenn ich nicht weiß, wie ichweitermachen soll. In solchen Situationenwende ich mich an Gott, der mir Beistandleisten kann.

WIMBERGER: Rückhalt kann man nurvon einer Seite erwarten, die für einenkompetent ist. Für mich ist Gott nicht kom-petent. Es gibt zu viele Ereignisse, die dieMenschen furchtbar treffen, bei denenGott nicht hilft. Mein Hirn hilft mir, nichteine imaginäre Hoffnung.

Was passiert nach dem Tod?

GRÜNAUER: Jeder Mensch wird auferste-hen – unabhängig davon, was er im Lebengetan hat. Der Unterschied liegt in den ver-schiedenen Graden der Herrlichkeit, dieMenschen im Himmel erreichen. Die einenerfahren Zufriedenheit, die anderen wer-den von ihrem Schuldbewusstsein gequält.

WIMBERGER: Das ist alles völlig unglaub-würdig. Ich sage es hart: Für mich ist dasgenauso liebenswert fiktiv, wie wenn manglaubt, dass Hänsel und Gretel in der He-xenhütte nicht getötet werden und heilwieder herauskommen. Nach dem Tod istalles aus. Da bin ich Anhänger der Evoluti-on. Beinhart.

GRÜNAUER: Ich sehe die Evolution nichtzwingend im Konflikt mit der Heiligen

Kinderglaube, Tod undechte Wunder: AtheistGerhard Wimberger undMormone ChristophGrünauer debattierenüber die ersten undletzten Dinge der Welt.

„Für mich ist Gott nicht kompetent“

von VALERIE KRB &THOMAS SURRER

Schrift. Die Schöpfung ist eine Entwick-lung, die Gott angestoßen und gelenkt hat.Wie er das im Detail getan hat, wissen wirnicht genau.

Wie sehen die Mormonen denkatholischen Glauben?

GRÜNAUER: Die meisten Katholiken inÖsterreich leben ihre Religion passiv aus.Sie sind wegen der Tradition dabei. Das hatkeine spirituelle Bedeutung, aber eine ge-sellschaftliche. Die katholische Kirche hateinen positiven Einfluss im Sinne der Wer-te, genauso wie andere christliche Religi-onsgemeinschaften.

Sind christliche Werte gut fürdie Gesellschaft?

WIMBERGER: Die Sumerer hatten schon2400 Jahre vor Christus sittliche Werte fürdas Zusammenleben der Menschen, auchdie Ägypter, von den Griechen gar nichtzu reden. In diesem Sinne ist das fürmich absolut nichts Neues.

GRÜNAUER: Ich sehe das durchausauch so. Aber das ist gar nicht der An-spruch. Die zentrale Rolle Jesu ist dieder Sündenvergebung und der Auf-erstehung. Seine Lehren sind vongroßer Bedeutung, warenaber zum großen Teil tat-sächlich nichts Neues.

WIMBERGER: Glauben Sie, dassdie Auferstehung wirklich stattge-funden hat? Und falls ja, in wel-cher Form?

GRÜNAUER: In einer physischenForm, einer Wiedervereinigungvon Körper und Geist.

WIMBERGER: Als historische Tatsache?Sehen Sie, damit kann ich überhauptnichts anfangen. Die Quellen des Christen-tums sind so dünn und widersprüchlich.Das ist die fundamentale Problematik derKirchen. Deshalb ist ihr gesellschaftlicher,politischer und persönlicher Anspruch inkeiner Weise mehr gerechtfertigt.

GRÜNAUER: Fehlt Ihnen also die histori-sche Belegbarkeit?

WIMBERGER: Nun ja, welche sonst?

GRÜNAUER: Ich finde es gut, dass Religiö-ses nicht unbedingt objektiv zu beweisenist. Es ist gottgewollt, dass der Menschglauben muss. Und ich habe Gott tatsäch-lich erfahren.

WIMBERGER: Wie erfahren? Ich bin daskeptisch. In einem Experiment hat sich

herausgestellt, dass zum Beispiel Gebe-te absolut keine Wirkung haben.

