145
Klangzentren und Tonalität Über die Bedeutung der Zentralklänge in der Musik des 19. Jahrhunderts Dieter Kleinrath Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz Juni 2010 Masterarbeit der Studienrichtung Musiktheorie (V 066 702) am Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren Kunstuniversität Graz

Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

Klangzentren und Tonalität Über die Bedeutung der Zentralklänge in der

Musik des 19. Jahrhunderts

Dieter Kleinrath

Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz

Juni 2010

Masterarbeit der Studienrichtung Musiktheorie (V 066 702)

am Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren

Kunstuniversität Graz

Page 2: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

meinen Eltern

Page 3: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

ABSTRACT

„Tonalität“ ist ein vielschichtiger und mehrdeutiger Terminus, der in der Musik-

geschichte mehrere Veränderungen erfahren hat. Als wesentliche Bedingung der

europäischen Dur-Moll-Tonalität wird meist ein Zentralklang – die Tonika – ange-

geben, auf den sich die übrigen Harmonien beziehen. Die Tonika erfüllt dabei die

Funktion der formalen Gliederung und sorgt als harmonischer Ruhepunkt für das

Gefühl der Abgeschlossenheit eines Werkes. 1927 führt Hermann Erpf den Begriff

„Klangzentrum“ ein, um damit eine Kompositionstechnik atontaler Musik zu bezeich-

nen, in der ein Klang als zentraler Bezugspunkt eine vergleichbare Funktion erfüllt wie

die Tonika dur-moll-tonaler Musik. Die vorliegende Arbeit untersucht zunächst den

Begriff „Tonalität“ in seiner historischen Entwicklung und stellt anschließend Erpfs

Begriff des Klangzentrums der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Die vordergrün-

digen Fragestellungen sind dabei, ob sich dur-moll-tonale Musik tatsächlich aus Sicht

eines einzelnen Zentralklangs beschreiben lässt und in wie weit Erpfs „Technik des

Klangzentrums“ als Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien angesehen werden kann.

Abschließend werden die Klangzentren dur-moll-tonaler Musik unter anderem an den

Beispielen Richard Wagners (Tristan-Vorspiel, Parsifal-Vorspiel 3. Akt) und Arnold

Schönbergs (Verklärte Nacht op. 4, Kammersymphonie op. 9) diskutiert.

*

„Tonality“ is an ambiguous term that changed its meaning multiple times throughout

the course of music history. Most of the time the main characteristic for European

major-minor tonality is said to be the unifying sound of the tonic, that serves as the

point of reference for the other sounds. The function of the tonic is to produce formal

structure and closure by providing a resting point for the harmonic progressions. In

1927 Hermann Erpf defined the term „Klangzentrum“ (central sound) to analyze atonal

music that exposes a central sound which serves the same function as the tonic in major-

minor tonality. This article examines the historic development of the term „tonality” and

compares Erpf’s „Klangzentrum“ with the tonic of major-minor tonality. The questions

to be answered are, if it is actually possible to describe major-minor-tonality with a

single unifying sound and, if Erpf’s „Klangzentrum“ may be considered a continuation

of tonal principles in 20th century music. Finally I will discuss the central sounds of

major-minor tonality by examples of Richard Wagner (preludes to Tristan and Parsifal

3rd act) and Arnold Schoenberg (Verklärte Nacht op. 4, chamber symphony op. 9).

Page 4: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG 1

I. ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“ 6

1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrhundert 6

1.2 François-Joseph Fétis 8

1.3 Tonalität und Tonart im deutschsprachigen Raum 16

1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen 27

1.5 Riemann und Schenker 33

1.6 Die Auflösung der Tonalität und Arnold Schönberg 38

1.7 Der Tonalitätsbegriff im 20. Jahrhundert 44

1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf und Lissa 55

1.9 Schlussfolgerungen 68

II. ANALYTISCHE KONSEQUENZEN 75

2.1 Klangzentren der Dur-Moll-Tonalität 75

2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan und Isolde 89

2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt 100

2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk 116

SCHLUSSWORT 124

QUELLENVERZEICHNIS 128

ABBILDUNGSVERZEICHNIS 135

ANHANG 137

a) Weiterführende Literatur 137

b) Sonstiges 139

Page 5: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

ii

DANKSAGUNG

Mein besonderer Dank gilt Univ. Professor Dr. Christian Utz für seine wunderbare und

selbstlose Betreuung während des Studiums und während der Erstellung der vorlie-

genden Arbeit. Ohne seine fachliche Präzision und Kompetenz sowie seine ausgewo-

gene Kritik, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.

Weiters bedanke ich mich bei Univ. Professor Clemens Gadenstätter für sein künst-

lerisch-kreatives Feedback während der Studienzeit und die unkonventionelle Sicht-

weise auf musikalischer Probleme, die er mir beigebracht hat.

Schließlich gilt mein Dank auch dem gesamten Institut für Komposition, Musiktheorie,

Musikgeschichte und Dirigieren für die fortwährende Unterstützung und das angenehm

freundschaftliche Klima während des Studiums, das mir immer gerne in Erinnerung

bleiben wird.

Page 6: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

iii

„Die Wege der Harmonie sind verschlungen; führen kreuz und quer; nähern sich einem

Ausgangspunkt und entfernen sich von ihm immer wieder; führen irre, indem sie einem

anderen Punkt eine augenblickliche Bedeutung verleihen, die sie ihm bald darauf wieder

nehmen; erzeugen Höhepunkte, die sie zu übertreffen wissen; rufen Wellenberge

hervor, die verebben, ohne dass die Welle zum Stillstand kommt.“1

1 Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke und die Kunst, Logik und Technik seiner Darstellung

[1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 203.

Page 7: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

1

EINLEITUNG

Der Begriff Tonalität gehört seit seinem Aufkommen zu Beginn des 19. Jahrhunderts2

wohl zu den am häufigsten verwendeten und zugleich ambivalentesten Termini der

Musiktheorie. Carl Dahlhaus schreibt diesbezüglich: „Der Terminus Tonalität ist

vieldeutig, und [...] es [dürfte] vergeblich sein, eine Norm des Wortgebrauchs festsetzen

zu wollen.“3 Das Verständnis von Tonalität hat im Laufe der Musikgeschichte viele

Wandlungen erfahren. Unterschiedliche Autoren hoben dabei jeweils unterschiedliche

Aspekte tonaler Musik hervor und es entwickelte sich so eine Begriffsvielfalt, die in

ihrer ganzen Komplexität heute kaum überschaubar ist. Insbesondere sind dabei zwei

Definitionsbereiche zu unterscheiden:4

(1) die skalenbezogene Definition von Tonalität als die Beziehungen zwischen den

Tönen einer Skala;

(2) die akkordbezogene Definition von Tonalität als die Beziehungen der Harmo-

nien auf einen Zentralklang, die Tonika.

Diese beiden Definitionen stehen sich jedoch keineswegs diametral gegenüber, sondern

sie ergänzen und bedingen sich gegenseitig. So ist auch bei den meisten skalenbezo-

genen Definitionen durchaus die I. Stufe als ein Zentralton gegeben. Brian Hyer stellt

fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen

oder anderen Tradition zugewiesen oder als ein Hybrid beider Auffassungen angesehen

werden kann. Die beiden musiktheoretischen Hauptströmungen innerhalb dieser Tradi-

tionen sind laut Hyer die Stufentheorie von Gottfried Weber und Heinrich Schenker

(skalenbezogen) auf der einen Seite sowie Hugo Riemanns Funktionstheorie (akkord-

bezogen) auf der anderen Seite.5

François-Joseph Fétis verstand unter „tonalité“ 1844 noch primär die „Zusammenstel-

lung der notwendigen Beziehungen simultan oder sukzessiv angeordneter Tonleiter-

2 Nach heutiger Kenntnis findet sich der erste Beleg für den Begriff bei A. É. Choron in seiner 1810

erschienenen Sommaire de l’histoire de la musique. Vgl. Michael Beiche, Tonalität, in: Handwörter-buch der musikalischen Terminologie, Stuttgart: Steiner 1999, S. 2.

3 Carl Dahlhaus, Tonalität, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Kassel: Bärenreiter 1989, S. 623.

4 Vgl. ebda.; Brian Hyer Tonality, in: Grove Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com (1.6.2010).

5 Hyer, Tonality.

Page 8: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

2

töne“6 und fasst dabei die für eine Tonalität unabdingbaren Skalen und Tonsysteme7

„nicht als natürliche Gegebenheit auf, sondern begründet sie anthropologisch als auf

geschichtlichen und ethnischen Voraussetzungen beruhend.“8 Fétis unterscheidet dem

entsprechend noch zwischen unterschiedlichen „types de tonalités“, von denen die

„tonalité moderne“ – die harmonische Tonalität des 17. bis 19. Jahrhunderts9 – eine

Möglichkeit sei.10 Dabei hebt Fétis die Bedeutung der Dominante und ihrer Auflösung

in die I. Stufe als konstitutive Momente der „tonalité moderne“ besonders hervor und

trägt so entschieden zu der mehrdeutigen Verwendung des Begriffs bei. Fast alle weite-

ren Auseinandersetzungen mit dem Begriff beziehen sich später in der einen oder

anderen Weise auf Fétis’ Tonalitätsbegriff. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts

wird der Begriff vorwiegend auf die europäische Dur-Moll-Tonalität angewendet11 und

erfährt dabei unterschiedliche Erweiterungen. Die Skala als Grundbedingung von

Tonalität wird dabei auf die diatonischen Dur- und Moll-Skalen eingeschränkt und die I.

Stufe der Tonleiter gewinnt als zentraler Bezugston oder -akkord eine zunehmende

Bedeutung. Insbesondere im romanischen und angelsächsischen Sprachbereich wird der

Begriff zuweilen auch als Synonym für den Begriff Tonart verwendet.12

Eine weitreichende Uminterpretation erfährt der Begriff Tonalität seit den 1870er

Jahren durch Hugo Riemann, der darunter die „Bezogenheit [der Akkorde] auf einen

Hauptklang, die Tonika“ versteht.13 Nachdem für Riemann die Bedeutung der Akkorde

in deren Funktionen ausgedrückt wird, ist für ihn Tonalität der „Inbegriff der Akkord-

funktionen“.14 Zudem war Riemann im Gegensatz zu Fétis davon überzeugt, „daß die

‚types de tonalités‘ auf ein einziges ‚natürliches System‘ [...] reduzierbar seien.“15 Diese

Riemanns Tonalitätsbegriff anhaftende Naturbezogenheit führte in der Musikwissen-

schaft zu kontroversen Diskussionen und wurde laut Carl Dahlhaus „von Historikern

6 Beiche, Tonalität, S. 3f. 7 Vgl. ebda., S. 5 8 Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“. Die Ambivalenz der Tonalität in Werk und

Lehre Arnold Schönbergs, Mainz: Schott 2008, S. 72; Vgl. Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel: Bärenreiter 1988, S. 1 0.

9 Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10. 10 Vgl. Beiche, Tonalität, S. 5. 11 Vgl. ebda., S. 6. 12 Vgl. ebda., S. 7f. 13 Hugo Riemann, Tonalität, in: Hugo Riemann Musik-Lexikon. Sachteil [Leipzig: Bibliographisches

Institut, 1882], Mainz 1967, S. 923f. 14 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 9. 15 Ebda., S. 7.

Page 9: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

3

und Ethnologen, die den Systemzwang scheuten, als empirisch unbegründbares Dogma

verworfen.“16

Im 20. Jahrhundert setzten sich auch einige Komponisten in ihren Lehrwerken mit dem

Begriff Tonalität auseinander, wie beispielsweise Arnold Schönberg in seiner Harmo-

nielehre (1911) und Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz (1939). Schön-

berg verwendet den Begriff dabei in einer ambivalenten Weise, die leicht zu Missver-

ständnissen und Fehlinterpretationen führen kann. Während der Begriff Tonalität bis

dahin hauptsächlich unter systematischen und historischen Gesichtspunkten verstanden

wurde, wird er von Schönberg auch als eine „formale Möglichkeit“17 beschrieben, von

der ein Komponist Gebrauch machen kann oder auch nicht.18 Tonalität wird damit

gewissermaßen auf eine Kompositionstechnik, einen handwerklichen Kniff, reduziert.

Damit stellt sich Schönberg entschieden gegen naturalistische und evolutionistische

Theorien, die davon ausgehen, dass Tonalität das natürliche Ergebnis einer historischen

Entwicklung sei. Bei der Bewertung von Schönbergs Tonalitätsbegriff muss allerdings

berücksichtigt werden, dass Schönberg wenig daran lag, den Begriff aus Sicht der

Musiktheorie zu differenzieren. Vielmehr nutzte er ihn vorrangig, um seine eigene

Musik zu legitimieren und seinen Schülern einen künstlerisch freien Zugang zur

Kompositionstechnik zu ermöglichen. Dabei verwendet Schönberg in seinen Analysen

dur-moll-tonaler Musik gerne Begriffe wie „schwebende Tonalität“, „erweiterte Tonali-

tät“ oder „aufgelöste Tonalität“ und trug damit entschieden zu der Vorstellung bei, die

Tonalität hätte sich mit der Musik der Wiener Schule „aufgelöst“. Damit hat Schönberg

(bewusst oder unbewusst) auch eine Polarisierung der Musik nach 1910 heraufbeschwo-

ren. Komponisten, die nach wie vor dur-moll-tonale Musik schrieben, wurden in weite-

rer Folge oft als konventionell und regressiv abgestempelt.

Nachfolgende Musiktheoretiker hatten es unter diesen Voraussetzungen schwer den

Tonalitätsbegriff neutral und werturteilsfrei weiterzudenken. Dies mag einer der Gründe

dafür gewesen sein, weshalb Hermann Erpf 1927 den Begriff „Klangzentrum“ ein-

führte, um damit einen „funktionslosen Satztypus“ zu beschreiben:

16 Ebda. S. 17. 17 Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien: Universal Edition 2001, S. 27. 18 Vgl. ebda.

Page 10: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

4

Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen [...] Klang, der im

Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser

Klang [...] in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines klanglichen Zentrums [...].

Die Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der

Tonika vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt

[...].19

Des inhärenten Widerspruchs, die Eigenschaften eines „funktionslosen Satztypus“ mit

den Begriffen der dur-moll-tonalen Funktionstheorie zu beschreiben, war sich Erpf

wahrscheinlich bewusst. Er entschloss sich aber, offenbar in Ermangelung einer besse-

ren Alternative, diesen Kompromiss einzugehen. Interessanterweise geht Erpfs Defini-

tion der „Technik des Klangzentrums“ jedoch durchaus konform mit Riemanns Defini-

tion von Tonalität als die Beziehung von Funktionen auf eine Tonika. So gesehen

handelt es sich dabei um eine Form der Tonalität, deren Zentralklang anstelle eines Dur-

beziehungsweise Moll-Dreiklangs auch andere Formen annehmen kann.

*

Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass eine ausschließlich monozentrische

Sichtweise dur-moll-tonaler Musik, welche Tonalität auf einen einzigen Zentralklang –

die Tonika – reduziert, aus heutiger Sicht nicht mehr haltbar ist. An der Entwicklung

der Harmonik im 19. Jahrhundert lässt sich verfolgen, dass weitere Zentralklänge immer

mehr an Bedeutung gewannen und oft gleichberechtigt nebeneinander eingesetzt

wurden. In hochromantischer Musik wird dabei insbesondere die Dominante, meist in

Form von verminderten Septakkorden oder übermäßigen Dreiklängen, häufig als

eigenständiger Zentralklang behandelt und dient auch in größeren Abschnitten als

zentraler Bezugspunkt der restlichen Harmonien. Auch die der Tonalität zugrunde

liegenden Skalen haben sich in diesem Prozess gewandelt. So nehmen beispielsweise

die oktatonische Skala oder die Ganztonskala in vielen Werken des ausgehenden 19.

Jahrhunderts eine zentrale Rolle ein. Manchmal scheint es sogar der Fall zu sein, dass

nicht ein oder mehrere Akkorde oder Töne die Zentralklänge eines Werkes darstellen,

sondern die Skala selbst die Rolle des Klangzentrums übernimmt und damit den

Gesamtklang entschieden beeinflusst. Erpfs „Technik des Klangzentrums“, die in

19 Hermann Erpf: Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig: Breitkopf &

Härtel 1927, S. 122.

Page 11: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

5

mehreren Werken des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann, stellt also in vieler

Hinsicht ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien dar. Es wäre falsch generell zu

behaupten, dass sich die Dur-Moll-Tonalität mit der Wiener Schule „aufgelöst“ hätte.

Vielmehr ist es notwendig zu untersuchen, welche Prinzipien in post-tonaler Musik

tatsächlich nicht mehr vorhanden sind und welche lediglich, den neuen musikalischen

Gegebenheiten entsprechend, angepasst wurden.

Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit wird sich mit der Geschichte des Begriffs

Tonalität im Allgemeinen und der Dur-Moll-Tonalität im Speziellen auseinander setzen.

Dabei werde ich versuchen die unterschiedlichen Fragestellungen, die diesen Begriff

heute begleiten, einander gegenüberzustellen; insbesondere werde ich dabei zwischen

historischen, systematischen, kompositionstechnischen und hörpsychologischen An-

sätzen unterscheiden. Schließlich werde ich mich in diesem Kapitel auch genauer der

Technik des Klangzentrums widmen, wie sie von Hermann Erpf und Zofja Lissa in der

ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde. Darauf aufbauend werde ich

untersuchen, ob zwischen einem Klangzentrum im Sinne Erpfs und einer Tonika im

Sinne der Dur-Moll-Tonalität ein prinzipieller Unterschied besteht bzw. inwiefern die

„Technik des Klangzentrums“ mit dem Begriff Tonalität vereinbar ist.

Das zweite Kapitel wird schließlich die analytischen Konsequenzen aus den vorange-

gangenen Überlegungen ziehen. Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf dur-moll-

tonalen Werken, die in ihrer Harmonik mehrere Klangzentren entwerfen und in denen

ursprünglich dissonante Klänge, wie der verminderte Septakkord, als zentrale Ruhe-

punkte Verwendung finden. Dabei wird eine auf Klangzentren basierende Analyse

traditionellen Methoden der harmonischen Analyse gegenübergestellt und die Vor- und

Nachteile beider Methoden werden gegeneinander abgewogen.

Page 12: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

6

KAPITEL I

ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“

1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrhundert

Der Begriff Tonalität geht auf den von französischen Musiktheoretikern seit Beginn des

19. Jahrhunderts verwendeten Ausdruck „tonalité“ zurück. Der erste Beleg dafür findet

sich nach heutiger Kenntnis bei Alexandre-Étienne Choron in seinem Sommaire de

l’histoire de la musique20 (1810). Unter tonalité versteht Choron „die Tonleitersysteme,

von denen es entsprechend den verschiedenen Völkern und ihrer Musik eine sehr große

Anzahl gebe und deren Töne immer einen konstanten Bezug zu einem Grundton

hätten.“21 Choron unterscheidet zwischen der „griechischen Tonalität“, aus der die

Kirchentonarten hervorgegangen seien und der „modernen Tonalität“, die sich in

weiterer Folge aus den Kirchentonarten entwickelt hätte. Das bestimmende Merkmal für

die „moderne Tonalität“ war für Choron der Dominantseptakkord („harmonie tonale“),

dessen Ursprung er auf Claudio Monteverdi gegen Ende des 16. Jahrhunderts zurück-

führte.22

In dieser ersten überlieferten Beschreibung von Tonalität sind bereits fast alle Merkmale

enthalten, die sich wie ein roter Faden durch dessen Begriffsgeschichte ziehen.

Zunächst erkennt man einen engen Zusammenhang zwischen den Termini Tonalität und

Tonleiter bzw. Tonart. Zudem werden die Töne der verwendeten Tonleiter auf einen

Grundton bezogen, bei dem sich Choron wohl auf Jean-Philippe Rameaus „centre

harmonique“ bezieht, dessen Theorien auf französische Musiktheoretiker um 1800

einen großen Einfluss hatten. Auch ist für Choron bereits ein Akkord – die „harmonie

tonale“ – ein kennzeichnendes Element der „modernen Tonalität“, allerdings ist auf-

fällig, dass Choron nicht die Tonika als den wesentlichen Klang angibt, sondern die

Dominante. Alle nachfolgenden Definitionen des Begriffs Tonalität werden sich in der

einen oder anderen Weise mit diesen grundlegenden Aspekten des Tonalitätsbegriffs 20 Alexandre-Étienne Choron, Sommaire de l’histoire de la musique, in: Alexandre-Étienne Choron /

Francois Joseph Fayolle, Dictionnaire historique des musiciens Bd. 1, Paris 1810, S. XI-XCII. 21 Beiche, Tonalität, S. 2. 22 Vgl. ebda.

Page 13: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

7

auseinander setzen. Eine weitere Besonderheit, die Chorons Begriffsdefinition aus-

zeichnet, ist, dass er bereits zwei weitere wichtige Aspekte erkennen lässt, die Unter-

suchungen zur Tonalität in weiterer Folge immer wieder begleiten. Einerseits impliziert

er einen ethnologischen Ansatz, indem er die Tonleitersysteme verschiedener Völker in

seine Definition mit einfließen lässt, andererseits verfolgt er einen historischen An-

satz23, indem er versucht die Entstehung der „modernen Tonalität“ als eine Entwicklung

von der „griechischen Tonalität“ über die Kirchentonarten zu Monteverdis „Dominant-

septakkord“ zu verstehen.

Der erste Lexikonartikel Tonalité erscheint 1821 im Dictionnaire de musique moderne

von Castil-Blaze. Dort wird der Geltungsbereich des Begriffs auf das Dur-Moll-System

eingeschränkt und Tonalität als „Eigenart der musikalischen Tonart, die im Gebrauch

ihrer wesentlichen Töne“24 besteht, beschrieben. Als „wesentliche Töne“ werden dabei

die I., IV. und V. Stufe genannt. Auch Philippe de Geslin begrenzt 1826 tonalité auf das

Dur-Moll-System. „Für ihn bedeutet tonalité das Bestreben, immer ‚den Gesang‘

vorzugsweise auf ‚ein und demselben Ton eines Tonsystems‘ zu beenden, und zwar auf

der Tonika einer Tonart.“25 Weitere Aspekte werden 1830 von Daniel Jelensperger

formuliert.26 Er versteht unter Tonalität den „‚Eindruck der Tonart‘; bei einer vollstän-

digen Modulation werde eben die Tonalität der vorangehenden Tonart gänzlich ausge-

löscht, weil man in die neue Tonart kadenziere.“27 Jelenspergers Ansatz die beiden

Begriffe Modulation und Kadenz in einen direkten Zusammenhang mit der Dur-Moll-

Tonalität zu bringen, ist dabei besonders auffällig und wurde später von mehreren

Musiktheoretikern aufgegriffen. Als neues Motiv innerhalb der Begriffsgeschichte lässt

sich durch Jelenspergers Beschreibung von Tonalität als „Eindruck der Tonart“ bereits

erstmals ein hörpsychologischer Aspekt ausmachen. Darauf deutet auch seine Über-

tragung des Begriffs auf konsonante und dissonante Akkorde hin: „In diesem Zu-

sammenhang sei mit Tonalität der Eindruck gemeint, den ein Akkord hervorrufe und

der es ermögliche, ihn auf diese oder jene Tonleiter zu beziehen.“28

23 Volker Helbing meint sogar, dass „Choron ihn [den Begriff Tonalität] ausschließlich [verwendet], um

(historische) Differenzen innerhalb der europäischen Musik zu benennen.“ Volker Helbing, Tonalität in der französischen Musiktheorie zwischen Rameau und Fétis, in: Musiktheorie (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber: Laaber 2005, S. 171-202, hier S. 171.

24 François H. J. Castil-Blaze, Dictionnaire de musique moderne, zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 3. 25 Beiche, Tonalität, S. 3. 26 Vgl. ebda. 27 Ebda. 28 Ebda.

Page 14: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

8

1.2 François-Joseph Fétis

François-Joseph Fétis gilt in der musikwissenschaftlichen Literatur als der Musik-

theoretiker, der den Begriff Tonalität wesentlich geprägt hat. In seiner 1844 erschie-

nenen Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie29 behandelt er

Tonalität sowohl aus systematischer Sicht als auch in seiner historischen Entwicklung.

Dabei unterscheidet er zwischen der „tonalité moderne“, die der europäischen Dur-

Moll-Tonalität entspricht sowie der „tonalité ancienne“, die von den Kirchentonarten

der Renaissancemusik ausgebildet wurde. Fétis argumentiert wie Choron, dass die

Auflösung des Dominantseptakkords in die I. Stufe das wesentliche Element der

„tonalité moderne“ sei. Aus historischer Sicht unterscheidet er daneben zwischen den

Epochen („ordre“) „unitonique“, „transitonique“, „pluritonique“ und „omnitonique“.

Dabei bezeichnet „ordre unitonique“ die Renaissancemusik der „tonalité ancienne“,

„transitonique“ die Übergangszeit von der „tonalité ancienne“ zur „tonalité moderne“

und „pluritonique“ bezeichnet die Musik seiner Zeit, in der die „tonalité moderne“

bereits voll ausgebildet ist. Unter der Epoche „ordre omnitonique“ versteht Fétis

schließlich die Musik der Zukunft, die laut seinen Angaben in den Werken mancher

Zeitgenossen bereits begonnen hat.

Fétis war von besonderer Bedeutung für die weitere Verbreitung des Begriffs Tonalität,

einerseits durch seine Lehrtätigkeit als Kompositionsprofessor am Pariser Konserva-

torium, andererseits durch seine zahlreichen Schriften, die unter nachfolgenden Musik-

theoretikern weite Verbreitung und Akzeptanz fanden. Insbesondere sorgte auch die von

Fétis herausgegebene Zeitschrift Revue musicale für diese Verbreitung, die in deutsch-

sprachigen Publikationen der Zeit häufig zitiert wurde.30 Eine weitere Leistung Fétis’

war es, das musiktheoretische Wissen seiner Zeit zu sammeln und vorhandene Theorien

zusammenzuführen und zu erweitern.31 Er baute auf den Theorien von Jean-Philippe

29 François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris: Schlesinger

1844. 30 Vgl. diesbezüglich die Fußnoten 59 und 61. 31 Fétis’ eigenständiger Beitrag zu der Begriffsdefinition ist allerdings nicht unumstritten. So weist

Bryan Simms darauf hin, dass Fétis einen Großteil seiner Erkenntnisse und Thesen wohl fälschlicher-weise unter eigenem Namen veröffentlicht hat (vgl. Bryan Simms, Choron, Fetis, and the Theory of Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 19,1), 1975, S. 112-138, hier S. 115). Allerdings sollte man dies auch nicht überbewerten, da zu Fétis Zeit nicht im selben Maße zwischen Quelle und Plagiat unterschieden wurde, wie dies heute üblich ist. Fétis hat vermutlich durchaus noch innerhalb der ethi-

Page 15: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

9

Rameau, Georg Andreas Sorge, Johann Philipp Kirnberger, Charles Simon Catel,

Alexandre-Étienne Choron und anderen Musiktheoretikern auf32, und prägte so in

seinem Traité einen Tonalitätsbegriff, der vielen weiteren Musiktheoretikern als Grund-

lage diente.

Tonalität bildet sich laut Fétis „aus der Kollektion der notwendigen, sukzessiven oder

simultanen Beziehungen der Tonleiter“33, also aus Beziehungen zwischen den Harmo-

nien und Melodien eines Musikstücks in Bezug auf eine zugrunde liegende Skala. Der

Ursprung dieser Beziehungen ist dabei für Fétis weder ein akustisches oder mathema-

tisches Phänomen, noch liegt es in der Physiologie des menschlichen Gehörs begründet;

statt dessen meinte Fétis, dass die Gesetze tonaler Beziehungen „metaphysischer“ Natur

und damit unergründlich seien. Unterschiedliche Kulturen stellen laut Fétis aufgrund

ihrer Gefühle, Gedanken und auch aufgrund des Intellekts34 verschiedene Beziehungen

her und entwickeln dem entsprechend unterschiedliche Typen von Tonalität („types de

tonalités“).35

Der Mensch erhalte diese Ordnung [der Tonalität] und die sich daraus ergebenden melodischen

und harmonischen Phänomene als Konsequenz seiner Bildung und Erziehung, und diese Tat-

sache bestehe durch sich selbst und unabhängig von jedem fremden Einfluss.36

Carl Dahlhaus, der sich in seinen Untersuchungen über die Entstehung der harmoni-

schen Tonalität ausgiebig dem Tonalitätsbegriff widmete, interpretierte den Begriff

„Metaphysik“ bei Fétis als analog zum heutigen Bereich der „Anthropologie“37 und es

ist wahrscheinlich, dass sich Fétis mit der Verwendung des Begriffs hauptsächlich von

anderen gängigen Erklärungsversuchen seiner Zeit abgrenzen wollte (wie beispielsweise

die auf Rameau zurückgehende Naturklangtheorie). Die Feststellung, dass Fétis jegliche

physikalischen und physiologischen Ursachen ausschließt muss man, um Missverständ-

schen und moralischen Grundsätze seiner Zeit gehandelt, wenn er auf anderen Theorien aufbaute ohne explizit darauf hinzuweisen.

32 Vgl. ebda. S. 133-134. 33 Fétis: Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 5. 34 Hyer, Tonality: „Fétis asserted that ‚primitive’ (non-Western) societies were limited to simpler scales

because of their simpler brain structures, while the more complex psychological organizations of Indo-Europeans permitted them to realize, over historical time, the full musical potential of tonalité; his theories were similar in their biological determinism to the racial theories of Gobineau.“

35 Vgl. zu diesem Abschnitt auch: Beiche, Tonalität, S. 4-5; Simms, Choron, Fetis, S. 124f; Dahlhaus, Untersuchungen, S. 11-14; Dahlhaus, Tonalität, S. 623f; Hyer, Tonality.

36 Fétis, zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 5. 37 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.

Page 16: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

10

nissen vorzubeugen, noch etwas genauer differenzieren. Laut Dahlhaus geht es Fétis

dabei nicht darum, die Herleitung der Konsonanzgrade aus der Natur zu leugnen.

Dahlhaus argumentiert, gegen ein rein auf physikalischen Ursachen basierendes System,

„würde Fétis einwenden: Daß die Quint und die große Terz ‚direkt verständliche‘

Intervalle sind, sei zwar von der Natur gegeben; die Entscheidung aber sie einem

System zugrundezulegen, sei ‚metaphysisch‘.“38 Damit hätte Fétis bereits recht genau

die heute öfters vertretene Meinung widergespiegelt, dass unsere Hörphysiologie

gemeinsam mit unserem Gedächtnis und unserer Erfahrung in einem stätigen Wechsel-

spiel mit dem ästhetischen und künstlerischen Entscheidungsprozess steht.

Brian Hyer widerspricht in seinem Artikel Tonality im Grove Music Online der von

Dahlhaus vorgelegten Interpretation des Begriffs „Metaphysik“ und der damit ver-

bundenen Implikationen:

He [Fétis] believed that tonality was a metaphysical principle, a fact not of the inner structure or

formal properties of music but of human consciousness, which imposes a certain cognitive or-

ganization – a certain set of dynamic tendencies – on the musical material. As a metaphysical

principle, then, tonality does not itself evolve, but rather remains invariant and universal, true for

all people and for all time. He thus regarded what he felt to be the undeniable historical progress

of Western music as a series of discrete advances toward completion, the ever more perfect re-

alization of a musical absolute.39

Gegen Hyers Meinung, Fétis sähe Tonalität als ein unveränderbares Prinzip „für alle

Menschen und zu jeder Zeit“ an, spricht allerdings Fétis Vorstellung, dass unterschied-

liche Kulturen unterschiedliche Tonalitäten ausbilden und seine Unterscheidung zwi-

schen „tonalité ancienne“ und „tonalité moderne“ in der europäischen Musikgeschichte.

Also ließe sich diese Aussage, wenn überhaupt, nur auf den speziellen Fall der europäi-

schen Dur-Moll-Tonalität („tonalité moderne“) anwenden. In diesem Zusammenhang

war Fétis scheinbar davon überzeugt, dass die „tonalité moderne“ vor einer ernsten

Bewährungsprobe stand, keineswegs aber, dass dies das Aufkommen einer neuen

Tonalität ausschließen würde:

38 Ebda., S. 15. 39 Hyer, Tonality.

Page 17: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

11

Fétis sees the omnitonic order as the ultimate stage in deriving more and more expression from

major/minor tonality. [...]

He sees the era as a degradation of music, allowing too great a resource for unbridled emotion

and passion, and one that could itself be superseded only by a new tonality.40

Auch die Bedeutung der Harmonik für Fétis’ Tonalitätsbegriff wird in der Literatur

unterschiedlich bewertet. So schreibt Brian Hyer:

While both Choron and Fétis drew on the same basic theoretical resources, there are subtle but

crucial differences between their accounts of tonalité. In contrast to Choron, who emphasizes re-

lations between harmonies, Fétis places more stress on the order and position of pitches within a

scale. This difference in emphasis corresponds to the two main historical traditions of theoretical

conceptualization about tonal music: the function theories of Rameau and Riemann on the one

hand and the scale-degree theories of Gottfried Weber and Schenker on the other.41

Der Behauptung, dass Fétis im Gegensatz zu Choron der skalaren Ordnung der Ton-

höhen mehr Bedeutung beigemessen hätte als der Harmonik, widerspricht dagegen

folgende Aussage von Bryan Simms:

Shirlaw credits Fetis with the statement that scales created harmony. Fetis, in fact, says just the

opposite. The fundamental relationship which generated modern tonality, he says, is the har-

monic nature of the tritone. This and other appellative intervals dictated the intervallic structure

of the major scale in the sense that the interval from degree seven to the tonic would be a semi-

tone (the „natural“ resolution of the upper term of an augmented fourth), the interval from degree

four to seven would be an augmented fourth, and so on, until our modern tonality (the major

scale) was established in an invariant intervallic order regardless of the pitch level of the tonic.

This is what Fetis means when he says that modern tonality possesses an inherent harmonic prin-

ciple, since it was the harmonic nature of the augmented fourth and its proper resolution which

shaped the scale in the first place.42

Folgende Aussage von Michael Beiche legt nahe, dass Fétis eine sehr ähnliche Auf-

fassung über die Bedeutung des Dominantseptakkords hatte wie Choron (s.o.):

Die notwendige Auflösung der „harmonie dissonante“ (des Dominantseptakkords als Streben,

Anziehung und Bewegung) in die „harmonie consonnante“ (den Dreiklang mit dem Charakter

40 Simms, Choron, Fetis, S. 132. 41 Hyer, Tonality. 42 Simms, Choron, Fetis, S. 124f.

Page 18: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

12

von Ruhe und Schlußbildung) sowie die Stellung ihrer Töne innerhalb der Tonleiter lege die

Gesetze der Aufeinanderfolge aller Tonleitertöne fest, wodurch wiederum die unter dem Namen

Tonalität gefaßten notwendigen Beziehungen der Töne festgelegt würden.43

Für die Vermutung Fétis habe mit seinen harmonischen Überlegungen an Choron

angeknüpft spricht auch, dass sich Fétis bei der Entstehung der „tonalité moderne“ – der

Dur-Moll-Tonalität – ebenso wie Choron auf Monteverdis „Entdeckung“ der Dominant-

septakkordauflösung beruft.44 Fétis sieht im Zusammenhang mit Akkorden nur Sekun-

den und Septimen als Dissonanzen an, die übermäßige Quart beziehungsweise die tief

alterierte Quint seinen dagegen konsonant:45

It is remarkable that these intervals [augmented fourth and diminished fifth] characterize modern

tonality by the energetic tendencies of their two constituent notes, the leading tone summoning

after it the tonic and the fourth degree followed in general by the third. Now this phenomenon,

eminently tonal, cannot involve a state of dissonance. In fact, the augmented fourth and dimin-

ished fifth are used as consonances in several harmonic progressions. The augmented fourth and

diminished fifth are hence consonances, but consonances of a special kind that I call by the name

„appellative consonances“.46

Diese Überlegungen hat Fétis vermutlich von Choron und Catel übernommen.47 Der

„Entdecker“ der Dominantauflösung war für Fétis Monteverdi, der zum ersten Mal

unvorbereitete Septimen in die Musik einführte und den Dominantseptakkord häufig in

die Tonika auflöste (vgl. Abbildung 1). Fétis ging davon aus, dass Dominantsept-

akkorde zuvor nur in Sextakkorde aufgelöst wurden: V7 → V6 (vgl. Abbildung 2).48

43 Beiche, Tonalität, S. 5. 44 Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 126f . 45 Vgl. ebda., S. 120-122. 46 Fétis, Traité complet de la théorie, S. 8-9, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122. 47 Simms, Choron, Fetis, S. 122. 48 Ebda., S. 127.

Page 19: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

13

Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika.49

Abbildung 2: Auflösung V7 → V6.50

Die unterschiedlichen Bewertungen von Fétis Tonalitätsauffassung sind ein Beleg

dafür, dass sich der Begriff schon in den ersten Jahren seines Aufkommens keineswegs

auf eine einzige Bedeutung einschränken lässt. Bei Fétis waren sowohl der skalenbezo-

gene als auch der akkordbezogene Tonalitätsbegriff bereits implizit angelegt und es

wäre willkürlich ihn auf die eine oder andere Bedeutung reduzieren zu wollen.

Die Entwicklung der Tonalität innerhalb der europäischen Musikgeschichte unterteilt

Fétis wie gesagt in die vier historischen Epochen „unitonique“, „transitonique“,

„pluritonique“ und „omnitonique“, wobei er die Vorstellung der ersten beiden offen-

sichtlich von Choron übernahm. Die „ancienne tonalité unitonique“ bezeichnet dabei

die Musik der Renaissance bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Der Begriff

„unitonique“ bezieht sich darauf, dass es laut Fétis in der „tonalité ancienne“, der die

Modi der Kirchentonarten zugrunde lagen, nicht möglich war in dem Sinn zu modu-

lieren, wie es sich in der Dur-Moll-Harmonik etabliert hatte. Dies änderte sich erst mit

der oben beschriebenen Auflösung des Dominantseptakkordes in die Tonika bei Monte-

verdi. Choron schrieb über diese Entwicklung:51

The most important step [in this transition] had not yet been made [during the era of Palestrina].

