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Khadra Sufi Das Mädchen, das nicht weinen durfte

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Khadra Sufi

Das Mädchen,das nicht

weinen durfte

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC -zertifizierte Munken premium

liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden

ISBN 978-3-517-089 -1© 201 by Südwest Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHProgrammleitung: Silke Kirsch

Projektleitung: Silvia ForsterLektorat: Ina Raki

Umschlaggestaltung: schwecke.mueller Werbeagentur GmbH, München,unter Verwendung eines Fotos von Mischko (www.mischko.biz)

Bildredaktion: Annette MayerBildnachweis:

AP Photo, Frankfurt: 150 o.; BMW, München: 154 u.; BPA Bilderdienst,Berlin: 151 (Ludwig Wegmann); Engels Heinz, Bonn: 151; Hauser Caren, Düssel-dorf: 158 o., 158 u. (www.carenhauser.de); ITN Source, London: 150 M. (Reuters);Mischko, Köln: 153 u., 157, 159, 160 (www.mischko.biz); Scheuerer Markus, Strau-

bing: 156; Staphylarakis Michael, Köln: 153 o. (www.fotoartsdigital.de); Sufi KhadraPrivatarchiv: 145, 146, 147, 148, 149, 150 u.; Verlag des General-Anzeigers Bonn: 151;

Volk Markus, Berlin: 152, 154 o., 155 (www.volk-media.com)

Layout und Satz: Greiner und Reichel, KölnDruck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

www.suedwestverlag.de

®

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579/085 790110X817 2635 4453 6271

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DANK

Mein zutiefst empfundener Dank geht an Hans-Jürgen Schäferfür seine wichtige Unterstützung. Er hat nicht nur mitgeholfen,dieses Buch zu schreiben, sondern stand mir auch jederzeit mitseinem journalistischen Know-how und seinem persönlichen Ratzur Seite.

Danke vor allem auch dafür, dass Du mir immer wieder Mutgemacht hast und an dieses Buch geglaubt hast – manchmal mehrals ich selbst.

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INHALT

Der schlimmste Tag meines Lebens 9

Schwarze Ossi im Wunderland 13

Nach Somalia – die Rückkehr zu den Wurzeln 61

Die Angst, die uns verborgen bleibt 113

Weiter auf der Flucht 133

Italienische Hilfe, aber kein Dolce Vita 161

Und plötzlich arm 167

Ein neues Deutschland 179

Die vergessenen Helden … 232

Schritte in mein eigenes Leben 236

Allein in Deutschland 262

Aus der Abstellkammer vor die Kamera 279

Der grausame Abschied 289

Aus dem Schatten entspringt ein Licht 302

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1.

DER SCHLIMMSTE TAG MEINES LEBENS

Ich hatte mich schon so oft gefragt, was ich bloß tun würde, wenndas passiert: Wenn dieser Anruf kommt und diese Nachrichtmich erreicht. Ich wusste, der Tag würde irgendwann kommen,und schon allein der Gedanke daran löste einen Schmerz in miraus, der nicht zu ertragen war. Würde ich den Verstand ver-lieren? Würde ich mir ein Messer in mein Herz rammen, weilmein Leben ab diesem Tag keinen Sinn mehr haben würde? Oderschreiend zusammenbrechen?

Heute war es so weit. Der Tag war gekommen.Heute, am 5. August 2005.

Seit ich ein Kind war, hatte ich jede Nacht zu Gott gebetet und wardankbar um jeden Tag, den mein Vater mir blieb. Das schlech-te Gewissen trug ich während der letzten Jahre ständig in mir,seitdem meine Familie 1997 fortgegangen war. Ich hatte michdamals entschlossen, allein in Deutschland zu bleiben und mei-ne Eltern und Geschwister ohne mich nach England ziehen zulassen. Ich war 16 Jahre alt und hatte einen Plan: Es war an derZeit, mein eigenes Leben zu beginnen und etwas zu erreichen.Ich wollte so viel Geld verdienen, dass ich ihnen das Leben wie-dergeben konnte, das uns der Krieg genommen hatte. Ich wolltesie wieder glücklich sehen, ohne Sorgen, ohne die ständige Angst,wie es weitergehen würde. Sie sollten in ihren letzten Lebens-

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jahren einfach zufrieden sein, so wie damals in unserer Villa inder DDR, vor unserer Rückkehr nach Somalia, die unser ganzesLeben verändern sollte.

Doch ich zahlte einen hohen Preis für die Entscheidung, alleinhier in Deutschland zu bleiben. Es machte mir nichts aus, vonganz unten anzufangen, das war ich gewohnt. Ich war schon im-mer eine Kämpferin. Aber innerlich zermürbte mich das Wissen,dass meine Familie jetzt ohne mich zusehen musste, wie es wei-terging: Schon wieder lebte sie nun in einem Land, das sie zwarkannte, aber nicht aus der hilflosen Position eines Flüchtlings,sondern als Diplomatenfamilie. Damals waren wir öfter in Lon-don gewesen, auf Geschäftsreisen oder um die zahlreichen Ver-wandten zu besuchen, die dort lebten. Jetzt ging meine Familiewieder dorthin, um die Heimat zu suchen, die es in Bonn nichtmehr gab.

Denn hier in Deutschland sah mein Vater keine Perspektivemehr für seine Familie. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben. Ichweiß noch, wie oft wir Anträge ausgefüllt hatten, um eine Auf-enthaltsgenehmigung zu erhalten, die unbefristet war. Reichtenzwei Bundesverdienstkreuze, damit ein ehemaliger Botschafterdie deutsche Staatsangehörigkeit bekam? Nein. Ein Mann, dergeholfen hatte, die Geiseln bei der Entführung der »Landshut«1977 in Mogadischu zu befreien. Der Wischnewski am Flughafenempfangen und auf Schritt und Tritt begleitet hat, um die Ver-handlungsgespräche zwischen ihm und dem damaligen soma-lischen Diktator Siad Barre zu übersetzen, war knapp 20 Jahrespäter in Deutschland ein Asylant wie jeder andere und zog nunweiter nach England. Für eine sechsköpfige Flüchtlingsfamilieaus Somalia gab es hier nichts, worauf sie hätte aufbauen können.

Und meinem Vater ging es mittlerweile schlecht, sehr schlecht.All die Jahre hatte er so viel durchgemacht. Sein Körper, der seinzerbrochenes Ich in sich trug, war schwach geworden. Wie vielLeid konnte dieser Mann noch ertragen? Er war so stark. Bis

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hierher hatte er seine Familie noch bringen können. Raus ausder lebensbedrohlichen Lage in Somalia, hinein in ein Lebenohne Geld, ohne Luxus, ohne Identität und ohne Perspektive.Wir waren Flüchtlinge, die zuvor nie auf Almosen angewiesengewesen waren.