GRÜNAUER: Das Ergebnis über-rascht mich gar nicht. Denn Gottweiß natürlich, dass es ein Experi-ment ist. Wir können um Segnungen

bitten und diese von Gott empfan-gen, doch den Willen Gottes

können wir nicht verän-dern, nur zu verstehen ler-

nen.

WIMBERGER: Sie setzen also ei-nen persönlichen Gott voraus,mit dem Sie sprechen können?

GRÜNAUER: Richtig.

WIMBERGER: Da kann ich nichtmitgehen.

GRÜNAUER: Ja, da unterscheiden wir uns.

Herr Wimberger, gerade Sieals Atheist beschäftigen sichviel mit Religion. Warum?

WIMBERGER: Ich möchte wissen, warumich etwas für falsch halte. Mir ist in der Re-ligion einfach zu viel Nicht-Vernunft. Undes fehlt mir oft die Anerkennung dessen,was die Wissenschaft in den vergangenen500 Jahren geleistet hat. Von der Medizinbis zum Computer: Das sind echte Wunder.

Die Wissenschaft kann sich auchirren.

WIMBERGER: Die Wissenschaft korri-giert sich unentwegt selbst, die Religionnicht. Das Buch „Mormon“, das JosephSmith irgendwo in einem Graben gefun-den hat, erzählt davon, dass Jesus in Ame-rika erschienen ist – da kann ich nur denKopf schütteln.

GRÜNAUER: Dem stimme ich nicht zu. Ichglaube nicht, dass Religion und Wissen-schaft einen Gegensatz bilden. Der An-spruch der Wissenschaft ist es, die Wahr-heit durch den Intellekt zu ermitteln unddas Ergebnis gegebenenfalls zu korrigie-ren. Der Anspruch der Religion ist es, eineabsolute Wahrheit anzubieten, die auchüber die Zeit bestehen kann.

Dass die Mormonen missionieren,ist bekannt. Wollen Sie, HerrWimberger, die Menschen auchvon Ihren Ansichten überzeugen?

WIMBERGER: Nein, überhaupt nicht. Ichrede gerne mit Freunden darüber, die über-zeugte Katholiken sind. Dann kommt teilsder Satz: „Mein lieber Freund, ich lasse mirmeinen schönen Kinderglauben nichtnehmen“. Und es ist tatsächlich ein Kin-derglaube – auch Ihrer, Herr Grünauer. Einschöner Mythos, so wie eine Sage.

GRÜNAUER: Das mit dem Kinderglaubengreift mich jetzt nicht im geringsten an. Ei-gentlich gefällt mir das. Gott will, dass alleMenschen nach seinen Vorgaben leben.Und deshalb muss ein Glaube so sein, dassihn jedes Kind versteht.

Mormone Christoph Grünauer: „Religionmuss nicht beweisbar sein.“

Atheist Gerhard Wimberger: „Nach demTod ist alles aus.“ BILDER: HOLZMANN?

GerhardWimbergerDer 91-jährige Komponist istvor 50 Jahren aus der evangeli-schen Kirche ausgetreten. Ersitzt im Beirat der religionskriti-schen Giordano-Bruno-Stiftung.Der gebürtige Wiener lebt inSalzburg, war Professor amMozarteum und Mitglied desDirektoriums der SalzburgerFestspiele. Gerhard Wimber-ger ist unter anderem Autor derBücher „Glauben ohne Chris-tentum“ und „Kreuz-Weg.Quellen des Christentums, Fak-ten, Hypothesen, Fragen“.

ChristophGrünauerDer 33-jährige Salzburger istMarketingmanager bei BMW.Er gehört seit seiner Geburt der„Kirche Jesu Christi der Heiligender Letzten Tage“ an, wie dieGlaubensgemeinschaft offiziellheißt. Heute ist Grünauer Missi-onsleiter. Die Kirche wurde1830 von Joseph Smith in denUSA gegründet und beruft sichneben der Bibel auf das BuchMormon. Weltweit gibt es rund14,8 Millionen Mitglieder, inÖsterreich 4000. Hauptsitz istSalt Lake City, USA.

STEC

KBRI

EF

STEC

KBRI

EF

8

BILD: MANFRED MOITZI/FLICKR.COM, CC