A master of the Lombardian school (Cl. Monteverdi), who flourished around 1590, created the

harmony of the dominant; he was the first who dared to use the dominant seventh and even ninth

overtly and without preparation; the first who dared to use as consonant the diminished fifth,

considered until then as dissonant. And tonal harmony was known.52

Fétis sah die Zeit der „ordre transitonique“ als eine Übergangszeit zwischen der

„tonalité ancienne“ und der „tonalité moderne“ an, also als eine Entwicklung von den

49 Ebda., S. 131. 50 Ebda. 51 Vgl. ebda., S. 126-130; Beiche, Tonalität, S. 5. 52 Choron, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.

Page 20: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

14

Kirchentonarten zur Dur- und Molltonart.53 Der weitere Übergang zum „ordre

pluritonique“ beinhaltete keine Änderung der Tonalität, sondern einen freieren Umgang

mit Modulationen. Laut Fétis begann man einzelne Noten enharmonisch zu verwech-

seln, um so Beziehungen zu neuen Tonarten herstellen zu können. In diesem Zu-

sammenhang verweist Fétis insbesonders auf die zunehmende Bedeutung des vermin-

derten Septakkords für die Modulation, wodurch es etwa möglich wurde, die zuvor

nicht aufeinander beziehbaren Tonarten a-Moll und fis-Moll zu verbinden (vgl.

Abbildung 3).54

Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. 55

Der in die Zukunft weisende „ordre omnitonique“ zeichnet sich schließlich dadurch aus,

dass mehrere Töne eines Modulationsakkords gleichzeitig enharmonisch verwechselt

werden und es so möglich ist, von einem Akkord aus potenziell in jede beliebige Tonart

zu modulieren. Erste Anzeichen dieser Entwicklung finden sich laut Fétis bereits bei

den Komponisten Beethoven, Rossini, Meyerbeer und Cherubini.56 In einem 1844

publizierten Artikel schrieb Fétis über die frühen Kompositionen des 21-jährigen Franz

Liszt, dass dessen neue Harmonik seinem 1832 postulierten “ordre omnitonique“

entspräche.57

Zusammenfassend lässt sich über Fétis Tonalitätsauffassung sagen, dass er die – den

Begriff Tonalität betreffend – wichtigsten Ideen, Motive und Überlegungen seiner Zeit

reflektiert und weitergedacht hat. Wie Choron verfolgt er einen historischen Ansatz, den

53 Gewissermaßen war die „tonalité moderne“ bei Fétis ein Überbegriff für die Epochen „transitonique“,

„pluritonique“ und „omnitonique“. Alle diese Epochen verwenden die „tonalité moderne“, allerdings ist die „odre transitonique“ noch in einem Übergangsstadium begriffen.

54 Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 130-132. 55 Ebda., S. 131. 56 Vgl. ebda., S. 132. 57 Vgl. Klára Móricz, The Ambivalent Connection between Theory and Practice in the Relationship of F.

Liszt & F.-J. Fétis, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Bd. 35,4), 1993-1994, S. 399-420, hier S. 414.

Page 21: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

15

er versucht auf die Musik seiner Zeit auszuweiten. Auch eine kognitive Dimension wird

von Fétis impliziert, allerdings ist für ihn die Wahrnehmung nicht der Grund für das

Entstehen von Tonalität, sondern ein Element, das mit dem bewussten Entscheidungs-

prozess des Komponisten in stetiger Wechselwirkung steht. In der Auffassung, dass

Monteverdi in einer selbstständigen Handlung – das heißt nicht zwingend als Resultat

einer „natürlichen“ Entwicklung – die Auflösung der Dominante in die Tonika „ge-

funden“ hätte, wird ein weiteres Motiv deutlich, das besonders in der Musiktheorie des

20. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt: die Vorstellung, dass Tonalität bewusst durch

den Komponisten „gesetzt“ und verändert werden kann und somit in gewissem Sinne

auch eine Kompositionstechnik darstellt. Dem entsprechend werden nach dieser Auf-

fassung die, eine bestimmte Tonalität auszeichnenden, Beziehungen zwischen den

Tönen und Harmonien einer Tonleiter nicht von physikalischen oder physiologischen

Phänomenen gelenkt, sondern variieren abhängig von den kulturellen und soziologi-

schen Gegebenheiten der Zeit. Insofern verwendet Fétis den Begriff Tonalität auch, um

zwischen der harmonischen Syntax unterschiedlicher Epochen und unterschiedlicher

Kulturen unterscheiden zu können. Die charakteristischen Merkmale der Dur-Moll-

Tonalität, die aus der soziokulturellen Entwicklung der europäischen Kunstmusik

hervorging, sind die Auflösung der Dominante in die Tonika und die Möglichkeit der

enharmonischen Modulation. Diese Merkmale wurden von Fétis nur im besonderen

Zusammenhang mit der europäischen Kunstmusik definiert und können sich von

Tonalität zu Tonalität unterscheiden. Indem Fétis eine arithmetische Erklärung explizit

als Beschreibung für Tonalität ausschloss58, wird ein weiteres für den Tonalitätsbegriff

des 20. Jahrhundert bedeutendes Motiv offen gelegt. So wurden auch in der zweiten

Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder Versuche unternommen dur-moll-tonale

Musik mit der Hilfe mathematischer Modelle zu erklären (vgl. S. 46).

58 Angeblich hat Fétis sechs Jahre seiner Zeit damit verbracht selbst nach einer mathematischen Begrün-

dung für die Dur-Moll-Tonalität zu suchen, bevor er diese Möglichkeit schließlich verworfen hat. Vgl. dazu: Rosalie Schellhous, Fetis’s „Tonality“ as a Metaphysical Principle: Hypothesis for a New Sci-ence, in: Music Theory Spectrum (Bd. 13,2), 1991, S. 219-240, hier S. 222.

Page 22: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

16

1.3 Tonalität und Tonart im deutschsprachigen Raum

Die Verbreitung des Begriffs Tonalität im deutschsprachigen Raum begann um 1830.59

1834 erschien in der Neuen Zeitschrift für Musik eine Rezension der Revue musicale mit

beigefügter Übersetzung von Fétis’ Aufsatz Vergleich des jetzigen Zustands der Musik

mit dem vergangener Epochen.60 In einer Fußnote des Artikels heißt es: „Für tonalité

dürfte ein bezeichnender Ausdruck im Deutschen schwer zu finden sein. Der Zu-

sammenhang wird dem Leser den Begriff leicht geben können.“61 Wie der Titel des

Aufsatzes bereits vermuten lässt, behandelt Fétis darin nicht die systematischen Aspekte

des Begriffs, sondern die historische Entwicklung der „tonalité moderne“:

Die Tonalität, Basis aller Musik, hat seit drei Jahrhunderten mehrere Veränderungen erlitten; [...]

Nachdem die Tonalität von der eintönigen Form zur mehrtönigen überging, ist sie nach und nach

zur alltönigen gekommen, wo sich jedwede gegebene Note, mittelst der Enharmonie, auflösen

läßt.62

Aus der Sicht deutscher Musiktheoretiker waren die systematischen Aspekte, die den

Begriff bei Fétis begleiteten – also die harmonische bzw. tonale Syntax (die Bezie-

hungen zwischen Harmonien oder Tönen einer Tonleiter) und die Möglichkeit der

enharmonischen Verwechslung – keinesfalls neue Erkenntnisse. Diese musikalischen

Eigenschaften wurden in der deutschsprachigen Literatur der Zeit meist unter dem

Begriff Tonart zusammengefasst. Georg Joseph Vogler schreibt beispielsweise 1802:

„Tonart ist das, was die Tonleitung bestimmt, weil diese immer auf den Karakter der

Tonart einen unverkennbaren Bezug haben muß.“63 Unter Tonleitung versteht Vogler

59 Der erste Beleg in der deutschen Literatur scheint eine beiläufige Verwendung des Begriffs in einem

Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 1830 zu sein. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine kritische Reaktion auf Fétis’ Äußerungen bezüglich Mozarts bekanntem Streichquartett in C-Dur KV 465 („Dissonanzenquartett“). Vgl. A. C. Leduc, Ueber den Ausatz des Herrn Fétis (in dessen Revue musicale Tome V. Nr. 26. 1829), eine Stelle Mozart’s betreffend, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Bd. 32,8), Februar 1830, S. 117-132, hier S. 124. Eine weitere Verwendung lässt sich 1833 in der Übersetzung D. Jelenspergers L’harmonie au commencement du 19me siecle nachweisen (vgl. Beiche, Tonalität, S. 6).

60 Vgl. Beiche, Tonalität, S. 6. 61 Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, in: Neue Leipziger Zeitschrift für Musik (Bd. 1,58)

Oktober 1834, S. 230-232, hier S. 232. 62 Ebda. 63 Georg Joseph Vogler, Handbuch zur Harmonielehre und für den Generalbaß, nach den Grundsätzen

der Mannheimer Tonschule, Prag 1802, S. 8.

Page 23: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

17

das Resultat von einem allmälig und harmonisch wirkenden Eindruck der Lehre von

Schlußfällen64 und Mehrdeutigkeit65 auf das Ohr. Die Tonleitung gibt Aufschluß über die

Sukzession der Harmonien, und wie das Gefühl davon affizirt, d. i: bald überrascht, bald ge-

täuscht wird.66

Vogler verbindet mit dem Begriff Tonart somit die „Sukzession der Harmonien“ und

deren Wahrnehmung, unter besonderer Berücksichtigung der Kadenz und der Mehr-

deutigkeit von Akkorden. Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit Fétis Definition der

„tonalité moderne“ mittels der Auflösung eines Dominantseptakkords in eine Tonika

und der Möglichkeit enharmonischer Modulationen ist auffällig. Vogler gibt außerdem

noch an, dass sich die Tonleitung auf den Hauptton – die I. Stufe der Tonart – bezieht:

Da der Begriff Klang allgemeiner ist, als Ton, so nenne ich den vornehmsten Ton jeder Harmo-

nie, der aber nicht immer zum Grunde (im Baß) liegt, Hauptklang, den Ton, der im Baß liegt,

Grundton, und den ersten unter den 7 Hauptklängen jeder Tonart, worauf die Tonleitung sich be-

zieht, Hauptton.

In ähnlicher Weise beschreibt auch 1775 Johann Georg Sulzer die Bedeutung des

Dreiklangs auf der ersten Stufe. Sulzer verwendet die Begriffe Hauptklang und Tonika

zwar noch nicht im direkten Zusammenhang mit dem Begriff Tonart (insofern ist

„Tonart“ bei Sulzer eher vergleichbar mit dem Begriff Tonleiter),67 bei der Begriffs-

beschreibung von „Tonica“ schreibt er allerdings:

Mit diesem Worte [Tonica] wird der Grundton der diatonischen Tonleiter angedeutet, der in

jedem Satz eines Stücks der Hauptton ist, in welchem der Gesang und die Harmonie fortgehen,

und den Satz schließen. Die Tonica ist daher von dem eigentlichen Hauptton darin unterschie-

den, daß sie mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert, da dieser hingegen durchs ganze Stück

derselbe bleibt. Doch wird sie auch in der Bedeutung des Haupttones genommen, wenn man

sagt, der erste Theil eines Stücks habe in der Dominante geschlossen. Der fünfte Ton der Tonica

ist die Dominante.68

64 Vogler verwendet den Begriff „Schlußfall statt Kadenz, worunter man auch die willkührlichen

Schnörkel zu Ende der Bravour-Arie versteht.“ (Ebda., S. 6). 65 „Die Lehre der Mehrdeutigkeit bestimmt [...] alle möglichen Fälle, wo entweder dieselbigen Harmo-

nien dem Gehöre wie verschiedene, oder verschiedene dem Gehöre wie dieselben vorkommen.“ (Ebda.).

66 Ebda. S. 8-9. 67 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer

Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. 2. Teil, Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich 1775, S. 779.

68 Ebda., S. 783.

Page 24: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

18

Vergleichbares schreibt Gottfried Weber 1830 bei der Definition des Begriffes Tonart in

seinem Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst:

Wenn unser Gehör eine Folge von Tönen und Harmonieen vernimmt, so strebt es, seiner Natur

gemäss, unter diesem Manchfaltigen einen inneren Zusammenhang, eine Beziehung auf einen

gemeinsamen Mittelpunct, zu finden. [...] Das Gehör verlangt überall, einen Ton als Haupt- und

Centralton, eine Harmonie als Hauptharmonie zu empfinden [...].

Insofern nun solchergestalt ein Ton als Haupt- und Centralton, eine Harmonie als Central-

Harmonie erscheint [...], so nennt man solche Harmonie tonische Harmonie, und den Grundton

dieser Harmonie Tonica [...]. Man [...] nennt solche Herrschaft einer Hauptharmonie über die

übrigen: Tonart.69

Als erläuterndes Beispiel für den „etwas abstract ausgedrückten Satz“70 dieses Zitats

bringt Weber eine schlichte Kadenz in C-Dur (vgl. Abbildung 4): „Beim Anhören des

nachstehenden Satzes fühlt jedes Ohr den Ton c als Centralton [...] und den C-Dreiklang

als die Hauptharmonie des Satzes.“71

Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers.72

Während Fétis nur implizit die Tonika als einen Zentralklang der Dur-Moll-Tonalität

angibt, indem er die Auflösung des Dominantseptakkordes in den Dreiklang auf der I.

Stufe als grundlegendes Element der „tonalité moderne“ bezeichnet, verweist Weber bei

seiner Definition von Tonart explizit auf diesen Zusammenhang. Umgekehrt impliziert

Weber die Auflösung des Dominantseptakkordes als entscheidendes Moment der

Tonika, indem er zeigt, dass diese nur durch die Kadenz als solche wahrgenommen

wird.

69 Gottfried Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, Bd. 2, Paris: B. Schott’s Söhne

1830, S. 1-2. 70 Ebda., S. 1. 71 Ebda., S. 2. 72 Ebda.

Page 25: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

19

Auffällig an Webers Definition ist auch sein besonderes Hervorheben der Begriffe

„Haupt- und Centralton“ sowie des Begriffs „Central-Harmonie“.73 Er legte dabei

offensichtlich großen Wert darauf, im Zusammenhang mit diesen Begriffen nicht

missverstanden zu werden. In den Lehrbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts wurden

Begriffe wie Hauptton, Tonika oder auch Hauptklang nicht immer einheitlich verwendet

und teilweise als Synonyme für den Basston eines Dreiklanges in Grundstellung – den

„basse fondamentale“ – betrachtet. Vogler versteht beispielsweise in der oben zitierten

Stelle unter dem Begriff Hauptton zwar dasselbe wie Weber. Den Bass eines Akkordes

bezeichnet Vogler jedoch als „Grundton“. Dagegen bezeichnet er das, was Weber hier

als „Grundton“ ansieht, nämlich den Basston eines Dreiklanges in Grundstellung,74 als

„Hauptklang“ (vgl. oben). Dem gegenüber unterscheidet Sulzer explizit zwischen

Hauptton und Tonika: Die Tonika verändere „mit jeder Ausweichung ihren Platz“,

während der Hauptton „durchs ganze Stück derselbe bleibt“ (vgl. oben). Weber weist

auch darauf hin, dass die Terz und Quint eines grundständigen Dreiklanges gelegentlich

als „Mediante“ und „Dominante“ bezeichnet werden, er von diesen Ausdrücken in dem

Zusammenhang jedoch absehe, um insbesonders den Begriff „Dominante“ auf den

Dreiklang der V. Stufe anwenden zu können.75

Nachdem in der deutschen Musiktheorie der systematische Anteil von Fétis’ Tonalitäts-

begriff bereits mit dem Begriff Tonart belegt war, sollte es nicht überraschen, wenn

diese Begriffe bis heute häufig synonym verwendet wurden (insbesondere auch im

romanischen und angelsächsischen Sprachgebrauch76). Auch das in dieser Zeit zuneh-

mende „Ersetzen“ des bestimmenden Merkmals bei Fétis – die Auflösung der Domi-

nante – durch den Begriff Tonika erklärt sich aus diesem Zusammenhang. Gerade in

den Jahren 1830 bis 1860 fällt zudem auf, dass der Begriff im deutschsprachigen Raum

häufig im Zusammenhang mit der von Fétis beschriebenen historischen Entwicklung

von der alten zur neuen Tonalität erwähnt wird. Insofern wurde der Teil aus Fétis

Tonalitätsbegriff extrahiert, der aus Sicht der deutschsprachigen Musiktheorie etwas

Besonderes darstellte, nämlich das Bewerten der dur-moll-tonalen Entwicklungs-

73 Als Synonyme für den Begriff „tonische Harmonie“ führt Weber noch folgende an: „tonischer

Accord“, „Haupt- oder Principal-Akkord“; als Synonyme für den Begriff „Tonica“: „tonische Note“, „erste Note“, „erste Stufe“, „Prime“, „Finalnote“, „Finalsaite“, „Principalnote“, „Hauptton“, „Haupt-note“ (vgl. ebda.).

74 Vgl. ebda., S. 213. 75 Vgl. ebda., S. 199-200. 76 Vgl. Beiche, Tonalität, S. 7.

Page 26: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

20

geschichte mittels der harmonischen Syntax.77 Auf den besonderen Schwerpunkt der

Musikgeschichte in Fétis’ Werk weist auch die oben erwähnte Rezension der Neuen

Zeitschrift für Musik hin, wenn auch das Fehlen von „Poesie“ in seinen Schriften

bemängelt wird:

[...] da er [Fétis] tiefe und sehr mannichfache Kenntnis in allen Theilen der Geschichte der

Musik besitzt, so herrscht das Geschichtliche auf eine auffallende Weise vor, indem es alles

andere in den Hintergrund zurückdrängt. Die Poesie hat hierbei nichts zu thun, und läßt Hrn.

Fétis mit seinen Jahreszahlen oft allein dastehen.78

Als musikhistorischer Ausdruck zur Unterscheidung unterschiedlicher Epochen wird

der Begriff Tonalität in den 1840er Jahren häufig rezipiert. Bei der deutschen Über-

setzung von Félicité Robert de Lamennais’ Grundriss einer Philosophie (1841), der sich

dabei wohl direkt auf Fétis bezieht, heißt es:

Monteverde brachte, vielleicht ohne es zu wissen, diese große Revolution zu Stande. In Folge

der Kühnheit seines Talents allein, schuf er, indem er das Verhältniß der Übergangsnote mit der

vierten Stufe angab, die natürlichen Dissonanzen der Harmonie und sofort die Modulation; an

die Stelle der Tonalität des Kirchengesanges, die sich mit diesen Abänderungen nicht vertrug,

setzte er eine andere Tonalität [...], kurz er war der Erfinder einer neuen Musik.79

Carl Georg August Vivigens von Winterfeld macht in einer Biographie des Kompo-

nisten Adam Gumpelzhaimer darauf aufmerksam, dass sich bei diesem auch bereits die

neue Tonalität anbahne. In diesem Artikel verweist er auch ausdrücklich auf Fétis:80

Einen wirklichen Leitton konnte deshalb die ältere Tonkunst nicht besitzen, und die Tonalität

unserer Tage war damals unmöglich. [...] Was die Tonlehre so bestimmt untersagt hatte, wurde

aber durch einen glücklichen Instinct Monteverde’s gewagt; er schuf dadurch die natürlichen

77 Bryan Simms schreibt über die Bedeutung von Fétis’ historischer Darstellung: „His vision of an

omnitonic order in music was a remarkable innovation to historic and theoretic concepts of the nine-teenth century. Many of his contemporary critics viewed the course of music of their own time vaguely as a process of increasing complexity; others, such as Choron and Castil-Blaze, saw contem-porary music as some sort of interaction of the various national ‚schools’. It was to Fetis’s credit, then, that he rightly saw the history of nineteenth-century music as essentially a matter of changing har-monic styles and techniques.“ (Simms, Choron, Fetis, S. 132).

78 Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, S. 230. 79 Félicité Robert de Lamennais, Grundriss einer Philosophie Bd. 3, Paris/Leipzig: Jules Renouard

1841, S. 284. 80 Vgl. Carl Georg August Vivigens von Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang und sein

Verhältniss zur Kunst des Tonsatzes Bd. 1, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1843, S. 498.

Page 27: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

21

Mißklänge der Harmonie, denn er erkannte den in der diatonischen Leiter enthaltenen Tritonus

als rechten Hebel für die Ausweichung, und erfand dadurch die Tonalität, das chromatische Ge-

schlecht. Ein Mann nur vor ihm, Adam Gumpelzhaimer, bahnte diese Erfindung an, aber

niemand hat seiner gedacht.81

Zu den ersten musiktheoretischen Schriften im deutschsprachigen Raum, die den

Ausdruck Tonalität verwenden, zählt Siegfried Wilhelm Dehns Theoretisch-praktische

Harmonielehre (1840).82 Allerdings ist für Dehn der Ausdruck Tonalität offenbar noch

nicht von großer musiktheoretischer Bedeutung, so gibt er weder eine Definition des

Begriffs, noch erwähnt er ihn im Stichwortverzeichnis des Buches.83 Einmal verwendet

Dehn den Begriff recht beiläufig im Zusammenhang mit den Verwandtschaftsverhält-

nissen der Tonarten, ein andermal – und hier eindringlicher – benutzt Dehn den Begriff

im Zusammenhang mit der Geschichte der Dur-Moll-Harmonik:

Bis zu den Zeiten Monteverde’s (vergl. pag. 289) herrschte die Tonalität der sogenannten

Kirchentonarten [...]. Erst mit Einführung der neuen Tonalität wurde das Feld selbstständiger

neuer Harmonieen erweitert, und hiermit entstand denn auch die Nothwendigkeit einer selbst-

ständigen Harmonielehre [...].84

Auf der angegebenen Seite 289 schreibt Dehn:

Die regelmässige Behandlung der Dissonanzen, d. h. ihr Eintreten mittelst vorher liegender

Consonanz, ihre stufenweise Auflösung, u. s. w., gehörte früher zu den wesentlichen Bedin-

gungen der sogenannten strengen oder gebundenen Schreibart [...]. Bis zu der Zeit des Claudio

Monteverde [...] herrschte diese Schreibart fast allgemein [...].

Zu den bedeutendsten Neuerungen jener Zeit nun gehören Monteverde’s Versuche in einer frei-

eren Behandlung der Dissonanzen; er war der Erste, welcher in mehreren Stimmen zu gleicher

Zeit Vorhalte anbrachte [...].85

Auch wenn Dehn nicht ausdrücklich Fétis als Quelle angibt, so ist der Zusammenhang,

in dem der Begriff Tonalität hier verwendet wird, doch von auffälliger Ähnlichkeit zu

den oben angegebenen Zitaten von Lamennais und Winterfeld. Alle drei beziehen sich

81 Ebda., S. 499. 82 Vgl. Beiche, Tonalität, S. 7. 83 Vgl. Siegfried Wilhelm Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre mit angefügten Generalbassbei-

spielen, Berlin: Wilhelm Thome 1840, S. 311-315. 84 Ebda., S. 306-307. 85 Ebda., S. 289.

Page 28: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

22

dabei auf Monteverdi als den Urheber der neuen Tonalität und dessen besondere Be-

handlung der Dissonanzen beziehungsweise deren Auflösung.

Die weitere Stelle in der Dehn den Begriff Tonalität verwendet ist im Zusammenhang

mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Tonarten. Er spricht dabei von der unver-

änderten „Tonalität der Tonart C-Dur“:

Weiter als bis zum vollkommenen Grunddreiklang von D moll kann, mit Rücksicht auf unver-

änderte Tonalität der Tonart C Dur, diese Kette von Dreiklängen nicht geführt werden; denn

nach dem Dreiklange d, f, a, würde b, d, f, folgen, der einen der Tonart C Dur fremden Ton,

nemlich b, mit sich führt.86

Die Dreiklangskette, von der Dehn hier spricht, ist die alterierende Terzenreihe C-Dur,

a-Moll, F-Dur, d-Moll. Das Verändern der „Tonalität der Tonart“ durch ein Weiter-

führen dieser Reihe mit B-Dur ist hier nichts anderes als das Verändern der Tonart

selbst. In so fern bahnt sich hier bereits die spätere Vermischung der beiden Termini

Tonart und Tonalität an. Unter Tonart versteht Dehn den „Inbegriff von acht Tönen [der

Dur- bzw. Moll-Tonleiter], deren jeder einzelne zu einem bestimmten Ton, Haupt- oder

Grundton, in einem einmal als Norm angenommenen Verhältnisse der Entfernung

steht.“87 Dehn verwendet die Bezeichnungen Hauptton und Grundton synonym mir dem

Intervall der „Prim“, von der I. Stufe der Tonart aus gerechnet. Als „Nebenbenennung“

für diesen Ton gibt er die Bezeichnung „Tonica“ an. Das von der Tonika aus gerechnete

Intervall der großen Terz bezeichnet Dehn des Weiteren als „Mediante“, das Intervall

der Quint als „Dominante“ und das Intervall der Septime als „Leitton“.88 Diese be-

sondere Verbindung des Tonartbegriffs mit den Intervallen im Bezug auf die I. Stufe ist

ein herausragendes Merkmal in Dehns theoretischen Überlegungen. Davon ausgehend

deutet Dehn die Tonartverwandtschaften anhand der Konsonanzen und Dissonanzen der

Tonart. Als konsonante Intervalle lässt Dehn in diesem Zusammenhang nur die große

und kleine Terz, die reine Quint, die große und kleine Sext und die reine Oktav gelten.

Die Intervalle Sekund, Quart und Septim seien dagegen dissonant.89 Laut Dehn sind nun

86 Ebda., S. 234. 87 Ebda., S. 58. 88 Vgl. ebda., S. 78. 89 Vgl. ebda., S. 82.

Page 29: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

23

jene Tonarten miteinander verwandt, deren Grunddreiklänge sich aus Konsonanzen

einer anderen Tonart zusammensetzen:

In jeder Tonart giebt es zwei vollkommene Dreiklänge, d. h. solche, die nur aus Consonanzen

der Tonart bestehen. [...] In C Dur sind diese beiden Dreiklänge c, e, g und a, c, e; in C moll: c,

es, g, und as, c, es; in A moll a, c, e und f, a, c; u. s. w. Beiläufig kann hier auch noch erwähnt

werden, dass der Dominantenakkord jeder Tonart sich in einen dieser beiden vollkommenen

Dreiklänge auflöst, wenn die Auflösung überhaupt eine regelmässige ist [...].

Mit Rücksicht auf das Wesen der Consonanzen und Dissonanzen einer Tonart, [...] kann hier nun

auch der Grundsatz aufgestellt werden, dass diejenigen Tonarten am nächsten mit einander ver-

wandt sind, deren vollkommene Grunddreiklänge (oder Dreiklänge auf dem - Grundton der

Tonart) in einer und derselben Tonart als vollkommene Dreiklänge vorkommen.90

Dem entsprechend bildet Dehn die oben beschriebene Verwandtschaftsreihe C-Dur,

a-Moll, F-Dur, d-Moll und in umgekehrter Richtung C-Dur, e-Moll und G-Dur (vgl.

Abbildung 5).

Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn.91

90 Ebda., S. 233. 91 Ebda., S. 234.

Page 30: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

24

Als Übersicht der Verwandtschaftsbeziehungen aller Tonarten gibt Dehn folgendes

Schema an (vgl. Abbildung 6).

Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn92

Mit dieser außerordentlichen Einschätzung der Verwandtschaftsverhältnisse über einen

alterierenden Terzenzirkel93 widerspricht Dehn den gängigen Meinungen der meisten

Zeitgenossen, welche die Tonartverhältnisse meist über den Quintenzirkel oder – wie im

Falle von Gottfried Weber – aus einer Mischung von Quintenzirkel und verwandten

Molltonarten deuten.94 Für Weber, der den Quintenzirkel als ersten Verwandtschafts-

grad ansieht, sind entsprechend nicht a-Moll und e-Moll die nächst verwandten Tonar-

ten von C-Dur, sondern F-Dur und G-Dur.95 Auch Weber kommt zu einem vergleich-

baren, jedoch nicht identischen, Schema der Verwandtschaftsgrade (vgl. Abbildung

7).96 Einer der wichtigsten Unterschiede der beiden Auffassungen ist, dass in Webers

Darstellung die Tonarten A-Dur und Es-Dur dem Verwandschaftsgrad nach C-Dur sehr

92 Ebda., S. 235. 93 Der alterierende Terzenzirkel beinhaltet auch die Verwandtschaftsverhältnisse des Quintenzirkels

bzw. Quartenzirkels, worauf Siegfried Wilhelm Dehn bei seinen weiteren Ausführungen auch eingeht (vgl. Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre, S. 235f). Moritz Hauptmann verwendet in seinen Theorien vergleichbare Terzenzirkel, allerdings ergibt sich dieser aus anderem Zusammenhang (vgl. Abbildung 9). Bei Hugo Riemann gewinnt die Terzverwandtschaft durch die Funktionen der Parallel- und Wechselklänge eine große Bedeutung und im späten 20. Jahrhundert werden die Verwandt-schaftsverhältnisse des Terzenzirkels auch von der sogenannten Transformation-Theory und der musiktheoretischen Neo-Riemann-Bewegungen wieder aufgegriffen (vgl. S. Fehler! Textmarke nicht definiert.).

94 Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 69-86. 95 Vgl. ebda. S. 70f. 96 Für ein komplettes Schema der Verwandtschaftsverhältnisse nach Gottfried Weber, siehe Anhang b,

Abbildung 77.

Page 31: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

25

viel näher liegen, als in Dehns Schema. Auf eine Inkonsequenz in diesem Zusammen-

hang deutet Weber selbst hin:

Nach der […] Darstellung [Abbildung 7] sind die eben genannten vier Tonarten [D, A, Es und

B] mit C im zweiten Grade, also sämtlich gleich nahe, verwandt; dennoch ist diese Verwandt-

schaft, genauer betrachtet, nicht ganz gleich innig. Man fühlt es schon, ohne genaue Betrachtung,

dass Es und A dem C im Grunde doch noch fremder sind als D, B, e, d, f und g.97

Auf der anderen Seite trägt Weber der Verwandtschaft zwischen C-Dur und c-Moll

Rechnung, welche in Dehns Darstellung dem Verwandtschaftsverhältnis zu Es-Dur

untergeordnet ist.

Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber98

Ebenso unvermittelt wie Siegfried Wilhelm Dehn verwendet Arrey von Dommer in

seinem 1862 erschienenen Elemente der Musik den Begriff Tonalität. Auch Dommer

gibt keinerlei Definition des Begriffs Tonalität an und hält ihn nicht für wichtig genug

ihn in sein Stichwortverzeichnis als Hauptbegriff aufzunehmen.99 Allerdings erscheint

der Begriff im Stichwortverzeichnis eigenartigerweise als Unterbegriff von „Periode“

(„- deren Tonalität“).100 Die dort verwiesene Stelle ist auch die wichtigste Stelle im

Buch, die sich dem Begriff widmet:

Kehren wir jedoch für’s Erste zur einfachen achttaktigen Periode zurück und betrachten sie in

Betreff ihrer Tonalität und Cadenzen.

Die Tonalität kann verschieden sein. Eine Periode kann:

1. vollständig tonisch gehalten sein, auf der Tonika beginnen, bleiben und schliessen;

97 Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 81. 98 Ebda., S. 81. 99 Vgl. Arrey von Dommer, Elemente der Musik, Leipzig: T. O. Weigel 1862, S. 368. 100 Vgl. ebda., S. 366.

Page 32: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

26

2. auf der Tonika beginnen und schliessen, aber durchgehend in andere leitereigene Töne

modulieren;

3. auf der Tonika beginnen, aber in einen anderen Ton hinein moduliren und in diesem schlie-

ßen;

4. weder auf der Tonika beginnen, noch in einem bestimmten Ton verharren, sondern be-

ständig aus einem in den anderen modulieren, wie die sogenannten Modulationsperioden,

welche inmitten aller grösseren Sätze vorkommen.101

Bei Dommers Beschreibung der möglichen harmonischen Schwerpunkte einer Periode,

also deren Ausweichungen beziehungsweise Modulationen, lässt sich eine wichtige

Bedeutungsänderung in Bezug auf den Begriff „Tonika“ feststellen.102 Während bei

Sulzer die Tonika noch „mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert“103 (vgl. S. 17),

verwendet Dommer den Begriff Tonika bereits, um damit einen übergeordneten

Bezugspunkt zu bezeichnen, der unabhängig von den Modulationen innerhalb eines

Satzes gleich bleibt. Im Zusammenhang mit der Fugenkomposition schreibt Dommer:

Führer und Gefährte stehen also im Verhältniss der Tonika und Dominant. [...]

Vor allem ist zu beachten, dass Einheit der Tonalität zwischen Gefährten und Führer aufrecht er-

halten werde, der Gefährte also von der Haupttonart nicht zu weit sich entferne, nicht einmal die

Dominanttonart gleich beim Eintritt als eine durchaus selbstständige Tonart hinstelle, sondern als

eine vom Hauptton abhängige.104

Diese Aussage legt nahe, dass Dommer zwischen den Begriffen Tonalität und Tonart in

ähnlicher Weise unterscheidet wie zwischen der Tonika und einer vorübergehenden

Hauptstufe innerhalb einer Ausweichung. Tonalität wäre dann für Dommer ein all-

gemeinerer Begriff als Tonart und bezieht sich immer auf die Tonart der Tonika – die

„Haupttonart“. Während sich innerhalb einer Periode die Tonart durch Ausweichung

oder Modulation verändern kann, bleibt die Tonalität gemeinsam mit der Tonika be-

stehen. Diese wichtige Einsicht – die Möglichkeit Tonalität als übergeordneten Tonart-

begriff anzusehen – wurde später auch von Hugo Riemann wieder aufgegriffen (vgl. S.

35).

101 Ebda., S. 156. 102 Vgl. auch Beiche, Tonalität, S. 7. 103 Sulzer, Allgemeine Theorie, S. 783. 104 Dommer, Elemente der Musik, S. 196.

Page 33: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

27

1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen

Moritz Hauptmann vertrat in seinem Buch Die Natur der Harmonik und der Metrik

(1853) bereits ähnliche Ansichten wie Arrey von Dommer, allerdings ohne dabei direkt

auf den Begriff Tonalität zu verweisen. Hauptmann war der Naturklangtheorie ver-

bunden und führte in seinem Buch eine eigene Schreibweise ein, die zwischen Terzen

und Quinten unterscheidet, um damit den Unterschied zwischen vier reinen Quinten und

einer reinen Terz hervorzuheben. Aus Sicht eines Dur-Dreiklangs bezeichnet Haupt-

mann Terzen mit Kleinbuchstaben, Grundton oder Quint dagegen mit Großbuchstaben

(z.B. „e–G–C“ als erste Umkehrung von C-Dur).105 Für ihn gab es drei unveränderliche,

„direkt verständliche“ Intervalle: die Oktav, die Quint und die Terz. Die Oktav reprä-

sentiert für Hauptmann „Identität“ und „Gleichheit“, die Quint „Zweiheit“ und „inneren

Gegensatz“ und die Terz sieht er als „Gleichsetzung des Entgegengesetzten: der Zwei-

heit als Einheit“ an.106

Wenn die Oktave Ausdruck ist für Einheit, so spricht die Quint die Zweiheit oder Trennung aus,

die Terz Einheit der Zweiheit oder Verbindung. Die Terz ist die Verbindung der Oktave und

Quint.107

In Hauptmanns Vorstellung von These, Antithese und Synthese spiegelt sich die Philo-

sophie der Hegelschen Dialektik wider. Diese dialektische Denkweise durchdringt

Hauptmanns Theorien auf allen musikalischen Ebenen: den Akkorden, den Akkordfort-

schreitungen, der Form und auch der Rhythmik und Metrik.108 So verbinden sich die

drei Momente Oktave, Terz und Quint im Dreiklang wiederum zum „gegliederten

Ganzen“, zur „Einheit“. Als Gegensatz stehen dem Dreiklang der Tonika die Antithesen

Dominante und Subdominante gegenüber, die in der Tonart als „Dreiklang höherer

Ordnung“ wiederum mit der Tonika vereint werden.109 Abbildung 8 zeigt ein Schema

Hauptmanns, welches die dialektischen Beziehungen der Tonart darstellt. Die römi-

schen Ziffern entsprechen dabei den Momenten Antithese (I–II) und Synthese (III).

105 Vgl. Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig:

Breitkopf u. Härtel 1853, S. 11. 106 Vgl. ebda., S. 21f. 107 Ebda., S. 22. 108 Vgl. ebda., S. 23. 109 Vgl. ebda., S. 27.

Page 34: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

28

Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff.110

Hauptmann vertritt also wie Weber die Vorstellung eines Tonartbegriffs, der durch die

Kadenz – die Beziehungen zwischen Subdominante, Dominante und Tonika – definiert

wird. Allerdings nimmt die Tonika eine besonders zentrale Rolle als verbindendes

Element der Antithesen Dominante und Subdominante ein. Folgende Aussage legt sogar

nahe, dass die Begriffe Tonika und Tonart aus Hauptmanns Sicht im Grunde austausch-

bar sind, da das Vorhandensein einer Tonika automatisch eine Tonart entstehen lässt:

Die Tonart entstand, wenn der gegebene Dreiklang, nachdem er durch den Unter- und Ober-

Dominant-Accord, mit sich selbst in Gegensatz gekommen war, diesen Gegensatz als Einheit in

sich zusammenfasste und damit Tonica wurde.111

Auch die Beziehungen zwischen Tonarten deutet Hauptmann in weiterer Konsequenz

gemäß den Regeln der Hegelschen Dialektik. Der „tonischen Tonart“, als „Mitte eines

Tonartensystems“, treten als Antithesen die Tonarten der Dominante und der Subdomi-

nante entgegen.112 Abbildung 9 zeigt diese Tonartbeziehungen; die dargestellte alterie-

rende Terzfolge (B–d–F–a–C usw.) erinnert zwar an das Schema der Tonartverwandt-

schaften von Siegfried Wilhelm Dehn (Abbildung 6), sollte jedoch nicht mit diesem

verwechselt werden, da die Kleinbuchstaben sich hier nicht auf einen Moll-Dreiklang

beziehen, sondern lediglich die Terz eines Dur-Dreiklangs bezeichnen.