Wie oft hatte ich mir ansehen müssen, wie er diskriminiertwurde. Von seinem stolzen Gang war im Laufe der Jahre nicht vielübrig geblieben. Nur unsere Verwandten behandelten ihn immernoch mit Respekt. Sie wussten, was für ein ehrenwerter Manner war, und küssten ihm zur Begrüßung die Hand. Aber in denSozialämtern war er einer von vielen: ein Heimatloser, der wiederin der Schlange stand, um für seine Familie Kleidergeld zu be-antragen. Ich hasste die Blicke, die sie ihm zuwarfen. Ich hasste es,wie sie manchmal mit ihm redeten.

Nun lebte meine Familie also in England. Im Sommer 1997kam mein Vater ein letztes Mal zurück, um unsere Wohnungaufzulösen, in der ich noch allein lebte. Eines Abends, ich schliefschon in meinem Zimmer, öffnete er plötzlich die Tür: Er bekamkaum Luft und brach gleich darauf zusammen. In Panik riefich einen Krankenwagen. Der Notarzt maß seinen Blutdruck,der besorgniserregend hoch war. Erst im Krankenhaus war meinVater wieder ansprechbar. Nach einiger Zeit kam eine Ärztin insZimmer, verschlafen blickte sie mich an, nicht ihn. Es wirkte so,als würde sie ihm die deutsche Sprache nicht zutrauen. Und so,als hätten wir ihr leichtfertig den Schlaf geraubt, sagte sie zu uns:»Beim nächsten Mal nehmen Sie sich bitte ein Taxi, denn so einKrankenwageneinsatz ist sehr teuer und wirklich nur für Notfällegedacht.« Ich kochte innerlich und schwieg. »Wir behalten ihnzur Beobachtung ein paar Tage hier.«

Monate später brach mein Vater in London erneut zusammen.Dort stellte man dann endlich fest, dass seine Nieren mittlerwei-le völlig funktionslos waren und sein Blut nicht mehr reinigenkonnten. Seitdem hing sein Leben an Dialysemaschinen. Jedes

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Mal, wenn ich ihn nach der Blutwäsche anrief, hörte er sichschwächer an, ich konnte ihn kaum verstehen. Es brach mir dasHerz, aber ich schluckte meinen Schmerz und meine Tränenhinunter, denn ich wollte ihn nicht traurig machen. Er sollte sichauf mich verlassen können und ich wollte ihm von meiner Stärkeetwas abgeben, so wie damals im Krieg.

Während damals die Bomben um uns herum eingeschlagenwaren, zählten wir die Stunden, bis auch wir unter den Trüm-mern liegen würden. Das einstürzende Nachbarhaus hatte einensolchen Lärm gemacht, dass mir das Blut spürbar durch denganzen Körper schoss. In dieser Nacht hatte ich mit dem Lebenabgeschlossen. Ich erreichte den Punkt, an dem jede noch sogeringe Hoffnung mich verlassen hatte. Um mich herum hörteich die lauten Gebete der fremden Menschen, die sich mit uns indiesem dunklen Keller versteckt hielten und sich bereit machten,ihrem Schöpfer gegenüberzutreten. Sie flehten zu Gott, dass erihnen all ihre Sünden vergeben möge, denn auch sie spürten, dassihr Leben in jeder Sekunde vorbei sein konnte. Trotz dieser allesverschlingenden Angst, die ich in jeder Faser meines Körpersspürte, habe ich es damals geschafft, stark und gefasst zu wirken.Die Angst in den Gesichtern meiner Familie werde ich nie ver-gessen …

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2.

SCHWARZE OSSI IM WUNDERLAND

Eine schwarze Stoffdecke, gemustert mit orientalischen Symbolenin Gold und Bronze, wie sie typisch waren für die Gewänder derFrauen in Somalia, ist das Erste, woran ich mich aus meiner Zeitin Ostberlin erinnern kann.

Es war frühmorgens und noch dunkel draußen. Meine Ayeya,was auf Somalisch »Oma« bedeutet, hatte in diese Decke einigeStoffe eingewickelt, die sie jetzt in ihren Schrank einsortierte. Wirwaren gerade angekommen. Wir kamen aus Sanaa im Jemen,wohin wir, kurz nachdem ich in Mogadischu geboren wordenwar, über die Zwischenstation Sambia gezogen waren. Ich wardrei Jahre alt und sollte nun bereits das vierte Land kennenlernen.

Nach der Ankunft in unserer Botschaftsvilla im Stadtteil Pankowsaß ich auf dem Boden zwischen dem ganzen Gepäck mit derStoffdecke meiner Oma und versuchte, diese Decke mit einemLöffel durchzuschneiden, was nicht klappen wollte. Ich rutsch-te immer wieder mit dem Löffel ab, und durch die Reibung desMetalls an dem billigen Gemisch aus Baumwolle und Polyesterbekam ich eine Gänsehaut. Irgendwann war ich so wütend, dassich den Löffel wegwarf und anfing zu weinen. Ich war wohl vonder langen Reise völlig übermüdet, und meine Ayeya steckte michins Bett.

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Unser neues Zuhause in Ostberlin war eine große beigefarbeneFlachdach-Villa. Das Grundstück war von einem dunkelgrünen,halbhohen Stahlzaun umgeben. Über die Zufahrt fuhr man direkthinunter in die Garage unter dem Haus, wo unsere drei Autosparkten. Mein Vater ließ sich und uns aber fast immer mit demMercedes chauffieren, an dem vorn die hellblaue Flagge mit demweißen Stern im Fahrtwind wehte, die uns als somalische Diplo-maten auswies. Das Haus war umgeben von einem großen Rasenund prächtigen Bäumen, dahinter befand sich ein kleiner Hang,steil und lang genug, um im Winter wunderbar mit dem Schlittenrunterzurutschen. Aber es war auch ein schöner Platz, um sichim Sommer aufzuhalten, wenn überall Blumen in leuchtendenFarben blühten. Es war der Lieblingsort unserer Nanny. Sie hießHilde und trug immer einen blauen Kittel. Sie war etwa Ende 30,hatte rotbraunes, gewelltes, kurzes Haar und eine raue, derbe Art,an die ich mich nie so richtig gewöhnen konnte.

»Mädchen«, rief sie mich, statt mich bei meinem Namen zunennen, »krümle nicht so mit dem Brot herum.« Wenn ich Hildeim ganzen Haus nicht fand, wusste ich, wo sie war. Sie hatte sicheine Matte auf den Hang gelegt und sonnte sich mit ihrer TochterSabrina, die ein bisschen älter war als ich und oft nach Schul-schluss zu uns kam, um hier ihre Mutter zu besuchen.

