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Koma-Formen - worauf kommt es an?
PD Dr. med. Andreas Zieger
Früh- und Weiterführende Rehabilitation Evangelisches Krankenhaus Oldenburg +Klinische NeurorehabilitationInstitut für PsychologieCarl von Ossietzky Universität Oldenburg
Vortrag zumVortrag zum Pflegesymposium beim Deutschen Anästhesiecongress (DAC)
am 17. Mai 2006 in Leipzig
www.a-zieger.de
Verletzlichkeit des Lebendigen
„Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir unerträglicher und schauerlicher wäre, als bei lebendiger und schmerz-erfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen.“Michel de Montaigne (1533-1592)
Übersicht
I Wandel des KomabegriffesII Koma - BewusstseinIII Komaformen / Syndromanalyse IV Remissionsstadien und VerlaufV Konsequenzen für Umgang/TherapieVI Spätes Erwachen
I Wandel des Komabegriffes
Epoche VerständnisAntike Magisch-mystisches Geschehnis
Tiefer, fester Schlaf, “Heilschlaf”Wille der Götter
Mittelalter Symptom bei Fieber, Rausch Ungleichgewicht der Säfte
Neuzeit Iatrophysik, Iatrochemie,Zeichen (Semeion), Indiz für Veränderungen in den physikalischen/ chemischen Kräften/Fluidum/Teilen des Körpers (Individuum)
Tabelle 1: Herausbildung des modernen Koma-Begriffs
Naturwissenschaftlich-experimentelle Medizinca. 1850, Philosophie → PhysikBeobachtbare oder messbare Krankheit des Gehirns (Pathologie), die auf einer Schädigung (Defekt) beruht (Quantifizierung, Klassifizierung): “Carus” →“Koma”: Wenn die physiologischen Prozesse nicht mehr in psychologische Prozesse übersetzt werden.
Biotechnische Medizin/NeurotraumatologieFunktionsdefekt/Defizit: Quantifizierung, SkalierungKomplette Reaktionslosigkeit / Nichtansprechbarkeit„unarousable unawareness“ (Plum & Posner 1969)Teil des Hirntod-Syndroms (TPG seit 1997)
• Bulbärhirn-syndrom
• Mittelhirn-syndrom
• ApallischesSyndrom„Wachkoma“
Defektmedizinische Syndromlehre„Schnittpräparate“„Katzenneurologie“
„Hirntot“
Biotechnische Medizin: Defekt oder Defizit • Schädigungsbedingter Mangel an Arousal
(Plum & Posner 1969)
• Direkte Folge einer schweren Hirnschädigung„Kern“ des Komas: untere Pons(Parvici & Damasio 2003)
Beziehungsmedizin: Antwort des Gehirns auf Stresstrauma• Notfall-(„Emergency“)-Reaktion, Schutzreaktion
(Cannon 1935; Gerstenbrand 1967)
• Zurücknahme auf das autonome Körperselbst(Zieger 1993-2006)
Verständniskonzepte
Kritische Metatheorie
Koma ist keine Krankheit, sondern• ein Symptom unter anderen infolge einer
schweren strukturellen oder funktionalen Hirnschädigung (StressTrauma)
• Zeichen für Isolation/Entkopplung von der Innen- und Außenwelt
• Intensivmedizinisch unterstützte Lebens-tätigkeit und Seinsweise auf autonomer Ebene am Rande zum Tod
II Koma - Bewusstsein
lat.: conscientia; engl.: consciousness
Mit-Wissen
GeWissen = BeWusstsein vom guten Handeln, welches Bedeutungfür andere hat.