110 Ebda., S. 26. 111 Ebda., S. 30. 112 Ebda., S. 30f.

Page 35: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

29

Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns.113

Größere Popularität erlangte der Begriff Tonalität im deutschsprachigen Raum erst in

den 1860er Jahren. Auslöser dafür war Hermann von Helmholtz’ 1863 publiziertes

Buch Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die

Theorie der Musik. Diese Veröffentlichung hatte nicht nur weit reichende Auswir-

kungen auf die Musiktheorie selbst, sondern auch auf benachbarte Disziplinen. Für die

rasche Verbreitung des Begriffs Tonalität in den folgenden Jahren sorgten unter

anderem mehrere naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich mit Helmholtz’

Theorien auseinander setzten. So finden sich beispielsweise im Jahresbericht über die

Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862114 (1863) oder in

Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft115

(1863) Rezensionen von Helmholtz’ Buch und auch in den folgenden Jahren waren

seine Theorien ein sehr häufig diskutiertes Gesprächsthema in der wissenschaftlichen

Literatur. Helmholtz schlug damit zum ersten Mal eine Brücke zwischen der bis dahin

weitgehend isoliert voneinander agierenden Musiktheorie und den Naturwissenschaften,

insbesondere der Akustik und der Psychologie. Gemeinsam mit den beiden von Carl

Stumpf 1883/1890 veröffentlichten Bänden Tonpsychologie116 hat Helmholtz damit

auch die Grundsteine für die neue Wissenschaft der Musikpsychologie gelegt. Wie

selbstverständlich der Begriff Tonalität zu jener Zeit plötzlich geworden war, illustriert

ein Artikel aus dem Jahre 1864, in dem der Autor den Begriff Tonalität als Übersetzung

des lateinischen „tonus“ einführt.117

113 Ebda., S. 31. 114 Gabriel Gustav Valentin, Bericht über die Leistungen in der Psychologie, in: Jahresbericht über die

Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862 (Bd. 1 Psychologische Wissen-schaften), Würzburg: Stahle’sche Buch und Kunsthandlung 1863, S. 103-, 197, hier S. 159f.

115 Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig: Gerhardt & Reisland 1863, S. 481-487.

116 Carl Stumpf, Tonpsychologie [1883/1890] (2 Bde.), Leipzig: Hirzel 1965. 117 „Die Tonalität ist eine gewisse Beschaffenheit der Melodie“ – „Tonus est certa qualitas melodiae“

(August Wilhelm Ambros, Die ersten Zeiten der neuen christlichen Welt und Kunst [Bd. 2 Geschichte der Musik], Breslau, F. E. C. Leuckard 1864, S. 54).

Page 36: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

30

Die neu gewonnene Nähe zu den Naturwissenschaften und die damit verbundene

Aussicht die Musiktheorie wissenschaftlich zu fundieren wurde von vielen Musik-

theoretikern der Zeit bereitwillig aufgenommen. . Es entstand aus diesem Streben –

ganz im Sinne der wissenschaftlichen Aufbruchsstimmung des 19. Jahrhunderts – die

zunehmende Forderung nach wissenschaftlichen Arbeitsmethoden in der Musiktheorie.

Diese Tendenz zur wissenschaftlichen Methode hat in vielen Bereichen des Fachs bis

heute angehalten und wurde gerade in den letzten Jahrzehnten z.B. durch die Kogni-

tionswissenschaft oder die transformational theory wieder belebt. Ernst Kurth war 1931

der Ansicht „die Musiktheorie sei für die Musikpsychologie ungefähr das, was das

Experiment für die Tonpsychologie sei.“118 Auch Thesen und Termini anderer Diszi-

plinen wurden bereitwillig in den musiktheoretischen Sprachgebrauch übernommen. So

verwendet Kurth beispielsweise die Begriffe „kinetische Energie“ im Zusammenhang

mit melodischen Linien und „potentielle Energie“ im Zusammenhang mit Akkorden;

diese Energien können laut Kurth ineinander umgewandelt werden.119 Kurth war auch

der Ansicht, „daß Töne eine Tendenz haben gegen den Naturklang hin zu ‚gravi-

tieren‘.“120

Im Gegensatz zu vorangegangenen Musiktheoretikern verwendet Helmholtz den Begriff

Tonalität nicht mehr willkürlich, sondern setzt ihn gezielt und systematisch ein. Die in

diesem Zusammenhang meist zitierte Stelle lautet:

Die moderne Musik hat hauptsächlich das Princip der Tonalität streng und consequent ent-

wickelt, wonach alle Töne eines Tonstücks durch die Verwandtschaft mit einem Hauptton, der

Tonica, zusammengeschlossen werden.121

Dabei bezieht sich Helmholtz bewusst auf den Tonalitätsbegriff von Fétis, schränkt

diesen allerdings auf dessen systematischen Aspekt ein und verwirft damit die bis dahin

118 Ludwig Holtmeier, Die Erfindung der romantischen Harmonik, in: Zwischen Komposition und

Hermeneutik: Festschrift für Hartmut Fladt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 115; Vgl. Ernst Kurth, Musikpsychologie, Hildesheim/New York: Georg Olms 1969, S. 72.

119 Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, Frankfurt a. M./ Wien: Lang 1994, S. 229-231.

120 Helga de la Motte-Haber, Kräfte im musikalischen Raum. Musikalische Energetik und das Werk von Ernst Kurth, in: Musiktheorie (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber: Laaber 2005, S. 284-310, hier S. 292.

121 Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage Für die Theorie der Musik, Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1863, S. 8.

Page 37: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

31

wichtige musikgeschichtliche Bedeutung von Tonalität als Bezeichnung einer durch

harmonische Beziehungen geprägten Epoche.

Wir können die Herrschaft der Tonica als des bindenden Mittelgliedes für sämtliche Töne des

Satzes mit Fétis als das Princip der Tonalität bezeichnen. Dieser gelehrte Musiker hat mit Recht

darauf aufmerksam gemacht, dass in den Melodien verschiedener Nationen die Tonalität in sehr

verschiedenem Grade und verschiedener Weise entwickelt sei.122

Auffällig ist bei dieser Interpretation von Fétis Tonalitätsbegriff, dass die Töne sich laut

Helmholtz nicht auf eine Skala beziehen, sondern nunmehr einzig und allein auf den

Hauptton, die Tonika. Auch wird von Helmholtz hervorgehoben, dass scheinbar unter-

schiedliche Nationen nicht unterschiedliche Tonalitäten hervorbringen, sondern dass

„die Tonalität in sehr verschiedenem Grade und verschiedener Weise entwickelt sei“.

Damit hat Helmholtz den Begriff Tonalität endgültig auf eine ganz bestimmte Aus-

prägung musikalischer Syntax in der europäischen Kunstmusik reduziert und ihm jene

Bedeutung gegeben, in der er auch heute noch zumeist verwendet wird.

Inspiriert durch Helmholtz’ Veröffentlichung, begann der Physiker Arthur von

Oettingen sich kurz darauf dem Thema Musiktheorie zuzuwenden. Oettingen veröffent-

lichte 1866 sein Buch Harmoniesystem in dualer Entwickelung – Studien zur Theorie

der Musik123, das in der wissenschaftlichen Literatur zunächst ähnlich bereitwillig

rezipiert wurde wie Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. Oettingens Theorie

baut auf Moritz Hauptmanns dialektischer Interpretation musikalischer Strukturen und

Zusammenhänge auf. Dabei denkt Oettingen streng dualistisch und stellt der Oberton-

reihe eine theoretische „Untertonreihe“ gegenüber, aus der er den Moll-Dreiklang sowie

die Molltonart ableitet. Unter einer Untertonreihe versteht Oettingen „all diejenigen

Töne, die einen gegebenen Ton als Oberton enthalten.“124 Oettingen bezeichnet den

Grundton eines Dur-Dreiklanges als den „tonischen Grundton“. Diesem stellt er den

„phonischen Oberton“ entgegen, den tiefsten Partialton, den alle Akkordtöne ge-

meinsam haben.125 Der tonische Grundton von C-Dur ist der Ton C, der phonische

Oberton ist dagegen der Ton H; der tonische Grundton von c-Moll der Ton As, der

122 Ebda., S. 395. 123 Arthur von Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwickelung -Studien zur Theorie der Musik,

Dorpat/Leipzig: Gläser 1866. 124 Ebda., S. 31. 125 Vgl. ebda., S. 32.

Page 38: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

32

phonische Oberton ist dagegen der Ton G.126 Oettingen bezeichnet in weiterer Folge

Dur-Dreiklänge als tonische Klänge und benennt sie nach dem tonischen Grundton (C-

Dur = „C+“); Moll-Dreiklänge bezeichnet Oettingen als phonische Klänge und benennt

sie nach dem phonischen Oberton (c-Moll = „g°“).127 In entsprechender Weise stellt

Oettingen dem Begriff Tonalität auch den Begriff Phonalität gegenüber:

Als dualen Gegensatz gegen das Prinzip der Tonalität stelle ich das der Phonalität auf. – Unter

Phonalität aber verstehe ich das […] Prinzip, dem zufolge die gesammte Masse der Töne aus

einer phonischen Klangvertretung entspringt.128

Oettingen veröffentlichte auch ein Tonnetz, das in der Horizontalen Quinten und in der

Vertikalen große Terzen enthält (Abbildung 10). Dieses Tonnetz hatte besonderen

Einfluss auf die Neo-Riemann-Theorie des späten 20. Jahrhunderts.

Abbildung 10: Oettingens Tonnetz.129

126 Vgl. ebda., S. 33. 127 Vgl. ebda., S. 45. 128 Ebda., S. 64. 129 Ebda., S. 15.

Page 39: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

33

1.5 Riemann und Schenker

Die Thesen von Hauptmann, Helmholtz und Oettingen wurden schließlich in den

1880er Jahren von Hugo Riemann aufgegriffen und erweitert.130 Riemann war von der

Naturgegebenheit der Dur-Moll-Tonalität im Sinne der Naturklangtheorie fest überzeugt

und postulierte – gemäß den Theorien Oettingens – eine Untertonreihe als dualistischen

Gegensatz zur Obertonreihe.131 Von Hauptmann übernahm Riemann die Vorstellung,

dass Terz und Quint die einzigen direkt verständlichen Intervalle seien.132 Die große

Leistung Riemanns war es, die harmonischen Theorien des 19. Jahrhunderts in einem

geschlossenen musiktheoretischen System – der Funktionstheorie – zusammenzufassen.

Damit machte Riemann, insbesondere im deutschsprachigen Raum, den Tonalitäts-

begriff einem größeren musiktheoretisch interessierten Publikum zugänglich.

Zum ersten Mal verwendet Riemann den Begriff Tonalität in dem 1872 noch unter dem

Pseudonym Hugibert Ries veröffentlichen Aufsatz Ueber Tonalität133 und wendet den

Begriff damals noch ausschließlich auf Tonbeziehungen an. Drei wesentliche Aspekte

für Riemanns Tonalitätsauffassung sind in diesem Aufsatz aber bereits deutlich erkenn-

bar: (1) Tonalität entsteht erst durch eine Folge von mehreren Tönen. (2) Tonalität hängt

wesentlich von unserer Wahrnehmung134 und unserem Gedächtnis ab.135 (3) Jede

Aufeinanderfolge von Tönen bezieht sich auf einen Zentralton, ein Zentrum:

Aristoxanes sagt: beim Anhören von Musik ist unsere Geistesthätigkeit eine doppelte, Wahr-

nehmung und Gedächtnis. Wahrnehmung nämlich des eben Ertönenden und Gedächtnis des

Vorausgegangenen. In diesen Worten liegt das Geheimnis der Tonalität. Der Zweite Ton folgt

nicht als ein anderer, dem ersten fremder, nicht am Hören des einzelnen Tones erfreuen wir uns

130 Riemann bezeichnete Rameau, Hauptmann, Helmholtz und Oettingen als die vier „großen Harmo-

niker“ der Musikgeschichte (vgl. Hugo Riemann, Musikalische Logik [als Dissertation: Ueber das musikalische Hören, Leipzig 1874], Leipzig: C. F. Kahnt 1875, S. 4-6).

131 Vgl. ebda., S. 12f, 25. 132 Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10. 133 Vgl. Beiche, Tonalität, S. 9. 134 Der Begriff Wahrnehmung darf in diesem Zusammenhang nicht mit der akustischen Realität verwech-

selt werden. Riemann selbst hat die Tonika, unabhängig von der akustischen Realität, auch als „etwas Vorgestelltes, Imaginäres“ gedacht. Es handelt sich bei der Tonika gewissermaßen um eine psychi-sche „Realität“ (vgl. auch Hans-Ulrich Fuß, Funktion, in: Lexikon der systematischen Musikwissen-schaft [Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6], Laaber: Laaber 2010, S. 127-129, hier S. 128).

135 Vgl. auch Riemann, Musikalische Logik, S. 64: „Tonalität ist […] Festhalten eines Tones im Gedächtniss als Hauptton (Tonus).“

Page 40: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

34

[…], sondern der zweite wird uns verständlich in seinem Verhältnis zum ersten, wir hören […]

den ersten Ton auch dann noch im Gedächtnis, wenn der zweite erklingt.136

[… Wir suchen] in dem Zusammenklange wie in der Aufeinanderfolge vieler Töne einen Anhalt

[…], einen Ausgangs- oder Endpunkt – ein Zentrum, um das sich alles in enger Beziehung grup-

piert.137

1877 erweitert Riemann diese These auf Akkorde und Akkordverbindungen. Jeder Ton

steht von da an als Vertreter für einen Akkord:

Es verlangt aber eine Folge von Akkorden sowohl wie einer Folge einzelner Töne mit Akkord-

bedeutung (im Sinne der Klangvertretung138) eine innere Einheit, eine Bezogenheit auf ein

Centrum […]. Die Bezogenheit eines Harmoniegefüges auf einen Zentralklang nennt man (seit

Fétis) Tonalität.139

1882 definiert Riemann Tonalität schließlich – vergleichbar mit Helmholtz – nicht mehr

über die Beziehung zwischen Tönen, sondern über die „Bezogenheit [der Akkorde] auf

einen Hauptklang, die Tonika.“140 Auf diese Definition wird heute meist Bezug ge-

nommen, wenn im engeren Sinn von Tonalität gesprochen und damit eigentlich die

europäische Dur-Moll-Tonalität gemeint wird (zumindest im deutschsprachigen

Sprachgebrauch, der nachhaltig von Riemann geprägt wurde). Tonalität wird von

Riemann nun als moderner Tonartbegriff aufgefasst, der nicht mehr an eine Tonleiter

gebunden ist, sondern auch leiterfremde Töne umfasst.141 In diesem Zusammenhang ist

jedoch nicht zu vernachlässigen, dass die Tonika zwar einen zentralen Bezugsklang

darstellt, jedoch selbst erst über die beiden Funktionen der Subdominante und Domi-

nante definiert ist. Ein Akkord kann erst im harmonischen Verlauf eine Funktion im

Sinne Riemanns einnehmen und ist somit – diesmal im mathematischen Sinn – eine

Funktion der vorangegangenen und nachfolgenden Klänge. Auch der Begriff „funk-

136 Hugo Riemann, Ueber Tonalität [Neue Zeitschrift für Musik 1872, Bd. 45-46], in: Präludien und

Studien. Gesammelte Aufsätze zur Aesthetik, Theorie und Geschichte der Musik Bd. 3, Heilbronn: Schmidt (o. J.), S. 24.

137 Ebda., S. 25. 138 Ein Begriff, den Riemann von Helmholtz bzw. Oettingen übernahm. Vgl. auch: Julia Kursell, Kon-

sonanz / Dissonanz, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 227-230, hier S. 228.

139 Hugo Riemann, Musikalische Syntaxis. Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1877, S. 13f.

140 Riemann, Tonalität, S. 923f., zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 9. 141 Vgl. ebda.

Page 41: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

35

tionale Tonalität“ hat sich in Riemanns Nachfolge häufig als Synonym für die Dur-

Moll-Tonalität durchgesetzt.

Die Tonika ist bei Riemann als Zentralklang keine abstrakte Stufe, sondern sie bezeich-

net eine Funktion: Die I. Stufe ist je nach Zusammenhang auf unterschiedliche Weise zu

deuten (z.B. als Zwischendominante zur Subdominante oder als Subdominante der

Dominante). Der Zentralklang wechselt somit auf mikroformaler Ebene durch Modula-

tionen seinen Platz. Der Tonalitätsbegriff bezieht sich bei Riemann auf die Tonika der

„Haupttonart“, auf den sich, im Sinne eines übergeordneten Zentralklangs, die „Neben-

tonarten“ beziehen. Damit sieht Riemann Tonalität gewissermaßen als eine übergeord-

nete Tonart an: Während die Tonalität das Ganze Stück hindurch gleich bleibt, ändert

sich durch Modulationen streckenweise die Tonart und ein anderer Zentralklang ge-

winnt dadurch als neue Tonika an Bedeutung.142 Dennoch sei „jede Nebentonart auch

dann noch von der Haupttonart aus zu verstehen in ganz ähnlichem Sinne, wie im

engsten Kreise der leitereigenen Harmonik die Dominanten der Tonika gegenüber-

stehen“.143 Beiche kommt zu dem Schluss, dass „in H. Riemanns Nachfolge […]

Tonalität als erweiterter Tonartbegriff unter Betonung der Bezogenheit aller Klänge auf

ein Zentrum tradiert“ wird.144

In seinen Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“ stellte Riemann ein Tonnetz

dar, das mit Oettingens Tonnetz (vgl. Abbildung 10) vergleichbar ist. Dieses Tonnetz

zeigt sowohl die Beziehungen von Tonhöhen und Akkorden als auch jene zwischen

Tonalitäten bzw. Tonarten. Eine Gruppe von drei Tönen innerhalb eines nach oben

gerichteten Dreiecks stellt beispielsweise einen Dur-Dreiklang dar, während man in der

Horizontalen den Quintenzirkel ablesen kann.145

142 Vgl. ebda., S. 10; Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre [1887], Leipzig, Breitkopf & Härtel

51912, S. 215. 143 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 215. 144 Beiche, Tonalität, S. 10. 145 Vgl. auch Brian Hyer, Reimag(in)ing Riemann, in: Journal of Music Theory (Bd. 39,1), 1995, S. 101-

138, hier S. 101f.

Page 42: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

36

Abbildung 11: Riemanns Tonnetz.146

Einen etwas anderen Zugang zur Dur-Moll-Tonalität stellt Heinrich Schenkers Schich-

tenlehre dar, deren Grundzüge er zum ersten Mal in seiner Harmonielehre147 1906

veröffentlichte. Schenker reduziert in seinen Analysen während mehrerer Arbeits-

schritte den harmonischen und melodischen Gehalt eines Werkes auf den „Ursatz“, der

laut Schenker als „Hintergrund“ die eigentliche Grundlage und Struktur der Werke

bildet.148 Schenker wendet seine Theorien vornehmlich auf das so genannte „Genie-

werk“ der Musik zwischen etwa 1700 bis 1850 an. Er baut dabei insbesondere auf die

Lehre vom freien Satz nach Johann Joseph Fux und auf die Generalbasslehre nach Carl

Philipp Emanuel Bach auf. 149

Der „Ursatz“, den Schenker aus der Naturklangtheorie ableitet150, wird in verschiedenen

Varianten angegeben (Abbildung 12). Die Oberstimme bezeichnet er dabei als „Ur-

linie“, die Unterstimme bildet als „Brechung“ (auch „Bassbrechung“) immer eine Folge

der Stufen I–V–I. Urlinie und Brechung sieht Schenker als eine „Bewegung zu einem

Ziele hin“.151 Die strukturelle Melodieanalyse wird bei Schenker immer in „Zügen“

gedacht. Der „Ursatz“ kann dabei immer nur aus Terzzug (Abbildung 12 links),

146 Hugo Riemann, Ideen zu einer ‚Lehre von den Tonvorstellungen’, in: Jahrbuch der Musikbibliothek

Peters 21–22 (1914/15), Leipzig 1916, S. 1–26. hier S. 20. 147 Heinrich Schenker, Harmonielehre [1906] (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 1), Wien:

Universal Edition (o.J.). 148 Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, S. 208. 149 Vgl. Heinrich Schenker, Der freie Satz (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 3), Wien:

Universal Edition 1935, S. 1f. 150 Vgl. ebda., S. 30-36. 151 Ebda., S. 16f.

Page 43: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

37

Quintzug (Abbildung 12 Mitte) oder Oktavzug (Abbildung 12 rechts) bestehen.

Zwischen dem „Vordergrund“ – der den eigentlichen Notentext bezeichnet – und dem

„Hintergrund“ ist laut Schenker auch noch ein „Mittelgrund“ vorhanden, der als struktu-

relle Schicht zwischen Hinter- und Vordergrund vermittelt. Den Begriff „Tonalität“

wendet Schenker nur auf den Vordergrund an und versteht darunter im Prinzip alles,

was das musikalische Kunstwerk seiner Ansicht nach ausmacht:

Nenne ich den Inhalt der […] Urlinie Diatonie […], so zeigt der Vordergrund die Tonalität als

Summe aller Erscheinungen von den niedersten bis zu den umfassendsten, bis zu den schein-

baren Tonarten und Formen.152

Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug (links), Quintzug (Mitte), Oktavzug (rechts).153

Die Zentrierung der Melodik und Harmonik zugunsten eines Zentralklangs ist bei

Schenker in besonderer Weise ausgeprägt. Über die Bewegung der Oberstimme schreibt

Schenker: „Das Ziel, der Weg ist das Erste, in zweiter Reihe erst kommt der Inhalt.“154

Zusätzlich zu dem „Ziel“ der Linienführung beziehen sich alle musikalischen Ereignisse

auf einen einzelnen Grundton:

Innerhalb der Oktave ergab sich […] eine Gesamtbezogenheit des Satzes nur auf den einen

Grundton, den Grundton des Klanges. Die so für die Oberstimme, die Urlinie erzielte Tonfolge

stellt die Diatonie vor […].

Die gleiche Bezogenheit auf einen Grundton herrscht auch im Vordergrund: ist doch alle

Vordergrund-Diminution, einschließlich der scheinbaren Tonarten aus den Stimmführungsver-

wandlungen, zuletzt eben aus der Diatonie im Hintergrund erflossen.155

Schenkers Begriff der „Tonart“ ist vergleichbar mit Riemanns hierarchischem Tonali-

tätsbegriff, in dem Tonalität als übergeordnete Tonart gedacht wird:

152 Ebda., S. 17. 153 Heinrich Schenker, Der freie Satz. Anhang: Figurentafeln (Neue musikalische Theorien und Phanta-

sien Bd. 3), Wien: Universal Edition 1956, S. 1f. 154 Heinrich Schenker, Der freie Satz, S. 18. 155 Ebda., S. 31f.

Page 44: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

38

Wohl der verhängnisvollste Fehler der üblichen Theorie ist es aber, immer schon Tonarten anzu-

nehmen, wenn sie in Ermangelung von Hinter- und Mittelgrund-Erkenntnissen keine andere

Lösung findet. […] Nichts ist so kennzeichnend für die Theorie und die Analyse, wie eben der

schreiende Ueberfluß an Tonarten, den sie mit sich führen. Der Begriff Tonart als einer höheren

in die Vordergrund-Tonalität eingeordneten Einheit ist ihr noch völlig fremd, sie bringt es fertig,

schon einen einzigen unauskomponierten Klang als eine Tonart zu bezeichnen.156

1.6 Die Auflösung der Tonalität und Arnold Schönberg

Als Riemann 1893 in seiner Vereinfachten Harmonielehre157 zum ersten Mal die voll-

ständigen Funktionsbezeichnungen veröffentlichte, war sein Vorhaben eine alles umfas-

sende Theorie der dur-moll-tonalen Harmonik zu entwickeln bereits zum Scheitern

verurteilt. Der „Prozess“, den man im allgemeinen musikalischen Sprachgebrauch

häufig als „Auflösung der Tonalität“158 bezeichnet, war bereits nicht mehr umkehrbar

und seine Auswirkungen manifestierten sich in den Werken der zeitgenössischen

Komponisten. Bereits 1859 hatte Richard Wagner die Komposition an seinem Tristan

beendet und in der Folge der Uraufführung im Jahr 1865 bei nachfolgenden Genera-

tionen von Musiktheoretikern und Komponisten einen Diskurs ausgelöst, der bis heute

nachklingt. Kaum ein anderes musikalisches Element wurde so häufig zitiert und

analysiert wie der berühmte Tristan-Akkord, der sich vehement jeglicher tonaler Ana-

lyse entzog und so zum Sinnbild für die „Auflösung der Tonalität“ hochstilisiert wurde.

Walter Gieseler schreibt über dessen Bedeutung: „Der Tristan-Akkord ist noch nicht die

neue harmonische Welt, aber er kündigt sie an.“159 In seinem Parsifal, der am 26.7.1882

uraufgeführt wurde, zog Richard Wagner schließlich die Konsequenzen aus der Harmo-

nik des Tristan. Im Vorspiel des dritten Akts tritt anstelle der dur-moll-tonalen Tonika

der verminderte Septakkord in das Zentrum des kompositorischen Interesses und

übernimmt als Zentralklang auch weitgehend deren Funktion. Ähnliche Wege beschrei-

tet zur selben Zeit auch Franz Liszt in seinen späten Klavierwerken. Die mit über-

mäßigen Dreiklängen und verminderten Septakkorden angereicherte Harmonik setzt die

156 Ebda., S. 26. 157 Hugo Riemann, Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde

[1893], London: Augener 1899. 158 Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 278 u. Walter Gieseler, Harmonik in der Musik des 20.

Jahrhunderts. Tendenzen - Modelle, Celle: Moeck 1996, S. 7. 159 Gieseler, Harmonik, S. 7.

Page 45: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

39

Dur-Moll-Tonalität über weite Strecken außer Kraft und weist auf neue und ungenutzte

Möglichkeiten tonaler Beziehungen hin.160 Programmatisch wirkt in diesem Zu-

sammenhang der Titel von Liszts Klavierstück Bagatelle ohne Tonart aus dem Jahre

1885. Auch wenn Richard Wagner selbst die späten Werke seines Schwiegervaters zum

Teil als Senilitätserscheinung161 abgetan hat, sind sie doch Zeugnis der neuen Auf-

bruchstimmung, die sich damals ausgebreitet hatte.

Arnold Schönberg war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt und komponierte bereits

seine ersten Jugendkompositionen, noch weitgehend unbeeinflusst von den harmoni-

schen Neuerungen der Zeitgenossen. Dies änderte sich jedoch rasch, nachdem er 1894

Alexander von Zemlinsky kennen gelernt hatte, der ihn mit den Kompositionen Richard

Wagners und Franz Liszts vertraut machte.

Als ich ihn kennenlernte war ich ausschließlich Brahmsianer. Er liebte Brahms und Wagner glei-

chermaßen, wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde. Kein

Wunder, daß die Musik dieser Zeit deutlich die Einflüsse dieser beiden Meister zeigte, mit einem

gelegentlichen Zusatz von Liszt, Bruckner und vielleicht auch Hugo Wolf.162

Über Schönbergs Auffassung von Tonalität wurde bereits viel spekuliert. So schreibt

zum Beispiel Lukas Haselböck, dass „Schönberg [...] als einzige Voraussetzung für

‚Tonalität‘ das Vorhandensein sinnvoller Tonbeziehungen genannt hat.“163 Dieter

Rexroth ist derselben Auffassung und führt aus, dass „Schönberg [...] unter ‚tonal‘ ganz

allgemein eine Beziehung [versteht].“164 Auf der anderen Seite weist Martin Eybl darauf

hin, dass Schönberg den Begriff „Tonalität“ durchaus in unterschiedlichen Bedeutungen

gebraucht hat:

Demgegenüber bezeichnen einige Autoren des frühen 20. Jahrhunderts (Guido Adler, Arnold

Schönberg) mit Tonalität die Beziehungen zwischen Tönen im Allgemeinen. Das Fehlen eines

160 Vgl. Dieter Kleinrath, Kompositionstechniken im Klavierwerk Franz Liszts. Eine Gegenüberstellung

kompositorischer Verfahren im Früh- und Spätwerk unter besonderer Berücksichtigung des Klavier-stücks Funérailles, Kunstuniversität Graz 2007, S. 10-19.

161 Cosima Wagner, Die Tagebücher (Bd. 2), München: Piper 1976, S. 1059. (29. November 1882). 162 Arnold Schönberg, Rückblick, 1949, S. 434. 163 Lukas Haselböck, Zwölftonmusik und Tonalität. Zur Vieldeutigkeit dodekaphoner Harmonik, Laaber:

Laaber 2005, S. 17. 164 Dieter Rexroth: Arnold Schönberg als Theoretiker der tonalen Harmonik, Bonn 1971, S. 386.

Page 46: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

40

harmonischen Zentrums nennt Schönberg „aufgehobene Tonalität“, verwendet den Begriff

Tonalität somit doppeldeutig.165

Grund für die allgemeine Verwirrung um Schönbergs Tonalitätsauffassung ist folgende

viel zitierte Fußnote seiner Harmonielehre:

Nur so kann es gelten: Alles was aus einer Tonreihe hervorgeht, sei es durch das Mittel der

direkten Beziehung auf einen einzigen Grundton oder durch komplizierte Bindungen zu-

sammengefasst, bildet die Tonalität. [...] Ein Stück wird stets mindestens insoweit tonal sein

müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, neben-

oder übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben. [...] Zudem ist die Frage gar

nicht untersucht, ob das, wie diese neuen Klänge sich schließen, nicht eben die Tonalität der

Zwölftonreihe ist. Wahrscheinlich sogar ist es so [...]166

Zu diesem Zitat ist allerdings anzumerken, dass Schönberg diese Aussage machte um

den Begriff „Atonalität“ zu widerlegen und sich und seine Musik davon abzugrenzen.

Aus diesem Grund hat er hier den Tonalitätsbegriff wohl etwas weiter gefasst als

gewöhnlich. Dennoch ist erkennbar, dass Schönberg durchaus offen war für eine erwei-

terte Auslegung des Tonalitätsbegriffs. So vergleicht er die „neuen Klänge“ seiner

Musik anschließend mit dem Suchen nach dem Grundton zur Zeit der Kirchentonarten:

„Hier [in der neuen Musik] fühlt man ihn [den Grundton] noch nicht einmal, aber darum

ist er doch wahrscheinlich vorhanden.“167 Rückblickend präzisiert Schönberg 1949

seine Aussage nochmals:

In meiner Harmonielehre (1911) habe ich behauptet, daß die Zukunft bestimmt zeigen wird, daß

eine Zentralkraft, vergleichbar der Anziehungskraft einer Tonika, auch hier noch wirksam ist.

Zieht man in Betracht, daß z. B. die Gesetze von Bachs oder Beethovens satzbildenden Bedin-

gungen oder die von Wagners Harmonik noch immer nicht in wahrhaft wissenschaftlicher Weise

erforscht sind, so darf man sich nicht wundern, daß hinsichtlich der sogenannten „Atonalität“

noch kein solcher Versuch gemacht wurde.168

Zitate dieser Art sind in Schönbergs Schriften jedoch eher die Ausnahme als die Regel.

Meist verwendet er den Begriff Tonalität dagegen im „traditionellen“ Sinne bzw. gemäß

165 Martin Eybl, Tonalität, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systema-

tischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 485-488, hier S. 485. 166 Schönberg. Harmonielehre, S. 486. 167 Ebda. 168 Arnold Schönberg, Rückblick [1949], http://www.schoenberg.at, S. 437.

Page 47: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

41

der üblichen Bedeutung seiner Zeit; auch eine Nähe zur Naturklangtheorie ist dabei in

Schönbergs Denkweise erkennbar. So deutet er beispielsweise im Harmonielehre-

Kapitel Die Durtonart und die leitereigenen Akkorde die C-Dur-Skala anhand der

Obertonreihe169 und in seinem Aufsatz Problems of harmony findet sich folgender

Abschnitt:

Let us first examine the concept of tonality.

This coincides to a certain extent with that of key, in so far as it refers not merely to the relation

of tones with one another, but much more to the particular way in which all tones relate to a fun-

damental tone, especially the fundamental tone of the scale, whereby tonality is always compre-

hended in the sense of a particular scale. Thus, for example, we speak of a C-major tonality,

etc.170

Für Schönberg lagen also offenbar die Begriffe Tonalität und Tonart sehr nahe bei

einander. Er hebt auch die Bedeutung der Skala für seine Tonalitätsauffassung hervor,

allerdings fällt auf, dass auch für ihn nicht nur die Beziehungen der Töne untereinander,

sondern auch die Beziehung der Töne auf einen Fundamentalton (ein Begriff den

ebenfalls Rameau prägte) von Bedeutung seien. Im weiteren Verlauf des oben zitierten

Textes deutet Schönberg Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Tönen mit Hilfe

der Obertonreihe und bezeichnet Akkordfolgen, die in mehr als einer Tonart interpre-

tiert werden können, als „Gefahr“ für die Tonalität.171

Ein weiterer Aspekt, den Schönberg im Zusammenhang mit Tonalität immer wieder

hervorgehoben hat, ist die Bedeutung von Tonalität als eine vom Komponisten bewusst

eingesetzte Möglichkeit unter vielen.172 In diesem Zusammenhang steht Schönberg dem

Tonalitätsbegriff von Fétis nahe, der (sofern man Dahlhaus’ Interpretation folgt) zwar

die Naturklangtheorie nicht a priori ausschloss, die Entscheidung sie einem System

zugrunde zu legen, jedoch in die Verantwortung des Komponisten gelegt hat (vgl. S.

10). In der Harmonielehre schreibt Schönberg:

169 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 20-22. 170 Arnold Schönberg, Problems of Harmony [1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 169 171 Vgl. ebda., S. 169-173 172 Vgl. Constantin Grun, Arnold Schönberg und Richard Wagner: Schriften (Spuren einer außergewöhn-

lichen Beziehung Bd. 2), Göttingen: V&R 2006, S. 724-726.

Page 48: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

42

Die Tonalität ist eine sich aus dem Wesen des Tonmaterials ergebende formale Möglichkeit,

durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. […] Ich werde […]

mich […] hier darauf beschränken, bloß […] anzuführen: […] daß ich sie [die Tonalität] nicht

halte, wofür sie scheinbar alle Musiktheoretiker vor mir gehalten haben: für ein ewiges Gesetz,

ein Naturgesetz der Musik, obwohl dieses Gesetz den einfachsten Bedingungen des naturgege-

benen Vorbilds, des Tons und des Grundakkords, entspricht […].173

Schönbergs Tonalitätsbegriff ist vielseitig, jedoch nicht unbedingt widersprüchlich. Die

traditionelle Vorstellung von Tonalität benutzt er meist in seiner Rolle als Komposi-

tionslehrer und Pädagoge. In diesem Zusammenhang verwendet er den Begriff Tonalität

im Sinne einer historischen Epoche, die sich dadurch auszeichnete, dass Komponisten

aus freiem Willen den naturgegebenen Eigenschaften des Tones folgten und ihn, zum

Erzielen formaler Geschlossenheit, als einen Zentralklang annahmen. Den erweiterten

Tonartbegriff vertritt Schönberg dagegen in Diskussionen bezüglich der „neuen Musik“,

die er selbst entscheidend mitgestaltet hat. In diesem Sinne ist sein Tonalitätsbegriff ein

kaum greifbarer ideeller Gedanke, der im Prinzip auf jede tonhöhenbezogene Musik

angewendet werden könnte.

Zur „Auflösung der Tonalität“ trug Schönberg nicht nur in seiner Funktion als innova-

tiver Komponist bei, auch sein Sprachgebrauch in Bezug auf den Tonalitätsbegriff

förderte entschieden diese Vorstellung. Während Helmholtz noch meinte „die moderne

Musik hat hauptsächlich das Princip der Tonalität streng und consequent entwickelt“

(vgl. S. 30), wird, spätestens seit Schönberg, der Tonalitätsbegriff in Bezug auf die

musikalische Syntax der Spätromantik zunehmend in Frage gestellt. Im Zusammenhang

mit seinen Frühwerken, wie z.B. dem 1899 komponierten Streichsextett Verklärte Nacht

op. 4, sprach er von „Stellen einer unbestimmbaren Tonalität, die zweifellos als Hinweis

auf die Zukunft gelten können“174. Als Beispiel gibt Schönberg die Takte 138-139 aus

dem Streichsextett an (Abbildung 13), in denen kein eindeutiger Grundton- bzw.

Tonartbezug mehr erkennbar ist. Wie später noch zu sehen sein wird (vgl. S. 117), ist

die Harmonik dieses Abschnitts eng verwandt mit der Harmonik der Einleitung zum

dritten Akt von Richard Wagners Parsifal.

173 Schönberg, Harmonielehre, S. 27. 174 Schönberg, Rückblick, S. 437.

Page 49: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

43

Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140.

Ein Kapitel seines Buchs Die formbildenden Tendenzen der Harmonie widmete Schön-

berg der „erweiterten Tonalität“175 und in seiner Harmonielehre verwendet er Begriffe

wie „schwebende Tonalität“ und „aufgehobene Tonalität“176. Unter schwebender

Tonalität verstand Schönberg Musik, deren Harmonik sich nicht auf einen einzelnen

Zentralklang beschränkt, sondern stets zwischen zwei oder mehreren oft gleichberech-

tigten Zentren hin und her schwankt, gleichsam zwischen diesen Klangwelten schwebt.

Schwebende Tonalität erkennt Schönberg bereits im letztem Satz von Ludwig v.

Beethovens e-Moll-Quartett op. 59/2 sowie im Finale von Robert Schumanns Klavier-

quintett.177

175 Arnold Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie [Structural Functions of Harmony,

1948], Mainz: B. Schott’s Söhne 1954, S. 74-110. 176 Schönberg. Harmonielehre, S. 509. 177 Ebda., S. 460.