Auch der hintere Teil des Grundstücks war durch den Zaunvom Nachbargrundstück getrennt. Man konnte hinübersehen indiesen Garten. Unser Nachbar war ein kleiner Mann, der immergrüne Arbeitskleidung und eine Mütze trug. Oft habe ich ihnfleißig in seinem Garten arbeiten sehen, und obwohl wir sogarGärtner hatten, war sein Garten viel schöner als unserer. Es stan-den viele Birnbäume darin, ganz nah am Zaun, und wenn ichmich unbeobachtet fühlte, kletterte ich auf den Zaun und pflücktemir die saftigsten Birnen ab. Natürlich hatte ich Angst, erwischtzu werden, denn der Nachbar guckte immer so grimmig undlächelte mich nie an.

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Von den anderen Deutschen war ich es gewohnt, dass sie im-mer ganz entzückt waren, wenn sie mich sahen: »Du süßes klei-nes Negerkind!«, riefen sie dann. Oder: »Oh, schau mal, wie süß!Und guck mal, die Haare! Darf ich da mal reingreifen …?« Dannstrichen sie mir vorsichtig über das krause Haar. Sie waren ganzerstaunt, wie borstig es war.

»Die Haare fühlen sich ja ganz fest an, wie harter Schaumstoff.Kann man die überhaupt kämmen?« Nein, konnte man nicht,zumindest nicht ohne dass es unerträglich ziepte. Für Aufsehensorgte es auch, wenn Wassertropfen von unserem Afro einfachabperlten. Ich verstand die Verwunderung der Leute nicht, dennich hatte nie das Gefühl, anders zu sein. Aber ich spürte, dass siees nicht böse meinten. Obwohl wir gar nicht so dunkelhäutig wa-ren, sah man uns unsere Wurzeln natürlich an. Unsere Vorfahrenwaren keine Afrikaner, sondern stammten von der arabischenHalbinsel aus dem Oman, nordöstlich von Somalia.

Ich hatte jedenfalls geglaubt, dass wir unserem grimmigenNachbarn vielleicht zu fremd und anders waren. An meinemfünften Geburtstag ging ich nachmittags in den Garten, als eraußer Sichtweite war, und kletterte auf den Zaun, um mir eineBirne zu pflücken. Ich streckte meinen ganzen Körper und meineHand aus, aber ich kam trotzdem nicht an die Birne, ein paarZentimeter fehlten noch. Mittlerweile war ich fast mit den Zehen-spitzen auf dem Zaun und musste aufpassen, nicht abzurutschen.Ich war so konzentriert, dass ich zu spät bemerkte, dass der Nach-bar direkt auf mich zulief, und er schien mir noch grimmiger alssonst. Ich erstarrte: »Oh nein, jetzt versohlt der mir bestimmt denHintern!« Ich blickte ihm direkt in seine kühlen, blauen Augen. Erverzog immer noch keine Miene und lief weiter auf mich zu. EineSekunde lang überlegte ich noch, ob ich einfach wegrennen sollte,aber irgendwie kam ich nicht weg, es war zu spät.

Plötzlich packten mich seine kräftigen Hände unter meinenArmen. Ich war panisch vor Angst, konnte aber weder schreien

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noch mich wehren. »Jetzt ist es vorbei! Der zieht mich rüber inseinen Garten und gräbt mir ein Loch, direkt neben den Birn-bäumen!« Noch während ich das dachte, hob er mich mit einemRuck hoch in die Luft:

»Da oben, die sind reif, pflück dir eine, na los!«Ich konnte gar nichts sagen, schaute ihn nur mit großen Augen

an, dann pflückte ich mir eine Birne, die grün, an einer Seite zart-rot und ganz fest war, so wie ich sie liebte. Sicher setzte er michwieder auf dem Boden ab – in unseren Garten, der Zaun trennteuns wieder.

»Wenn du noch mal eine willst, dann ruf mich.«Er sprach sehr betont und fuchtelte unterstützend mit den

Händen, als ob er glaubte, dass ich kein Deutsch sprechen könn-te. Ich starrte ihn noch etwas verwirrt an, dann drehte er sich umund lief zurück in sein Haus.

Wir hatten auch einen prächtigen Baum in unserem Garten,wenn auch keinen mit Obst. Als Jassar, ein sehr guter Freundunserer Familie, einmal zu Besuch war, ging er eines Morgenszu diesem Baum und suchte sich sorgfältig einen schmalen Astaus, den er abbrach. Er kaute ein wenig an einem Ende des Astesherum, bis es sich öffnete und borstig wurde. Dann putzte er sichdamit die Zähne, so wie es in Somalia üblich war.

Als Mama das vom Fenster aus sah, fing sie an zu lachen. Ichhab sie nicht oft ausgelassen lachen sehen. Ich liebe ihr Lachen, esklingt so herzhaft und kräftig, tief und voll aus dem Bauch heraus.Wenn sie lacht, blitzt eine große Lücke zwischen ihren starkenSchneidezähnen hervor, sie wirft den Kopf in den Nacken undklatscht in die Hände. Freudig erregt rannte sie barfuß auf ihrenkleinen Füßen hinaus zum Baum, um sich auch einen Ast ab-zubrechen. Jassar suchte ihr einen passenden aus, dann standensie beide auf dem Rasen, kauten auf ihren Ästen herum und stell-ten fest, dass es in Somalia Knospen, Wurzeln und Zweige gab,auf denen man besser herumkauen und sich so die Zähne putzen

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konnte. Diese hier im Garten waren zu feucht und zerfielen aufder Zunge, die somalischen hingegen stammen vom Zahnbürs-tenbaum, der in Afrika und Indien vorkommt und dessen Ästeviel trockener und deshalb fester sind.

Ich kannte nur Zahnbürsten und wurde neugierig, wie so einAst wohl schmecken würde. Jassar brach mir ein kleines Stück ab,das ich in meinen Mund steckte und an dem ich zaghaft knabber-te. Es schmeckte bitter und war zu hart für mich, denn ich hattenicht so stabile Zähne wie meine Mutter. Sie konnte mit ihrenVorderzähnen den Kronkorken von einer Flasche schnippen,schneller als andere es mit dem Öffner konnten. Das hatte sie vonmeinem Opa geerbt.

Jassar war der beste Freund meines Bruders Farid und ein engerVertrauter unserer Familie. Ich liebte ihn sehr, weil er immer sowitzig war und mich zum Lachen brachte. Außerdem verbrachteer seine Zeit lieber mit uns Kindern, alberte mit uns herum, stattmit den Erwachsenen steife Gespräche zu führen. Wenn er mitMama oder Papa sprach, war er sehr vernünftig für einen jungenMann, aber mit uns Kindern war auch Jassar Kind. Ich war des-halb sehr traurig, als sein Besuch in Ostberlin vorbei war und erwieder zurück nach Somalia ging.

Mein Start ins Leben

Meine Geburt soll sehr schwierig gewesen sein, beinahe hätteich es nicht geschafft und meine Mutter auch nicht. Ich war eineSpätgeburt, ich kam viel zu spät, so spät sogar, dass die Ärzte inder Klinik in Somalia nicht mehr wussten, wie sie mich auf dieWelt holen sollten.