Etymologisch: to be - sein - atmen
BewusstseinsproblemDefinition (Plum & Posner 1969; Zeman 1997)
• Arousal + Awareness + selective Attentionqualitativ:• subjektives Erleben und Erkennen, Inhaltequantitativ:• objektiv beobachtbare oder messbare Aktivität
(Stoffwechsel, Verhalten, Reaktionen, Skalen)Integrierte Forschung (Solms & Turnbull 2004)
• 1. Person-Perspektive (subjektiv)• 2. Intersubjektiv, Ich-Du Beziehung• 3. Person-Perspektive (objektiv)
Decety 2003
Kinomura et al. 1996
Funktionelles neuronales Netzwerk„Wachbewusst sein“
Arousal
+
Awareness
+
Selective
Attention
Bewusstsein
• „messen wir daran inwieweit es uns gelingt, Beziehungen zu einem anderen Menschen herzustellen“
Aaron Bodenheimer: Versuch über dieElemente der Beziehung (1967)
III Komaformen /Syndromanalyse
• Künstliches Koma (Narkose)• Echtes Koma• Koma-assoziierte Syndrome
Pseudokoma
Narkose = künstliches Koma
„Bewusstlosigkeit“• d.h. Empfindungslosigkeit, Schmerzfreiheit,
Erinnerungslosigkeit (Amnesie)• Dissoziation neuronaler Netzwerkdynamik
auf NMDA-Synapsenebene• Wieweit wird die Stoffwechselaktivität
reduziert?• Phänomen „Wachheit in Narkose“
Koma - Biotechnische Medizin(Plum & Posner 1969, Giacino 1997)
Definition:• Komplette Reaktionslosigkeit und
Nichtansprechbarkeit
Kriterien:• Augen kontinuierlich geschlossen• Keine Spontanatmung, keine Spontanmotorik • Keine Reaktion auf äußere, innere oder
Schmerzreize• Kein Schlaf-Wach-Rhythmus im EEG
Koma - Beziehungsmedizinisch(v.Uexküll & Wesiak 1988; Zieger 1993)
• Akute Schutzreaktion auf Stresstrauma
• Zurücknahme auf die Kernzonen desautonomen Körperselbst
• Selbstabschließung des Du vom Ich
• Überlebensstrategie, Kompetenz
• Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung ineine andere Seinsweise (z.B. Wachkoma)
Parvici & Damasio 2003
Entscheidener„Knotenpunkt“im neuronalenNetzwerk des Koma-Syndroms:
obere dorsale Pons
Koma-assoziierte Syndrome
• Wachkoma, sog. apallisches Syndrom vegetative state (VS, PVS)
• Minimally responsive/conscious state (MCS)
• Locked-in-Syndrom (LIS)• Akinetischer Mutismus• Hyper/Parasomnolenz• Dissoziativer Stupor• Dornröschen-Schlafsyndrom (Kinder)
Wachkoma
Symptome Läsionsort Interpretation
Augen offen Mittelhirn EntkopplungSW-Rhythmus Thalamus bds „locked-out“Keine sinnvolle Marklager bdsReaktion auf AssCtx bdsexterne ReizeKeine absichtsvolleKontaktaufnahme(vegetative Dysregulation)
Der Körper des Wachkoma-Patienten
Biotechnische Medizin: „Defizitfigur“• Trachealkanüle• Reflexe und Automatismen• Tetraspastik, Dezerebration• Keine Kontaktaufnahme möglich
Beziehungsmedizin:„Traumatisiert an Leib und Seele“• Der Körper symbolisiert das Trauma• Körpersemantik Ansatz für Förderung und Entwicklung• Basale Stimulation und körpernaher Dialogaufbau
sind möglich!
Laureys 2004
Mittelwert von gesunden Personen
Mittelwert von Personen im Wachkoma
Reduzierung auf 40%Reduzierung auf 40% des Normalwertes
PET
Laureys 2004
Meßwerte eines Wachkoma-Patienten, der sich wieder erholt
NRZ Greifswald 1999
Pathologisches funktionelles Hirnsystem bei einem Patienten im apallischen Syndrommit kortikaler Residualaktivität (SPECT)
wie bei „Traumbewusstsein“
axial sagittal coronal
Erfahrungsberichte von Koma- und Wachkoma-Erfahrenen:Inneres Wahrnehmen / Erleben
• „Organismisches Erleben“• Innere Bilder, Träume, Albträume• Nahtoderleben: Tunnelphänomene
Out of body- Erfahrungen (OBE), Lichterwelten• Bizarres Körperselbsterleben, Selbstentgrenzung
Ver-rückte Körpereigenproportionen
(Hannich & Dierkes 1996; Lawrence 1995/1997;Zieger 1998)
Schmerzempfinden im Wachkoma
Schmerz-verarbeitungim Wachkoma!
(Kassubek et al 2003)
anterioresCingulum ACC
„Knotenpunkt“ für Schmerz-empfinden!