Page 50: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

44

1.7 Der Tonalitätsbegriff im 20. Jahrhundert

Zum Ende des 19. Jahrhundert hatte sich die Bedeutung des Tonalitätsbegriffs im

deutschsprachigen Raum zunehmend gefestigt und wurde von Helmholtz und Riemann

auf die musikalische Syntax der europäischen Kunstmusik reduziert. Das wesentliche

Merkmal der Definition ist von nun an der Zentralklang – die Tonika – auf den sich alle

anderen Töne und Akkorde beziehen. Die besondere Bedeutung des Zentralklanges

führte dazu, dass einige Autoren Metaphern für den Begriff der Tonika einführten, wie

zum Beispiel „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“, „Kraftzentrum“ oder

„Brennpunkt“ („focal point“). Zugleich wird Tonalität nun immer häufiger mit hör-

psychologischen Aspekten in Verbindung gebracht wie beispielsweise von Jacques

Chailley, der Tonalität als eine „musikalische Wahrnehmungsart“ bezeichnet.178 Seit

den 1920er Jahren gewinnt „Tonalität“ auch als erweiterter Tonartbegriff, wie er von

Riemann beschrieben wurde, zunehmend an Bedeutung. So schreibt Hermann Grabner

in der Allgemeinen Musiklehre 1924: „Die Beziehungen der einzelnen Tonarten eines

Stückes zur Haupttonart heißt Tonalität.“179

Während die Musiktheorie um 1900 gerade noch dabei war den Begriff Tonalität

aufzuarbeiten und „die tonale Musik“ zu systematisieren, begannen Komponisten wie

Franz Liszt, Arnold Schönberg oder Alexander Skrjabin die Tonalität in Frage zu stellen

und sich neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zuzuwenden und lösten mit dem

darauf folgenden Stilpluralismus des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise auch einen

analogen Systempluralismus in der Musiktheorie aus. Musiktheoretiker waren im 20.

Jahrhundert zunehmend gezwungen ihre Theorien den neuen Gegebenheiten der zeit-

genössischen Kompositionspraxis anzupassen und es scheint, als hätte man sich zumeist

damit abgefunden gehabt, dass Tonalität, mit ihren reichhaltigen Facetten, eine histo-

rische Erscheinung war, die im 20. Jahrhundert nur mehr in Popularmusik oder ver-

wandten Genres eine Gültigkeit besäße. Bestenfalls wird bei Diskussionen um die

Musik des 20. Jahrhunderts vorsichtig der Begriff „post-tonal“ angewendet, um damit

auszudrücken, dass tonale Elemente auch in späteren Werken der Kunstmusik noch

teilweise aufgegriffen wurden oder weiterwirken. Diese Entwicklung wurde insbeson-

178 Vgl. Beiche, Tonalität, S. 10-11. 179 Hermann Grabner, zit. nach Beiche, Tonalität, S. 11.

Page 51: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

45

dere auch durch die zunehmende Abneigung zeitgenössischer Komponisten gegenüber

dem Begriff Tonalität nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefördert. Die Polari-

sierung während der Nachkriegszeit in Komponisten, die tonale Elemente in ihren

Kompositionen nutzten, und solche, die sich ihnen verweigerten, war nicht zuletzt auch

von der Rhetorik Schönbergs im Zusammenhang mit Tonalität und neuer Musik ge-

prägt. Ein weiterer Grund für die zunehmende Abneigung gegen Tonalität und der

damit oft verbundenen Naturklangtheorie könnte damit zusammenhängen, dass eine von

der Naturklangtheorie abgeleitete europäische Dur-Moll-Tonalität leicht die Züge von

nationalistischem und rassenspezifischem Gedankengut annehmen konnte. So fand man

zum Beispiel in der Bibliothek Adolf Hitlers ein Exemplar des Buches Der Naturklang

als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische Musiktheorie in zwei Teilen von Josef

Achtélik.180 In diesem Werk versucht Achtélik, unter anderem aufbauend auf den

Thesen Riemanns181, die Naturklangtheorie als einzig wahre Grundlage jedweder Musik

darzustellen:

Für uns, die wir alle Klangmöglichkeiten eines Naturklanges als Tonalität empfinden und damit

nur der Weisung der Natur folgen, für uns ist auch die jetzige Epoche nur ein Entwicklungsüber-

gang [...]182

Die Musik der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg lehnt Achtélik dagegen

kategorisch ab:

Schönberg und der kleine Kreis um ihn, zum großen Teil asiatischer Abstammung, erhoben die

Dissonanz zum einzigen musikalischen Zusammenklang. [...]

So kommt es denn, dass man diese Musik weder verstehen noch empfinden kann, daß man sie

weder schön noch erhebend, weder wohltuhend noch begeisternd finden kann. Die Musik ist

zum nichtssagenden, weil alles auf einmal sagenwollenden Tongeräusch erniedrigt worden. [...]

Daß Gehörreizungen durch diese Klangballungen hervorgerufen werden, wird niemand bestrei-

ten; aber Musik ist das nicht mehr. [...] impotente Versuche degenerierter Nerven nennen es die

meisten.183

180 Vgl. Library of Congress: Third Reich Collection. 181 Vgl. Josef Achtélik, Der Naturklang als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische Musiktheorie

(Band 2), Frankfurt: C.F. Kahnt 1922, S. 101ff. 182 Ebda., S. 145. 183 Ebda.

Page 52: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

46

In den 1960er Jahren griff Carl Dahlhaus in seiner Habilitationsschrift Untersuchungen

über die Entstehung der harmonischen Tonalität den Tonalitätsbegriff erneut auf.

Dahlhaus versuchte darin weniger die bestehenden systematischen Aspekte im Zu-

sammenhang mit dem Begriff zu erweitern, als vielmehr „die Entstehung der harmoni-

schen Tonalität in der Mehrstimmigkeit des 16. und 17. Jahrhunderts“ zu unter-

suchen.184 Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war dabei Fétis’ historischer Tonali-

tätsbegriff und dessen Einteilung der Musikgeschichte in unterschiedliche Epochen,

basierend auf der jeweiligen harmonischen Syntax. Dahlhaus stellt fest, dass „Tonalität

außer einer systematischen auch eine historische Kategorie ist. Die Tonalität des 16. und

die des 19. Jahrhunderts sind Stufen einer zusammengehörigen Entwicklung.“185 Den

Begriff „harmonische Tonalität“ verwendet Dahlhaus dabei „synonym mit Riemanns

‚Tonalität‘ und Fétis’ ‚tonalité moderne‘“186. Der harmonischen Tonalität stellt

Dahlhaus den Begriff der „melodischen Tonalität“ gegenüber, „die der harmonischen –

durch Akkorde fundierten – des 17. Jahrhunderts vorausging“.

Die rasante Entwicklung von Computertechnologien und der damit verbundene Auf-

schwung der Naturwissenschaften seit den 1950er Jahren wirkte sich auch nachhaltig

auf die Musiktheorie aus. Schlüsselwörter wie „Berechenbarkeit“ („computability“) und

„Interdisziplinarität“ sind seither in allen Wissenschaftsbereichen an der Tagesordnung

und werden oft sogar als ein „Qualitätsmerkmal“ neuer Theorien angesehen. Vor allem

in den USA werden Forschungsgelder oft nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit einer

Software-Implementierung und der damit verbundenen wirtschaftlichen Aussichten

vergeben.

Auch die Mathematik hatte in der Folge großen Einfluss auf musiktheoretische Unter-

suchungen. Die von Milton Babbit 1946 und 1961 entwickelte pitch class set theory187

wurde von Allen Forte seit den 1960er Jahren als Analysewerkzeug für harmonische

Zusammenhänge weiterentwickelt. Forte nutzt Erkenntnisse der mathematischen

Mengenlehre und wendet diese auf Tonmengen (pitch sets) an. Eine Gruppe von Tönen,

wie ein Akkord oder auch eine melodische Linie, wird von Forte in einer mathema-

184 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 18. 185 Ebda. 186 Ebda. 187 Vgl. Stephan Lewandowski, Pitch Class Set, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft

(Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 380-382, hier S. 381.

Page 53: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

47

tischen Menge zusammengefasst und in ihre „Grundform“ (prime form) gebracht, die

anschließend gemäß ihrer Intervallstruktur zur Bezeichnung der Tonmenge dient. Ein

Dreiklang (sowohl Dur als auch Moll) lautet in der prime form beispielsweise „037“

(von Forte auch als „3-11“ bezeichnet). Die Zahlen beziehen sich dabei auf die – von

der Ziffer Null aus gerechneten – Intervalle der kleinen Terz (3) und der reinen Quint

(7). Damit erzeugte Forte einerseits einen Quasi-Standard für die Abbildung von Ton-

mengen in Computern mittels der Zahlen null bis elf, andererseits verzichtet die set

theory auch auf enharmonische Verwechslungen und stellt damit eine allgemeine

Terminologie für die abstrakte Kommunikation von Klängen zur Verfügung.188 Die

pitch class Analyse ermöglichte insbesondere neue Einblicke in die Klangorganisation

post-tonaler Musik, Forte wendet sie jedoch gelegentlich auch auf Analysen spättonaler

Musik, wie z.B. Werke von Franz Liszt, an.189

Auch statistische Methoden wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer

häufiger für die musikalische Analyse herangezogen. Der Komponist Raymond Wild-

ing-White geht 1961 sogar so weit in einem Artikel „Tonikalität“190 als ein (mathema-

tisches) Verfahren anzusehen: „it is a measure of bias and represents the relative impor-

tance given to each of the subsets contained in a given set.“191 Die Tonika einer Tonali-

tät wäre damit der „relativ bedeutendste“ Akkord oder Ton innerhalb einer Menge von

Akkorden oder Tönen.

Seit den letzten 15 Jahren gewann mit der Neo-Riemann-Theorie auch eine Neuinter-

pretationen der Funktionstheorie Riemanns zunehmend an Bedeutung. Die Neo-

Riemann-Theorie verbindet zeitgenössische Strömungen wie set theory und Berechen-

barkeitstheorie mit musiktheoretischen Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts und steht

dabei auch der Kognitionswissenschaft sowie der Sprachwissenschaft – namentlich

Noam Chomskys Transformationstheorie192 – nahe.

188 Vgl. Allen Forte, A Theory of Set-Complexes for Music, in: Journal of Music Theory (Bd. 8,2), 1964,

S. 136-139, 141, 140, 142-183. 189 Vgl. Allen Forte, Liszt’s Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century, in: 19th-

Century Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228. 190 Der Begriff „Tonikalität“ geht auf Rudolph Reti zurück und hebt die Bedeutung des Grund- oder

Zentraltons der Dur-Moll-Tonalität hervor (vgl. Dahlhaus, Tonalität, S. 623). 191 Raymond Wilding-White, Tonality and Scale Theory, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,2), 1961, S.

275-286, hier S. 280. 192 Vgl. Noam Chomsky, Syntactic Structures [1957], Berlin, New York: Mouton de Gruyter 2002.

Page 54: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

48

Riemanns Anspruch einer allumfassenden Theorie dur-moll-tonaler Harmonik wurde

im 20. Jahrhundert immer wieder stark kritisiert. Harmonische Neuerungen in der

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nach Schönberg eine „schwebende“ oder

„aufgelöste“ Tonalität darstellen, lassen sich mit der Riemannschen Funktionstheorie

kaum oder nur unzulänglich beschreiben. Die zunehmende Chromatisierung romanti-

scher Musik sowie die Verwendung „vagierender“193 Akkorde führte dazu, dass harmo-

nische Folgen nicht mehr nur aus Sicht einer einzelnen Tonika gedacht werden können,

sondern vielmehr in kurzen Abschnitten den Zentralklang wechseln. Außerdem wurden

die traditionellen Harmoniefortschreitung im Quintenzirkel immer mehr mit median-

tischen Harmoniefolgen im Terzenzirkel angereichert. Die Vorstellung eines einzelnen

– die gesamte Harmonik bestimmenden – Zentralklangs scheint in Bezug auf einen

großen Teil spätromantischer Musik demnach nicht mehr haltbar zu sein. Die Neo-

Riemann-Theorie ist ein Versuch dieser Problematik Rechnung zu tragen, indem sie

Akkorde nicht mehr auf einen Zentralklang bezieht, sondern statt dessen die direkten

Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Klängen untersucht:

I propose to position triadic harmonies in relation to neither a diatonic system nor a tonal center,

but rather to other triadic harmonies on the basis of the number of pitch-classes that they share,

and more generally on the efficiency of the voice leading between them.194

Die Ursprünge der Neo-Riemann-Theorie gehen auf David Lewin zurück. In seinem

1982 erschienenen Artikel A Formal Theory of Generalized Functions195 definiert

Lewin mathematische „Transformationen“ („transformations“) die sich auf „Riemann-

193 Ein Terminus den ebenfalls Schönberg prägte. Unter „vagierenden“ Akkorden versteht Schönberg

Akkorde, die in unterschiedlichen Tonarten unterschiedliche Funktionen ausüben (wie z.B. der über-mäßige Dreiklang, der verminderte Septakkord oder der halbverminderte Septakkord) und somit nicht auf eine einzelne Tonart bezogen werden können (Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 310ff). Allerdings ist diese Verallgemeinerung durchaus problematisch da zweifelsfrei jeder Mehrklang – auch der Dur-Dreiklang – in unterschiedlichen Tonarten gedeutet und somit als „vagierender“ Akkord gedacht werden kann. Insofern macht einen „vagierenden Akkord“ weniger der Akkordtyp aus, sondern viel mehr die Art und Weise, in der er verwendet wird. Werner Breig schreibt diesbezüglich: „Die zur Kategorie der vagierenden Akkorde gehörenden Klänge können zwar so behandelt werden, daß ihr Tonartbezug eindeutig bleibt; zu ihrer eigentlichen Wirksamkeit als ‚vagierende‘ Akkorde gelangen sie jedoch dann, wenn ihr gehäuftes Auftreten zur schwebenden und aufgehobenen Tonalität führt.“ (Werner Breig, Vagierender Akkord, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stuttgart: Steiner 1999, S. 1).

194 Ebda., S. 214. 195 David Lewin, A Formal Theory of Generalized Tonal Functions. Journal of Music Theory (Bd. 26,1),

1982, S. 32-60.

Page 55: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

49

Systeme“ anwenden lassen.196 Eine Transformation ist dabei gewissermaßen eine

Funktion, die als Input einen Klang akzeptiert und diesen Klang nach bestimmten

Regeln verändert, um so zu einem neuen Klang zu gelangen. In Generalized Musical

Intervals and Transformations197 (1987) verfeinert Lewin seine Theorie und untersucht

Transformationen im Zusammenhang mit konsonanten Dreiklängen. Lewin unterschei-

det zwischen zwei Klassen von Transformationen: der Umkehrung („inversion“) und

der Verschiebung („shift“). Eine Verschiebung bewirkt, dass ein Dreiklang auf einer

alterierenden Terzenskala (Abbildung 14), vergleichbar mit der Skala in Abbildung 9

von Hauptmann, eine bestimmte Anzahl von Stellen nach links („left shift“) oder rechts

(„right shift“) verschoben wird.198

b – Db – f – Ab – c – Eb – g – B – d – F – a – C – e – G – h – D – f# – A – c# – E – g# – H – d

Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.

Eine einfache Verschiebung nach links bezeichnet Lewin als MED, da der Zielakkord

zum Ausgangsakkord in einer mediantischen Beziehung steht (z.B. C-Dur → a-Moll),

eine doppelte Verschiebung nach links bezeichnet er entsprechend als DOM, da es sich

um eine dominantische Beziehung handelt (z.B. C-Dur → F-Dur).199 Als Umkehrungs-

Transformationen definiert Lewin

REL, the operation that takes any Klang into its relative major/minor. […] We can also define

PAR, the operation that takes any Klang into its parallel major/minor. […] We can define Rie-

mann’s „leading tone exchange“ as an operation LT.200

Akkordfolgen, welche diesen Transformationen entsprechen stellt Lewin in Form von

zweidimensionalen gerichteten Graphen dar.201 Abbildung 15 zeigt zwei

Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von Ludwig v.

196 Lewin definierte seine Theorie mit Berücksichtigung möglicher Berechenbarkeit mathematisch. Die

Transformationen sind demnach nicht auf Dur- und Moll-Dreiklänge beschränkt, sondern können abhängig vom zugrunde liegenden „Riemann System“ auch auf andere Dreiklänge angewendet werden (vgl. Lewin, A Formal Theory, S. 26).

197 David Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations [1987], Oxford/New York: Oxford University 2007.

198 Vgl. Richard Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory: A Survey and a Historical Perspective, in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 167-180, hier S. 170.

199 Vgl. ebda., S. 170f. 200 Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178. 201 Vgl. Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 171.

Page 56: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

50

Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“. Die Pfeile zeigen dabei nicht den harmoni-

schen Verlauf an, sondern die Richtung der Transformation. 1993 wendet Lewin seine

Theorie in Analysen auf Luigi Dallapiccolas Simbolo, Karlheinz Stockhausens Klavier-

stück Nr. 3 (1952), Anton Weberns op. 10/4 aus Fünf Stücke für Orchester (1911) sowie

Claude Debussys Feux d'artifice (1910-1912) an.202

Abbildung 15: Zwei Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“.203

Lewins Theorie wurde von Brian Hyer aufgegriffen und weiterentwickelt. Hyer ver-

zichtet auf die redundante MED-Transformation, da diese im Prinzip der PAR-

Transformation entspricht und reinterpretiert die DOM-Transformation als Transposi-

tion. Die Verschiebungs-Transformationen werden von da an in der Neo-Riemann-

Theorie meist fallen gelassen. Eine besondere Leistung Hyers war es die Beziehungen

zwischen den einzelnen Transformationen in einem Graphen darzustellen (Abbildung

16). Er bezieht sich dabei direkt auf die Tabellen von Tonartverwandtschaften bzw.

Tonnetze, wie sie von Musiktheoretikern des 19. Jahrhunderts (z.B. Weber und

Oettingen, vgl. Abbildung 7 u. Abbildung 10) entworfen wurden. Die drei Koordinaten

des Graphen repräsentieren dabei die drei Intervalle des diatonischen Dreiklangs (reine

Quint auf der Horizontalen, große und kleine Terz auf den beiden Diagonalen); jedes

Dreieck des Graphen entspricht einem Dreiklang.

202 Vgl. David Lewin, Musical Form and Transformation. Four Analytic Essays [1993], Oxford: Oxford

University 2007. 203 Vgl. Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.

Page 57: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

51

Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer.204

Richard Cohn untersuchte 1996 die verschiedenen Umkehrungs-Transformationen und

interessierte sich dabei insbesondere für die Stimmfortschreitungen, die bei derartigen

Transformationen entstehen. Bei jeder Umkehrungs-Transformation bleiben zwei

Akkordtöne liegen, währen ein Akkordton in einem kleinen oder großen Sekundschritt

verändert wird. Diese Akkordzusammenhänge stellte Cohn als „maximally smooth

cycles“ auf einem Kreis-Diagramm dar, auf dem sich jeder Akkord durch die chroma-

tische Veränderung von einem Ton in den nächsten verwandelt, bis zum Schluss der

Ausgangsakkord wieder erreicht wurde (Abbildung 17). Diese Akkordfortschreitung

basiert auf einem Großterzzirkel, einer Fortschreitung, die in spätromantischer Musik

oft eine bedeutende Rolle einnahm.205 Eine eindeutige Zentrierung auf eine Tonika im

funktionstheoretischen Sinne ist innerhalb des abstrakten Zirkels unmöglich, da jeder

Akkord im Verhältnis zu den anderen prinzipiell die gleiche Bedeutung hat.

204 Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 172. 205 Vgl. Richard Cohn, Maximally Smooth Cycles, Hexatonic Systems, and the Analysis of Late-Romantic

Triadic Progressions, in: Music Analysis (Bd. 15,1), 1996, S. 9-40, hier S. 9-17; Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 174f.

Page 58: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

52

Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“.206

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wandte Cohn unter anderem auf Franz Schuberts

Klaviertrio in Es-Dur op. 100 (D. 929) an. Die Take 586-598 der Coda dieses Werkes

enthalten den in Abbildung 18 dargestellten harmonischen Verlauf, der genau den

„maximally smooth cycles“ entspricht.207

Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; harmonischer Verlauf der Takte 586-598.

206 Ebda., S. 17. 207 Vgl. zu Cohns Schubert-Analyse: Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for Gazing at

Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (Bd. 22,3), 1999, S. 213-232, hier S. 215.

Page 59: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

53

In weiterer Folge wurde die Neo-Riemann-Theorie von vielen Autoren aufgegriffen und

erweitert, um damit weitere Akkordverbindungen zu untersuchen. David Kopp beschäf-

tigte sich in seinem Buch Chromatic transformations in nineteenth-century music

beispielsweise mit mediantischen Beziehungen zwischen Dreiklängen.208 Jack Douthett

und Peter Steinbach erweiterten in Korrespondenz mit Richard Cohn die „maximally

smooth cycles“ auf übermäßige Dreiklänge und Septakkorde.209 Abbildung 19 zeigt

eine dreidimensionale Darstellung der vier Zyklen, von denen jeweils zwei über einen

gemeinsamen übermäßigen Dreiklang chromatisch verbunden sind. Abbildung 20 zeigt

eine vergleichbare Darstellung für Dominantseptakkorde und halbverminderte Sept-

akkorde, die über den verminderten Septakkord chromatisch verbunden sind.

Abbildung 19: „Dancing Cubes“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen über-mäßigen Dreiklängen und Dur- bzw. Molldreiklängen.210

208 David Kopp, Chromatic transformations in nineteenth-century music (Cambridge studies in music

theory and analysis 17), Cambridge: Cambridge University Press 2002. 209 Jack Douthett / Peter Steinbach, Parsimonious Graphs: A Study in Parsimony, Contextual Transfor-

mations, and Modes of Limited Transposition, in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 241-263.

210 Ebda., S. 254.

Page 60: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

54

Abbildung 20: „Power Towers“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen vermin-derten Septakkorden mit dem Dominantseptakkord und dem halbverminderten Septakkord.

Die Vorteile der Neo-Riemann-Theorien im Vergleich zu Riemanns Funktionstheorie

lassen sich an einem einfachen Beispiel aufzeigen. Abbildung 21 zeigt eine schlichte

Akkordfolge in C-Dur inklusive einer möglichen funktionstheoretischen Interpretation

(zu diesem Beispiel ist anzumerken, dass es keinerlei Anspruch auf künstlerischen Wert

erhebt, sondern lediglich der Anschaulichkeit dient). Abbildung 22 zeigt dieselbe

Akkordfolge, diesmal im Sinne der Neo-Riemann-Theorie mittels Transformationen

gedeutet. Anhand des dort dargestellten gerichteten Graphen kann man, im Gegensatz

zur Riemannschen Funktionsanalyse, leicht erkennen, dass die Akkordfolge einem

gleich bleibendem Schema folgt. Die Transformationen PAR und LT wechseln sich

kontinuierlich ab, bis hin zum B-Dur-Dreiklang in Takt 5. Die Verbindung zwischen B-

Dur und G-Dur kann man wiederum als eine LT-Transformation gefolgt von einer

REL-Transformation ansehen, bevor schließlich mit einer DOM-Transformation zum

C-Dur-Dreiklang zurückgekehrt wird.

Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet.

Page 61: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

55

C+

A- F+

D-

B+G

LT

PAR

LTDOM

PAR

[G-] PARREL

PAR+REL

Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet.

1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf und Lissa

Hermann Erpf prägte 1927 in seinem Buch Studien zur Harmonie- und Klangtechnik

der neueren Musik den Terminus „Klangzentrum“, der zahlreiche Analyseansätze post-

tonaler Musik beeinflusste. Er definierte die Technik des Klangzentrums wie folgt:

Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen nach Intervallzusammen-

hang, Lage im Tonraum und Farbe bestimmten Klang, der im Zusammenhang nach kurzen Zwi-

schenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser Klang, der meist ein dissonanter

Vielklang von besonderem Klangreiz ist, in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines

klanglichen Zentrums, von dem die Entwicklung ausgeht, und in das sie wieder zurückstrebt. Die

Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika

vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt, in dem

dieses Gebilde noch in einer letzten Beziehung auf die Funktionsharmonik zurückweist.211

Erpf beschreibt die Technik des Klangzentrums als einen „funktionslosen Satztypen“,

wobei er sich mit dem Begriff „Funktion“ hier auf Riemanns Funktionstheorie im Sinne

der Dur-Moll-Tonalität bezieht. Als weitere funktionslose Satztypen gibt er die

211 Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 122.

Page 62: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

56

„Technik der ostinaten Unterlage“212 und die „Zwölf-Töne-Musik“ an.213 Es scheint

offensichtlich, dass Erpf diese Techniken nur deshalb unter einem Satztypus zu-

sammengefasst hat, da sie seiner Meinung nach eines gemeinsam haben: die resul-

tierende Harmonik ist aus Sicht der Dur-Moll-Tonalität nicht oder nur schwer erklärbar;

selbst wenn man einen einzelnen Klang aus Sicht der Dur-Moll-Tonalität deuten

könnte, würde er im musikalischen Zusammenhang keine Funktion im Sinne Riemanns

einnehmen. Aus dieser Sicht ist es überraschend, dass Erpf die Technik des Klangzen-

trums trotzdem mit den Begriffen der Riemannschen Funktionstheorie als einen „ge-

wissen Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika“ beschreibt und damit impliziert, dass das

Klangzentrum dieser Technik dieselbe musikalische Funktion besäße wie der Zentral-

klang der Dur-Moll-Tonalität, die Tonika. Auch die Ähnlichkeit des Begriffs mit den

oben erwähnten Synonymen für die Tonika – „Konzentrationston“, „Gravitations-

zentrum“, „Kraftzentrum“ und „Brennpunkt“ – ist sehr auffällig. Erpfs Definition der

Klangzentren-Technik erweckt den Anschein, als hätte sich die Dur-Moll-Tonalität in

manchen Werken der Atonalität nicht zur Gänze „aufgelöst“ gehabt; statt dessen könnte

das definierende Moment – der Zentralklang – im Zuge der harmonischen Neuerungen

lediglich neue Formen angenommen haben.

Durch den Vergleich mit einer Tonika macht Erpf gleichzeitig auch eine Aussage über

die hörpsychologischen Eigenschaften des Klangzentrums. Das Klangzentrum müsste in

diesem Sinne ein Klang sein, der im musikalischen Zusammenhang keiner Auflösung

mehr bedarf, obwohl es sich dabei laut Erpf meist um einen dissonanten Vielklang

handelt. Auch alle akkordfremden Töne beziehen sich entsprechend auf dieses Klang-

zentrum und sind aus dessen Sicht zu deuten. Erpf spricht in diesem Zusammenhang

von „Nebennoten“ und „Vorhalten“.214 Auch die restliche Harmonik bezieht sich laut

Erpf direkt auf das Klangzentrum, wie an dem Vergleich von kontrastierenden Zwi-

schenpartien mit „dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika“ deutlich wird.

212 Unter der „Technik der ostinaten Unterlage“ versteht Erpf mehrstimmige ostinierende Figuren im

Bass, die eigenständige harmonische Folgen ausbilden. Die Melodiestimmen bewegen sich zum Teil unabhängig von der Harmonik der ostinaten Unterlage und sind insofern – im Sinne der Dur-Moll-Tonalität – nicht funktional zu deuten (vgl. ebda., S. 122f, 194-198).

213 Vgl. ebda. 214 Vgl. z.B. Erpfs Analyse von Schönbergs Klavierstück op. 19/6 (ebda., S. 198).

Page 63: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

57

Als Beispiel für die Technik des Klangzentrums, diskutiert Erpf Schönbergs Klavier-

stück op. 19/6 (1911).215 In diesem Werk kann der in Abbildung 23 dargestellte Akkord

als Zentralklang interpretiert werden. Seine sehr stabile Klangwirkung erhält der

Akkord unter anderem durch seine weite Lage und die Quartenschichtung der Außen-

stimmen (g–c1–f1 sowie fis2–h2). Dur-moll-tonale Bezüge werden durch den gedrängten

Tonvorrat (G–A–H–C–F–Fis) sowie durch die interne Intervallstruktur (2 große Nonen:

g–a1, a1–h2; eine kleine None: f1–fis2; zwei Tritoni: c1–fis2, f1–h2) weitgehend aus-

geschlossen.

Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6.

In dem nur neun Takte dauernden Werk klingt dieser Klang in den ersten drei Takten

sowie im letzten Takt (Abbildung 24). Der Klang in Takt 5-6 könnte als eine Variation

des Klanges in einer Transposition des Tonvorrats nach C gedeutet werden (C–D–E–F–

B–[H]). Zugleich stellt Takt fünf, durch das typische Aussetzen eines Dominantsept-

akkords auf E im zweiten System, auch recht eindeutige dur-moll-tonale Beziehungen

her. Dies könnte der Grund für die beiden eigentlich akkordfremden Töne Gis und Fis

sein, die den Klang hier von einem vorwiegend aus Quarten zusammengesetzten Klang

in einen vorwiegend ganztönigen Klang verwandeln (C–D–E–[F]–Fis–Gis–B). Als

Verbindung dieser beiden Klänge erweitert Schönberg auf der zweiten Viertel von Takt

Fünf die untere Quartenstruktur des Klangzentrums kurzzeitig zu einem viertönigen

Quartenklang (g–c1–f1–b1). Die Takte sieben und acht lassen sich nur schwer aus Sicht

des Klangzentrums deuten und bilden einen Kontrast. Auffällig ist, dass die Melodie in

Takt sieben die letzten beiden Töne Cis und Es der chromatischen Skala einführt und

damit den Tonvorrat vom achten Takt vorbereitet. Der erste Klang in Takt acht hat als

strukturbildendes Element wiederum den dreistimmigen Quartenklang im unteren

System. Dieses Klangelement wandert damit von den Unterstimmen (T. 1-5) in die

Oberstimmen (T. 5-6) und wieder zurück (T. 8 sowie T. 9). So ist der Zentralklang nicht

nur ein harmonischer Ruhepunkt, von dem die Bewegung ausgeht und in die sie wieder

215 Vgl. Ebda.

Page 64: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

58

zurückkehrt, sondern dient auch als strukturbildendes Vorbild für die restlichen Klänge

des Werkes.

Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6.

Anton Weberns erstes Lied der 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4

(Abbildung 25) ist ein weiteres Beispiel für die Technik des Klangzentrums. Die

Akkordstruktur des Klangzentrums im ersten Takt dient auch hier den übrigen Harmo-

nien als Vorbild. Besonders auffallend sind in diesem Zusammenhang die Quartenstruk-

turen (inclusive übermäßiger Quart) aus denen sich die Klänge meist aufbauen. In Takt

5 sowie zum Schluss des Werkes kehrt die Harmonik wieder zum Klangzentrum zu-

rück.216

216 Weitere Werke Weberns, in denen die Technik des Klangzentrums angewendet wurde sind laut

Rudolf Stephan unter anderem die Lieder op. 3/4 und op. 4/4. Albern Bergs Fünf Orchesterlieder

Page 65: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

59

Abbildung 25: Anton Webern, 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4/1, Takte 1-5.

Eine etwas andere Variante der Klangzentren-Technik findet sich in Schönbergs

Orchesterstück Farben op. 16/3. Neben der Bezeichnung „Farben“ gab Schönberg dem

1909 komponierten Stück unter anderem auch die Namen „Akkordfärbungen“ und „Der

wechselnde Akkord“, welche die zugrunde liegende Kompositionstechnik hervor-

heben.217 Das Klangzentrum des Anfangsakkords wird im Verlauf des Stückes sukzes-

sive in kleinen Schritten verändert und variiert. Abbildung 26 zeigt den harmonischen

Verlauf über die ersten neun Takte. Die Stimmen folgen dabei einer einfachen Logik:

Jede wird einmal um einen Halbton erhöht und anschließen – aus Sicht des Zentral-

klangs – um einen Halbton erniedrigt. In Takt neun ergibt sich so wiederum der ur-

sprüngliche Zentralklang um einen Halbton nach unten transponiert. In seiner ursprüng-

lichen Transposition wird das Klangzentrum in Takt 30 und zum Schluss des Werkes

(T. 43-44) wieder erreicht, außerdem erscheinen noch weitere Transpositionen während

nach Ansichtskarten von Peter Altenberg op. 4 bezeichnet Stephan als Schlüsselwerk dieser Technik (vgl. Rudolf Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1958, S. 36-39).

217 Vgl. Charles Burkhart, Schoenberg’s Farben: An Analysis of Op. 16, No. 3, in: Perspectives of New Music (Bd. 12/1), 1973-1974, S. 141-172, hier S. 141f.

Page 66: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

60

des Stücks.218 Damit durchläuft das Klangzentrum dieses Werks gewissermaßen eine

kontinuierliche Klangtransformation219, die zum Schluss wieder zu ihrem Ausgangs-

punkt zurückkehrt. Neben der Zentrierung auf einen Zentralklang ist in Farben

demnach auch ein harmonischer Prozess vorhanden, der den „maximally smooth

cycles“ von Richard Cohn (vgl. S. 51) sehr ähnlich ist. Im Sinne der Transformations-

theorie könnte man auch argumentieren, dass der Klang in den ersten neun Takten der

Reihe nach alle denkbaren Umkehrungs-Transformationen erfährt, die jeden Ton um

eine kleine Sekunde nach oben bzw. nach unten transformieren. Eine sehr ähnliche

Transformationstechnik konnte auch in manchen Klavierwerken Franz Liszts, wie

beispielsweise R.W. Venezia (1883) nachgewiesen werden. Dort verwandelt sich der

Zentralklang des übermäßigen Dreiklangs auf Cis in den ersten 24 Takten über b-Moll,

D-Übermäßig und h-Moll in einen übermäßigen Dreiklang auf Dis.220

Abbildung 26: Harmonischer Verlauf der Takte 1-9 von Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3.

Zofja Lissa übernimmt in den 1930er Jahren Erpfs Begriff des Klangzentrums und

wendet ihn auf die Musik Alexander Skrjabins an.221 Insbesondere verwendet sie den

Terminus um Skrjabins bekannten Prometheus-Akkord (Abbildung 27; auch „mysti-

scher Akkord“ oder „synthetischer Akkord“) zu deuten, der in vielen Werken Skrjabins

zweiter Schaffensperiode den Ausgangspunkt aller harmonischen und melodischen

Ereignisse bildet:

218 Vgl. ebda. S. 143. 219 Christian Utz und Dieter Kleinrath wenden diesen Begriff auch auf Klangereignisse neuerer Musik an

wie z.B. Iannis Xenakis’ Metastasis für Orchester (1953), in dem sich in den ersten 34 Takten ein einzelner Ton (G) durch Glissandieren in den geteilten Streichern in einen Cluster verwandelt. Das sukzessive Verändern eines Klangzentrums kann durchaus als eine Vorform metamorphosenartiger Klangprozesse angesehen werden, die in der Musik des 20. Jahrhunderts immer wieder eine zentrale Rolle eingenommen haben (vgl. Christian Utz, Dieter Kleinrath, Klangorganisation. Zur Systematik und Analyse einer Morphologie und Syntax post-tonaler Kunstmusik, in: Musiktheorie und Improvi-sation. Bericht des IX. Kongresses der Gesellschaft für Musiktheorie, Mainz: Schott, in Vorbereitung.

220 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 42-45. 221 Zofja Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, in: Acta Musicologica (Bd. 7/1), 1935, S.

15-21.

Page 67: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

61

Auch die Melodik des Stückes [arbeitet] ständig und ausschließlich mit dem durch das Klang-

zentrum repräsentierten Tonmaterial. Das Klangzentrum bildet also die allgemeine Basis der

Komposition, denn alle konstruktiven Elemente, sowohl der Harmonik, wie auch der Melodik

lassen sich von ihm ableiten, auf ihn zurückführen. Ihr Tonmaterial und ihre Form ergibt sich aus

den Bestandtönen und der Form des Klangzentrums.222

Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A.

Skrjabins Klangzentrum vereint Skala und Harmonik zu einem geschlossenen Ganzen.

Dieses Verfahren erkennt man schon an den ersten Takten (Abbildung 28) des Prome-

theus und sie wird das ganze Stück hindurch beibehalten. Harmonische Vielfalt erreicht

Skrjabin weniger durch das Ändern des Grundakkords, sondern hauptsächlich durch

Umkehrungen und Transpositionen desselben sowie durch Herausfiltern oder Hervor-

heben von Farbschattierungen anhand der Instrumentation beziehungsweise durch das

Weglassen einzelner Akkordtöne. Die wenigen Ausnahmen, in denen akkordfremde

Töne im Prometheus erklingen (wie beispielsweise das B der Melodie, T. 12), sind

durchwegs als Nebennoten beziehungsweise Akkordfarben anzusehen. Diese Tendenz –

Skala und Harmonik aneinander anzugleichen – kann man auch schon in den späten

Klavierwerken Liszts beobachten, in denen zum Beispiel die so genannte „Zigeuner-

leiter“ und die Ganztonleiter eine wesentliche Rolle einnehmen.223 Schönberg wendet in

seiner ersten Kammersymphonie op. 9 ähnliche Techniken auch auf den Quartenakkord

an, der in letzter Konsequenz der chromatischen Skala zugrunde liegt.

Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion.224

222 Ebda., S. 18. 223 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 19-38. 224 Vgl. Gottfried Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, München/Salzburg: Katzbichler, S.

50.

Page 68: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

62

Abbildung 29a zeigt die nach C transponierte Skala des Prometheus-Akkords. Skrjabins

Aufzeichnungen legen jedoch nahe, dass die ursprüngliche Skala die in Abbildung 29b

dargestellte mixolydische Skala mit erhöhter Quart war. Er notierte in einer Skizze den

zusätzlichen Ton G dieser Skala, der zwar im Prometheus eine unbedeutende Rolle

einnimmt, jedoch im zur selben Zeit entstandenen Poème op. 59 sowie in späteren

Werken von Bedeutung ist.225 Zsolt Gárdonyi bezeichnet diese Skala, gemeinsam mit

anderen Theoretikern der Bartók-Forschung, auch als „akustische Skala“226 und die von

ihr ausgehende Tonalität als „akustische Tonalität“. Dabei weist Gárdonyi auf Béla

Bartóks häufige Verwendung dieser Skala hin wie beispielsweise in der Sonate für zwei

Klaviere und Schlagzeug oder in Melodie mit Begleitung im zweiten Heft des Mikro-

kosmos.227

Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords, b) die mixolydische Skala mit erhöhter Quart.