»Ich wollte nicht raus, weil ich ahnte, was für ein Leben micherwartet«, flachste ich mit meinem Halbbruder Karim, als der mirdavon erzählte. Was im Krankenhaus fehlte, war ein Medikament,

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das die Wehen einleiten konnte. Karim ist zwanzig Jahre älter alsich und der einzige Sohn, den mein Vater mit seiner ersten Frauhatte. Karim arbeitete damals als Referent im somalischen Kon-sulat in Hamburg, und über einen Freund bekam er die Medizinim dortigen Bundeswehrkrankenhaus, mit Lufthansa gelangtesie dann gerade noch rechtzeitig in die Klinik, erzählte man mirspäter.

Dazu muss man aber wissen, dass Somalis, wenn sie Geschich-ten erzählen (und das tun sie gerne), diese ausschmücken undauch mal etwas hinzudichten. Die folgende Geschichte wurdevor allem von meiner Mutter und meinen Tanten erzählt: »AlsBaby haben wir dich einmal nach dem Baden abgetrocknet unddann auf dem Wickeltisch am Fenster liegen lassen, weil wir dasFläschchen holen wollten. Als wir zurückkamen, saß ein Pavian,so eine riesige Affen-Mama, auf dem Fensterbrett und griff nachdir. Was haben wir geschrien, als sie mit dir davonrannte undwir sie quer durchs Dorf verfolgten, bis Frau Pavian dich endlichfallen ließ. Total verkratzt haben wir dich im Sand gefunden.«Und dann lachten sie laut.

Ich hab diese Geschichten immer wieder gern gehört und tuees heute noch. Nachdenklich macht mich hingegen diese Story:Als Baby hatte ich Kindergelbsucht und es ging mir sehr schlecht.Frauke Obländer, die mit ihrem Mann Manfred später noch ein-mal mein Leben retten sollte, war bei uns in Mogadischu zu Be-such, sah im Flur die gestapelten Kartons mit Babynahrung undwar entsetzt: »Ihr dürft Khadra auf keinen Fall mehr damit füt-tern! Dieses Zeug ist in Deutschland längst verboten, weil es vielzu viel Eiweiß enthält und Kindergelbsucht auslösen kann!«, er-mahnte sie meine Eltern, mit denen die Obländers gut befreundetwaren. »Mich wundert, dass die das noch nach Somalia verkaufendürfen.«

Ich war ein kleines Mädchen mit einem kurzen, pechschwarzenAfro, fast genauso dunklen, großen, runden Augen, Pausbäck-

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chen und vollen Lippen. Mein Mund wirkte noch größer, wennich Bonbons, Lollis oder Schokolade in ihn reinstopfte – was ichdauernd tat. Ich war ein Pummelchen mit dünnen Beinen unddickem Bauch, wie wir Kinder ihn alle hatten.

Fremden gegenüber war ich schüchtern. Fühlte ich mich aberin Sicherheit innerhalb der Familie, war ich sehr neugierig undlöcherte die Erwachsenen mit meinen Fragen: »Papa, warumgähnt man? Welche Sprache sprechen Vögel? Warum ist der Him-mel blau?« Mir zu antworten war wirklich nicht einfach, aberegal, was ich fragte, mein Vater wusste immer etwas Originellesals Erklärung, das mich zufriedenstellte.

Neben Karim habe ich noch zwei Brüder: Farid, der zehn Jahreälter ist, und Jamal, der ein Jahr jünger ist als ich. Nanna, meineSchwester, kam noch ein Jahr später, sodass meine Mutter mit unsdreien sozusagen dauerschwanger gewesen war. Chuchu, meinezweite Schwester, kam als Nesthäkchen erst acht Jahre nach mirauf die Welt, da war mein Vater schon über 50. Wie alt genau,wusste er selbst nicht. Angeblich wurde er 1933 geboren, so standes zumindest in seinem Pass, aber zu dieser Zeit waren Geburts-urkunden in Somalia nicht üblich. Meine Mutter war deutlichjünger als er, laut Ausweis war sie 1955 geboren.

Das Geburtsdatum spielte in der somalischen Kultur keineRolle, es gab auch keine Geburtsurkunden. Wozu auch? Die Men-schen hatten ganz andere Probleme. Es war eine Seltenheit, wennjemand lesen oder schreiben konnte. Nur weil mein Vater eingebildeter Mann war und die Geburtsdaten seiner Kinder für dasDiplomatenleben in anderen Ländern wissen musste, kennen wirKinder unsere genauen Geburtstage. Wenn man meine Mutterdanach fragt, antwortet sie etwas wie: »Es war im Morgengrauen,gegen Ende des Jahres.«

Das ist auch der Grund dafür, dass viele Menschen aus Ent-wicklungsländern in ihren Pässen Schnapszahlen als Geburts-daten angeben, wie etwa den 05.05.1955 oder den 06.06.1966.

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Wenn sie schon irgendein Geburtsdatum in den Pass eintragenmüssen, dann wenigstens eines, das man sich leicht merken kann,für den Fall, dass jemals weitere bürokratische Fragen das Lebenkreuzen sollten.

Meine frühe Kindheitswelt

Jeden Morgen versuchte ich immer wieder aufs Neue, den Kin-dergarten zu schwänzen. Mit aller Kraft versuchte ich mich da-gegen zu wehren, wenn unser Chauffeur Food Adde uns insAuto zerrte. Sein Name bedeutet so viel wie »Weiße Pfote«. Wirnannten ihn so, weil er einen großen, pechschwarzen Afro hatte,in dem vorn über seiner Stirn ein breiter weißer Streifen war. Erhatte morgens den Auftrag, uns in den Kindergarten zu bringen,und das versuchte er auch, obwohl es wirklich nervenaufreibendwar. Wir wären viel lieber zu Hause geblieben und hätten in demWald gespielt, der gleich nebenan lag. Wir liebten diesen Wald,er hatte etwas Märchenhaftes. Dort fand man Pilze und leckereBeeren, und es gab viele gute Verstecke, wo man beim Spielen niegefunden wurde. Dieser Märchenwald war unser Traumziel.

Meine Geschwister Jamal und Nanna stellten sich bei den mor-gendlichen Fluchtversuchen besonders raffiniert an. Sie ranntenkurz vorm Auto einfach in verschiedene Richtungen davon undder arme Food Adde wusste gar nicht, wen er zuerst wieder ein-fangen sollte. Ich aber legte mich lieber mit ihm an, mit Fäustenund Beinen schlug ich schreiend um mich und dachte, ich könneihn so besiegen. Aber am Ende war ich meist die Einzige, die inden Kindergarten gefahren wurde, während die beiden Kleinenimmer noch in irgendwelchen Verstecken hockten und sich insFäustchen lachten.