Intrakortikale und thalamokortikaleDiskonnektion
normal
Hypometabole Areale
(Laureys et al 1999-2004)
Locked-in-Syndrom (LIS)
Symptome Hauptläsion Interpretation
Augen offen ventrale DeefferentationSW-Rhythmus Pons wachbewusstVertikale Augen-bewegungenKeine motorischenÄußerungen„stilles“ Erwachen
Laureys 2005
Akinetischer Mutismus
Symptome Hauptläsion Interpretation
Augen offen SMA bds. SchwereSW-Rhythmus Gyrus cinguli Antriebs-Keine oder nur fronto-subkort. keinewinzige Reaktion Schleifen, Th bds Eigeninitiative auf emotionale Reize Keine Kontaktaufnahme
Hyper/Parasomnolenz
Symptome Hauptläsion Interpretation
Augen geschl. Hypothalamus Schwerekein SW-Rhythm Thalamus bds. Vigilanz- undKeine oder nur Aufmerksam-winzige Reaktion keitsstörungauf externe Reize Keine oder nur winzige Kontaktaufnahme
Dissoziativer StuporSymptome Läsion Interpretation
Augen offen Amygdala DissoziationVerharren ventrales Konversions-Erstarren Striatum (DA ) reaktionRegungs- Basalganglienlosigkeit
Dornröschen-Schlafsyndrom*
Symptome Läsion Interpretation
Augen offen Amygdala Dissoziationoder geschl. ventrales Konversions-Apathie Striatum reaktionRegungs- Basalganglien Kindlichelosigkeit Schutzreaktion
auf Psycho-trauma*
*Todorow: „Hirntrauma und Erleben“ 1978
Neuropsychologisch topischeSyndromanalyse / DifferenzialdiagnoseSyndrom Hauptläsion Verhalten/Zeichen
Koma
Wachkoma
MCSLIS
Hypersomnie
Akin. Mutismus
Dissoz. Stupor
Diffus, multilokulärHirnstamm, obere PonsMittelhirn, Th bds., CtxSub/kortikale Bahnenwie oben, in Remissionventrale Pons
Hypothalamus
frontolimb, SMA bds
Striatum (Dopamin↓)
Hypoarousal, kompl. ReaktionslosigkeitArousal, hochgradige DissoziationMinimal responsibelwach, deefferentiertvert.Augenbewegungendauerhaft schlafend
wach, initiativlos
erstarrt, ↓ansprechbar
IV Remissionsstadien
• Hirntodsyndrom: keine Remission möglich!• Koma (ca. 3 Wo) (Intensivstation) vegetativ
Wachkoma-Vollbild vegetativer StatusApallisches Syndom
Remissionsstadien I und II emotional
Minimales Antwortverhalten: MRS, MCSRemissionsstadium III-IVHOPS, cognitive impaired state
Remissionsstadium VErholt, Integration kognitiv
(nach Gerstenbrand (1967)
Outcome – Remissionsstatus N=53(modifiziert nach Gerstenbrand 1967: 55)
0
5
10
15
20
25
Volbild opt Fixieren opt FolgenUnmut
ZuwendungEigenakt
Zorn
HOPS Integration
7%
40%
13%
26,5%
5,5%
LIS=2 4%
2%
R0 R1 R2 R3 R4+5 R6
Verlauf schwere Hirnschädigung
E
R
H
O
L
U
N
G
T
O
D
KomaHirntodsyndrom
LIS Wachkoma
(„VS“)
Prolongiertes Koma
MCSDauer-
wachkoma
(„PVS“)seltenModifiziert nach Foumonvilleet al 2004
Akut
Chr o n i s c h
V Konsequenzenfür Umgang und Therapie/Frühreha
• Angemessene Umgangsformen• Konsquente Lagerungsbehandlung• Frühe Vertikalisatierung und Mobilisierung• Integriertes Antispastikkonzept (+ Btx)• Spezielle Indikationen zur
Neuropsychopharmakotherapie• „Komastimulation“ und Dialogaufbau• Schluck- und Esstherapie (VESA, FOT)
„Komastimulationstherapie“
• Pharmakologisch• Elektrisch• Multisensorisch, regulativ• Kognitiv
im engeren Sinne
im erweiterten Sinne• Basale Stimulation• Körpernaher Dialogaufbau mit
Einbeziehung von Angehörigen• Musiktherapie• Neuropsychotrauma-Therapie• Übliche Verfahren nach Affolter, Bobath, Davies etc.
Aufbau von Ja/Nein-Codes
Elementare Codes• Seufzen• Lidschlag • Augen schliessen• Kopf nicken• Daumen drücken• Hand drücken, heben• Bein beugen• Buzzer drücken
Elaborierte Codes• ABC vorsprechen• ABC zeigen• Mimik, Gesten• Gebärden• PC-Taste bedienen
Outcome – Kommunikationsstatus N=53
02468
101214161820
nurvegetativ
Ja/NeinCode
nonverbal-emotional
verbal
9,5%
36%34%
20,5%
analog binär
Buzzer
2003: Im Pflegeheim erwacht. Sagt „Mom“, “Pepsi“
Tetraplegie mitBeugespastik1984: Schweres
SHT mit Dauerkoma
Terry Wallis(20)
VI Spätes Erwachen