In der erwähnten Skizze bildet Skrjabin auf jedem Ton der Skala siebenstimmige

Akkorde in Quarten- und Terzenschichtung (Abbildung 30). Das Auflisten dieser

Klänge zeigt, wie sehr die dur-moll-tonalen Bezüge in Skrjabins Denkweise noch

vorhanden waren. Zofja Lissa weist auch darauf hin, dass die Wurzeln des Prometheus-

Akkords in der Dominante der Dur-Moll-Tonalität liegen.228 So gesehen könnte der

Prometheus-Akkord auf C beispielsweise als eine Alteration der Dominanten C7, Fis7

oder D7 angesehen werden, von denen er jeweils Grundton, Terz und kleine Sept enthält

(Abbildung 31). Von diesen drei Klängen wird vor allem die Variante auf C (ein Domi-

225 Vgl. ebda., S. 63f. 226 Die Bezeichnung „akustische Skala“ lehnt sich an die Teiltonreihe an, aus der die Skala einen

Ausschnitt vom 8. bis zum 14. Teilton bildet. 227 Vgl. Zsolt Gárdonyi, Akustische Tonalität und Distanzharmonik im Tonsatzunterricht, in: Harmonik

im 20. Jahrhundert, Wien: Wiener Universitätsverlag 1993, S.46-61, hier S. 46f; sowie Zsolt Gárdonyi, Paralipomena zum Thema Liszt und Skrjabin, in: Virtuosität und Avandgarde, Unter-suchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 11-14.

228 Der Prometheus-Akkord kann aus einem übermäßigen Terzquartakkord mit hinzugefügter None und Sexte abgeleitet werden. Die Dominante mit Sext-Vorlhalt bezeichnet Lissa auch als „Chopin-Akkord“ und weist damit auf eine wichtige Inspirationsquelle Skrjabins hin (vgl. Jörg-Peter Mitt-mann, Musikalische Selbstauslegung - eine sichere Quelle histori-scher Musiktheorie?, in: Musik-theorie als interdisziplinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Be-arbeitung). Vgl. auch Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 49 sowie Zofja Lissa, Zur Genesis des Prometheischen Akkords bei Skrjabin, in: Musik des Ostens: Sammelbände für histo-rische und vergleichende Forschung (Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa) (Bd. 2), 1963.

Page 69: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

63

nantseptakkord mit hinzugefügter Sext, None und übermäßiger Quarte) – die Grundstel-

lung des Prometheus-Akkords – auch in der Jazzmusik des 20. Jahrhunderts häufig als

tonikaler Klang eingesetzt.

Abbildung 30: Akkorde in Quarten- (a) und Terzschichtung (b) über der mixolydischen Skala mit erhöhter Quart.

Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords.

Lissa weist in ihrem Artikel ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff „Klangzentrum“

bei Erpf eine andere Bedeutung hätte als bei ihr.229 Aus Sicht der Erweiterung des

Begriffs auf die Kompositionstechniken Skrjabins – Erpf hat Skrjabin in seinem Buch

selbst nicht behandelt – trifft dies sicherlich zu, dennoch haben die beiden Definitionen

viele Gemeinsamkeiten. Der wesentliche Unterschied zu Erpfs Auffassung des Klang-

zentrums ist, dass Lissa, entsprechend der Kompositionstechnik Skrjabins, Klang-

zentrum und Skala als eine gemeinsame Einheit auffasst. Dies allein widerspricht Erpfs

Begriff noch nicht, jedoch geht Lissa in ihrer Argumentation so weit, dass sie behauptet,

die Dodekaphonie bilde in diesem Sinne ihr eigenes Klangzentrum aus und könne

229 Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 18.

Page 70: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

64

deshalb – dem „natürlichen Evolutionsgesetz“230 folgend – als Weiterentwicklung und

Konsequenz der Klangzentren-Technik Skrjabins bewertet werden:231

Die Grundgestalt bildet [in der Dodekaphonie] die Basis für die Konstruktion der ganzen

Komposition, sowohl ihrer melodischen Motive und Themen, als auch ihrer Zusammenklänge.

Sie ist […] ihr Beziehungszentrum analog dem Tonika-Akkord in der tonalen Harmonik.232 […]

Beide Systeme [die Klangzentrenharmonik Skrjabins und die Dodekaphonie] haben also als ge-

meinsame Eigenschaft das Vorhandensein eines bestimmten Zentrums, welches das ganze Ton-

material umfaßt und seine eigene spezifische Struktur besitzt.233

Lissa stellt dabei die Klangzentren der Dodekaphonie und der Klangzentren-Technik

Skrjabins der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Als Unterschiede zwischen der

tonalen Harmonik und diesen beiden Techniken führt sie die folgenden an:

a) die tonale Harmonik stützt sich auf die Tonika, als Beziehungszentrum, welches in seiner

Struktur (der Terzenaufbau) für alle tonalen Kompositionen gleich blieb und welches nur einen

Teil des Tonmaterials zum Ausdruck brachte; die Klangzentrum- und Zwölftontechnik nehmen

aber als Beziehungszentrum eine bestimmte Form, eine vertikale oder horizontale Gestaltung des

ganzen Tonmaterials an […]; b) […] Die tonale Harmonik scheidet einzelne Komplexe von

Tonartelementen aus […]. Die beiden Systeme jedoch, […] beziehen alle Teilstrukturen der

musikalischen Konstruktion auf das Zentrum als Urform.234

Die Vorstellung, dass die Klangzentrenharmonik Skrjabins eine Vorform der Zwölfton-

technik sei, wurde von mehreren Autoren in weiterer Folge aufgegriffen. Elmar Budde

schrieb 1971, dass „die Technik des Klangzentrums […] allgemein als Vorform der

Zwölftontechnik beschrieben“235 wird und bezieht sich dabei direkt auf Lissa.

Allerdings wurde diese Sichtweise auch kritisiert; Gottfried Eberle meint, dass Lissa

„die Unterschiede [zwischen Skrjabins Klangzentrenharmonik und der Dodekaphonie]

[…] zwar zum Teil durchaus sieht, aber unterbewertet, vielleicht aus der Genugtuung

heraus, eine Vorform der Dodekaphonie entdeckt zu haben.“236

230 Ebda., S. 16. 231 Vgl. ebda., S. 15-20. 232 Ebda., S. 17. 233 Ebda., S. 20. 234 Ebda., S. 20f. 235 Elmar Budde, Anton Weberns Lieder op. 3. Untersuchungen zur frühen Atonalität bei Webern,

Wiesbaden: Steiner 1971, S. 68. 236 Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 52.

Page 71: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

65

Lissas Argumentation hätte Erpf wahrscheinlich widersprochen, da er Zwölftontechnik

und Klangzentren-Technik zwar unter dem Kapitel der funktionslosen Satztypen zu-

sammengefasst hat, jedoch keineswegs eine direkte Beziehung zwischen diesen beiden

Techniken herstellte. Auf einen anderen vermeintlichen Unterschied der Begriffsdefini-

tionen von Erpf und Lissa geht Gottfried Eberle in seinen Studien zur Harmonik Ale-

xander Skrjabins 1978 ausführlich ein:

Erpfs „Klangzentrum“ oder – um gleich die gemeinte Sache anzusprechen – der Quartenakkord

in Schönbergs Klavierstück [op. 19/6], tritt immer wieder „nach kurzen Zwischenstrecken“ auf,

die sich „kontrastierend abheben“. Skrjabins „Klangzentrum“ jedoch werden keine kontras-

tierenden Zwischenpartien gegenübergestellt, es bestimmt in seinen 12 Transpositionsstufen das

Werk ganz ausschließlich. Es ist nicht ein „klangliches Zentrum, von dem die Entwicklung aus-

geht und in das sie wieder zurückstrebt“, sondern es repräsentiert das Ganze, das im Grunde

keine harmonische Fortentwicklung kennt […].237

Eberle scheint jedoch Erpfs Begriff des Klangzentrums zu verkennen. Erpf gibt zu

keinem Zeitpunkt das Vorhandensein kontrastierender Zwischenstrecken als not-

wendige Bedingung für die Technik des Klangzentrums an. Im Gegenteil verwendet er

den Begriff Klangzentrum auch im Zusammenhang mit der „Technik der ostinaten

Unterlage“ wie folgt:

Schrumpft die Klangfolge der ostinaten Unterlage auf einen einzigen – etwa figurierten – Klang

zusammen, so geht sie in ein Klangzentrum über; dehnt sich der Klang des Klangzentrums zu

einer Klangfolge aus, so kann er, bei Wiederholung in regelmäßigen Abständen, zu einer osti-

naten Unterlage werden.238

Als Beispiel für eine Mischform aus ostinater Unterlage und Klangzentrum nennt Erpf

Igor Strawinkys Trois pièces pour quatuor à cordes. Über die Takte 1-15 dieses Werkes

schreibt Erpf:

Der ganze Komplex, der übrigens den ganzen Satzablauf beherrscht, setzt sich also aus mehreren

unregelmäßig verbundenen ostinaten Bewegungen zusammen, die zugleich die Figuration eines

237 Ebda., S. 49. 238 Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 198.

Page 72: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

66

festgehaltenen Klangzentrums bilden. […] Der Klang verzichtet ebenfalls auf Entwicklung von

beziehungsmäßiger Struktur, beharrt vielmehr auf einem Punkt.239

Daraus geht zweifelsfrei hervor, dass Erpf auch statische Klangzentren in seiner Defini-

tion mit einschließt. Das Klangzentrum einer Komposition definiert sich nicht über

möglicherweise vorhandene kontrastierende Zwischenstrecken; umgekehrt werden diese

jedoch durch das Vorhandensein eines Klangzentrums ermöglicht. Im Allgemeinen lag

Erpf wohl wenig daran, mit seinen Begriffen eine exakte Systematik zu beschreiben.

Vielmehr versucht er die Zusammenhänge von unterschiedlichen Kompositionstech-

niken und Satzmodellen anhand konkreter Beispiele, die aus seiner Sicht ähnlichen

Prinzipien folgen, aufzuzeigen, weshalb er wohl auch die Technik des Klangzentrums

mit dem Begriff der dur-moll-tonalen Tonika in Beziehung gebracht hat. Erpf weist

sogar ausdrücklich darauf hin, „daß die [Satz-]Typen in reiner, deutlicher Form selten

auf längeren Strecken herrschen. Sie wechseln vielmehr häufig untereinander, durch-

dringen sich gegenseitig und sind fast immer durchsetzt von Resten funktioneller

Beziehung.“240 So gesehen schließen sich die Klangzentrenbegriffe bei Erpf und Lissa

keineswegs gänzlich aus. Jedenfalls beziehen sich beide auf vergleichbare Komposi-

tionstechniken, die in den Denkmustern der Komponisten um 1900 fest verankert waren

und auf ähnliche Wurzeln hindeuten.

Auch Eberles Behauptung im erwähnten Zitat, dass Skrjabins Klangzentrum „nicht ein

‚klangliches Zentrum [ist], von dem die Entwicklung ausgeht und in das sie wieder

zurückstrebt‘“ ist sehr fragwürdig. Er bezieht sich dabei direkt auf folgende Aussage

Lissas:241

Die zwölf möglichen Transpositionen des Grundakkordes bilden nichts an sich Selbstständiges,

das sich dem Klangzentrum in seiner ursprünglichen Gestalt entgegenstellen würde, es sind bloß

Schattierungen seiner Tonhöhe.242

Wie soll diese Aussage verstanden werden? Ist damit gesagt, dass die Transposition des

Prometheus-Akkords auf eine andere Stufe der chromatischen Skala keinerlei klang-

liche Auswirkung hat, die unterschiedlichen Stufen also alle in derselben tautologischen 239 Ebda., 201f. 240 Ebda., S. 202. 241 Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 65. 242 Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 19.

Page 73: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

67

Beziehung zum Klangzentrum stehen? Wohl kaum, denn dann wäre eine Transposition

des Prometheus-Akkords an sich schon überflüssig und würde der Musik keinerlei

zusätzlichen Gehalt hinzufügen, eine Behauptung, der Skrjabin wohl vehement wider-

sprochen hätte. Auch die einzelnen Umkehrungen des Klangzentrums sind in ihrem

Klangcharakter sehr unterschiedlich und werden oft weniger als Umkehrungen eines

einzigen Klanges wahrgenommen, sondern vielmehr als Klänge mit durchaus eigen-

ständigen Klangqualitäten.

Fest steht jedenfalls, dass Skrjabin nicht nur zwischen den unterschiedlichen Transposi-

tionen des Prometheus-Akkords unterschieden hat, sondern auch zwischen den einzel-

nen Umkehrungen des Akkordes. So legt er beispielsweise Wert darauf, dass seine

Stücke meist mit der Grundform des Klangzentrums beginnen und enden. Skrjabin

bezeichnete anfangs Werke sogar noch nach dem Grundton des zugrunde liegenden

Klangzentrums im Sinne einer Tonart.243 Außerdem folgte Skrjabin Modulations-

schemen die vorgaben wie die Transpositionen der Klangzentren aufeinander folgen.244

Der Wechsel von einer Transposition zur anderen ist dabei keineswegs willkürlich,

sondern folgt ästhetischen und formalen Prinzipien, wie beispielsweise der Anzahl der

gemeinsamen Töne zwischen zwei aufeinander folgenden Klängen.245 In Skrjabins

Klangzentrenharmonik ist also – zumindest aus kompositionstechnischer Sicht – ganz

offensichtlich eine vom Klangzentrum ausgehende und wieder zurückkehrende

Akkordbewegung vorhanden.

243 Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 61f. 244 Vgl. ebda. S. 64. 245 Vgl. ebda. S. 66.

Page 74: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

68

1.9 Schlussfolgerungen

Die Bedeutung des Begriffs Tonalität war im Laufe der Musikgeschichte einem stän-

digen Wandel unterzogen und es hat fast den Anschein, als ob man sich aus der Vielfalt

der möglichen Bedeutungen jeweils jener bedienen könne, die der gerade gestellten

Frage die treffende Antwort liefert. Selbst bei einzelnen Autoren, wie im Falle Schön-

bergs, ist die Verwendung des Begriffs nicht unbedingt eindeutig. In Anbetracht der

unterschiedlichen Fragestellungen, die heute in der Musiktheorie verfolgt werden und

des unterschiedlichen Erkenntnisgewinnes, der daraus resultiert, scheint es wichtiger

denn je einen exakten Tonalitätsbegriff zu verwenden, der klar einschränkt, worüber

man gerade spricht. Aussagen etwa über „die Tonalität der Zwölftonmusik“ sind besten-

falls mehrdeutig und können kaum falsifiziert werden, wenn der Begriff Tonalität nicht

zuvor in einen eindeutigen Zusammenhang gebracht wurde. Wenn man den Begriff

Tonalität zum Beispiel als die Beziehungen zwischen den Tönen einer Skala versteht,

ist etwa die Dodekaphonie, die „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen

Tönen“, durchaus als ein tonaler Typ im Sinne Fétis’ zu verstehen.246 Unter diesem

Gesichtspunkt wäre auch die Aussage, dass sich die Tonalität mit dem Beginn der

Atonalität aufgelöst hat ebenso irreführend, wie der Begriff „Atonalität“ selbst. Dass der

unreflektierte Begriffsgebrauch zu Missverständnissen und einer dem Begriff unan-

gemessenen Beliebigkeit führt, ist absehbar. Vielleicht wäre es der Sache heute sogar

dienlicher, wenn man versuchte, Tonalität über das zu definieren, was sie, ihren zahl-

reichen Bedeutungsfacetten nach, nicht ist. Dann müsste es heißen:

Tonalität ist die Antithese eines imaginären Begriffs (ich verwende hier bewusst

nicht die Bezeichnung „Atonalität“), der sich auf Musik bezieht, bei der keiner-

lei Beziehungen zwischen den verwendeten Tönen besteht, weder im vertikalen

Zusammenklang, noch im horizontalen Aufeinanderfolgen. Insbesondere ist

diese Musik auch dadurch gekennzeichnet, dass keinerlei tonaler oder harmoni-

scher Bezugspunkt als Zentralklang eine besondere Rolle einnimmt.

Spätestens hier muss man allerdings fragen, was es überhaupt bedeutet, wenn sich Töne

oder Akkorde „aufeinander beziehen“. So einfach diese Frage im ersten Moment auch

scheint, so schwierig ist es, sie im konkreten Fall zu beantworten. Betrachtet man zum 246 Vgl. Dahlhaus, Tonalität, S. 624.

Page 75: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

69

Beispiel die Dur-Moll-Tonalität im Sinne der Naturklangtheorie, so sind zumindest

zwei Typen von Tonbeziehungen relevant. Einerseits die Beziehung der Töne unter-

einander aufgrund des Konsonanzprinzips, andererseits die Beziehung der Töne auf

einen gemeinsamen Grundton oder -akkord, die Tonika. Wenn man den Tonalitäts-

begriff dagegen weiter fasst, ist die Voraussetzung ausreichend, dass die Töne des

verwendeten Tonsystems in irgendeiner beliebigen Beziehung zu einander stehen. Unter

diesem Gesichtspunkt ließe sich der Begriff wie gesagt durchaus auch auf Zwölfton-

musik anwenden. Aber was ist das Kriterium dafür, dass sich die Töne einer Kompo-

sition auf einander beziehen? Nehmen wir einmal an, der Komponist selbst wäre dafür

verantwortlich, den Tönen innerhalb seiner Komposition einen Bezugsrahmen zu geben.

Dann wäre eine rein aleatorische Komposition eindeutig als Musik zu bezeichnen, die

im Rezipienten kein „Tonalitätsgefühl“ hervorruft, da die sich ergebenden Klänge als

Zufallsprodukt des Kompositionsprozesses zu bewerten wären. Eine solche Aussage

geht allerdings davon aus, dass die Kompositionstechnik des Komponisten direkten

Einfluss auf die Wahrnehmung des Hörers hat, was selbstverständlich mehr als zweifel-

haft ist. Ebenso wenig kann vorausgesetzt werden, dass im Umkehrschluss eine

Komposition, in der die Akkorde während des Kompositionsprozesses eindeutig auf

einander bezogen wurden, beim Hörer auch tatsächlich den Eindruck einer Bezogenheit

der Klänge auslöst. Hier zeigt sich, dass wir den Begriff Tonalität kaum bewerten

können, ohne dabei auch auf die subjektive Wahrnehmung und musikalische Soziali-

sierung des Rezipienten Rücksicht zu nehmen.

Andererseits bestehen natürlich immer Tonbeziehungen sobald Töne in einem Musik-

stück vorhanden sind, unabhängig davon, ob wir diese Bezüge auch wahrnehmen oder,

ob ein Komponist diese Bezüge als solche gedacht hat. Jeder Ton steht zu jedem

anderen immer in einem bestimmten Verhältnis. Ein einzelner ausgehaltener Sinuston

definiert sich sogar über eben dieses Verhältnis, da er in jedem Moment dem vorange-

gangenen gleicht. Im selben Ausmaß definiert sich „ein anderer Ton“ durch seine

Beziehung zu dem Ton, von dem er sich unterscheidet. Hierin offenbart sich die Proble-

matik einer Tonalitätsdefinition als die einfache Bezogenheit der Töne oder Akkorde,

basierend auf einer zugrunde liegenden Skala. Streng genommen ließe sich der Begriff

Tonalität dann auf jede Tonbeziehung anwenden – sogar auf den Sinuston selbst – und

würde zu einem beliebigen, tautologischen Begriff verkommen. Dahlhaus stellt treffend

fest:

Page 76: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

70

Ob die Zentrierung der Ton- oder Akkordbeziehungen um einen Grundton oder -akkord als

essentielles oder als akzidentelles Merkmal der Tonalität gelten soll, ist ungewiß oder scheint es

zu sein. Der Verzicht auf das definierende Merkmal „Zentrierung“ läßt „Tonalität“ zu einer

generellen Bezeichnung für Tonbeziehungen verblassen; „Tonalität“ und „Tonsystem“ werden

synonyme Ausdrücke, sofern man nicht „Tonalität“ als „Prinzip“ und „Tonsystem“ als „Erschei-

nungsform“ begreift. Doch ist es […] überflüssig, den Sachverhalt, den der Ausdruck „Ton-

system“ meint, durch einen zweiten Terminus zu bezeichnen.247

In diesem Zusammenhang ist auch Zofja Lissas Gleichsetzung von Klangzentrum und

Skala und die damit verbundene Deutung von Dodekaphonie als Weiterentwicklung der

Klangzentren-Technik kritisch zu bewerten. Jede beliebige Ansammlung von Tonhöhen

kann irgendeiner Skala oder – im Falle der Dodekaphonie – einer Reihe zugrunde gelegt

werden, womit sich der Begriff „Klangzentrum“ auf jede beliebige Musik anwenden

ließe:

Wird der Tonalitätsbegriff an Umfang weiter, so muß er nach den Regeln der formalen Logik an

Inhalt ärmer werden. […]

Ein Begriff der alle Akkorde und Akkordverbindungen umfaßt, die denkbar sind, ist inhaltslos.

[…] An dem Eingeständnis, daß der „Zentralklang“ eines Satzes nicht als realer Akkord248 in

ihm vorkommen müsse, sondern konstruiert werden könne, wird die Schwäche der Konstruktion

offenbar; denn man braucht, um den gemeinsamen Ursprung aller Akkorde eines Satzes zu

finden, nur die kleinste Zahl der Töne, von denen mindestens einer in jedem Akkord enthalten

ist, zu einem hypothetischen „Zentralklang“ zusammenzusetzen. Das Prinzip ist also, da es für

alle Musik gilt und über keine etwas besagt, leer allgemein.249

Damit ist aber nicht gesagt, dass sich Skala und Klangzentrum gegenseitig ausschließen.

Jede Menge von Tönen kann im vertikalen Zusammenklang als Klangzentrum dienen

und zugleich in der horizontalen Aufeinanderfolge als Skala oder Reihe Verwendung

finden. Jedoch umgekehrt davon auszugehen, dass jede Skala oder Reihe auch ein

Klangzentrum wäre, ist ein logischer Fehlschluss. Allerdings hat die einem Werk

zugrunde liegende Skala oft einen erheblichen Einfluss auf den sich ergebenden

Gesamtklang. Wenn eine Skala im Sinne einer modalen Kompositionstechnik als

247 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 17. 248 Dahlhaus’ Aussage, dass ein Klangzentrum als „realer Akkord“ in einem Musikstück vorkommen

muss ist allerdings schwer nachvollziehbar. Gerade die dur-moll-tonale Musik lebt schließlich von einem Klangzentrum – der Tonika – das keineswegs immer vorhanden sein muss, jedoch trotzdem wahrgenommen oder zumindest gedacht werden kann.

249 Carl Dahlhaus, Der Tonalitätsbegriff in der neuen Musik, in: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Schott: Mainz 1978, S. 111-117, hier S. 113.

Page 77: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

71

zentraler Bezugspunkt verwendet wird, dann mag es in manchen Fällen durchaus

sinnvoll sein, sie als ein Klangzentrum zu behandeln. Die Sinnhaftigkeit eine Skala als

Klangzentrum anzusehen ergibt sich jedoch allein aus ihrer Einzigartigkeit im Verhält-

nis zu anderen Skalen oder Klängen, welche ihr wiederum als Klangzentren gegenüber-

gestellt werden können. Wenn die Skala dagegen für sich alleine steht, dann wäre sie als

Klangzentrum bedeutungslos, da wir keinen Erkenntnisgewinn aus dieser Information

ableiten könnten. Die Grundreihe einer dodekaphonen Komposition muss an sich noch

nichts über den Gesamtklang der Stelle aussagen, in der ihre Ableitungen verwendet

werden. Vielmehr ergibt sich der Gesamtklang aus der bewussten Kombination unter-

schiedlicher Reihenformen und ändert sich demnach im Verlauf des Werkes ständig.

Dass diese Kombination von Reihenformen auch Zentralklänge ausbildet, ist zwar

möglich, kann aber nicht im Allgemeinen beantwortet, sondern muss im konkreten Fall

erneut hinterfragt werden; insbesondere erzeugen gleiche Reihenformen nicht unbedingt

dieselben Klangzentren.

Auch wurde noch nicht geklärt, aus wessen Sicht ein Ton oder Akkord die Rolle eines

Zentralklangs nun einnehmen muss, damit Tonalität vorhanden ist: Ist es der Kompo-

nist, der einem Klang eine besondere Bedeutung zukommen lässt, oder ist es der Hörer,

der einen Klang als besonders bedeutend wahrnimmt? Oder ist es gar der Musiktheore-

tiker, der einer Komposition das Vorhandensein eines bestimmten Zentralklangs unter-

stellt oder neue Klangzentren aufdeckt, die weder dem Komponisten noch dem Hörer

bekannt waren? Es dürfte schwierig sein diese Fragen endgültig zu beantworten, da jede

dieser Positionen gleichermaßen ihre Berechtigung hat. Dahlhaus stellt fest, „daß

Tonalität eine historische Kategorie ist, die das Moment der Zeit enthält. Auf einer

späteren Entwicklungsstufe können Phänomene als tonal gelten, die man auf einer

früheren vom Begriff der Tonalität ausschließen müßte“250. Zusätzlich ist Tonalität

jedoch auch eine kompositionstechnische sowie eine hörpsychologische Kategorie, aus

deren Sicht sich der Begriff substanziell unterscheiden kann. Die endgültige Bedeutung

von Tonalität kann sich demnach immer nur aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus

erschließen. Ob die von Erpf und Lissa auf post- bzw. atonale Werke angewandte

Technik des Klangzentrums, als eine Konsequenz oder ein Weiterwirken dur-moll-

tonaler Prinzipien angesehen werden kann, hängt insofern auch von dem jeweiligen

250 Ebda.

Page 78: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

72

Untersuchungsgegenstand ab. Dass aus kompositionstechnischer Sicht Klangzentren

auch in der Musik des 20. Jahrhunderts immer wieder verwendet wurden, steht außer

Frage; ob diese Klänge jedoch auch aus hörpsychologischer Sicht die Rolle eines

Zentralklangs einnehmen, müsste anhand konkreter Beispiele untersucht und bewiesen

werden.

Die vorherigen Überlegungen legen nahe, dass irgendeine Form der „Zentrierung“ für

einen sinnvollen Tonalitätsbegriff unerlässlich ist. Diese Feststellung scheint Richard

Cohns Beobachtungen im Zusammenhang mit den „maximally smooth cycles“ in Franz

Schuberts Klaviertrio in Es- Dur op. 100 (vgl. S. 52) im ersten Moment zu widerspre-

chen. Bei genauerer Betrachtung der Takte 586-618 wird jedoch schnell deutlich, dass

auch diese Harmoniefolge (vgl. Abbildung 18) durchaus Zentrierung auf unterschied-

lichen musikalischen Ebenen aufweist. Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei der

fraglichen Stelle um die Coda eines Klaviertrios in Es-Dur handelt und die Tonika Es-

Dur schon allein aufgrund unserer konditionierten Erwartungshaltung (durch die voran-

gegangenen mehr als 500 Takte sowie unseres „Extra-Opus-Wissens“ über tonale

Musik) eine besondere Rolle einnimmt. Dem entsprechend beginnt der „maximally

smooth cycle“ auch mit Es-Dur und schließt wieder darin, wobei Es-Dur in den Takten

615-622 durch das dreimalige Wiederholen einer Kadenz (T. 614-615) als Zentralklang

hervorgehoben wird. Weiters muss festgehalten werden, dass die chromatische Stimm-

führung der Harmonik in diesen Takten zwar eine wichtige Rolle einnimmt, für den

musikalischen Gestus und die formale Struktur jedoch eine andere Kompositionstechnik

weit wichtiger ist: Die Takte 597-615 bestehen aus zwei realen Sequenzen der Takte

587-569 (Abbildung 32), die jeweils von einem Dur-Dreiklang ausgehend, in einen

Dur-Dreiklang um eine große Terz tiefer modulieren. Diese Sequenzen exponieren den

Ausgangsakkord und den Zielakkord der Modulation in besonderer Weise und sind

auch für unsere Wahrnehmung von wesentlicher Bedeutung. Der großformale Verlauf

dieser Harmoniefolge erzeugt durch die Sequenzen also wiederum eine Zentrierung,

und zwar auf die Tonarten Es-Dur (T. 586-587), Ces/(H)-Dur (T. 587), G-Dur (T. 606)

und schließlich wieder Es-Dur (T. 615). Auch in den mikroformalen harmonischen

Beziehungen werden die Dreiklänge des „maximally smooth cycles“ in ihrer Bedeutung

nicht einfach gleichgeschaltet. Beispielsweise tritt der Zielakkord der in Takt 597

abgeschlossenen ersten Modulation – Ces-Dur – bereits in Takt 591 als übermäßiger

Quintsextakkord in es-Moll auf, der die Kadenz in den darauf folgenden zwei Takten

Page 79: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

73

einleitet; damit bringt Schubert Ces/(H)-Dur auch in einen funktionalen Kontext aus

Sicht von es-Moll. Schließlich ist auch noch anzumerken, dass die „maximally smooth

cycles“, wie sie von Cohn beschrieben wurden, selbst schon eine Form der „Zentrie-

rung“ darstellen: Schubert hätte zum Erzeugen chromatischer Stimmführung andere

Akkorde wie beispielsweise den übermäßigen Dreiklang verwenden können, entschied

sich hier jedoch bewusst für die traditionellen Akkordtypen der Tonika – Dur und Moll.

Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598.251

Ich will Richard Cohns verdienstvolle Forschung im Zusammenhang mit der Bedeutung

chromatischer Stimmführung während der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts hier

keinesfalls schmälern. Natürlich treffen Cohns Beobachtungen hinsichtlich der „maxi-

mally smooth cycles“ zu und auch weitere Kompositionen zeugen von ihrer besonderen

Bedeutung für die damalige Kompositionstechnik (wie auch am Beispiel Liszts und

Schönbergs gezeigt wurde, vgl. S. 60). Wenn man die Vorstellung eines möglichen

Zentralklangs jedoch gänzlich fallen lässt, läuft man leicht Gefahr harmonische Zu-

sammenhänge unangemessen zu verallgemeinern. In ihrer abstrakten Form bilden die

„maximally smooth cycles“ keine Klangzentren aus, da ein Kreis bekanntlich keinen

Anfang und kein Ende hat. Musik dreht sich jedoch nicht im Kreis, sondern bewegt sich

linear fort. Deshalb wird jede konkrete harmonische Folge zumindest zwei Klänge an

251 Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 215.

Page 80: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

74

exponierter Stelle enthalten und damit „zentrieren“: den Anfangsklang und den Ziel-

klang. Nachdem unsere musikalische Wahrnehmung unter anderem von unserem

Gedächtnis abhängt, muss der mögliche Einfluss dieser Klänge auf die Wahrnehmung

der restlichen Harmonien bei unseren Überlegungen mit berücksichtigt werden. Anstatt

ein unzulängliches Theoriemodell – die absolute Zentrierung auf einen Zentralklang, die

Tonika – durch ein anderes unzulängliches Theoriemodell – die absolute Dezentrierung

zugunsten einer Analyse konkreter Akkordbeziehungen – zu ersetzt, sollte ein Mittel-

weg gefunden werden, der sowohl unmittelbare Akkord- und Tonbeziehungen, als auch

die Beziehungen zu Zentralklängen mit einschließt.

Page 81: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

75

KAPITEL II

ANALYTISCHE KONSEQUENZEN

Die vorangegangenen Untersuchungen haben ergeben, dass eine Zentrierung auf einen

Ton oder Akkord für den Tonalitätsbegriff notwendig ist und dass Kompositionstech-

niken atonaler bzw. post-tonaler Musik möglicherweise als ein Weiterdenken dieses

ursprünglich dur-moll-tonalen Prinzips gelten können. Es liegt nahe nun den Untersu-

chungsgegenstand – das Klangzentrum – näher zu betrachten und die Klangzentren der

Dur-Moll-Tonalität mit den Klangzentren späterer Werke zu vergleichen. Im folgenden

Kapitel werden unterschiedliche Formen der harmonischen Zentrierung dur-moll-

tonaler Musik untersucht. Die vordergründigen Fragen, die es dabei zu beantworten gilt,

sind: (1) Zeichnet sich die Dur-Moll-Tonalität tatsächlich dadurch aus, dass ein einzel-

ner Zentralklang immer den zentralen Bezugspunkt darstellt? (2) Ist der Akkordtyp des

Zentralklangs zwangsläufig ein Dur- oder Moll-Dreiklang oder kann er auch andere

Formen annehmen?

2.1 Klangzentren der Dur-Moll-Tonalität

Der Zentralklang der Dur-Moll-Tonalität ist den meisten Definitionen nach die Tonika.

Dieser Denkweise folgend beziehen sich alle Töne und Akkorde auf die I. Stufe der

Tonleiter. Am deutlichsten kommt diese Überlegung in den Theorien von Riemann und

Schenker zum Tragen. Riemann bezieht in seiner Funktionstheorie alle Akkorde direkt

auf die Tonika, selbst dann, wenn diese Tonika gar nicht im analysierten Abschnitt in

Erscheinung tritt. Dabei nimmt die Tonika entweder die Form eines Dur-Dreiklangs

(Symbol: T) oder eines Moll-Dreiklangs (Symbol: t) ein. Schenker blendet in seinen

Analysen dagegen die mikroformalen harmonischen Beziehungen, die in der Funktions-

theorie im Vordergrund stehen, bewusst aus und reduziert ganze Abschnitte oder gar

Werke auf die Bewegung von einer Tonika hin zur nächsten.

Es wird heute meist davon ausgegangen, dass die bezeichnete Tonika nicht nur einen

abstrakten Bezugspunkt einnimmt, sondern der Hörer sie auch tatsächlich in entspre-

chender Weise wahrnimmt. Aus analytischer Sicht legt man sich mit der Wahl der

Page 82: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

76

Tonika als Dur- oder Moll-Dreiklang also nicht nur in Bezug auf die musikalische

Struktur fest, sondern man macht gleichzeitig auch eine Aussage über die hörpsycho-

logischen Erwartungen des Rezipienten. Dabei erfüllt die Tonika vor allem zwei rele-

vante musikalische Funktionen: (1) Sie bezeichnet einen harmonischen Ruhepunkt; die

Fortschreitung zur Tonika im Rahmen einer Kadenz wird als Auflösung wahrge-

nommen und führt zu einer Entspannung des harmonischen Verlaufs. (2) Sie dient der

formalen Gliederung. Das Erreichen der Tonika erzeugt ein Gefühl der Abgeschlossen-

heit und ermöglicht damit das Anschließen eines neuen musikalischen Gedankens oder

aber das Beenden des Stückes.

Einem ausschließlich monozentrischen Tonalitätsbegriff stünde die dualistische Vorstel-

lung gegenüber, dass sich Tonalität nicht nur über die Tonika, sondern auch über die

Dominante definiert. Selbst Riemann und Schenker, die beide der Tonika eine tragende

Rolle zukommen ließen, kamen nicht ohne das Miteinbeziehen der Dominante oder der

Subdominante aus. Die Tonika definiert sich allein über das Vorhandensein von

harmonischen Beziehungen zu anderen Tönen oder Akkorden. Schon Choron und Fétis

räumten in ihren Definitionen des Tonalitätsbegriffs der Dominante tendenziell einen

größeren Stellenwert ein als der Tonika und auch bei den Theorien von Vogler und

Weber wird die Kadenz – und damit das Wechselspiel zwischen Tonika und Dominante

– als wesentliches Merkmal einer Tonart angegeben (vgl. S. 16-18). Ernst Krenek

schrieb 1937 über die Bedeutung der Dominant-Tonika-Beziehung:

Was die Atonalität wesentlich von der Tonalität unterscheidet, ist die Dominantwirkung, die

diese besitzt, die jener fehlt;

Die Konstituierung unserer Tonalität wird bewirkt durch die Orientierung eines ganzen großen

musikalischen Verlaufs, eines Werkes, nach einer einzigen Dominant-Tonika-Beziehung, eben

jener, die die „Haupttonart“ des Werkes repräsentiert.252

Aus dieser Sicht erscheint es sinnvoller das Klangzentrum der Dur-Moll-Tonalität als

ein Konglomerat von Dominante und Tonika aufzufassen, die Vorstellung eines ein-

zigen Klangzentrums also zu verwerfen und die Dominante als Klangzentrum der

Tonika gegenüberzustellen. Dass die Dominante über weite Strecken ein eigenständiges

Zentrum ausbildet, kann schon im Barock beobachtet werden. Betrachtet man bei-

252 Ernst Krenek, Über neue Musik [Wien 1937], zit. nach: Beiche Tonalität, S. 11.

Page 83: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

77

spielsweise den harmonischen Verlauf von Johann Sebastian Bachs bekanntem Prä-

ludium in C-Dur BWV 846, welches wohl als ein Paradebeispiel tonaler Musik ange-

sehen werden kann, so wird dort der Dominante ebenso viel Platz eingeräumt wie der

Tonika. Einerseits übernimmt die Dominante die Rolle einer temporären Tonika in den

Takten 5-13, andererseits wird der Dominantseptakkord in den Takten 24-31 über einem

Dominant-Orgelpunkt auskomponiert. Auch die aus harmonischer Sicht ungewöhn-

lichste Stelle des Präludiums exponiert die Dominante: In den Takten 22-23 (Abbildung

33) umspielen zwei verminderte Septakkorde (Fis- und As-Vermindert) den Grundton

der Dominante (Fis–As–G) und leiten so den Dominant-Orgelpunkt der folgenden

Takte ein.

Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24.

Wie die Tonika erfüllt auch die Dominante zwei primäre musikalische Funktionen: (1)

Sie erzeugt harmonische Spannung, die in der Auflösung zur Tonika als Lösung emp-

funden wird. (2) Sie dient ebenfalls der formalen Gliederung. Ausgedehnte Orgelpunkte

oder Auftaktakkorde kündigen beispielsweise oft die Rückkehr zum Thema bzw. zur

„Haupttonart“ an.

Auch in den meisten dualistischen Interpretationen ist jedoch eine eindeutige Hierarchi-

sierung der Klangzentren zugunsten der Tonika vorhanden. Besonders deutlich tritt

diese Hierarchie in den dialektischen Theorien Moritz Hauptmanns zutage. Dominante

und Subdominante treten dort als Antithese dem Zentralklang der Tonika gegenüber

und erfüllen erst in der Synthese mit der Tonika ihre endgültige Bestimmung. Diese

Hierarchisierung entspricht auch in vielen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts der

musikalischen Realität, sowohl auf mikroformaler, als auch auf makroformaler Ebene.

Nicht zuletzt prägt das abstrakte Schema der Sonatensatzform, eben diese Hierarchi-

sierung deutlich aus. Dem gegenüber zeigt die Entwicklung der Harmonik des 20.

Jahrhundert jedoch eine deutliche Tendenz, dass diese Hierarchisierung mehr und mehr

aufgebrochen wurde und damit andere Klänge neben der Tonika an Bedeutung ge-

wannen.