Irgendwann gewöhnte ich mich schließlich an den Kindergar-ten. Wir hatten zwei Betreuerinnen, eine von ihnen mochte ich

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ganz besonders. Sie hieß Sabine und hatte eine Vokuhila-Frisur:Vorn standen ihre kurzen, blonden Haare stachelig hoch und hin-ten ließ sie sie zu einem langen, dünnen Schwänzchen wachsen.Sie trug immer eine verwaschene, enge, hellblaue Karotten-Jeans,die ihr ein wenig zu kurz war, deshalb blitzen ihre bunten Sockendarunter hervor. Dazu trug sie entweder einen grauen Strickpullioder einen bunten, wild gemusterten Pullover. Ihr großer Busenwölbte sich deutlich unter den weit geschnittenen Pullis. ObwohlSabine noch sehr jung war, hatte sie dadurch etwas Mütterlichesan sich. Ich mochte sie sehr. Sie machte uns Pfefferminztee undlas aus Hänsel und Gretel vor. Bevor wir unseren Mittagsschlafhielten, gab sie jedem einen Gutenachtkuss.

»Schlaf gut und träum was Schönes«, flüsterte sie uns ins Ohrund strich uns über die Wange. Am Mittagstisch sagte sie mir oft,dass ich meinen Kopf nicht auf meine Hand stützen solle, undals ich sie fragte, warum, erklärte sie mir, dass mein Kopf viel zuschwer für meine kleine Hand sei. Noch heute muss ich an siedenken, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich den Kopf auf dieHand stütze.

Sie brachte uns auch Schritt für Schritt bei, wie man Schnür-senkel bindet. Ich kann mich noch daran erinnern, wie schwierigich das fand, ich dachte, ich würde es nie lernen. Aber immer,wenn ich es nicht schaffte, kam sie zu mir und band mir denSchuh zu. Sie hat es mir immer wieder geduldig erklärt, bis iches verstanden hatte. Als ich es dann endlich selbst konnte, binich mit meinem Schuh nachmittags durch unsere Villa geranntund suchte jemanden, dem ich es vorführen konnte. Mama wardie Einzige, die im Haus war. Sie saß allein auf der großen Eck-couch im Wohnzimmer und war in Gedanken versunken. Ichwar so stolz auf das Erlernte und völlig aufgedreht, aber währendich es ihr zeigte, merkte ich, dass sie mich teilnahmslos ansah.»Vielleicht ist es doch nicht so etwas Besonderes, Schuhe bindenzu können«, dachte ich damals. Erst Wochen später bekam ich

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die Anerkennung, die ich mir erhofft hatte. »Khadra, kannst dumir bitte die Schuhe zumachen?«, fragte mich da Mama, die esselbst nie gelernt hatte. Aus diesem Grund trägt sie noch heutekeine Schuhe mit Schnürsenkeln, sondern immer welche mitKlettverschluss.

Mein Vater war geschäftlich viel unterwegs und eines Tagesnahm er mich mit nach Moskau. Es war das kälteste Land, dasich jemals besucht hatte. Wir fuhren zum Roten Platz, auf demHunderte von Tauben waren. Dort konnte man Plastiktütchenmit Bohnen kaufen, um die Vögel zu füttern. Sie waren sehr gierigund ich zog meine Hand schnell weg, damit sie mich nicht in dieFinger hackten. Ein Mann neben mir legte sich das Futter aufden Kopf und die Tauben pickten es von seiner Halbglatze. Dassah witzig aus, also schüttete ich mir eine Handvoll Bohnen aufsHaar, aber was dann passierte, fand ich zuerst gar nicht komisch.Die Tauben stürzten sich auf mich, rissen an meinen Haaren undhackten mir mit ihren spitzen Schnäbeln in die Kopfhaut. Ichwarf die Tüte mit dem Futter hinter mich und rannte quer überden Platz ins nächste Gebäude. Mein Vater konnte sich nichtmehr halten vor Lachen, was mich zunächst ärgerte, aber dannsteckte er mich doch damit an.

Am letzten Abend vor unserem Rückflug nahm er mich mitin ein riesiges Einkaufszentrum. Ich durfte mir etwas aussuchen,und meine Wahl fiel auf einen schwarzen Motorradhelm: Er warviel zu groß für mich, und wir besaßen auch gar kein Motorrad,aber ich wollte ihn unbedingt haben. »Wenn du ihn willst, be-kommst du ihn«, sagte Papa nur. Auf der Rückfahrt ins Hotelsetzte er sich wie immer auf den Beifahrersitz. Ich setzte mich aufseinen Schoß, zog den Helm gleich über und tat so, als ob ich aufeinem Motorrad säße. Als wir durch einen Tunnel fuhren unddie Lichter sich auf meinem Helm spiegelten, kam ich mir vorwie David Hasselhoff als »Knight Rider« in seinem sprechendenAuto K. I. T. T.

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So schön wie Mama

Weil mein Vater so viel unterwegs war, fühlte sich meine Mutteroft allein. Sie ließ sich dann häufig vom Chauffeur nach West-berlin zum Einkaufen fahren. Dafür machte sie sich vorher be-sonders chic, was Stunden dauerte. Ich fuhr selten mit, weil Mamasich dann kaum mit mir beschäftigte und ich lieber bei meinemPapa war, wenn er denn da war. Nanna dagegen war Mamas größ-ter Fan, auch beim »Ausgehen«. Sie hing schon an Mamas Rock-zipfel, mit ihrer Barbie unterm Arm, wenn Mama in RichtungAuto ging. Sie wusste: Wenn sie mit ihr fährt, bekommt sie auchetwas gekauft. Mama kam stets mit Tüten voller schöner Kleiderzurück, die sie gleich in ihren großen Schrank hing. Sie besaß un-zählige Kleider: bodenlange, blaue, grüne, rote, bunte, mit Goldoder Strass verzierte … Der Schrank im Schlafzimmer meiner El-tern reichte über eine ganze Wand und war mit Spiegeln versehen.

Mama verwandelte sich in eine Diva, wenn sie mit Papa aufEmpfänge ging. Oft bin ich zu ihrem Schrank geschlichen, umdie Kleider anzuprobieren. Mir war klar, dass sie mir noch vielzu groß waren, aber ich bestaunte mich im Spiegel und konnte eskaum erwarten, bis sie mir endlich passen würden und ich auchso schön sein würde wie Mama.