Page 84: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

78

Zunächst ist festzustellen, dass die Rolle der Tonika in der Dur-Moll-Tonalität zu-

gunsten der Dominante mehr und mehr zurückgedrängt wurde. Einerseits wurden die

Durchführungen, die sich meist in weiten Strecken hauptsächlich dominantischen und

weiterführenden Techniken widmen, immer länger und komplexer, andererseits wurde

dem dominantischen „Auftaktakkord“, der die Rückführung von der Durchführung zur

Reprise einleitet, in den Sonatensätzen immer mehr Bedeutung beigemessen. Weiters

nehmen auch dissonante Akkorde, die im Sinne der Dur-Moll-Tonalität eigentlich als

Dominanten bewertet werden müssten, in der Hochromantik häufig die Funktion eines

spannungsfreien Akkords ein. Georg Andreas Sorge klassifizierte im Vorgemach der

musicalischen Composition253 bereits 1745 den übermäßigen Dreiklang als einen

konsonanten Dreiklang unter den „scharfen musikalischen Gewürzen“254. Carl Friedrich

Weitzmann sah in seiner Schrift Der Übermäßige Dreiklang255 den übermäßigen

Dreiklang als einen der vier natürlichen Dreiklänge Dur, Moll, vermindert und über-

mäßig an.256 Weitzmann veröffentlicht auch ein Tonnetz, das alle 12 Töne als Kreuz-

produkt von verminderten Septakkorden und übermäßigen Dreiklängen darstellt

(Abbildung 34).257

Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix.258 253 Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745. 254 Georg Andreas Sorge, zit. nach: Larry Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, and the Aug-

mented Triad, in: The second practice of nineteenth-century tonality, Lincoln: University of Nebraska Press 1996, S. 153-177, hier S. 154.

255 Carl Friedrich Weitzmann, Der Übermäßige Dreiklang, Berlin 1853. 256 Vgl. Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, S. 157. 257 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 14. 258 Weitzmann. Der übermäßige Dreiklang, Bsp. aus: Richard Cohn, Weitzmann’s Regions, My Cycles,

and Douthett’s Dancing Cubes, in: Music Theory Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103, hier S. 91.

Page 85: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

79

Erste Anzeichen dieser Entwicklung, die letztendlich in der endgültigen Emanzipation

der Dissonanz im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand, kann man bereits in den

Durchführungen mancher klassischer Sonatensatzformen erkennen. So verselbständigen

sich die ausgedehnten Orgelpunkte der Rückführung gelegentlich in einer Weise, dass

sie weniger eine dominantische Wirkung entfalten, sondern vielmehr als Ruhepunkte

und statische Klangzentren wirken. Ein ausgedehnter Orgelpunkt auf der Dominante

findet sich beispielsweise in Beethovens Sonate op. 28 (T. 219-256). In den ersten acht

Takten des Auftaktakkords (T. 219-226) wird die Dominante traditionell mit Quartsext-

Vorhalten auskomponiert. In den Takten 228-256 (Abbildung 35) wird sie dagegen als

konsonanter Akkord ohne die kleine Sept eingesetzt, was dazu führt, dass ihre eigent-

liche Funktion, die Spannung vor der Auflösung in die Tonika (T. 257), fast verloren

geht.

Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261.

Beethovens Sonate op. 13 (T. 167-187, Abbildung 36) weist dagegen einen eigentlich

dissonanten Dominantseptakkord als Auftaktakkord auf. Durch die chromatischen

Umspielungen der Akkordtöne (T. 167-170 und T. 175-178) sowie die Harmonik der

Takte 171-174 bzw. 179-186, wirkt die Dominante hier jedoch wie ein harmonischer

Ruhepunkt, der keiner zwingenden Auflösung mehr bedarf.

Page 86: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

80

Zu diesen Beispielen ist anzumerken, dass aus hörpsychologischer Sicht natürlich nach

wie vor die Tonika als unterschwelliges Klangzentrum mitschwingt, die Hierarchi-

sierung also keinesfalls aufgehoben ist. Dies liegt jedoch hauptsächlich an unserer

Erwartungshaltung in Bezug auf den formalen Ablauf der Sonatensatzform und weniger

an der Spannung des Auftaktakkords selbst, ist also direkt von unserer musikalischen

Sozialisierung bedingt. Gerade diese Erwartungshaltung wird aber in der Hochromantik

immer häufiger enttäuscht, sodass es spätestens seit der Musik Wagners und Liszts

kaum Veranlassung mehr gibt eine bestimmte – oder überhaupt eine – Auflösung eines

Klanges zu erwarten.

Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189.

Die Dominante wurde in Rückführungen auch unabhängig von Orgelpunkten als eigen-

ständiger Bezugspunkt der Harmoniefolgen eingesetzt. So schreibt Schönberg in den

Grundlagen der musikalischen Komposition:

In komplizierteren Kompositionen wird die liquidierende Passage über dem Orgelpunkt auf der

Dominante durch eine Reihe von Segmenten ersetzt, die Schlußsätzen ähnlich sind, außer daß sie

Page 87: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

81

sich, statt der Tonika, wiederholt dem Auftaktakkord nähern. Sie können innere Modulation ent-

halten oder „schweifende“ Harmonie, die aber auf verschiedenem Wege immer wieder zum Auf-

taktakkord zurückkehrt.259

Als Beispiele solcher Auftaktakkorde nennt Schönberg Beethovens 3. und 5. Sym-

phonie.260 In solchen zum Teil sehr ausgedehnten Passagen der Rückführung wird der

Schwerpunkt des tonalen Klangzentrums von der Tonika zur Dominante hin verlagert,

allerdings natürlich mit der damit verbundenen Erwartung, dass die Tonika in der

Reprise auch tatsächlich wiederkehrt. Auf der anderen Seite findet man in Sonaten-

sätzen auch häufig das Ausweiten der Coda und damit meist der Tonika-Region. Diese

Praxis könnte durchaus als eine direkte Reaktion auf die zunehmende Bedeutung der

Dominante interpretiert werden. So ist beispielsweise die Coda in Beethovens 3. Sym-

phonie auf 135 Takte ausgeweitet und erzeugt damit einen formalen Ausgleich in Bezug

auf die ausgedehnte Rückführung.

Es sprechen noch weitere Argumente dafür, dass die Dur-Moll-Tonalität im 19. Jahr-

hundert nicht aus Sicht eines einzigen Klangzentrums gedeutet werden sollte. Neben der

zunehmenden Bedeutung der Dominante werden auch andere Regionen immer häufiger

als zentrale Bezugspunkte eingesetzt. In diesem Zusammenhang wäre zunächst die

Ambivalenz zwischen Dur und Moll zu nennen, die von Komponisten seit jeher ausge-

nutzt wurde, um zwischen diesen beiden Klangcharakteren zu wechseln. Es gibt wohl

kaum ein größeres Werk in der Literatur, das nicht sowohl Dur als auch Moll in länge-

ren Abschnitten ausgiebig behandelt. Hier wäre einerseits die diatonische Beziehung

zwischen einer Durtonart mit der parallelen Molltonart zu nennen. Siegfried Wilhelm

Dehn bezeichnete 1840 die Verwandtschaft zwischen I. und VI. Stufe, gemeinsam mit

der Verwandtschaft zwischen I. und III. Stufe, als den größtmöglichen

Verwandschaftsgrad. Er begründete dies mit der großen Anzahl konsonanter Intervalle

in diesen Klängen in Bezug auf die Dur-Tonleiter (vgl. S. 22). Als weitere wichtige

Verwandtschaftsbeziehung ist die chromatische Beziehung zwischen einer Durtonart

und der Molltonart auf derselben Stufe zu nennen. Diese Art der Verwandtschaft wurde

in Gottfried Webers 1817 veröffentlichtem Tonnetz als Verwandtschaft ersten Grades

gekennzeichnet und damit sogar als wichtiger charakterisiert als die Verwandtschaft

259 Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, S. 113. 260 Ebda.

Page 88: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

82

zwischen Dur und paralleler Molltonart (vgl. Abbildung 7). Bella Brover-Lubovsky

argumentiert, dass diese Doppeldeutigkeit zwischen Dur und Moll auf derselben Stufe

bereits bei venezianischen Komponisten des frühen 17. Jahrhunderts eine häufig

wiederkehrende Grundkonstellation in der tonalen Anlage von Werken darstellt (z.B.

bei Antonio Vivaldi, Benedetto Marcello und Tomaso Albinoni).261 Insbesondere im 19.

Jahrhundert wurden diese (und weitere) Verwandtschaften zwischen Dur und Moll

teilweise an ihre äußersten Grenzen getrieben, sodass es in manchen Harmoniefolgen

kaum möglich ist, ein eindeutiges Klangzentrum auszumachen. Vielmehr scheint die

Musik dann zwischen zwei Welten zu schweben und einmal der Dur-Tonika, ein

anderes Mal der Moll-Tonika den Vorzug zu geben.

Zusätzlich zu den ambivalenten Klangzentren der I. Stufe in Dur und Moll sowie der

VI. Stufe in Moll kommen im 19. Jahrhundert noch weitere Klangzentren hinzu, welche

die alleinige Vorherrschaft der Tonika zunehmend in Frage stellen. Diese Entwicklung

wurde insbesondere durch die häufige Verwendung von mehrdeutigen Akkorden wie

dem verminderten Septakkord und dem übermäßigen Dreiklang hervorgerufen. Eine

große Anzahl von vorwiegend mediantischen Akkordbeziehungen konnten so als neue

Klangzentren der Tonika gegenübergestellt werden. Dies führte direkt zu jenen

harmonischen Verläufen, die Schönberg später als „schwebende Tonalität“ bezeichnete.

Eine eindeutige Angabe der Tonika als einzigen Bezugsklang ist in solchen Harmonie-

folgen weder aus Sicht der Analyse, noch aus Sicht des Hörers möglich bzw. sinnvoll.

Es hat fast den Anschein als hätten die soziokulturellen Entwicklungen des 19. Jahrhun-

derts, die mit der Französischen Revolution die Vorherrschaft des Adels über den

Bürger beendeten, auch eine analoge Revolution im hierarchischen System der Dur-

Moll-Tonalität hervorgerufen.

Bereits in den Einleitungen zu Beethovens Streichquartetten wird ein eindeutiger

Tonikabezug oft bewusst hinausgezögert. Im Streichquartett op. 59/3 werden beispiels-

weise mehrere Klangzentren angedeutet (G-Dur, a-Moll und Es-Dur), die Tonika C-Dur

wird jedoch erst in Takt 43 eindeutig bestätigt (Abbildung 37). Es ist zwar möglich die

Harmonik dieser Einleitung funktionstheoretisch in Bezug auf die Tonika zu deuten,

dies würde aber wohl kaum der tatsächlichen Wahrnehmung und Erwartungshaltung

261 Bella Brover-Lubovsky, Venetian Clouds and Newtonian Optics, in: Musiktheorie als interdiszi-

plinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung.

Page 89: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

83

des Hörers entsprechen. Selbst wenn man versucht, die ersten neun Takte aus Sicht der

Dominante G-Dur zu deuten, wird man nicht der tatsächlichen Wahrnehmungssituation

in Takt 11 gerecht, in der sich die vermeintliche Dominante ohne Grundton mit tiefalte-

rierter None (T. 8-10) plötzlich in einen B-Dur-Septakkord verwandelt, der nach Es-Dur

weiterleitet. Außerdem deuten die ersten 5 Takte der Einleitung eher auf die Tonart a-

Moll hin als auf G-Dur und den verminderten Septakkord auf Fis im ersten Takt hört

man im Nachhinein eher als einen Vorhalt zum nachfolgenden F7 (das zum über-

mäßigen Quintsextakkord umgedeutet wird) und nicht als Dominante zu G. Auch den

verminderten Septakkord auf H in den Takten 26-28 stellt Beethoven in ein harmoni-

sches Umfeld, das nicht an C-Dur erinnert. Erst mit Beginn des Hauptthemas in T. 30

wird zum ersten Mal C-Dur als Tonart angedeutet und schließlich in T. 43 bestätigt.

Doch auch vor dieser Bestätigung zögert Beethoven in Takt 41 C-Dur nochmals hinaus,

indem er zunächst einen Dominantseptakkord auf C setzt.

Diese Einleitung scheint sich Deutungsversuchen aus Sicht eines einzigen Zentralklangs

vehement zu widersetzen. Vielmehr hat es den Anschein als kreise die Harmonik – ganz

im Sinne von Schönbergs schwebender Tonalität – kontinuierlich um mehrere Zentral-

klänge ohne sich dabei eindeutig festzulegen. Dieses Wechselspiel verschiedener

Klangzentren ist nicht nur für die Analyse von Bedeutung, auch unsere Wahrnehmung

vermag hier kaum einen einzelnen Bezugspunkt festzumachen.

Page 90: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

84

Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44.

Ein weiteres Beispiel Beethovens, in dem ein eindeutiger Zentralklang über weite

Strecken außer Kraft gesetzt wird, ist die Variation Nr. 20 aus den „Diabelli“ Varia-

tionen op. 120 (Abbildung 38). Die Variation beginnt zunächst sehr vorsichtig C-Dur

als Tonika zu etablieren. Aus Sicht dieser Tonika handelt es sich bei dem verminderten

Septakkord am Ende von Takt 8 um eine Dominante mit tiefalterierter None im Bass.

Derselbe Akkordtyp verwandelt sich jedoch plötzlich in der zweiten Hälfte des nächsten

Takts in eine „vagierende“ Klangfolge. Durch die Verbindung eines g-Moll-

Septakkords mit einem Quintsextakkord auf Gis (T. 10-11) und die Verbindung eines

verminderten Septakkords auf Ais mit einem C-Dur-Dreiklang (T. 12-13) verschwindet

Page 91: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

85

in den Takten 10-13 jeglicher dur-moll-tonale Bezug. Mehr noch, man hat hier fast das

Gefühl, als ob der verminderte Septakkord selbst für einen kurzen Augenblick die Rolle

eines Klangzentrums eingenommen hat. Der G-Moll-Septakkord in Takt 10 wirkt dabei

als ein Spannungsakkord, der sich in einen E-Dur-Septakkord (Gis im Bass) auflöst, das

verbindende Element ist jedoch der verminderte Septakkord auf As des vorangegange-

nen Taktes, der als unterschwelliges Klangzentrum den Gesamtklang beeinflusst. In

Takt 14 bereitet Beethoven diesem Spuk zunächst ein Ende, indem er – dem Thema der

Variation entsprechend – die Phrase in die Dominantregion auflöst.

Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120.

Auch der weitere harmonische Verlauf dieser Variation ist sehr auffällig. In den Takten

13-19 wird deutlich, dass die Harmonik einem bestimmten Auflösungsschema folgt:

Auf die schwere Taktzeit wird ein dissonanter Akkord gesetzt, der sich in einen weniger

dissonanten Akkord auf der leichten Taktzeit auflöst. Die Takte 21-24 setzen dieses

Schema fort, allerdings steht nun auf der leichten Taktzeit ein verminderter Septakkord

auf E bzw. B und G. Dies bestärkt die vorherige Vermutung, dass der verminderte

Septakkord hier als ein Zentralklang behandelt wird. Alle Töne der Takte 21-24 ent-

Page 92: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

86

stammen der mit dem verminderten Septakkord eng verwandten Ganzton-Halbton-

Skala auf E. Wie zuvor der g-Moll-Septakkord, werden in diesen Takten die Dominant-

septakkorde auf C und Es (enharmonisch umgedeutet) in den verminderten Septakkord

aufgelöst. Dies wird auch durch die Notation der Vorzeichen in Takt 24 (Dis – E in der

Oberstimme) deutlich. Auch im weiteren Verlauf der Variation bleibt ein eindeutiger

Tonartbezug aus, bis sich die Harmonik schließlich im letzten Takt nach C-Dur auflöst.

Mit der tragenden Rolle des verminderten Septakkordes nimmt Beethoven in dieser

Variation viele harmonische Neuerungen der Hochromantik vorweg, wie später nach

am Beispiel von Richard Wagners Parsifal zu sehen sein wird.

Besonders auffällig ist die Ambivalenz des Klangzentrums insbesondere auch in den

späten Klavierstücken von Franz Liszt. Bereits in Funérailles (1849) hatte Liszt die

beiden Klangzentren f-Moll und E-Dur fast gleichberechtigt nebeneinander verwendet

und dabei die gemeinsame Terz der beiden Akkorde als Bindeglied genutzt.262 Bei La

lugubre gondola I (1882) stellt Liszt anstelle der Tonika sogar eine bitonale Mischung

zwischen E-Dur und f-Moll. Das erste Intervall der Melodiestimme von La lugubre

gondola I deutet f-Moll an, bei den Takten 6-10 handelt es sich jedoch um einen Aus-

schnitt aus der E-Dur-Tonleiter. Zusammengehalten wird die Melodie durch einen

übermäßigen Dreiklang auf E, der mit den beiden Akkorden E-Dur und f-Moll jeweils

zwei gemeinsame Töne enthält (Abbildung 39).263 In Unstern! sinistre, disastro (nach

1881), in der Liszt verwandte Techniken anwendet, geht er sogar so weit, dass die Töne

von E-Dur und f-Moll zu einem einzigen Klanggemisch vereint werden.264

262 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 46-67. 263 Ebda., S. 21f. 264 Ebda., S. 30.

Page 93: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

87

Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22.

In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass es in der Musik des 19. Jahrhunderts oft

schwierig ist einen eindeutigen Zentralklang festzumachen und auch der Akkordtyp des

Zentralklangs ist nicht klar definierbar. So nehmen in der romantischen Literatur an-

stelle der traditionellen Dreiklänge Dur und Moll auch dissonante Klänge – wie der

Dominantseptakkord, der verminderte Septakkord oder der übermäßige Dreiklang – den

Platz eines zentralen Bezugspunkts ein. Nun stellt sich die Frage, ob diese dissonanten

Klangzentren nur aus systematisch-analytischer bzw. aus kompositionstechnischer Sicht

eine Bedeutung haben, oder ob auch unsere Wahrnehmung diese Klänge als zentrale

Ruhepunkte akzeptieren kann. Gerade bei Orgelpunkten über einer Dominante oder in

Rückführungen einer Sonatensatzform scheint es ganz offensichtlich, dass man als

Hörer weiterhin das Bedürfnis nach der Auflösung der Dominante in die Tonika hat und

diese Erwartung wird in den allermeisten Fällen auch erfüllt. So gesehen nimmt die

Dominante dann zwar eine zentrale Rolle ein, die Tonika schwingt jedoch als unter-

schwelliger Zentralklang weiterhin mit. Dem gegenüber gibt es jedoch Beispiele, wie

Page 94: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

88

einige der späten Klavierwerke Liszts, die darauf hindeuten, dass auch dissonante

Klänge durchaus als Klangzentren wahrgenommen werden, die kein zwingendes Auf-

lösungsbedürfnis mehr hervorrufen. Auch die zeitgenössische Musik des 20. Jahrhun-

derts hat mit der Emanzipation der Dissonanz und des Geräuschs eindrucksvoll be-

wiesen, dass ein Auflösungsbedürfnis dissonanter Klänge immer nur vom jeweiligen

harmonischen bzw. stilistischen Kontext abhängt. Kreneks Aussage, dass der wesent-

liche Unterschied zwischen Atonalität und Tonalität „die Dominantwirkung [ist], die

diese besitzt, die jener fehlt“ (vgl. S. 76) deutet genau auf diesen Zusammenhang hin. In

anderen musikalischen Strömungen des 20. Jahrhunderts wiederum, die primär im dur-

moll-tonalen Kontext verstanden werden – wie beispielsweise dem Blues oder dem Jazz

– ist die Tonika sogar meistens ein dissonanter Klang, den unsere Wahrnehmung

durchaus als Ruhepunkt zu akzeptieren scheint.

Page 95: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

89

2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan und Isolde

Das Loslösen von der Tonika als harmonisches Klangzentrum fand seinen ersten Höhe-

punkt in der viel diskutierten Einleitung (bzw. dem „Vorspiel“) zu Richard Wagners

Tristan und Isolde. Der so genannte „Tristan-Akkord“ – der dem Tonvorrat eines

„halbverminderten Septakkords“265 entspricht – wurde im Laufe der Musikgeschichte

unterschiedlichsten Deutungen unterzogen, nicht zuletzt mit dem Wunsch ihn einem

vorgegebenen Theoriemodell gefügsam zu machen. Ich werde mich in der vorliegenden

Analyse weniger dem Wesen des Tristan-Akkords widmen, sondern vielmehr den

unterschiedlichen Klangzentren, die in der Tristan-Einleitung eine Rolle spielen.

Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11.

Es ist durchaus möglich in den ersten vier Takten des Tristan (Abbildung 40) a-Moll als

zugrunde liegenden Zentralklang anzunehmen, was der am häufigsten anzutreffenden

harmonischen Deutung entspricht.266 Die ersten drei Töne könnten dann als eine Um-

265 Ich werde in der vorliegenden Analyse darauf verzichten den Akkordtyp des Tristan-Akkords gemäß

einer der vielen Deutungsmöglichkeiten als z.B. „Unterseptimenakkord“ (Martin Vogel, Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonielehre, Düsseldorf: Gesellschaft zur Förderung der systematischen Musikwissenschaft 1962, S. 140) oder „Doppelleittonklang“ (Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 51 u. S. 162) , zu bezeichnen. Jegliche Akkordbezeichnungen sind in weiterer Folge als eine Bezeichnung des abstrakten Tonvorrats im Sinne eines pitch sets zu verstehen und werden jeweils nach dem Grundton der Terzenschichtung oder, bei äquidistanten Klängen, nach dem Basston benannt; enharmonische Verwechslungen werden für die Benennung des Tonvorrates ignoriert. Der Autor geht davon aus, dass der Leser anhand des Notentextes versteht um welche kon-kreten Klänge es sich während der Diskussion handelt.

266 Vgl. unter anderem: Vogel, Der Tristan-Akkord, S. 140; Erpf, Studien zur Harmonie- und Klang-technik, S. 51 u. S. 162; Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Berlin: Max Hessels 1920, S. 44. Für weiterer Interpretationen des Tristan-Akkords vgl. auch Diether

Page 96: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

90

spielung von a-Moll ohne Terz angesehen werden und die erste Phrase würde in Takt 3

auf der Dominante von a-Moll – E7 – schließen. Gegen diese Interpretation spricht

allerdings, dass in a-Moll während des gesamten Vorspiels kein einziges Mal kadenziert

wird. A-Dur kommt in der Einleitung zwar vor, jedoch erst in Takt 24 und dort nur für

die kurze Dauer einer punktierten Viertel innerhalb eines harmonischen Kontexts, der

eher E-Dur vermuten lässt. Der Hörer wird zu diesem Zeitpunkt den A-Dur-Dreiklang

wohl kaum mehr mit dem E-Dur-Septakkord aus Takt 4 (bzw. T. 16) in Verbindung

bringen. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass der geschulte Hörer, der die romantische

Musik vor dem Tristan gut kennt, nach den ersten vier Takten zunächst einmal von der

Tonika a-Moll ausgeht. Dies ändert sich jedoch schlagartig in den Takten 5-7, mit der

leicht veränderten realen Sequenz der ersten drei Takte um eine kleine Terz höher.

Würde man der vorherigen Argumentation weiter folgen, dann müsste man Takt 7 als

Dominante nach C hören. Auf C-Dur würde die Nähe zur vorangegangenen Tonart a-

Moll hindeuten, c-Moll könnte dagegen wegen des Tons Gis/As der Takte 5-6 nahe

liegen. In den Takten 8-11 wird die erste Phrase ein drittes Mal (diesmal stärker abge-

ändert) variiert. Takt 10 könnte man aus Sicht von C-Dur als einen Vorhalt zu einem

übermäßigen Dreiklang auf C deuten (Abbildung 41), der in Takt 11 zu einem Domi-

nantseptakkord auf H weitergeführt wird. Damit wäre die Tonika der Takte 10-11 E-

Dur oder e-Moll.

A5+)R -: -: -: -: - -)* - - E§

Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint.

Der einzige Zentralklang, der aus Sicht der Funktionstheorie in diesen ersten Takten

wenigstens annähernd bestätigt wurde, ist C-Dur. Dafür spricht einerseits die Nähe zum

anfänglichen a-Moll, andererseits die Quasi-Auflösung in einen übermäßigen Dreiklang

de la Motte, Harmonielehre [1976], München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Bärenreiter 91995, S. 225-228.

Page 97: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

91

auf C in Takt 10. C-Dur wird als Zentralklang in den folgenden Takten (T. 17-20) sogar

bestätigt und in ganz traditionellen harmonischen Wendungen vier Takte lang ausge-

kostet. Außerdem wird zum Schluss der Einleitung die Anfangsphrase mit einem

Orgelpunkt auf G in die Tonart c-Moll umgedeutet (Abbildung 42, T. 100-106), auf

deren Dominante das Tristan-Vorspiel schließlich endet.

Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111.

Unsere Wahrnehmung scheint dieser Interpretation jedoch nicht exakt zu folgen. Zwar

ist es denkbar den 3. Takt als Dominante in a-Moll zu hören, ob man jedoch tatsächlich

in den folgenden Takten mit jedem neuen Dominantseptakkord einen Wechsel des

Zentrums nach C und schließlich nach E wahrnimmt, obwohl weder a-Moll noch C-Dur

eindeutig bestätigt wurde, ist zu bezweifeln. Spätestens nach dem 7. Takt hat sich

unsere Wahrnehmung darauf eingestellt, dass ihre Erwartung bislang nicht erfüllt

wurde. Außerdem nehmen die Dominantseptakkorde E7, G7 und H7 in diesem harmoni-

schen Umfeld einen sehr stabilen Platz ein, der gar keiner zwingenden Auflösung

bedarf. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass die Dominantseptakkorde hier, im Verhält-

nis zu dem Tristan-Akkord, die „konsonanteren“ Klänge darstellen. Diese in sich

ruhende Dominantwirkung wird auch noch durch die Auflösung der übermäßigen Quart

(Ais) in die Quint (H) des Zielakkords verstärkt. Dies ist durchaus vergleichbar mit der

Auflösung des G-Moll-Septakkords in den Quintsextakkord auf Gis in Beethovens

„Diabelli“-Variation Nr. 20 (vgl. Abbildung 38). Ernst Kurth schreibt über die besagte

Stelle der Tristan-Einleitung:

Page 98: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

92

Ein weiteres technisches Merkmal tritt schon bei dieser ersten Akkordverbindung des „Tristan“

hervor; nämlich die eigentümliche Erscheinung, daß (mit dem zweiten Akkord) ein Septakkord

nach der vorangehenden Alterationsdissonanz als Auflösungsform eintritt, und zwar auch der

Wirkung nach als eine Auflösung, die sich hier einem konsonanten Klangeindruck nähert.267

Die Dominantseptakkorde nehmen hier demnach auf mikroformaler Ebene die Rolle

von Klangzentren ein. Betrachtet man den formalen Ablauf der ersten 16 Takte unter

diesem Gesichtspunkt, so sieht man, dass sich neben den Klangzentren C-Dur und a-

Moll auch ein weiteres Klangzentrum auf E etabliert. Die Akkordfolge der Dominant-

septakkorde – E7, G7, H7, E7 – kann dann als eine Art „Kadenz“ bezogen auf das Klang-

zentrum E gedeutet werden.

Bevor ich auf die Harmonik dieser ersten 16 Takte in Bezug auf das Klangzentrum E

genauer eingehe, möchte ich nochmals einen kurzen Exkurs zu Franz Liszt machen.

Wie angedeutet finden sich in Liszts Spätwerk häufig Stellen, die sich auf die beiden

Klangzentren der I. Stufe (E-Dur) und der tiefalterierten II. Stufe (f-Moll) beziehen268

(vgl. S. 86). Als Bindeglied zwischen diesen beiden Klangzentren verwendet Liszt

meist den übermäßigen Dreiklang auf E (Abbildung 43a) sowie den verminderten

Dreiklang auf F (Abbildung 43b). Eine weitere Variante zur Verbindung von E-Dur und

f-Moll, die Liszt vorwiegend im Klavierstück Funérailles einsetzt, ist das Umdeuten der

Dominante von f-Moll zu einem übermäßigen Dreiklang auf C, der wiederum dem

übermäßigen Dreiklang auf E entspricht (Abbildung 43c). In diesem Zusammenhang

verwendet Liszt auch eine direkte Verbindung zwischen dem Dominantseptakkord auf

C und dem Dur-Dreiklang auf E, die man aus Sicht von f-Moll als einen erweiterten

Trugschluss auffassen könnte (Abbildung 43d).269

267 Kurth, Romantische Harmonik, S. 47. Kurth führt diese ruhende Wirkung des Dominantseptakkords

auf seine Terzenschichtung zurück: „das Ohr [fasst] die Rückkehr des musikalischen Gewebes in einen auf Terzlagerung zurückzuführenden Akkord als Einrenkung in ein von der Natur vorgezeich-netes System und als Ruhepunkt im musikalischen Kräftespiel [auf …].“ (Vgl. Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der Theoretischen Harmonik, Bern: Max Drechsel 1913).

268 Nachdem beide Klangzentren oft in gleichem Maße betont werden könnte man umgekehrt auch von der I. Stufe f-Moll und der erhöhten VII. Stufe E-Dur sprechen. Die Problematik der exakten Bezeich-nung spiegelt gewissermaßen unsere mangelhafte Symbolschrift für multiple Klangzentren wider, da sowohl Stufentheorie als auch Funktionstheorie von einem einzigen Klangzentrum ausgehen. Im Zu-sammenhang mit mehreren Klangzentren wäre es vielleicht ratsam die übliche Stufenbezeichnung fallen zu lassen und statt dessen nur Akkordbezeichnungen wie z.B. „E/Fm“ zu verwenden. In der Jazztheorie gibt es beispielsweise für polytonale Akkorde verschiedene Bezeichnungsmöglichkeiten, bei der insbesondere die Bezeichnung mittels eines schrägen oder horizontalen Balkens zwischen den beiden Akkorden sinnvoll erscheint.

269 Vgl. dazu auch Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 60ff.

Page 99: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

93

Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur und f-Moll.

Besonders deutlich treten diese Beziehungen in den Takten 21-25 von Liszts oben

erwähntem Klavierstück Unstern! zum Vorschein (Abbildung 44). In Takt 22 würde der

Hörer hier – mit dem hinzugefügten F im Bass – als Zentralklang wahrscheinlich f-Moll

annehmen, in den Takten 23-25 kommt es jedoch zu einer Umspielung eines über-

mäßigen Dreiklangs auf E. Strukturell gesehen vereint diese Stelle sowohl die Charakte-

ristik von E-Übermäßig als auch von F-Vermindert.

Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25.

Die Beziehung der beiden Zentralklänge auf C und E in der Einleitung zu Wagners

Tristan sind den Beziehungen zwischen E-Dur und f-Moll bei Liszt nicht unähnlich. So

ist die Tonart C-Dur als Dominante zu f-Moll in dem oben vorgestellten Schema sogar

implizit vorhanden (vgl. Abbildung 43d). Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen

C-Dur und E-Dur sind zum Vergleich in Abbildung 45 dargestellt. E-Dur hat mit C-Dur

einen gemeinsamen Ton E, der jeweils der Grundton bzw. die Terz der Akkorde ist.

Direkt sind die beiden Akkorde über den übermäßigen Dreiklang auf C bzw. E ver-

bunden, mit dem beide Klänge jeweils zwei gemeinsame Töne teilen. Indirekt besteht

auch noch eine Verbindung über F-Vermindert, das aus Sicht von C-Dur als

Dominantseptnonenakkord ohne Grundton und Quinte gedeutet werden kann.

Page 100: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

94

5ö 2ö _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 1

Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur und E-Dur.

Unter diesen Gesichtspunkten kann der Tristan-Akkord in Takt 2 wenigsten auf drei

verschiedene Weisen gedeutet werden: aus Sicht der Klangzentren a-Moll bzw. C-Dur

und aus Sicht des Klangzentrums E-Dur. Im ersten Fall könnte man den Tristan-Akkord

als Vorhalt zu einem übermäßigen Terzquartakkord deuten, also doppeldominantisch zu

a-Moll (Abbildung 46 links) oder dominantisch zu C-Dur. Die Deutung in a-Moll

könnte man als die traditionelle funktionstheoretische Erklärung des Tristan-Akkords

ansehen.270 Dem zufolge müsste man den Melodieschritt Gis–A als eine Bewegung von

der Sext zur Sept hören – das entspricht aber kaum der tatsächlichen Wahrnehmungs-

situation. Aus Sicht des Klangzentrums E-Dur ergibt sich dagegen ein etwas anderes

Bild. Der halbverminderte Septakkord auf F hat wie der verminderte Dreiklang auf F

(vgl. Abbildung 45) zwei gemeinsame Töne mit E-Dur (Gis und H), eine umständliche

Deutung aus Sicht der Dominante ist also gar nicht unbedingt notwendig. Statt dessen

könnte man den halbverminderten Septakkord auf F bereits als einen direkten Vorhalt

zur Tonika E-Dur deuten (Abbildung 46 rechts).271 Die Melodielinie Gis–A–Ais–H

wäre dann einfach ein Durchgang von der Terz zur Quint des Zentralklanges E-Dur und

die kleine Sept könnte als zusätzliche Farbe des Zielklanges bewertet werden.

F& : / D7

Y7 _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 8

Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll (links) und aus Sicht von E-Dur (rechts).

270 Vgl. Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 162. 271 Erpf bezeichnet diese Beziehung als Doppelleittonklang da die Prim durch zwei Leittöne erreicht wird

(vgl. Ebda., S. 51 u. S. 162.).

Page 101: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

95

Jedoch entspricht auch diese Interpretation nicht in jeder Hinsicht unserer Wahr-

nehmung der ersten Takte des Tristan. Vielmehr scheint es eher so zu sein, dass wir

eine Kombination beider genannten Varianten hören und sich insofern auch alle

Akkorde – a-Moll, C-Dur und E-Dur – neben einander als Klangzentren etablieren. Die

oben erwähnte Beziehung zwischen C-Dur und E-Dur über den verminderten Dreiklang

auf F (vgl. Abbildung 45) ist es auch, die zum Schluss des Vorspiels die Interpretation

der Anfangstakte in c-Moll ermöglicht (vgl. Abbildung 42).

Für die weiteren Takte ergibt sich, unter Bezug auf die beiden Zentralklänge C-Dur und

E-Dur folgendes Bild: Der Tristan-Akkord in Takt 6 (As-Halbvermindert) dient als

Bindeglied zwischen dem in Takt 3 erreichten Zentralklang E7 und der Dominante G7

des zweiten Zentralklangs C, in den sich die zweite Phrase in Takt 7 auflöst (Abbildung

47 links). Der halbverminderte Septakkord auf As fügt dem Zentralklang E7 dabei

lediglich die große None hinzu (Abbildung 47 rechts) und hat mit dem nachfolgenden

G7 wiederum die Terz und die Quint gemeinsam. Der erreichte Dominantseptakkord auf

G kann auf formaler Ebene als ein vorübergehender Zentralklang zwischen den Klängen

E7 und H7 angesehen werden.

A(E-Dur) 3ö Y2(E-Dur) D(C-Dur)

Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8 (links); Verbindung zwischen E7 und dem halb-verminderten Septakkord auf Gis.

Der halbverminderte Sekundakkord in Takt 10 stellt entsprechend der Interpretation in

Abbildung 41 einen Vorhalt zu einem übermäßigen Dreiklang auf C dar. Dieser Drei-

klang steht zu den Zentralklängen C-Dur und E-Dur im selben Verhältnis und enthält

von beiden Klängen den Grundton sowie die Terz (vgl. Abbildung 45). Die Verbindung

zur nachfolgenden Dominante von E könnte man dem entsprechend wiederum aus Sicht

beider Zentralklänge deuten. In Takt 16 wird H7 schließlich in den Zentralklang E7

aufgelöst, der aber sofort zur Subdominante von C-Dur (T. 17) weitergeführt wird.

Page 102: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

96

Das darauf folgende prägnante Thema (Abbildung 48, T. 17-22, „Motiv der Blick-

begegnung“), das vom Klangzentrum C-Dur in die Region der Subdominantparallele d-

Moll moduliert (T. 22), ist für den weiteren harmonischen Verlauf des Vorspiels von

wesentlicher Bedeutung. Zunächst bestätigen diese Takte den Zentralklang C-Dur, in

den darauf folgenden Takten 23-29 wird jedoch als Ausgleich sofort wieder E-Dur in

das Zentrum gerückt (bzw. in T. 28f die Dominante zu E-Dur). Auch der Zentralklang

a-Moll gewinnt durch die Ausweichung zur Subdominante d-Moll (T. 22) wieder

implizit an Bedeutung.

Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29.

Nach zwei Takten Überleitung (T. 30f) erklingt dieses Thema ein zweites Mal in C-Dur,

allerdings in einer Variation und mit leicht veränderter Harmonisierung (Abbildung 49,

T. 33-36). Interessant ist, dass Wagner nun auch den Zentralklang C-Dur ganz offen als

Dominantseptakkord ohne Auflösung einsetzt. Zunächst in Takt 35 als Vorbereitung des

anschließenden g-Moll-Dreiklangs und schließlich auch in Takt 37f als Abschluss der

Phrase. Takt 41f endet abermals auf der Dominante des zweiten Zentralklang E-Dur, der

in Takt 46 auch bestätigt wird.

Page 103: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

97

Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42.

In den Takten 55-63 tritt das Thema schließlich zweimal hintereinander auf, wobei mit

den beiden neuen Themenvarianten wiederum die beiden Klangzentren C-Dur und E-

Dur einander gegenübergestellt werden (Abbildung 50). In den Takten 55-58 steht das

Thema zunächst in E-Dur und ist dabei um einen halben Takt verschoben. In Takt 58

moduliert das Thema jedoch nicht wie gewohnt zur Subdominantparallele fis-Moll,

sondern endet mit einem Trugschluss auf einem D-Dur-Dreiklang in erster Umkehrung.

Dieser leitet als Doppeldominante in die zweite Themenvariante über, die nun in C-Dur

erscheint (59-62). In Takt 62 wird das Thema dann ein weiteres Mal nach E-Dur

weitergeführt und in dieser Tonart endet der Abschnitt schließlich. Es folgt ein aus-

gedehnter Orgelpunkt über dem Klangzentrum E7 in den Takten 63-70, der mit der

Akkordfolge E7–G7–H7–E7 der Einleitung beendet wird (T. 70-73).

Page 104: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

98

Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63.