Neben Mamas Bett stand ein Schminktisch mit zwei Schub-laden und einem großen, runden Spiegel. Ich beobachtete sie,wenn sie davorsaß und sich mit einem Kajalstift ihre Augen-lider nachzog, sodass ihre dunklen Augen noch ausdrucksvollerwirkten. Dann strich sie ihre vollen Lippen mit einem Lippenstiftnach und presste sie zusammen. Sie hatte eine sehr helle Haut,feine, schlanke Handgelenke und schöne lange Finger. Sie sahaus wie eine Prinzessin. Vielleicht liebte sie deshalb auch Lady Di.Im Fernsehen schaute sie sich gern Berichte über das englischeKönigshaus an, klatschte begeistert in die Hände und rief laut»Ahhh!«, wenn sie Prinzessin Diana sah.

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Abends kämmte sie ihre langen, schwarzen, leicht gewelltenHaare, die ihr bis zum Po reichten. Ich hätte auch so gern MamasHaare geerbt, aber stattdessen hatte ich meinem Papa die Afro-Matte zu verdanken, die mir schon als Kind zu schaffen machte.Man kam mit keinem Kamm durch diese Haare, deshalb ver-suchte ich diese Prozedur am liebsten zu umgehen. Manchmalbeauftragte Mama unsere Haushälterinnen, sich an mich heran-zuschleichen, um mich zu kämmen, während ich meinen Mit-tagsschlaf hielt, aber es ziepte so stark, dass ich sofort wach wurdeund mich umdrehte oder weglief. Ich wollte mich nicht damit ab-finden, dass ich so krauses Haar hatte, ich wollte auch eine schöne,wallende Mähne, also improvisierte ich eines Tages. Ich ging insBadezimmer und suchte ein Handtuch. Ein lilafarbenes war daserste, was ich in die Finger bekam. Das legte ich mir um den Kopfund rannte durchs ganze Haus, so schnell, dass es hinter mir herwehte. Unsere Hausangestellten sahen mir ganz verdutzt nach, alsich an ihnen vorbeidüste. Ich rannte in den Garten und am Zaunentlang. Eine Frau lief gerade neben dem Zaun auf dem Bürger-steig und sah mich lächelnd an. »Aha, sie findet meine neuenHaare also auch schön!«, dachte ich.

Papa brachte mich eines Tages zum Friseur in der Nachbar-schaft. Als wir den Laden betraten, sah mich die Friseurin un-gläubig an, so als hätte sie noch nie einen Menschen mit krausemHaar gesehen. Es war eine junge Frau mit kurzen, blonden, dauer-gewellten Haaren. Papa ließ mich im Salon und sagte ihr, sie sollemir einen schönen Schnitt machen. Sie griff mir ratlos in die Haa-re und wusste nicht, was sie damit anstellen sollte. Mir passte dasGanze sowieso nicht, denn ich ließ am liebsten gar niemandenan meine Haare, ich hasste es, wenn jemand versuchte, mich zufrisieren. Und die Friseurin zuckte mit den Schultern:

»Wie soll ich’n da durchkommen?!« Sie drehte sich um und imSpiegel sah ich, wie sie nach hinten auf eine Schublade zusteuerte,in der sie herumkramte. Als ich sah, was sie in der Hand hielt,

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wollte ich wegrennen. Es war ein winziger roter Plastikkamm,seine Zacken waren so klein, dass man ihn zum Entlausen vonHamstern hätte benutzen können. Wie kam sie nur auf die Idee,damit meinen Afro bändigen zu wollen? Aber die Friseurin hatteoffensichtlich noch mehr Angst als ich und tastete sich vorsichtigdurch mein Haar.

»Aua, au!«, schrie ich immer wieder auf, bevor sie überhauptrichtig loslegen konnte. Da kam Papa wieder in den Salon. Erhatte mir ein Eis geholt, weil er schon ahnte, dass dieser Friseur-besuch nur mit einer Bestechungsaktion gelingen konnte. Dochdie Friseurin und ich waren schon total entnervt. »Komm schon,Njunja! Sie will dir doch nur die Haare schön machen«, versuchtePapa mich zu beruhigen. Aber wir kamen nicht voran, entgeistertgab die Frau schließlich auf.

»Das macht keinen Sinn, wenn die Kleene nicht will …« –»Okay, okay«, erwiderte Papa und hielt mir seine Hand hin.»Komm, Njunja! Wir gehen wieder.« Erleichtert sprang ich ausdem Frisierstuhl, schnappte mir das Hörnchen, an dem schon dasVanilleeis herunterlief, schleckte es genüsslich ab und verschlangam Ende noch die Waffel. Ich hatte es mir verdient.

Njunja, das war nicht mein richtiger Name. Khadra ist arabischund bedeutet »das Grün der Natur«. Njunja war mein Kosename,den Papa mir gegeben hatte, weil sich das erste Wort, das ich alsKind von mir gegeben hatte, so anhörte. Nanna rief er Ingaay, weiles sich so anhörte, wenn sie weinte: »Ingaaayyyyhhhhh!«

Mit nichts aufzuwiegen: wahre Freundschaft

Wenn mein Papa in der Botschaft war, war ich zwar zu Hause nieallein, aber ich fühlte mich so. Natürlich war meine Mutter da,meine Ayeya und die Haushaltshilfen, aber keiner beschäftigtesich wirklich mit uns Kindern. Wenn Papa dann endlich nach

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Hause kam, brachte er uns oft etwas mit, meist waren es Spielsa-chen, die er in Westberlin gekauft hatte, Legosteine, Rollschuhe,Autos, Barbie & Ken, kurz: einfach alles, was ein Kinderherz be-gehrt. Die Nachbarskinder waren deshalb oft bei uns. Die meistenvon ihnen kannte ich gar nicht, aber es hatte sich schnell herum-gesprochen, dass es bei uns viele Spielsachen gab, also kamen sievorbei und spielten in unserem Hof vor der Garage. Ich freutemich, wenn so viele Kinder da waren, aber ich merkte auch, dasssie mich gar nicht beachteten. Sie sprachen nicht mit mir, ichhatte das Gefühl, einfach nicht dazuzugehören. Ich dachte, wennich ihnen vielleicht mehr Spielzeug schenken würde, würden siemich mögen. Papa brachte sowieso immer so viel mit, also ver-teilte ich meine Spielsachen unter den Kindern.

Das Tor zu unserem Garten war nie abgeschlossen. Einmalwaren besonders viele Kinder im Hof. Ich kannte nur einen vonihnen, meinen Freund Marcel, der einen Block weiter wohn-te. Die Kinder tobten und kreischten herum. Irgendwann kamunser Chauffeur Food Adde angerannt: »Was ist denn nur los?Was macht ihr alle hier? Woher kommen die ganzen Kinder?« Erschaute mich mit großen Augen an, aber ich hatte ja selbst irgend-wann den Überblick verloren. Food Adde schickte sie nach Hauseund als alle weg waren, war es plötzlich wieder still. Da merkte icherst, wie laut es vorher gewesen war. Ich war traurig. Ich wollte zuden anderen Kindern gehören, aber nun waren alle weg.

Mein einziger wirklicher Kindheitsfreund in dieser Zeit warMarcel. Oft trafen wir uns auf dem Spielplatz in unserer Straße.Er hatte kurzes braunes Haar, dünne Beine und trug meist San-dalen und kurze Hosen, weshalb seine Knie vom Spielen oft ganzrau waren. Er hatte noch drei jüngere Brüder, den Kleinsten fandich total süß. Er hieß Micky und war ein richtiger Wonneproppenmit geröteten Hamsterbäckchen. Wenn er mich von unten mitseinen großen, treuen Augen anschaute, wollte ich ihn am liebs-ten umarmen und ihm einen dicken Schmatzer geben. Was mich

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davon abhielt, war seine ständig laufende Nase. Der Rotz war ander Oberlippe verkrustet und es lief immer neuer nach.

»Hey, Micky, komm mal her!«, rief Marcel, wenn er merkte,dass der Kleine versuchte, sich mit der Zunge die Nase abzuwi-schen. Dann nahm Marcel den Zipfel seines T-Shirts und wischteihm das Gesicht sauber. Es gefiel mir, wie er sich um seinen jün-geren Bruder kümmerte, und auch deshalb mochte ich Marcelbesonders gern. Ich hätte stundenlang mit ihm zusammen seinkönnen, leider musste er immer zu ganz bestimmten Zeiten zuHause sein.

»Ich muss um zwölf zum Mittagessen«, verabschiedete er sichdann. Oder: »Ich muss um sechs zum Abendbrot.« Oder: »Ichmuss los, das Sandmännchen kommt gleich.« Und egal, was fürein spannendes Spiel wir gerade spielten: Wenn es Zeit war, rann-te er los. Ich blickte ihm dann hinterher und beneidete ihn da-rum, dass da jemand auf ihn wartete. Mich rief nie jemand zumEssen, ich ging nach dem Spielen einfach irgendwann nach Hauseund kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals gemeinsamzu Hause gegessen hätten.

Einmal spielten wir in Marcels Straße. Wir hockten über denschönen bunten Glasmurmeln, die ich mitgebracht hatte. Plötz-lich hörten wir eine Glocke läuten und sahen auf. An einem Fens-ter im dritten Stock stand eine Frau mit langen braunen Haaren.

»Mittagessen ist fertig!«»Ja, Mutti, ich komm hoch.« Marcel sprang auf und rannte los.

Ich ärgerte mich, wie immer, wenn er mich plötzlich links liegenließ, nachdem wir den ganzen Morgen miteinander gespielt hat-ten, und er war schon bis zum Eingang des Plattenbaus gelaufen,als seine Mutter noch mal rief.

»Bring doch deine Freundin mit, Marcel!« Dann drehte siesich zu mir und wischte sich ihre langen Haare aus dem Gesicht.»Magst du mit uns zu Mittag essen?« Ich sagte nichts und nicktenur.

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Schon oft hatte ich den Duft des leckeren Essens aus den Fens-tern dieser Häuser gerochen und Marcel winkte mich zu sich.Ich sammelte meine Murmeln hastig ein und rannte zu ihm.Während er die Stufen aufstieg, drehte er sich ab und zu lächelndzu mir um. Bisher hatten wir uns immer nur bei mir getroffen, erwar wohl gespannt, wie es mir bei ihm gefallen würde. Micky öff-nete uns angestrengt, weil der kleine Wonneproppen gerade malan den Türgriff kam. Er strahlte uns mit seinen großen blaugrau-en Augen an. Er sah heute besonders süß aus, weil er keinen an-getrockneten Rotz unter der Nase hatte, doch bevor ich ihn in denArm nehmen konnte, rannte er den Flur entlang zu seiner Mama.Er klammerte sich hinter ihr rechtes Bein, als sie im Türrahmenzur Küche stand. Langsam glitt mein Blick ihre kräftigen Beineempor. An ihren Schenkeln stockte ich. Ich wollte nicht weiternach oben schauen, aber sie fing schon an, mit mir zu sprechen.

»Na?!«, hörte ich ihre Stimme. Ich wollte ihr ins Gesicht sehen,aber mein Blick blieb an ihrem Körper hängen. Bis auf eine kurzeHose war sie nackt. Ich hatte noch nie zuvor eine nackte Frau ge-sehen, denn meine Mutter bedeckte sich stets, wenn sie sich um-zog oder aus dem Bad kam. Marcels Mutter hatte einen kleinen,weiblichen Bauch und einen großen Busen, der etwas herunter-hing. Ein leises »Hallo« war das Einzige, was ich herausbrachte.Ich war verunsichert und schaute mich um. Marcel ging geradein die Küche, setzte sich an einen kleinen, viereckigen Tisch, undMicky klammerte sich immer noch an das Bein seiner Mama,versuchte sich dort vor mir zu verstecken und lugte immer wiederein bisschen hervor. Niemand außer mir schien die Situation un-gewöhnlich zu finden.

»Komm, setz dich«, rief Marcel. Ich stand noch immer im Flur,als sich ein Kopf über der Sofalehne im Wohnzimmer erhob. Eswar Marcels Vater, der ein Buch in der Hand hielt. Er richtete sichauf, um einen Blick auf mich zu werfen, und ich sah seinen be-haarten Oberkörper.

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»Hallo! Du bist die Nachbarin vom Diplomatenhaus drüben?Setz dich ruhig rüber auf meinen Platz, ich esse dann später.« Ichging in die Küche. Marcel, Micky und ihre Mutter saßen schon.Ich setzte mich auf den freien Platz. In der Mitte des Tischesstand ein großer Kochtopf, Marcels Mutter nahm die Kelle undfüllte uns einen lecker duftenden Eintopf in die Teller. Es wardieser Duft, den ich schon so oft in der Nase gehabt hatte, wennich draußen mit Marcel gespielt hatte, und es schmeckte auchgenauso gut, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Beim gemeinsamen Spielen mit Marcel stellte sich schnell he-raus, dass er der Sportlichere von uns beiden war. Dafür brachteich immer das schönste Spielzeug und andere tolle Dinge mit.Einmal hatte Papa mir zum Beispiel Kirschen aus dem Westenmitgebracht, die ich so liebte. Ich wusste, dass sich Marcel auchdarüber freuen würde, füllte sie deshalb in eine braune Papiertüteund nahm sie mit. Ich rannte zum Spielplatz und wartete auf Mar-cel. Es waren viele andere Kinder aus der Nachbarschaft dort, dieich nicht kannte und die mich auch nicht beachteten. Ich setztemich auf eine Holzbank und wartete. Ich weiß nicht, wie viel Zeitvergangen war, aber irgendwann kam er, mit Micky an der Hand,und ich grinste ihn an.

»Was is’n da drin?«, fragte er neugierig, denn er wusste, dasses etwas Besonderes sein musste. Ich hielt ihm die Tüte hin, erklappte das Papier auf und vergrub sein Gesicht darin.