Eine weitere sehr interessant Stelle in Bezug auf das Klangzentrum sind die Takte 78-

83. Hier wird zunächst in den Takten 78f ein halbverminderter Septakkord auf C um-

spielt, der in Takt 79 über den Dominantseptakkord B7 zu einem halbverminderten

Septakkord auf F weitergeleitet wird. Man könnte hier im ersten Moment vermuten,

dass das Klangzentrum es-Moll ist, dies wird jedoch zu keinem Zeitpunkt bestätigt.

Statt dessen scheint es in den folgenden 4 Takten fast, als würde der halbverminderte

Septakkord, der enharmonisch umgedeutet dem Tristan-Akkord aus Takt 2 entspricht,

für kurze Zeit selbst zu einem eigenständigen Klangzentrum werden (Abbildung 51).

Besonders auffällig ist dabei auch, dass in Takt 80 ein E-Dur-Dreiklang enharmonisch

umgedeutet und nun auf den halbverminderten Septakkord auf F bezogen wird (Ces–

As–E, 6. Achtel). Dies suggeriert, dass Wagner den hohen Verwandtschatftsgrad dieser

beiden Akkorde bewusst ausgenutzt hat, um unterschiedlichste harmonische Bezie-

hungen zu erzeugen. In Takt 83 wird der Tristan-Akkord wieder in seine ursprüngliche

Gestalt umgedeutet und löst sich dem Beginn entsprechend in den Dominantseptakkord

E7 auf (T. 84). Damit erfüllen die Takte 80-83 gewissermaßen auch die Funktion eines

Auftaktakkords zu dem Zentralklang E7.

Page 105: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

99

Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84.

Am Beispiel der Tristan-Einleitung konnte gezeigt werden, dass die Annahme mehrerer

Klangzentren in romantischer Musik aus analytischer Sicht durchaus eine Berechtigung

hat. Ob Wagner tatsächlich sowohl E-Dur als auch C-Dur als Zentralklänge konzipiert

bzw. komponiert hat, ist eine Frage, die sich nur schwer beantworten lässt – es gibt in

der Tristan-Einleitung jedoch auf mikro- und makroformaler Ebene mehrere Anzeichen

die darauf hindeuten. Durch die besondere Behandlung des Dominantseptakkords sowie

des halbverminderten Septakkords ist diese Einleitung auch ein Beispiel dafür, dass

ursprünglich dissonante Klänge in der Spätromantik zunehmend als eigenständige und

stabile Klangzentren eingesetzt wurden. In der Entwicklung der europäischen Musik-

geschichte kann dies als Vorläufer für komplexere Klangzentren angesehen werden, wie

sie später zum Beispiel von Skrjabin, Bartók oder Schönberg eingesetzt wurden.

Page 106: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

100

2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt

Im Vorspiel zum dritten Akt des Parsifal führt Wagner die Techniken des Tristan-

Vorspiels weiter. Diesmal steht jedoch nicht ein Dominantseptakkord als Zentralklang

im Vordergrund, sondern ein verminderter Septakkord. Der verminderte Septakkord hat

hier als Klangzentrum auch eine tonsymbolische Bedeutung. Das Vorspiel stellt Parsi-

fals Irrfahrt dar und es gibt wohl keinen Klang, der innerhalb der Dur-Moll-Harmonik

eine harmonische Irrfahrt besser ausdrücken könnte, als der verminderte Septakkord;

von dem aus in praktisch alle Tonarten moduliert werden kann, der dabei jedoch keine

Tonart in besonderer Weise hervorhebt. In den ersten vier Takten des Vorspiels

(Abbildung 52) könnte man – den Vorzeichen entsprechend – als Klangzentrum zu-

nächst b-Moll vermuten. Dafür spricht, dass die ersten drei Töne (B–F–Des) eine

Zerlegung eines b-Moll-Dreiklangs sind und dass ein b-Moll-Dreiklang in erster Um-

kehrung die letzte Viertel im zweiten Takt bildet. Auch der dritte Takt ließe sich aus

Sicht von b-Moll sehr gut deuten. Der es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten

Viertel dieses Taktes wäre dann eine Subdominante, die auf der vierten Viertel in die

Dominante F7 mit Quartvorhalt mündet. Diese offensichtlichen Bezüge zu b-Moll

werden jedoch immer wieder durch verminderte Septakkorde eingetrübt. Im zweiten

Takt auf der zweiten Viertel sowie zu Beginn des dritten Takts klingt jeweils ein ver-

minderter Septakkord auf G, der sich aus Sicht von b-Moll nur schwer erklären lässt.

Auf der zweiten Viertel des vierten Taktes klingt ein verminderter Septakkord auf Ges,

der sich in b-Moll immerhin als Dominante ohne Grundton deuten ließe. Allerdings

wäre dann die Weiterführung dieses Klangs in den verminderten Septakkord auf D (T.

4, 4. Viertel) sehr ungewöhnlich.

Page 107: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

101

Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4.

Abbildung 53 zeigt eine harmonische Reduktion dieser Takte mit hinzugefügten

Akkordsymbolen, in denen die verminderten Septakkorde hervorgehoben wurden. Die

harmonischen Beziehungen, die Wagner in diesen vier Takten vorstellt, sind bis auf

wenige Ausnahmen für den gesamten weiteren Verlauf des Vorspiels grundlegend und

kehren in den unterschiedlichsten Varianten wieder.

Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harmonische Reduktion.

Bevor ich mich der Analyse dieses Vorspiels im Detail widme, diskutiere ich zunächst

einige harmonische Eigenschaften des verminderten Septakkords, die für die weitere

Harmonik des Vorspiels wesentlich sind. Die wohl grundlegendste Eigenschaft des

verminderten Septakkords ist, dass er wie der übermäßige Dreiklang ein äquidistanter

Akkord ist, der die Oktave in vier gleiche Teile teilt. Dem entsprechend gibt es – be-

zogen auf den Tonvorrat – nur drei unterschiedliche verminderte Septakkorde. Daraus

ergibt sich, dass jeder verminderte Septakkord zu den beiden anderen jeweils im Ab-

stand einer kleinen Sekund steht. Wenn man den verminderten Septakkord als Klang-

zentrum annimmt, dann können also streng genommen nur drei dieser Klangzentren mit

unterschiedlichem Tonvorrat während eines Werks verwendet werden (sofern man von

Page 108: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

102

einer gleichstufigen zwölftönigen Stimmung ausgeht). Die „Modulation“ von einem

verminderten Septakkord in einen anderen kann also einfach durch eine harmonische

Rückung des Zentralklangs um eine kleine Sekund geschehen. Diese Akkordketten aus

verminderten Septakkorden sind seit dem Barock üblich und wurden auch von Franz

Liszt gerne eingesetzt, wie beispielsweise im Klavierstück La lugubre gondola II.272

Dabei ist die traditionelle Variante das Verschieben eines verminderten Septakkords um

eine kleine Sekund nach unten (aus funktionstheoretischer Sicht eine Dominantbezie-

hung273), aber auch das Verschieben um eine kleine Sekund nach oben ist durchaus

üblich (vgl. z.B. J. S. Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, T. 34;

Abbildung 58 weiter unten). Genau diese Art der harmonischen Rückung findet sich im

Prinzip auch in den Takten 3-4 des hier behandelten Parsifal-Vorspiels, allerdings wird

die harmonische Folge G°–Ges°–F° (D im Bass) durch die umgebenden Harmonien

überdeckt. In diesen beiden Takten erklingt damit also auch der gesamte Tonvorrat der

Zwölftonleiter.

Eine weitere Eigenschaft des verminderten Septakkords die sich aus den bisherigen

Eigenschaften ergibt ist, dass jeder Ton der restlichen Zwölftonskala als eine direkte

Nebennote des verminderten Septakkords angesehen werden kann. Der verminderte

Septakkord ist tatsächlich der einzige Akkord, bei dem jeder akkordfremde Ton der

Zwölftonskala von einem Akkordton genau eine kleine Sekunde entfernt ist. Abbildung

54 zeigt die verschiedenen Stufen des verminderten Septakkords auf C und verdeutlicht

damit auch diesen Zusammenhang: Jede akkordfremde Stufe kann chromatisch in einen

Akkordton weitergeleitet werden. Ich werde im Folgenden Stufenbezeichnungen be-

zogen auf den verminderten Septakkord gemäß Abbildung 54 benennen. Dabei be-

zeichnen die Stufen I, III, V und VII die Akkordtöne des verminderten Septakkords und

die Stufen II, IV, VI und VIII die akkordfremden Töne. Akkordfremde Töne werden

immer mit einem Vorzeichen (Kreuz und B) versehen um ihre chromatische Nähe zu

einem der Akkordtöne zu kennzeichnen.

272 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 11f. 273 Der verminderte Septakkord entspricht dann einer Dominante ohne Grundton mit tiefalterierter None

und Sept im Bass. Die Sept löst sich dabei um eine kleine Sekund nach unten in die Terz des nächsten Akkords auf, bei dem es sich wiederum um eine Dominante ohne Grundton und tiefalterierter None handelt, diesmal jedoch mit der Terz als Basston.

Page 109: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

103

Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.

Die oktatonischen Skalen, die mit dem verminderten Septakkord in einer engen Be-

ziehung stehen, können auch als Durchgänge dieses Akkords angesehen werden. Dieser

Zusammenhang wird in Abbildung 55 dargestellt. Dabei entspricht Abbildung 55a der

Ganzton-Halbton-Skala und Abbildung 55b der Halbton-Ganzton-Skala auf C.

Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verminderten Septakkords.

Wenn der verminderte Septakkord das harmonische Klangzentrum darstellt, dann

können seine Nebennoten nicht nur als Durchgänge angesehen werden, sondern auch als

Vorhalte. Wiederum ist dabei jede Nebennote chromatischer Vorhalt eines Akkordtons.

Abbildung 56 zeigt die möglichen chromatischen Vorhalte zu einem verminderten

Septakkord auf C. Die Akkordtypen, die auf den Vorhaltstönen entstehen, sind dabei

halbverminderte Septakkorde (Abbildung 56a) und Dominantseptakkorde (Abbildung

56b), die in Kleinterzbeziehungen sowie im Tritonusabstand zu einander stehen. Die

Grundtöne dieser Septakkorde ergeben damit wiederum den Tonvorrat eines vermin-

derten Septakkords (im Falle der Dominantseptakkorde H–D–F–A).

Page 110: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

104

Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.

Die Auflösung des halbverminderten Septakkords im vierten Takt von Abbildung 56a

(CØ7 _ Cº7) entspricht im Wesentlichen der ersten Auflösung des Tristan-Akkords im

Tristan-Vorspiel, mit dem Unterschied, dass sich der halbverminderte Septakkord dort

in einen Dominantseptakkord auflöst, der Basston also ebenfalls chromatisch nach

unten weitergeführt wird (FØ7 _ E7). Abbildung 57 verdeutlicht diesen Zusammenhang:

die Stimmführung der Tristan-Auflösung wurde dort in zwei separate Schritte auf-

geteilt, die über den verminderten Septakkord verbunden sind. Auch J. S. Bach ver-

wendet bereits vergleichbare Durchgänge und Vorhalte zum verminderten Septakkord.

Abbildung 58 zeigt die Takte 32-35 aus Bachs Chromatische Fantasie und Fuge in d-

Moll BWV 903. Der Dominantseptakkord auf D (Terz im Bass) in Takt 32 (3. Viertel)

entspricht dabei der Beziehung des zweiten Takts von Abbildung 56b und kann als

Durchgangsakkord des verminderten Septakkords auf Fis gedeutet werden. Der an-

schließende Dominantseptakkord auf H (Terz im Bass) entspricht dem ersten Takt von

Abbildung 56b und löst sich diesmal in einen verminderten Septakkord auf Dis auf. Die

in Abbildung 56 dargestellten Akkordbeziehungen entsprechen auch den „Tower

Powers“ von Jack Douthett und Peter Steinbach (vgl. Abbildung 20).

Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord.

Page 111: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

105

Abbildung 58: J. S. Bach, Chromatische Fantasie und Fuge in d-Moll BWV 903, T. 32-35.

Eine weitere Möglichkeit diese Vorhalte zu harmonisieren besteht darin, dass die

Vorhalte nicht als Septakkorde gesetzt werden, sondern als Dreiklänge. Dabei wird der

Vorhaltston verdoppelt und um eine große Sekund in umgekehrter Richtung zum

eigentlichen Vorhaltston aufgelöst. Abbildung 59 zeigt einige Möglichkeiten wie diese

doppelten Vorhalte ausgesetzt werden können. Die Dreiklänge, die durch den doppelten

Vorhalt gebildet werden, sind Moll- (Abbildung 59a) und Durdreiklänge (Abbildung

59b).

Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.

Durch diese recht einfache Systematik erhält man 16 Akkorde, die man direkt auf das

Klangzentrum eines verminderten Septakkords beziehen kann. Dabei haben die Drei-

klänge jeweils zwei, die Septakkorde drei gemeinsame Töne mit dem Klangzentrum.

Erweitert man dies auf die restlichen verminderten Septakkorde, dann lassen sich alle

Dur- und Molldreiklänge sowie alle halbverminderten Septakkorde und Dominantsept-

akkorde auf eines der drei Klangzentren beziehen. Dies liegt in der Struktur des vermin-

derten Septakkords begründet: Jeder beliebige Mehrklang lässt sich chromatisch in die

Akkordtöne eines verminderten Septakkords weiterführen.

Page 112: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

106

In der folgenden Analyse werde ich untersuchen, wie sich diese Akkordbeziehungen auf

die Harmonik des Vorspiels zum 3. Akt des Parsifal auswirken. Gezeigt wurde bereits,

dass die Tonart b-Moll in den ersten vier Takten immer wieder durch verminderte

Septakkorde in Frage gestellt wird. Wenn wir die genannten Akkordbeziehungen auf

den verminderten Septakkord auf G anwenden, dann ergibt sich folgendes Harmonie-

schema (Abbildung 60).

Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G.

Die Beziehungen zu b-Moll, Ges-Dur, G-Halbvermindert und dem Dominantseptakkord

auf Ges sind in dieser Abbildung hervorgehoben, um ihre besondere Bedeutung für das

Parsifal-Vorspiel (3. Akt) anzudeuten. Die Harmoniefolge der ersten drei Takte (b-Moll

– Ges-Dur – Ges7 – G° – b-Moll – G°; vgl. Abbildung 53) des Vorspiels lässt sich

diesem Schema folgend als eine gerichtete Folge ansehen, die das Klangzentrum G°

vorbereitet.

Abbildung 61 zeigt die harmonischen Beziehungen der ersten vier Takte bezogen auf

den verminderten Septakkord. Dabei werden mit den Zahlen die Stufen des vermin-

derten Septakkords (vgl. Abbildung 54) in ähnlicher Weise bezeichnet, wie dies in

Riemanns Funktionstheorie bezogen auf die Tonika geschieht. Aus dieser Sicht stellen

die ersten beiden Takte einen Vorhalt zum verminderten Septakkord dar, der sich auf

der zweiten Viertel des zweiten Taktes auflöst. Besonders interessant ist die zweite

Hälfte des dritten Taktes. Dieser kann sowohl aus Sicht von G° als auch aus Sicht des

nachfolgenden Ges° gedeutet werden und wird somit als harmonisches Bindeglied

zwischen G° und Ges° genutzt. Die melodische Linie der Oberstimme (b–c1–es1–des1)

ist – bezogen auf G° – eine Umspielung der Quint, bereitet jedoch das Klangzentrum

Ges° bereits vor: Der zugrunde liegende es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten

Page 113: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

107

Viertel dieses Taktes nimmt aus Sicht von Ges° die gleiche Funktion ein wie der b-

Moll-Dreiklang in G°. Die Auflösung des F7 nach Ges° im vierten Takt (#8–1) ent-

spricht der Auflösung von Ges7 nach G° im zweiten Takt. Den verminderten Septakkord

auf D habe ich, dem Tonvorrat entsprechend, in einen verminderten Septakkord auf F

umgedeutet, um so den harmonischen Verlauf in kleinen Sekunden deutlicher darzu-

stellen (Gº – Gbº – Fº). Auch im weiteren Verlauf der Analyse werde ich versuchen

verminderte Septakkorde nicht nur gemäß ihrem tatsächlichen Grundton zu deuten,

sondern auch gemäß ihrer strukturellen und formalen Funktion.

Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den verminderten Septakkord.

Abbildung 62 zeigt den harmonischen Prozess der ersten vier Takte in Form eines

gerichteten Graphen. Die Bezeichnungen „+1“ und „-1“ beziehen sich dabei auf den

verminderten Septakkord innerhalb desselben Rechtecks und stehen für die chroma-

tische Erhöhung eines Akkordtons („+1“; z.B. b-Moll und G-Halbvermindert aus Sicht

von G-Vermindert) bzw. die chromatische Erniedrigung eines Akkordtons (z.B. Ges-

Dur oder Ges7 aus Sicht von G-Vermindert). Die Pfeile markieren jene Zustandsände-

rungen der Akkorde, die in den jeweiligen Takten vorhanden sind. Man erkennt am

Graphen deutlich, wie die Umspielung des verminderten Septakkords – und damit auch

die dur-moll-tonalen Beziehungen – mit jedem neuen verminderten Septakkord weniger

werden, bis in der zweiten Hälfte des vierten Takts nur noch die Auflösung von D-

Halbvermindert in D-Vermindert überbleibt. Außerdem sieht man, dass die harmoni-

schen Beziehungen in Bezug auf G° am konsequentesten auskomponiert wurden.

Page 114: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

108

Start

+1 -1 +1 -1

GbºGº

+1Fº

T. 1-3 T. 3-4

T. 4 Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung des harmonischen Prozesses.

In ähnlicher Weise wie während des Tristan-Vorspiels werden in diesen ersten Takten

des Parsifal-Vorspiels (3. Akt) mehrere Klangzentren etabliert, die nicht nur analytische

Konsequenzen fordern, sondern auch unsere Wahrnehmung des Werks nachhaltig

beeinflussen. Interessanterweise nimmt jedoch das Klangzentrum b-Moll im weiteren

Verlauf des Vorspiels eine relativ unbedeutende Rolle ein. Während der Dominantsept-

akkord im Tristan-Vorspiel noch der Tonika in mancher Beziehung untergeordnet war,

komponiert Wagner den verminderten Septakkord nun mit all seinen Konsequenzen als

eigenständiges Klangzentrum. Fast jede Harmoniefolge des Parsifal-Vorspiels lässt sich

direkt auf die harmonischen Beziehungen in Abbildung 60 zurückführen und mündet in

einen verminderten Septakkord, der ohne jedwede Auflösung als tonaler Bezugspunkt

dient.

In den Takten 5-12 (Abbildung 63) stehen die verminderten Septakkorde auf D und E/G

im Zentrum. Dabei werden die Takte 5-6 in den Takten 7-8 um einen Ganzton höher

sequenziert (T. 7) bzw. um einen Halbton höher imitiert (T. 8). Die Dreiklänge gis-Moll

und E-Dur in Takt 5 stehen im selben Verhältnis zu F° wie zuvor b-Moll und Ges-Dur

zu G°. Dieser Zusammenhang tritt auch in der Sequenz in Takt 8 in Erscheinung, in

dem wiederum b-Moll und Ges-Dur (enharmonisch umgedeutet) klingen. Der C-Dur-

Dreiklang im fünften Takt leitet die „Tonart“ E°/G° ein und führt damit wieder zum

Zentralklang der ersten Takte zurück. Der Dominantseptakkord auf Fis im sechsten Takt

Page 115: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

109

ist, vergleichbar mit dem Ges7 in Takt 2, ein Vorhaltsakkord zu E°/G°. Die Auflösung

des halbverminderten Septakkords in Takt 7 (b8–7) entspricht dabei der Auflösung in

Takt 4 (3. Viertel) und kann wie gesagt als Variante der Tristan-Auflösung angesehen

werden. Dieselbe Auflösung wird auch in Takt 10 wieder verwendet und hat im weite-

ren Verlauf des Vorspiels eine wesentliche motivische Bedeutung. In Takt 12 löst sich

die Phrase schließlich erneut nach G° auf, sodass G° als die „Haupttonart“ des Vorspiels

vermutet werden kann. Abbildung 64 zeigt wiederum einen gerichteten Graphen dieses

Prozesses, bei dem die besondere Bedeutung von G-Vermindert deutlich sichtbar wird.

Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harmonische Reduktion.

Page 116: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

110

Start

Dº -1 -1 +1

Gº+1

D-Dur

T. 5 T. 5-8

Dº +1

-1

T. 8-11

T. 12

Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung des harmoni-schen Prozesses.

Aus formaler Sicht hat das Parsifal-Vorspiel damit in den Takten 1-12 in gewissem

Sinne eine „Kadenz“ über dem verminderten Septakkord auf G durchlaufen, in der auch

kurzzeitig in die beiden „Nebentonarten“ Ges° und F° ausgewichen wurde. Takt 12, der

in Takt 13 wiederholt wird („Ritt-Motive“ Kundrys; erstmals Beginn des I. Akts),

scheint G° als Klangzentrum (Abbildung 65) zu bestätigen. Die Harmonik dieses Taktes

wird im weiteren Verlauf des Stückes noch öfters aufgegriffen und lässt die bisher

genannten harmonischen Zusammenhänge besonders deutlich erkennen. Der halbver-

minderte Septakkord auf E sowie der Es-Dur-Dreiklang stehen dabei zu G° im selben

Verhältnis wie der Ges-Dur-Dreiklang und der halbverminderte Septakkord auf G (vgl.

Abbildung 60). Die Takte 12-13 werden in den Takten 14-15 um einen Halbton höher

auf As° sequenziert und in Takt 16 nochmals auf A° und B° (diesmal in einer diminu-

ierten Variante). Takt 17 führt schließlich über den verminderten Septakkord auf As/F

wieder zurück zu G° (Abbildung 66). Somit bilden die Takte 12-18 eine weitere

„Kadenz“ in G°, diesmal werden die „Nebentonarten“ jedoch in aufsteigenden Sekun-

denschritten erreicht: G° – As° – A° – B°/G° – As° – G°.

Page 117: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

111

Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harmonische Reduktion.

Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug).

In Takt 18 werden deutlich Bezüge zum Klangzentrum e-Moll hergestellt, das wie b-

Moll in Takt 1 als Nebenklang zu G° aufgefasst werden kann und zu b-Moll im Trito-

nusverhältnis steht. Auch das Motiv des ersten Taktes wird hier erneut aufgenommen

und verarbeitet. Die halbverminderten Septakkorde auf Cis (1. und 2. Viertel) und G (3.

Viertel) sind wiederum als Nebenklänge in Bezug auf G° zu deuten.

Page 118: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

112

Die Takte 19-21 verarbeiten nochmals die Harmonik aus Takt 12 und leiten in Takt 21

über G° in das „Gralsmotiv“ (Abbildung 67, T. 21-22) über, das zum ersten Mal im

Vorspiel scheinbar eindeutige dur-moll-tonale Harmonik in das Zentrum der Aufmerk-

samkeit stellt. Doch auch die in der ursprünglichen Fassung reine Diatonik des Grals-

motivs ist hier in verminderte Septakkorden eingebettet. So löst sich die Phrase zum

Ende von Takt 21 nicht wie erwartet nach Es-Dur auf, sondern wird in einen vermin-

derten Septakkord auf E weitergeführt (T. 22, 1. Viertel). In Takt 23 wird die Sequen-

zierung des Motivs eine große Sept höher (D-Dur) erneut in einen verminderten Sept-

akkord, dieses Mal auf H, „aufgelöst“. Die hörpsychologische Wirkung des Gralsmotivs

im Kontext des verminderten Klangzentrums ist erstaunlich und wirkt hier fast wie ein

Besucher eines fremden Sterns. Dies zeigt wie gefestigt die harmonischen Bezüge um

den verminderten Septakkord an dieser Stelle bereits sind und dass sich die daraus

resultierende musikalische Syntax offensichtlich auch im (Unter-) Bewusstsein des

Hörers etabliert hat.

Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug).

In den folgenden Takten (Abbildung 68, T. 22-37) wird hauptsächlich das Klang-

zentrum H° bzw. später As° auskomponiert. Auf großformaler Ebene erfüllt dieser

durchführungsartige Abschnitt eine ähnliche Funktion wie ein Auftaktakkord in dur-

moll-tonaler Musik. Die bisherigen harmonischen Bezüge und Motive werden – hier

bezogen auf H° – weiter entwickelt und variiert. Besonders auffällig ist an diesen

Page 119: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

113

Takten, dass die Bedeutung des „Nonvorhalts“ zum verminderten Septakkord nun in

besonderer Weise akzentuiert wird (in der Abbildung durch vertikale Pfeile markiert).

Diese Vorhalte entsprechen dem Vorhalt des halbverminderten Septakkords auf H in

Takt 23 (bzw. T. 4, T. 7 und T. 10), mit dem Unterschied, dass der Vorhaltston nun im

Akkord bereits enthalten ist. Die Sequenz des „Torenspruch-Motivs“ der Takte 24-27 in

den Takten 28-31 führt dazu, dass in den Takten 23-33 „Nonvorhalte“ die strukturelle

Basis bilden, welche den Auflösungen der halbverminderten Septakkorde HØ (T. 23), FØ

(T. 29) und AbØ (T.30-33) entsprechen. Erst in Takt 34 löst sich diese harmonische

Folge schließlich in einen verminderten Septakkord auf As auf. Aus dieser Sicht könnte

man diesen Abschnitt als einen ausgedehnten Vorhalt zum verminderten Septakkord

ansehen. Dies entspricht der Deutung, dass Wagner hier einen durchführungsartigen

Abschnitt im Sinne eines Auftaktakkords komponiert hat, allerdings mit dem Unter-

schied, dass der Auftaktakkord sich zunächst nach As° und nicht nach G° – dem eigent-

lichen Klangzentrum des Vorspiels – auflöst (G° erscheint erst wieder in Takt 37).

Zudem ist die Ähnlichkeit dieses Abschnitts zu den Takten 79-84 des Tristan-Vorspiels

auffällig: Dort wurde der halbverminderte Septakkord als ein Auftaktakkord zum

Zentralklang E7 auskomponiert (vgl. Abbildung 51).

Die beiden Septakkorde G7 und B7 in Takt 24 und Takt 28 stellen in Bezug auf H°

wiederum jene Nebenklänge dar, die im Parsifal-Vorspiel schon zuvor mehrfach

Verwendung fanden (vgl. z.B. T. 3, 6 und 9); der Klang Ces–Es–B in Takt 34 ist in

entsprechender Weise aus Sicht von As° zu deuten. In Takt 35, kurz vor dem Erreichen

des Zentralklangs G°, wird wiederum mit einer Auflösung eines halbverminderten

Septakkords (EbØ) nach Bes/A° ausgewichen. Die Takte 35-37 wirken daher wie eine

kleine Abschlusskadenz des Abschnitts (T. 24-37) auf As°. An der Notation des Fes-

Dur-Dreiklangs in Takt 34 (As-Fes-Ces) erkennt man dabei recht deutlich, dass dieser

Klang aus Sicht von As° zu interpretieren ist.

Page 120: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

114

Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harmonische Reduktion.

Nach der Rückkehr zum Klangzentrum G° in Takt 37 folgt eine „diatonische“ Sequenz

in kleinen Terzen, die diesen Zentralklang nochmals als „Haupttonart“ bestätigt

(Abbildung 69, T. 39-43). Wagner setzt die harmonischen Beziehungen zwischen dem

Dominantseptakkord und dem Moll-Dreiklang zum verminderten Septakkord hier in

besonders plakativer Weise aus. Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen

(„Motiv der verdorrten Blumen“; Ende von Akt II) lösen sich die Dominantseptakkorde

Es7 (T. 39), C7 (T. 41) und A7 (T. 43) über die Molldreiklänge g-Moll, e-Moll und cis-

Moll alle in den Tonvorrat des verminderten Septakkords auf G auf. Damit hat Wagner

im Parsifal-Vorspiel (3. Akt) alle in Abbildung 56 und Abbildung 59 vorgestellten

Möglichkeiten der Auflösung zum verminderten Septakkord zumindest einmal ver-

wendet. Das Vorspiel endet schließlich in Takt 45 mit einem halbverminderten Sept-

akkord auf Es. Im anschließenden Teil „Von dorther kam das Stöhnen“ löst Wagner

diesen halbverminderten Septakkord – im Sinne des Tristan-Akkords – nach D-Dur auf

und schließlich nach d-Moll.

Page 121: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

115

Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harmonische Reduktion.

Wagner hat im Parsifal-Vorspiel zum dritten Akt die Konsequenzen aus dem Tristan-

Vorspiel gezogen und den Zentralklang der Tonika fast vollständig durch einen (ur-

sprünglich) dissonanten Akkordtyp – den verminderten Septakkord – ersetzt. Anders

jedoch als in manchen Spätwerken Liszts schafft es Wagner im Pasifal-Vorspiel (3.

Akt) durch den geschickten Einsatz von bekannten Akkordtypen – dem Dur- und Moll-

Dreiklang, dem Dominantseptakkord und dem halbverminderten Septakkord – weiter-

hin das Gefühl dur-moll-tonaler Bezüge zu einem gewissen Grad aufrecht zu erhalten.

Dennoch etabliert sich das Klangzentrum des verminderten Septakkords in einer Weise,

dass Reste der Dur-Moll-Tonalität (wie z.B. das Gralsmotiv in T. 21-22) hier wie

Fremdkörper gegenüber der inhärenten musikalischen Syntax erscheinen.

Page 122: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

116

2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk

Arnold Schönberg war einer jener Komponisten, die in ihrer Musik die Dur-Moll-

Tonalität an ihre Grenzen trieben und sich in letzter Konsequenz von ihr loslösten.274

Als Schönberg sich 1894 mit den Kompositionen Richard Wagners und Franz Liszts

vertraut machte, hatte sich die harmonische Syntax der Dur-Moll-Tonalität bereits

zusehends von der Zentrierung auf einen einzelnen Zentralklang entfernt. Der hohe

Grad chromatischer Stimmführung, die überschäumende Alterationstechnik sowie der

Einsatz von symmetrischen Akkorden und äquidistanten Harmoniefolgen führten dazu,

dass die Tonika nicht mehr im selben Maße die wichtige Funktion der formalen Gliede-

rung ausüben konnte wie zuvor. Diese Entwicklung wurde auch durch die zunehmende

Emanzipation der Dissonanz verstärkt. Dissonante Vielklänge, die nun auch als harmo-

nische Ruhepunkte Verwendung fanden, stellten die Funktion der Tonika immer mehr

in Frage.275

Schönberg war sich der Problematik bewusst und es hat den Anschein, dass er in seinen

frühen Werken gezielt versuchte dieser Tendenz entgegenzuwirken. Die Tonika wurde

von ihm in Form von Dur- und Moll-Dreiklängen in besonderer Weise akzentuiert, um

so im formalen Verlauf „durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossen-

heit zu erzielen“ 276. Hans Redlich schrieb über Schönbergs Tonalität:

Vergleicht man die Werke seiner ersten Periode mit gleichzeitig entstandenen Werken etwa von

Strauß, Reger oder Pfitzner, so fällt vor allem bei Schönberg das starke Gravitieren zum Funda-

mentalton, die ausgesprochene Tonalitätsfarbe […] auf […]. […]

Das Klangspiel in Es zu Anfang der Gurrelieder, das hartnäckige Zurückstreben zum d-Moll des

Anfangs im d-Moll Quartett, das eigensinnige lydische E-Dur der Kammersymphonie welches

das Werk wie eine Eisenklammer in allen Teilen zusammenhält – wo gibt es bei einem anderen

Meister ähnliche Stellen, ja Werke von solcher tonaler Eindeutigkeit, von solcher Überbetonung

der fundamentalen Grundstimmung? 277

274 Dazu ist allerdings anzumerken, dass Schönberg in einigen seiner späten Werke, wie beispielsweise

der zweiten Kammersymphonie op. 38 wieder zur Tonalität zurückkehrte und dabei einige Techniken der Zwölftonkomposition auch auf tonale Musik anwandte.

275 Vgl. auch Catherine Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies: the crystallization and redescovery of a style, Aldershot: Ashgate 2000, S. 1.

276 Schönberg, Harmonielehre, S. 27. 277 Hans Friedrich Redlich, Schönbergs Tonalität, in: Anrnold Schönberg und seine Orchesterwerke,

Wien: Universal Edition 1927, S. 22-24, hier S. 22f.

Page 123: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

117

Doch konnte das gezielte Zentrieren auf den Zentralklang der Tonika den Tendenzen

der neuen musikalischen Syntax offensichtlich nicht mehr länger entgegenwirken. Über

sein zweites Streichquartett op. 10 (1907–1908), das als Wendepunkt den Übergang zur

Atonalität kennzeichnet, schreibt Schönberg:

Schon im ersten und zweiten Satz kommen Stellen vor, in denen die unabhängige Bewegung der

einzelnen Stimmen keine Rücksicht darauf nimmt, ob deren Zusammentreffen in „anerkannten“

Harmonien erfolgt. Dabei ist hier […] eine Tonart an allen Kreuzwegen der formalen Konstruk-

tion deutlich ausgedrückt. Doch konnte die überwältigende Vielheit dissonanter Klänge nicht

länger durch gelegentliche Anbringung von solchen tonalen Akkorden ausbalanciert werden, die

man gewöhnlich zum Ausdruck einer Tonart verwendet.278

Im Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (1899) finden sich erste Anzeichen dafür, dass

es Schönberg immer schwerer fiel, die Tonika als Zentralklang zu festigen. Catherine

Dale kommt zu dem Schluss, dass:

[…] as in [the first chamber symphony] op. 9, Schoenberg was uncertain about the amount of

dominant preparation necessary in order to create closure in his tonally expanded style. […]

Moreover, the evasion of the dominant and, in particular, its substitution by whole-tone and

quartal harmonies […] are anticipated in op. 4 […].279

Die Harmonik des Streichsextetts ist gekennzeichnet durch Passagen dur-moll-tonaler

Dezentrierung zugunsten dissonanter Klänge sowie der anschließenden Rückkehr zur

Tonika als formalen Bezugspunkt. Die Takte 138-139, die Schönberg selbst als eine

Stelle unbestimmbarer Tonalität bezeichnete (vgl. S. 42),280 weisen beispielsweise

Gemeinsamkeiten mit der Zentrierung auf einen verminderten Septakkord auf, die

bereits in der Harmonik des Parsifal-Vorspiels zum dritten Akt besprochen wurde (vgl.

S. 101-106). Abbildung 70 zeigt, dass die Harmonik hier aus Sicht der verminderten

Septakkorde D° und F° als Nebennoten bzw. Vorhalte gedeutet werden kann (die

Zahlen beziehen sich dabei wie zuvor bei den Parsifal-Analysen auf die Stufen des

verminderten Septakkords; vgl. dazu Seite 102 sowie Abbildung 54). Insofern ist

tatsächlich die Dur-Moll-Tonalität dieser Takte unbestimmbar, da das Klangzentrum

nicht einen Dur- oder Moll-Dreiklang, sondern einen verminderten Septakkord darstellt.

278 Schönberg, Rückblick, S. 437. 279 Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 6. 280 Schönberg, Rückblick, S. 437.

Page 124: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

118

Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion.

Auch der formale Zusammenhang wird in der Verklärten Nacht nicht mehr ausschließ-

lich über die Tonika hergestellt. Statt dessen verwendet Schönberg einen

Dominantseptnonenakkord mit der None im Bass, um die formale Gliederung hervor-

zuheben. Theodor W. Adorno schrieb:

Dieser wechselnder Auflösungen fähige Akkord erscheint in der „Verklärten Nacht“ wiederholt,

und zwar an entscheidenden Einschnitten der Form, absichtsvoll anorganisch. Er bewirkt

Zäsuren im Idiom. Ähnlich verfährt dann Schönberg in der Ersten Kammersymphonie mit dem

berühmt gewordenen, ebenfalls in der traditionellen Harmonielehre nicht verzeichneten Quarten-

akkord. Er wird zur Leitharmonie und markiert alle wichtigen Einschnitte und Verklamme-

rungen der großen Form.281

Schönberg sah bekanntlich symmetrische Klänge wie den übermäßigen Dreiklang den

Quartenakkord oder den sechsstimmigen Ganztonakkord, als Alterationen der Domi-

nante an. In seiner Harmonielehre löste er diese Klänge konsequent in andere Klänge

auf bzw. führte sie in andere Klänge weiter. Abbildung 71 zeigt die Auflösung des

281 Theodor W. Adorno, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: Theodor W.

Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I-III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 649-664, hier S. 655.

Page 125: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

119

Ganztonakkords (links) und des Quartenakkords (rechts); es fällt dabei auf, dass Schön-

berg den Quartenakkord hier nicht in Toniken, sondern in Dominanten auflöst.

Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords (links) und des Quartenakkords (rechts) nach Schönberg.282

Dennoch sah Schönberg die symmetrischen Akkorde durchaus auch als eigenständige

Klänge an.283 Dies wird z.B. an seiner „Auflösung“ eines Quartenakkords in einen

Ganztonakkord besonders deutlich. Abbildung 72 zeigt, wie ein Quartenakkord durch

die chromatische Stimmenbewegung von drei Stimmen zunächst in einen Ganzton-

akkord geführt wird und anschließend durch das Weiterführen der übrigen drei Stimmen

ein Quartenakkord um eine kleine Sekund tiefer entsteht. Dieses Beispiel weist erneut

auf die große Bedeutung der chromatischen Stimmführung für die spättonale Harmonik

hin (vgl. auch Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; S. 59f).

Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord nach Schönberg.284

Der Dualismus zwischen Tonika und Dominante war in Schönbergs Musik besonders

stark ausgeprägt. Schönberg ersetzte die Dominante sukzessive mit symmetrischen

Klängen, die als „vagierende“ Akkorde in praktisch jede beliebige Tonart weitergeführt

werden können. Dies führt zu einer Dezentrierung der dur-moll-tonalen Tonika in

Passagen der Dominante einerseits und zu einer überbetonten Zentrierung der Tonika

im Rahmen von Schlusskadenzen andererseits. In der symphonischen Dichtung für

282 Schönberg, Harmonielehre, S. 469 u. 485. 283 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 12. 284 Schönberg, Harmonielehre, S. 485.