»Boah, Kirschen!«, rief er. »Krieg ich welche? Bittööööö!« SeineAugen wurden größer und größer. Das tat er immer, wenn eretwas von mir haben wollte. Dabei bekam er von mir ohnehinimmer alles, was er wollte. Ich dachte nämlich, er würde mich si-cher weiterhin mögen, wenn ich ihm nur genug schenkte. Wahr-scheinlich wäre das nicht nötig gewesen.

Die anderen Kinder auf dem Spielplatz hatten mitbekommen,welche Kostbarkeit sich in der Papiertüte befand, und kamenneugierig auf uns zu.

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»Hast du Kirschen? Dürfen wir auch welche?« Ich griff hinein,holte eine Handvoll heraus und verteilte sie in die ausgestrecktenHände. Sobald jemand seine Kirschen aufgegessen hatte, streckteer seine Hand noch mal hin. Ich kam gar nicht mehr hinterher,genoss aber die plötzliche Aufmerksamkeit und freute mich übermeine neuen Freunde. Doch dann befürchtete Marcel wohl, dieanderen würden ihm noch alles wegessen.

»Ich habe eine Idee!«, rief er und zupfte mich an der Schulter.»Wir machen einen Wettkampf. Wir rennen von dieser Holzbankbis zu der da drüben und zurück. Wer als Erster wieder hier ist,bekommt eine Kirsche.« Davon waren alle begeistert.

»Auf die Plätze, fertig, los!«, rief Marcel. Wir rannten los. AchtKinder im Wettkampf um jede einzelne Kirsche. Aber immergewann Marcel, kein Wunder, er war der Größte und Schnellste.Eine Kirsche nach der anderen verschlang er, bis irgendwann fastkeine mehr übrig war und wir alle aus der Puste waren von derLauferei. Unsere Beine waren ganz verstaubt und die Füße, die inSandalen steckten, waren dreckig. Aber ich war glücklich.

Meine Kindersorgen in diesen Jahren

Wenn Papa nach Hause kam, stürmte ich auf ihn zu und plap-perte auf ihn ein, noch bevor er überhaupt seine Sachen ablegenkonnte. Mit ihm sprach ich deutsch, so wie er es mir hier bei-gebracht hatte. Er selbst hatte diese Sprache Anfang der 1960er-Jahre als Student in Bonn gelernt, wo er später auch als ersterSekretär der somalischen Botschaft gearbeitet hatte.

Eines Nachmittags kam er nach Hause und brachte mir zweirosafarbene Verpackungen mit. Darin waren Barbies.

»Hier Njunja, such dir eine aus, und die andere gibst du derTochter von Hilde, ja?« Er lief an mir vorbei in sein Zimmer, woer sich immer erst einmal bequemere Sachen anzog, sobald er

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von der Arbeit nach Hause kam. Ich sah mir die Verpackungenan und mir gefiel besonders die eine Barbie. Sie hatte eine scho-kobraune Hautfarbe und pechschwarzes langes Haar, das nicht sokraus wie meines war, mit weichen, großzügigen Locken, die derPuppe bis zur Hüfte reichten. Ich besaß Dutzende von den Blon-den, aber eine so schöne Barbie hatte ich noch nie gesehen. Sietrug Hotpants in Pink und ein kurzes türkisfarbenes Glitzertopund Rollerblades. »Wow! Die behalte ich!«, dachte ich sofort. Dieblonde Barbie würde ich Sabrina schenken.

Ich legte die Puppen auf den kleinen Glastisch, der in der Ein-gangshalle unter einem Spiegel stand, und lief zum Schlafzimmermeiner Eltern, denn ich hatte Papa noch gar nicht richtig begrüßt.Ich ging gerade den Flur entlang, da kam er aus dem Zimmer aufmich zu. Er hatte sich nicht umgezogen und trug eine gepackteSporttasche, die an seiner linken Hand hing. Er schaute michnicht an und versuchte, schnell an mir vorbeizuhuschen. Das wareigenartig, irgendwas stimmte nicht. Hilde lief hinter ihm her.

»Hier, Sie haben noch ein Handtuch vergessen, das werden Siebrauchen.« Sie öffnete den Reißverschluss der Tasche und stopftedas Handtuch schnell hinein, während er weiterging. Plötzlichlief sie auf mich zu und versuchte mich wegzulocken.

»Komm her, Mädchen, lass den Vati jetzt mal. Er hat es eilig.«Ich war verwirrt und ging zu Mama ins Schlafzimmer, wo sie aufihrem Bett saß.

»Wo geht Papa hin?«, fragte ich.»Er muss ins Krankenhaus«, antwortete sie nur kurz. Ich rannte

zurück in die Eingangshalle: »Papa, ich komme mit!« Doch Hildehielt mich auf, als hätte er sie beauftragt mich abzulenken. Erwusste, dass ich ihn nicht so einfach gehen lassen würde, dachtewohl, wenn er das Haus heimlich verließe, würde es mir nichtauffallen. Hilde packte mich an beiden Armen, hockte sich aufihre Knie und sah mir direkt in die Augen: »Hör mal, Mädchen,der Vati geht jetzt für ein paar Tage ins Krankenhaus. Er muss

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Khadra Sufi

Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Paperback, Klappenbroschur, 288 Seiten, 13,5x22,5ISBN: 978-3-517-08946-1

Südwest

Erscheinungstermin: Januar 2013

Eine Geschichte, die erschüttert, und gleichzeitig Mut macht Khadra Sufi wird 1980 in Somalia geboren. Ihre ersten Lebensjahre verbringt sie im Jemen,in Sambia und Saudi-Arabien, bis die Familie 1983 in das damalige Ostberlin zieht. AlsDiplomatentochter hat Khadra in der ehemaligen DDR nicht nur weiterhin Zugang zur westlichenWelt, sondern genießt alle Freiheiten und Privilegien, die dieser Status mit sich bringt. ImAlter von acht Jahren reist Khadra mit ihren Eltern und Geschwistern in ihre Heimat Somaliazurück. Mit Ausbruch des Bürgerkriegs wird die Diplomatenfamilie jeglicher Privilegien beraubt.Von den Aufständischen quer durchs Land verfolgt, gelingt Khadras Familie 1990 die Fluchtüber Kenia nach Ägypten. Ein Jahr später landet sie in einem Asylantenheim bei Bonn. DerVerlust des Ansehens, der Absturz in die Armut und das Leben kurz vor der Abschiebungzermürben Khadras Eltern. Als diese einen Neuanfang in London planen, beschließt Khadra, inDeutschland zu bleiben. Sie ist 16 Jahre alt, mittellos und wohnt in einer umgebauten Garage.Ein Rückschlag jagt den anderen, doch Khadra gibt nicht auf. Sie kämpft dafür, wieder nachoben zu kommen – dorthin, wo sie einst war.