Page 126: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

120

Orchester Pelleas und Melisande op. 5 (1902–1903) wurden Ganzton- und Quarten-

akkorde von Schönberg zum ersten Mal konsequent eingesetzt.285 In seiner Harmonie-

lehre stellt er eine Passage aus Pelleas und Melisande als Beispiel für Ganztonharmonik

vor.286 Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen eines übermäßigen

Dreiklangs entsteht auf jeder zweiten Viertel ein Ganztonakkord. Diese Technik ist in

gewissem Sinne das Gegenteil von Richard Cohns „maximally smooth cycles“, da

keiner der Akkorde einen gemeinsamen Akkordton besitzt. Es handelt sich also um

einen „maximally rough cycle“, der auf jeder Viertel den gesamten Tonvorrat einer der

beiden Ganztonskalen erklingen lässt. Die Ganztonskala bestimmt den Gesamtklang

diese Stelle in einer Weise, dass sie selbst die Funktion eines Klangzentrums einnimmt.

Abbildung 73: Schönberg, Pelleas und Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32.287

Schönbergs erste Schaffensperiode kulminierte in der Kammersymphonie op. 9. Es ist

bekannt, dass Quarten- und Ganztonakkorde in diesem Werk eine wesentliche Rolle

einnehmen und dabei den dur-moll-tonalen Kontext immer wieder in Frage stellen. In

der Kammersymphonie folgt Schönberg mit einer Sonatensatzform288 einem klaren dur-

moll-tonalen Formschema und setzt diesem formale Abschnitte gegenüber, deren

Klangzentren auf Quarten- und Ganzton-Harmonik basieren. Dieses Prinzip stellt

Schönberg bereits in den einleitenden Takten (Abbildung 74) der Kammersymphonie

vor und es bestimmt von da an die gesamte harmonische Syntax. Zuerst wird in den

Takten 1-2 ein Quartenakkord gesetzt, der in Takt 3 in einen unvollständigen Ganzton-

akkord weitergeführt wird. In Takt 4 löst sich dieser in einen F-Dur-Dreiklang auf (aus

Sicht von E-Dur die Tonart des neapolitanischen Sextakkords).

285 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 8. 286 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 470. 287 Ebda. 288 Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Gestalt und Stil. Schönbergs Kammersymphonie und ihr Umfeld,

Kassel: Bärenreiter 1994, S. 35-46.

Page 127: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

121

Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug.

Anthony Payne schrieb, dass

the fact that many such paragraphs end in tonal cadence should not lead us to overemphasize the

structural importance of tonality. The absence of key-feeling prior to these terminal points some-

times lends them an arbitrary air, and in theory their punctuating function could be replaced by

one of the many referential features, harmonic, melodic or rhythmic.289

Catherine Dale weist in weiterer Folge darauf hin, dass diese weiterweisenden Merk-

male („referential features“), bei denen es sich unter anderem um Quarten- und Ganz-

tonakkorde handelt, in Kadenzen nicht nur die Dominante, sondern gelegentlich auch

die Tonika ersetzen. Die harmonischen Fortschreitungen basieren dabei auf dem Prinzip

der stufenweisen Stimmführung.290

Das Quartenmotiv der Takte 4-6 stellt eine Horizontalisierung des Quartenakkords dar

und wird in Takt 6-7 wieder der Ganztonharmonik gegenübergestellt. Takt 8 leitet die

Kadenzierung in E-Dur (T. 9-10) über einen verminderten Septakkord auf A ein, der

hier als Dominante mit Sept im Bass zu deuten ist. Der Kontrast zwischen der dur-moll-

tonalen Dezentrierung der Takte 5-9 und der anschließenden Betonung der Tonika im

Rahmen der Kadenz (T. 9-10) ist hier sehr deutlich ausgeprägt und wird auch im weite-

ren Verlauf der Kammersymphonie immer wieder thematisiert.

289 Anthony Payne, zit. nach Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21. 290 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21f.

Page 128: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

122

Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug.

In weiterer Folge wird der Quartenakkord sowie das Quartenmotiv – vergleichbar mit

dem Dominantseptnonenakkord der Verklärten Nacht – an Schlüsselpositionen ein-

gesetzt, um die formale Gliederung der Sonatensatzform zu markieren (z.B. Anfang und

Ende der Durchführung [T. 278-280 u. T. 376-377] sowie Beginn der Coda [T. 573-

581]).291 Damit unterstützt das Klangzentrum des Quartenakkords auch die formbil-

dende Funktion der dur-moll-tonalen Tonika. In der dritten Hälfte der Durchführung

erfahren die Klangzentren des Quartenakkords und des übermäßigen Dreiklangs ihren

Höhepunkt. Ab der vierten Viertel von Takt 334 dient eine Ganztonskala auf C als

Klangzentrum, auf das die durchgeführten Themen bezogen werden. Der Höhepunkt

dieser Stelle beginnt ab Takt 354: Durch gegenläufige übermäßige Dreiklänge klingt auf

jeder Viertel ein anderer Ganztonakkord. In diese Ganztonharmonik wird zugleich auch

das Quartenmotiv eingebettet, womit hier gewissermaßen eine Kombination der beiden

Klangzentren wirksam ist. Zum Schluss bleibt nur noch die Quartenharmonik übrig, die

ab Takt 364 in Form ausgehaltener Quartenakkorde diesen Abschnitt beendet

(Abbildung 76).

291 Vgl. Mahnkopf, Gestalt und Stil, S. 70f; Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 24f.

Page 129: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

123

Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug.292

In Schönbergs erster Schaffensperiode prallen die Gegensätze zwischen der dur-moll-

tonalen Tonika und symmetrischen Klangzentren wie dem Ganzton- und dem Quarten-

akkord direkt aufeinander. Schönberg zog daraus die Konsequenz, die Tonika als

Klangzentrum fallen zu lassen und entschloss sich während der atonalen Phase andere

Klänge als harmonische Bezugspunkte zu verwenden. Dennoch sind die Kompositions-

techniken, die Schönberg später anwandte, durchaus mit den Techniken seiner ersten

Schaffensperiode vergleichbar. So setzt Schönberg auch weiterhin Klangzentren ein, die

als formbildende Ruhepunkte dienen, wie z.B. im Klavierstück op. 19/6 oder im

Orchesterstück Farben op. 16/3. Chromatische und stufenweise Stimmführungstech-

niken werden dabei häufig mit der Technik des Klangzentrums kombiniert und führen

zu Klangprozessen, die das Klangzentrum transformieren und auch die formale Struktur

der Werke mit beeinflussen.

292 Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 25.

Page 130: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

124

SCHLUSSWORT

Tonalität – oder vielmehr jene Eigenschaft, die wir mit diesem Begriff assoziieren – ist

ein komplexer und vielschichtiger Gedankenkomplex, der sich auf allen musikalischen

Parametern entfaltet. Die Vorstellung eine „allgemein gültige Norm des Begriffs

Tonalität festsetzten zu wollen“ wäre utopisch. Viele Aspekte, die den Tonalitätsbegriff

begleiten, wie z.B. die Bedeutung metrischer und rhythmischer Strukturen, die Instru-

mentationstechnik oder auch die Interpretation, mussten in der vorliegenden Arbeit

weitgehend unberücksichtigt blieben, zeugen jedoch von dem Beziehungsreichtum, der

den Begriff begleiten kann. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass bestimmte Konstan-

ten für einen sinnhaften Tonalitätsbegriff notwendig sind, da der Begriff sonst zu einer

Beliebigkeit tendieren würde, die seiner Bedeutung nicht gerecht wird. Ohne eine

differenzierte Zentrierung auf ein oder mehrere Klangzentren, welche den Klängen eine

relative Bedeutsamkeit und einzigartige Funktion im harmonischen Verlauf zugesteht,

wird nicht nur der Begriff Tonalität bedeutungslos, sondern auch der Begriff des Klang-

zentrums selbst. Ein Klangzentrum kann für sich alleine nicht existieren; der Begriff

„Zentrum“ beinhaltet zwangsläufig, dass andere Klänge vorhanden sein müssen die im

Verhältnis zu diesem eine „geringere“ – oder vielmehr andere Bedeutung einnehmen.

Es versteht sich von selbst, dass die Klänge dabei unterschiedliche Funktionen ein-

nehmen und ihre relative Bedeutung deshalb immer abhängig vom konkreten musika-

lischen Kontext neu hinterfragt werden muss. Streng genommen existiert zu keinem

Zeitpunkt ein einzelner Zentralklang, auf den sich alle anderen Klänge beziehen.

Stattdessen bestehen mehrere potenzielle Zentralklänge, deren relative Bedeutung

ständig von anderen Klängen in Frage gestellt wird. Abhängig von der harmonischen

Syntax entscheidet sich immer wieder aufs Neue, welche Klänge wir als zentral wahr-

nehmen bzw. welche Bedeutung wir ihnen beimessen. Auch die Stimmführung der

Akkordverbindungen darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden.

Stimmführung und Zentrierung gehen in der Dur-Moll-Tonalität Hand in Hand und

bedingen sich gegenseitig: Die zunehmende chromatische Stimmführung in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu Zusammenklängen, welche die dur-moll-tonale

Syntax streckenweise außer Kraft setzte. Umgekehrt führte die zunehmende Zentrierung

auf symmetrische Akkorde sowie auf Harmoniefolgen in großen und kleinen Terzen zu

Page 131: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

125

einer vorwiegend chromatischen Stimmführung wie beispielsweise den „maximally

smooth cycles“ Richard Cohns.

Unter diesen Gesichtspunkten ist es notwendig, das Wesen des Zentralklangs dur-moll-

tonaler Musik neu zu bewerten. Der Zentralklang ist ein Klang, der sich durch seine

direkten Beziehungen zu anderen Klängen, seine formbildende Wirkung oder allgemein

seine harmonische Funktion in besonderer Weise auszeichnet. Dabei ist festzuhalten,

dass der Akkordtyp des Zentralklangs sich nicht alleine auf Dur- und Molldreiklänge

einschränken lässt, sondern auch andere Formen annehmen kann. Wir können zwischen

örtlichen Klangzentren, die sich durch die unmittelbare Stimmführung der Akkord-

folgen ergeben, und übergeordneten Klangzentren, die als entfernte Bezugspunkte eine

Bedeutung einnehmen, unterscheiden. Allerdings können, abhängig vom Untersu-

chungsgegenstand, durchaus unterschiedliche Klangbeziehungen und Klangzentren in

einem Werk wirksam sein. Wenn wir die Kompositionstechnik untersuchen, wäre es

denkbar auch ein „ideelles“ Klangzentrum anzunehmen: zum Beispiel einen Klang, der

als kompositorischer Ausgangspunkt alle weiteren Klänge generiert, jedoch selbst gar

nicht zum Einsatz kommt. Ob dieser Klang auch als Klangzentrum wahrgenommen

wird, ist in diesem Zusammenhang aus kompositionstechnischer Sicht irrelevant. Aus

hörpsychologischer Sicht sind dagegen nur jene Klangzentren von Interesse, die auch

tatsächlich als solche wahrgenommen werden; „wahrgenommen“ im eigentlichen Sinn

des Wortes: nämlich etwas als wahr bzw. real annehmen. Auch in diesem Fall muss das

Klangzentrum nicht unbedingt als reales akustisches Ereignis existieren, sondern

lediglich in der Vorstellung des Rezipienten.

Nachdem ein Klang als Singularität kein Klangzentrum darstellt, sondern erst durch das

Vorhandensein anderer Akkorde als solches erkannt wird, ist zu keinem Zeitpunkt nur

ein einzelnes Klangzentrum von Bedeutung. Eine Tonika muss zumindest durch das

Vorhandensein der Dominante bestätigt werden, womit automatisch auch die Domi-

nante als potenzielles Klangzentrum an Bedeutung gewinnt. So entsteht eine Hierarchie

von Klängen, die abhängig von der harmonischen Syntax unterschiedliche Klangzentren

in unterschiedlicher Weise akzentuiert. Diese Hierarchie kann im einfachsten Fall eine

Form annehmen, wie sie zum Beispiel von Moritz Hauptmann postuliert wurde: die

Tonika steht im Zentrum, während die Dominant- und Subdominantregionen lediglich

als untergeordnete Klangzentren die Tonikaregion bestätigen. Chromatische Stimm-

Page 132: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

126

führung sowie „vagierende“ und äquidistante Akkorde führen jedoch zwangsläufig zu

einer harmonischen Syntax, die diese Hierarchie aufbricht und anderen Klangzentren

eine größere Bedeutung zukommen lässt. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass

mehrere Klangzentren eine annähernd gleiche Bedeutung erlangen. Im Spezialfall

könnte dies theoretisch soweit führen, dass alle Klänge die gleiche Bedeutung haben

und eine Zentrierung der Harmonik – und damit ihre harmonische Gestalt – nicht mehr

gegeben ist; der Begriff des Klangzentrums würde in diesem Fall bedeutungslos

werden. Ob jedoch eine Harmonik, in der jeder Klang dieselbe Bedeutung bzw. Funk-

tion hat, auch praktisch umgesetzt werden kann, ist zu bezweifeln.

So gesehen existiert die Dur-Moll-Tonalität nicht. Statt dessen gibt es selbst in einzel-

nen Werken eine Vielzahl unterschiedlicher Tonalitäten, die sich aus der relativen

Bedeutung der vorhandenen Klangbeziehungen ergeben. Diese Klangbeziehungen

entstehen dabei sowohl in der direkten Aufeinanderfolge der einzelnen Klänge als auch

in ihrer Bezogenheit auf ein oder mehrere Klangzentren. Es ist jedoch möglich be-

stimmte Tendenzen in der harmonischen Hierarchie aufzudecken, um so Gemeinsam-

keiten und Unterschiede der zugrunde liegenden Tonalitäten zu kommunizieren.

Die Frage in wie weit der Begriff des Klangzentrums in der Musik des 20. Jahrhunderts

als ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien gelten kann ist nicht nur eine Frage

der Terminologie, sondern auch unseres historischen Selbstverständnisses und unserer

Wahrnehmung. Es gilt zu beantworten, welche musikalischen Parameter tatsächlich mit

der Dur-Moll-Tonalität „verloren“ gegangen sind und welche Parameter lediglich eine

Entwicklung durchgemacht haben. Schließlich gilt es zu beantworten ob wir komplexe

Klangzentren der neuen Musik wie dissonante Vielklänge in ähnlicher Weise als Ruhe-

punkte akzeptieren können wie die Tonika der Dur-Moll-Tonalität. Dass auch in atona-

ler und post-tonaler Musik Klangzentren als formbildende Kompositionstechniken

Verwendung fanden, wurde an den Beispielen von Schönberg und Skrjabin gezeigt. Ob

diese Klänge jedoch auch hörpsychologisch mit der Wirkung einer Tonika verglichen

werden können, bleibt vorerst offen. Sicher scheint allerdings bereits zu sein, dass die

Antwort auf diese Frage nicht ausschließlich von unserer Hörphysiologie abhängt,

sondern auch von unserem Gedächtnis, unserer musikalischen Erfahrung und unserem

sozialen Umfeld. Ob Zwölftonmusik eine Tonalität ausbildet, kann im Allgemeinen

nicht beantwortet, sondern müsste am konkreten Beispiel immer neu hinterfragt werden.

Page 133: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

127

Es ist durchaus möglich, gemäß „den Regeln“ der Dodekaphonie zu komponieren und

dabei den Eindruck spätromantischer Dur-Moll-Tonalität zu erzeugen. Ebenso ist es

aber auch möglich, eine zwölftönige Passage so zu konzipieren, dass sie den Anschein

höchstmöglicher Bezuglosigkeit – und damit Bedeutungslosigkeit – der entstandenen

Klänge erweckt.

Richard Cohn schrieb 1999 in Bezug auf ein Zitat – „Schubert’s tonality is as wonderful

as star clusters“293 – von Donald Francis Tovey:

The traditional metaphorical source for tonal relations is the solar system, where positions are

determined relative to a central unifying element. A star cluster evokes a network of elements

and relations, none of which hold prior privileged status. These two contrasting images of cos-

mic organization provide a lens through which to compare two conceptions of tonal organization

in Schubert’s music.294

Sternenhaufen und Sonnensysteme entstehen – um bei dieser Analogie zu bleiben –

aufgrund desselben Prinzips: der Gravitation. Die Schönheit eines Sternenhaufens

ergibt sich aus seiner internen Struktur; die Sterne des Haufens tragen dabei, abhängig

von ihrer Masse, in unterschiedlichem Maße zu seiner einzigartigen Gestalt bei. Gerade

die Zentrierung – das Ausformen von differenzierten Strukturen – macht das Wesen

eines Sternenhaufens aus. Ohne die Gravitation würde er sich in eine homogene und

charakterlose Masse von Molekülen auflösen.

293 Donald Francis Toveys, zit. nach: Richard Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for

Gazing at Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (1999/22,3), S. 213-232, hier S. 213. 294 Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 213.

Page 134: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

128

QUELLENVERZEICHNIS

ACHTÉLIK, Josef: Der Naturklang als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische

Musiktheorie (Bd. 2), Frankfurt: C. F. Kahnt 1922.

ADORNO, Theodor Wiesengrund: Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen

Komponieren, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische

Schriften I-III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 649-664.

AMBROS, August Wilhelm: Die ersten Zeiten der neuen christlichen Welt und Kunst

(Geschichte der Musik Bd. 2), Breslau, F. E. C. Leuckard 1864.

AMON, Reinhard: Lexikon der Harmonielehre, Wien/München: Doblinger 2005.

BEICHE, Michael: Tonalität, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie,

Stuttgart: Steiner 1999.

BREIG, Werner: Vagierender Akkord, in: Handwörterbuch der musikalischen Termino-

logie, Stuttgart: Steiner 1999.

BROVER-LUBOVSKY, Bella: Venetian Clouds and Newtonian Optics, in: Musik-

theorie als interdisziplinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken:

Pfau 2010, in Bearbeitung.

BUDDE, Elmar: Anton Weberns Lieder op. 3. Untersuchungen zur frühen Atonalität bei

Webern, Wiesbaden: Steiner 1971.

BURKHART, Charles: Schoenberg’s Farben: An Analysis of Op. 16, No. 3, in: Per-

spectives of New Music (Bd. 12/1), 1973-1974, S. 141-172.

COHN, Richard:

― As Wonderful as Star Clusters: Instruments for Gazing at Tonality in Schubert, in:

19th-Century Music (Bd. 22,3), 1999, S. 213-232.

― Introduction to Neo-Riemannian Theory: A Survey and a Historical Perspective, in:

Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S.167-180.

― Maximally Smooth Cycles, Hexatonic Systems, and the Analysis of Late-Romantic

Triadic Progressions, in: Music Analysis (Bd. 15,1), 1996, S. 9-40.

― Weitzmann’s Regions, My Cycles, and Douthett’s Dancing Cubes, in: Music Theory

Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103.

CHOMSKY, Noam: Syntactic Structures [1957], Berlin, New York: Mouton de Gruyter

2002.

Page 135: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

129

CHORON, Alexandre-Étienne: Sommaire de l’histoire de la musique, in: Alexandre-

Étienne Choron / Francois Joseph Fayolle, Dictionnaire historique des musiciens Bd.

1, Paris 1810.

DAHLHAUS Carl:

― Der Tonalitätsbegriff in der neuen Musik, in: Schönberg und andere. Gesammelte

Aufsätze zur Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Schott: Mainz 1978, S.

111-117.

― Tonalität, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der

Musik, Kassel: Bärenreiter 1989.

― Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel: Bären-

reiter 1988.

DALE, Catherine: Schoenbergs Chamber Symphonies: the crystallization and re-

descovery of a style, Aldershot: Ashgate 2000.

DE LAMENNAIS, Félicité Robert: Grundriss einer Philosophie Bd. 3, Paris/Leipzig:

Jules Renouard 1841.

DE LA MOTTE, Diether: Harmonielehre [1976], München: Deutscher Taschenbuch

Verlag / Bärenreiter 91995.

DE LA MOTTE-HABER, Helga: Kräfte im musikalischen Raum. Musikalische Ener-

getik und das Werk von Ernst Kurth, in: Musiktheorie (Handbuch der Systematischen

Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber: Laaber 2005, S. 284-310.

DEHN, Siegfried Wilhelm: Theoretisch-praktische Harmonielehre mit angefügten

Generalbassbeispielen, Berlin: Wilhelm Thome 1840.

DOMMER, Arrey von: Elemente der Musik, Leipzig: T. O. Weigel 1862.

DOUTHETT, Jack, STEINBACH, Peter: Parsimonious Graphs: A Study in Parsimony,

Contextual Transformations, and Modes of Limited Transposition, in: Journal of Mu-

sic Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 241-263.

EBERLE, Gottfried: Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, München/Salzburg:

Katzbichler 1978.

ERPF Hermann: Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig:

Breitkopf & Härtel 1927.

EYBL, Martin: Tonalität, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch

der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 485-488.

FÉTIS, François-Joseph: Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie,

Paris: Schlesinger 1844.

Page 136: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

130

FORTE, Allen:

― A Theory of Set-Complexes for Music, in: Journal of Music Theory (Bd. 8,2), 1964,

S. 136-139, 141, 140, 142-183.

― Liszt’s Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century, in: 19th-

Century Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228.

FUSS, Hans-Ulrich: Funktion, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft

(Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S.

127-129.

GÁRDONYI, Zsolt:

― Akustische Tonalität und Distanzharmonik im Tonsatzunterricht, in: Harmonik im

20. Jahrhundert, Wien: Wiener Universitätsverlag 1993, S.46-61.

― Paralipomena zum Thema Liszt und Skrjabin. in: Virtuosität und Avandgarde,

Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 9-31.

GIESELER Walter: Harmonik in der Musik des 20. Jahrhunderts. Tendenzen - Modelle,

Celle: Moeck 1996.

GRUN, Constantin: Arnold Schönberg und Richard Wagner: Schriften (Spuren einer

außergewöhnlichen Beziehung Bd. 2), Göttingen: V&R 2006.

HASELBÖCK, Lukas: Zwölftonmusik und Tonalität. Zur Vieldeutigkeit dodekaphoner

Harmonik, Laaber: Laaber 2005.

HAUPTMANN, Moritz: Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der

Musik, Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1853.

HELBING, Volker: Tonalität in der französischen Musiktheorie zwischen Rameau und

Fétis, in: Musiktheorie (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2),

Laaber: Laaber 2005, S. 171-202.

HELMHOLTZ, Hermann von: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische

Grundlage Für die Theorie der Musik, Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn

1863.

HOLTMEIER, Ludwig: Die Erfindung der romantischen Harmonik, in: Zwischen

Komposition und Hermeneutik: Festschrift für Hartmut Fladt, Würzburg: Königs-

hausen & Neumann 2005.

HYER, Brian:

― Tonality, in: Grove Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com (1.6.2010).

― Reimag(in)ing Riemann, in: Journal of Music Theory (Bd. 39,1), 1995, S. 101-138.

Page 137: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

131

Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, in: Neue Leipziger Zeitschrift für

Musik (Bd. 1,58) Oktober 1834, S. 230-232.

KLEINRATH Dieter, Kompositionstechniken im Klavierwerk Franz Liszts. Eine

Gegenüberstellung kompositorischer Verfahren im Früh- und Spätwerk unter be-

sonderer Berücksichtigung des Klavierstücks Funérailles, Kunstuniversität Graz

2007.

KOPP, David: Chromatic transformations in nineteenth-century music (Cambridge

studies in music theory and analysis 17), Cambridge: Cambridge University Press

2002.

KURSELL, Julia: Konsonanz / Dissonanz, in: Lexikon der systematischen Musikwissen-

schaft (Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber

2010, S. 227-230.

KURTH, Ernst:

― Die Voraussetzungen der Theoretischen Harmonik, Bern: Max Drechsel 1913.

― Musikpsychologie, Hildesheim/New York: Georg Olms 1969.

― Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Berlin: Max Hessels

1920.

LEDUC, A. C.: Ueber den Ausatz des Herrn Fétis (in dessen Revue musicale Tome V.

Nr. 26. 1829), eine Stelle Mozart’s betreffend, in: Allgemeine Musikalische Zeitung

(Bd. 32,8), Februar 1830, S. 117-132.

LEWANDOWSKI, Stephan: Pitch Class Set, in: Lexikon der systematischen Musik-

wissenschaft (Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber:

Laaber 2010, S. 380-382.

LEWIN, David:

― A Formal Theory of Generalized Tonal Functions. Journal of Music Theory (Bd.

26,1), 1982, S. 32-60.

― Generalized Musical Intervals and Transformations [1987], Oxford/New York:

Oxford University 2007.

― Musical Form and Transformation. Four Analytic Essays [1993], Oxford: Oxford

University 2007.

LISSA, Zofja:

― Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, in: Acta Musicologica (Bd. 7/1), 1935,

S. 15-21.

Page 138: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

132

― Zur Genesis des Prometheischen Akkords bei Skrjabin, in: Musik des Ostens:

Sammelbände für historische und vergleichende Forschung (Ostmittel-, Ost- und

Südosteuropa) (Bd. 2), 1963.

LUCHTERHANDT, Gerhard: „Viele ungenutzte Möglichkeiten“. Die Ambivalenz der

Tonalität in Werk und Lehre Arnold Schönbergs, Mainz: Schott 2008.

MAHNKOPF, Claus-Steffen: Gestalt und Stil. Schönbergs Kammersymphonie und ihr

Umfeld, Kassel: Bärenreiter 1994.

MITTMANN, Jörg-Peter: Musikalische Selbstauslegung - eine sichere Quelle histori-

scher Musiktheorie?, in: Musiktheorie als interdisziplinäres Fach (musik.theorien

der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung.

MORAITIS Andreas, Zur Theorie der musikalischen Analyse, Frankfurt a. M./ Wien:

Lang 1994.

MÓRICZ Klára: The Ambivalent Connection between Theory and Practice in the

Relationship of F. Liszt & F.-J. Fétis, in: Studia Musicologica Academiae Scientia-

rum Hungaricae (Bd. 35,4), 1993-1994, S. 399-420.

OETTINGEN, Arthur von: Harmoniesystem in dualer Entwickelung -Studien zur

Theorie der Musik, Dorpat/Leipzig: Gläser 1866.

REDLICH, Hans Friedrich: Schönbergs Tonalität, in: Anrnold Schönberg und seine

Orchesterwerke, Wien: Universal Edition 1927, S. 22-24.

REXROTH, Dieter: Arnold Schönberg als Theoretiker der tonalen Harmonik, Bonn

1971.

RIEMANN, Hugo:

― Handbuch der Harmonielehre [1887], Leipzig, Breitkopf & Härtel 51912.

― Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“, in: Jahrbuch der Musikbibliothek

Peters 21–22 (1914/15), Leipzig 1916, S. 1–26.

― Musikalische Logik [als Dissertation: Ueber das musikalische Hören, Leipzig 1874],

Leipzig: C. F. Kahnt 1875.

― Tonalität, in: Musik-Lexikon. Sachteil [Leipzig: Bibliographisches Institut, 1882],

Mainz 1967.

― Musikalische Syntaxis. Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig:

Breitkopf & Härtel 1877.

― Ueber Tonalität [Neue Zeitschrift für Musik 1872, Bd. 45-46], in: Präludien und

Studien. Gesammelte Aufsätze zur Aesthetik, Theorie und Geschichte der Musik Bd.

3, Heilbronn: Schmidt (o. J.).

Page 139: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

133

― Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde

[1893], London: Augener 1899.

SCHELLHOUS Rosalie, Fetis’s „Tonality“ as a Metaphysical Principle: Hypothesis

for a New Science, in: Music Theory Spectrum (Bd. 13,2), 1991, S. 219-240.

SCHENKER Heinrich:

― Der freie Satz (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 3), Wien: Universal

Edition 1935.

― Der freie Satz. Anhang: Figurentafeln (Neue musikalische Theorien und Phantasien

Bd. 3), Wien: Universal Edition 1956, S. 1f.

― Harmonielehre [1906] (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 1), Wien:

Universal Edition (o.J.).

SCHÖNBERG, Arnold:

― Der musikalische Gedanke und die Kunst, Logik und Technik seiner Darstellung

[1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010).

― Die formbildenden Tendenzen der Harmonie [Structural Functions of Harmony,

1948], Mainz: B. Schott’s Söhne 1954.

― Harmonielehre [1911], Wien: Universal Edition 2001.

― Problems of Harmony [1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010).

― Rückblick [1949], http://www.schoenberg.at (1.6.2010).

SIMMS, Bryan: Choron, Fetis, and the Theory of Tonality, in: Journal of Music Theory

(Bd. 19,1), 1975, S. 112-138.

SORGE, Georg Andreas: Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745.

STEPHAN, Rudolf: Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung, Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 1958.

SULZER, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach

alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. 2. Teil,

Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich 1775.

TODD, Larry: Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, and the Augmented Triad, in:

The second practice of nineteenth-century tonality, Lincoln: University of Nebraska

Press 1996, S. 153-177.

VIVIGENS VON WINTERFELD, Carl Georg August: Der evangelische Kirchen-

gesang und sein Verhältniss zur Kunst des Tonsatzes Bd. 1, Leipzig: Breitkopf und

Härtel 1843.

Page 140: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

134

UTZ, Christian, KLEINRATH, Dieter: Klangorganisation. Zur Systematik und Analyse

einer Morphologie und Syntax post-tonaler Kunstmusik, in: Musiktheorie und Im-

provisation. Bericht des IX. Kongresses der Gesellschaft für Musiktheorie, Mainz:

Schott, in Vorbereitung.

VALENTIN, Gabriel Gustav: Bericht über die Leistungen in der Psychologie, in:

Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im

Jahre 1862 (Bd.1 Psychologische Wissenschaften), Würzburg: Stahle’sche Buch und

Kunsthandlung 1863, S. 103-, 197.

VOGEL, Martin: Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonielehre,

Düsseldorf: Gesellschaft zur Förderung der systematischen Musikwissenschaft 1962.

VOGLER, Georg Joseph: Handbuch zur Harmonielehre und für den Generalbaß, nach

den Grundsätzen der Mannheimer Tonschule, Prag 1802.

WEBER, Gottfried: Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst Bd. 2, Paris: B.

Schott’s Söhne 1830.

WAGNER Cosima, Die Tagebücher (Bd. 2), München: Piper 1976.

WEITZMANN, Carl Friedrich: Der Übermäßige Dreiklang, Berlin 1853.

WILDING-WHITE, Raymond: Tonality and Scale Theory, in: Journal of Music Theory

(Bd. 5,2), 1961, S. 275-286.

Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckun-

gen auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig:

Gerhardt & Reisland 1863, S. 481-487.

Page 141: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

135

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika. ........................................................ 13 Abbildung 2: Auflösung V7 → V6.............................................................................. 13 Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. ...................... 14 Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers.......................................................... 18 Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn..... 23 Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn... 24 Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber................ 25 Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff. ............................................. 28 Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns. .................................... 29 Abbildung 10: Oettingens Tonnetz............................................................................... 32 Abbildung 11: Riemanns Tonnetz. ............................................................................... 36 Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug, Quintzug, Oktavzug................ 37 Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140..................................... 43 Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.................................................................... 49 Abbildung 15: Transformations-Graphen; Beethovens Sonate op. 57.......................... 50 Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer....... 51 Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“....................................................... 52 Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; T. 586-598........................... 52 Abbildung 19: „Dancing Cubes“. ................................................................................. 53 Abbildung 20: „Power Towers“. .................................................................................. 54 Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet. ......................... 54 Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet. 55 Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6............................. 57 Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6. ....................................................... 58 Abbildung 25: Webern, 5 Lieder op. 4/1, Takte 1-5..................................................... 59 Abbildung 26: Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; T. 1-9............................ 60 Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A. .................................................. 61 Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion. .............................. 61 Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords,

b) die mixolydische Skala mit erhöhter Quart...................................... 62 Abbildung 30: Akkorde in Quarten- und Terzschichtung über der mixolydischen

Skala mit erhöhter Quart........................................................................63 Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords............................ 63 Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598. ......................... 73 Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24. .......................... 77 Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix................................................................ 78 Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261. ............................. 79 Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189. ........................... 80 Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44. ............................. 84 Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120........................... 85 Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22............................................... 87 Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11. ...................................................... 89 Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint. . 90 Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111. ................................................ 91 Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur und f-Moll. .............. 93 Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25. ............................................................... 93

Page 142: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

136

Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur und E-Dur. .............. 94 Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll und aus Sicht von E-Dur. ......... 94 Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8; Verbindung zwischen E7 und

dem halbverminderten Septakkord auf Gis. ......................................... 95 Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29. .................................................... 96 Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42. .................................................... 97 Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63. .................................................... 98 Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84. .................................................... 99 Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4. ................................. 101 Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harm. Reduktion. .... 101 Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.......................................... 103 Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verm. Septakkords. ........ 103 Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord...................... 104 Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord. ..................... 104 Abbildung 58: J. S. Bach, Chrom. Fantasie und Fuge BWV 903, T. 32-35............... 105 Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord....... 105 Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G...... 106 Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den

verminderten Septakkord.................................................................... 107 Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung

des harmonischen Prozesses............................................................... 108 Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harm. Reduktion. .. 109 Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung.110 Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harm. Reduktion....... 111 Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug). .. 111 Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug). .. 112 Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harm. Reduktion. 114 Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harm. Reduktion. 115 Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion... 118 Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords und des Quartenakkords.................. 119 Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord............ 119 Abbildung 73: Schönberg, Pelleas und Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32........ 120 Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug. ........... 121 Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug. ......... 122 Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug. ... 123 Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber................... 139

Page 143: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

137

ANHANG

a) Weiterführende Literatur

BAKER, James M.: Scriabin's Implicit Tonality, in: Music Theory Spectrum (Bd. 2),

1980, S. 1-18.

BAUER, Hans-Joachim: Wagners „Parsifal“. Kriterien der Kompositionstechnik,

München-Salzburg: Emil Katzbichler 1977.

BRINER, Andres: A New Comment on Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,1),

1961, S. 109-112.

BROWN, Matthew, DEMPSTER, Douglas, HEADLAM, Dave: The #IV(bV) Hypo-

thesis: Testing the Limits of Schenker's Theory of Tonality, in: Music Theory

Spectrum (Bd. 19, 2), 1997, S. 155-183.

CHERLIN, Michael: Schoenberg and Das Unheimliche: Spectres of Tonality, in: The

Journal of Musicology (Bd. 11, 3), 1993, S. 357-373.

CLAMPITT, David: Alternative Interpretations of Some Measures from "Parsifal", in:

Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 321-334.

COLLIN, Mason: Versuch einer Analyse. Tonalität, Symmetrie und latentes Reihen-

denken in Bartóks viertem Streichquartett (1957), in: Zur Musikalischen Analyse,

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 241-260.

DAHLHAUS Carl:

― Tonalität – Struktur und Prozeß, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in 10

Bänden Bd. 2 (Allgemeine Theorie der Musik II), Laaber: Laaber 2001, S. 393-401.

― Tristan-Harmonik und Tonalität, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in 10

Bänden Bd. 2 (19. Jahrhundert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater),

Laaber: Laaber 2004, S. 435-442.

― Über den Begriff der tonalen Funktion, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in

10 Bänden Bd. 2 (Allgemeine Theorie der Musik II), Laaber: Laaber 2001, S. 187-

196.

FORKEL, Johann Nikolaus: Musikalisch-kritische Bibliothek Bd. 3, Gotha: Carl

Wilhelm Ettinger 1779.

GERLACH, Reinhard: Mystik und Klangmagie in Anton von Weberns hybrider Tonali-

tät. Eine Jugendkrise im Spiegel von Musik und Dichtung der Jahrhundertwende, in:

Archiv für Musikwissenschaft (Bd. 33,1), 1976, S. 1-27.

Page 144: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

138

HINRICHSEN, Hans-Joachim: "Eines der dankbarsten Mittel zur Erzielung musika-

lischer Formwirkung". Zur Funktion der Tonalität im Frühwerk Arnold Schönbergs,

in: Archiv für Musikwissenschaft (Bd. 57,4), 2000, S. 340-361.

KUPKOVIC, Ladislav: The Role of Tonality in Contemporary and 'Up-to-Date'

Composition, in: Tempo, New Series (Bd. 135), 1980, S. 15-19.

LORENZ, Alfred: Der musikalische Aufbau von Richard Wagners „Parsifal“, Tutzing:

Hans Schneider 1966.

LOWINSKY, Edward E.: Tonality and Atonality, in: Music & Letters (Bd. 43,3), 1962,

S. 295-298.

MARK, Christopher: Contextually Transformed Tonality in Britten, in: Music Analysis

(Bd. 4,3), 1985, S. 265-287.

MARX, Adolf Bernhard: Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch

theoretisch Bd. 4 [1847], neu bearbeitet von Hugo Riemann, Leipzig: Breitkopf und

Härtel 51888.

MCCRELESS, Patrick: Ernst Kurth and the Analysis of the Chromatic Music of the

Late Nineteenth Century, Music Theory Spectrum (Bd. 5), 1983, S. 56-75.

NEMECEK, Robert: Untersuchungen zum frühen Klavierschaffen von Piere Boulez,

Kassel: Gustav Bosse 1998.

PERSCHMANN, Wolfgang: Richard Wagner Parsifal. Schwanenschluß - Wissenskuß -

glühende Befreiung, Graz: Richard-Wagner-Gesellschaft 1991.

RIEMANN, Hugo:

― Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, Leipzig: Max Hesses 1923.

― Geschichte der Musiktheorie im IX. - XIX. Jahrhundert, Hildesheim: Georg Olms

1964.

SCHMITT, Theo: Zur Entstehung der harmonischen Tonalität, in: Archiv für Musik-

wissenschaft (Bd. 41,1), 1984, S. 27-34.

SCHÖNBERG, Arnold: Stil und Gedanke, Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch 1992.

STUMPF, Carl, Tonpsychologie [1883] (2 Bände), Leipzig: Hirzel 1965.

TOVEY, Donald F.: Tonality, in: Music & Letters, (Bd. 9,4), 1928, S. 341-363.

VON DER NÜLL, Edwin: Moderne Harmonik, Leipzig: Fr. Kistner 1932.

WHITE, Harry: The Holy Commandments of Tonality, in: The Journal of Musicology

(Bd. 9,2), 1991, S. 254-268.

WIENPAHL, Robert W.: English Theorists and Evolving Tonality, in: Music & Letters

(Bd. 36,4), 1955, S. 377-393.

Page 145: Klangzentren und Tonalität - musiktheorie.kug.ac.at · fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen ... töne“6 und fasst dabei die

139

b) Sonstiges

Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber.295

295 Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 86