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Mülheimer Fatzerbücher 1 Kommando Johann Fatzer Herausgegeben von Alexander Karschnia Michael Wehren unter Mitarbeit von Melanie Albrecht Neofelis Verlag

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Mülheimer Fatzerbücher 1

Kommando Johann FatzerHerausgegeben von Alexander Karschnia

Michael Wehren

unter Mitarbeit von Melanie Albrecht

Neofelis Verlag

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Dic M üllidnier Futzcrbüclicrwerden hcrausgegeben von Kultur im Ringlokschuppcn c.V.

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Umschlaggestaltung: Mari ja Skara Satz: Neofelis VerlagDruck: PRESSED Digitaler Produktionsdruck, Remshalden Gedruckt auf FSC-zertifixiertem Papier.ISBN: 978-3-943414-04-2

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Inhalt

Holder Bergman» / Matthias PrensePatzer in der Theaterstadt.....................................................................7

Alexander Karschnia /Michael WehrenKommando Johann Patzer .................................................................. 11

Kommando Johann PatzerΛ texan der KarschniaBEHEMOTI1 vs. LEVIATHANAnleitungen zum Bürgerkrieg ..............................................................22

Iargen IJnkDialektisicrung des Untergangs. Die Geburt des Partisanen- Subjekts aus der extremen Denormalisierung................................. 40

Matthias Natt wannDer Moment PatzerKriegsdiskurs und Theater, Gemeinschaft und Verrat .................. 51

andcompany&Co. - FatzcrBrazH,ans- Th tes U h wannAnmerkungen zu Fat^erBra^ von andcompany&Co.........................64

A lexan der KarschniaFLEISCHEXPERIMENT. Zur .Ästhetik des Hungers* in PatperBra^ von Bertolt Brecht&Co....................................................... 75

Ulrike HaßPatzers Zeichnungen ..............................................................................97

¡an BrokofErste & Zweite Patzer Zeichnung.....................................................106

Pa/^erBra^ — Die Wand & Aufführungsfotos ................................. 108

João I uni retroTiermasken..............................................................................................116

Jan Brokof — Tropical/BG-GB/Winter in Brasil/eat m e!Tropical/ BG-GB/Winter in Brasil/ eat w e ! ..118

Eduardo Guerreiro B. LossoDer Künstler als Kannibale des SteinurwaldesNotizen zu Jan Brokofs Bildern .......................................................136

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Der Künstler als Kannibale des Steinurwaldes Notizen zu Jan Brokofs Bildern

Eduardo Guerreiro B. Losso

e mehr wir im Überfluss des Zeichens leben, desto mehr werden wir wilde Tiere des Zeichens. Wir sind ,Homo signans4, nicht nur am Anfang der Kultur, sondern auch in ihrer jetzigen Entwicklungsstufe.

Der Genussimperativ der ununterbrochenen Bilderflut dient nur einem Herren: dem Marktzwang, alles Mögliche als Ware zu tau­schen. Wir sind Versuchstiere im Laboratorium der Werbung; einer ständigen Erregung der Wahrnehmung, der Entmächtigung des Subjekts ausgesetzt. Jan Brokofs Collagen scheinen mit ihren Bemalungen auf diese Erniedrigung des Subjekts zu reagieren. Die Detailtreue der Komposition, die erstaunliche Ironie, ermöglicht, anders als die Bildfolge des Fernsehens und der Werbung, eine wechselnde Vielfalt der Bedeutungen.

Brokof stellt der Werbung (anschließend an Dadaismus und Sur­realismus) ein ihr ähnliches Übermaß gegenüber und eignet sich die Eigenschaften des Feindes an. Auch in seinen Bildern blendet uns der rasende Bilderfluss. Die Antlitze ohne Augen {trope ilüstern uns ein, dass die Bilderflut die Möglichkeit des Sehens und die Fan­bildungskraft völlig ausfüllt. Its handelt sich um Gesichter lächeln­der Frauen: Ein Lieblingsmotiv der Werbung, in dem der Künstler die Blindheit des eisigen Lächelns zeigt.

Brokofs Zitate aus Populärkultur, Kunst und Historie folgen einer Vorliebe für ungewöhnliche Begegnungen. Eis handelt sich um keine bloße Ansammlung, sondern um Versuche, das Erstaunen der Begegnung zu verarbeiten. Dieser ästhetische Raum schlägt „ein teilnehmendes Bewusstsein“1 zur Verbindung der Unterschiede vor. Die Verbindung kann oberflächlich, produktiv oder gespannt sein: Das Kunstwerk geht in diesem Raum herum und atmet.

1 „Uma consciencia participante“. Oswakl de Andrade: Manifesto antropófago. In: Gilberto Mendonça Teles (Hrsg.): 1 'anguarda e Modernismo lirasi/eiro.Petrópolis: Vo/.es 1997, S. 226—232, hier S. 227. (Übersetzungen aus brasiliani­schen Texten stammen hier und im Folgenden von Eduardo Guerreiro B. Losso.)

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Durch dic feine Wildheit des ,Homo signans4 entsteht eine ver­borgene Kraft, die neue Bande zwischen den Bedeutungen schafft. Eine wilde Kraft in uns, schlagfertig, um nicht an der Sättigung durch Bilder zugrunde zu gehen. Sie ist fähig zu ironischen Anspie­lungen zwischen den Dingen. Sie ist eine poetische und ironische Alchemie, die die Dinge von der alltäglichen Abnutzung befreit. Die Medien und ihre Bilder zu fressen, ist die einzige Art, um nicht von ihnen verschlungen zu werden.

Das Kunstwerk ist ein ,combat center4 (trope ein Boxkampf zwischen zwei Kannibalen: dem Künstler und den Medien. Der Künstler kämpft mehr mit seiner Schwäche als mit seiner Stärke,

„liebevoll“ mit der „Liebe“. „Die Freude ist die große Prüfung“ („a alegria é a prova dos nove“ — Oswald de Andrade); Caetano Veloso im Lied „Freude, Freude“: „Die Sonne im Zeitungsstand / Stopft mich voll mit Freude und Faulheit / Wer liest so viele Nachrichten? / Ich gehe. . ' Der Künstler ist ein Stadtindianer, der mit Fotos und Materialen spielt und sich den anthropophagischen Modernisten anschließt: „Praktiker. Experimentelle. Dichter“ („Práticos. Expe­rimentais. Poetas“).2 3

Jenseits der Oberfläche der Collage besitzen die Arbeiten Jan Bro- kofs einen reichen historischen Hintergrund. Die Freude und Liebe der modernistischen Anthropophagie ist nicht einfach und nicht leicht zu erreichen. Sic ist eine Antwort auf den europäischen Nihi­lismus, der durch einen skrupellosen Willen sich zu bereichern motiviert und mit den Leiden der Kolonisierten verbunden ist.

Die Kunst will die Freude loskaufen, die durch das blinde Lächeln der Werbung gefangen ist; eine Freude, die nicht die Geschichte des Leidens verdrängt. Jan Brokof, mit seinem ironischen Humor, entdeckt die anthropophagische Dreistigkeit, die Jahrhunderte von Kolonisation mit sich trägt und einen anderen Ausweg aus dem Widerspruch zwischen trügerischer Zufriedenheit des Marktes und der Ernsthaftigkeit der Hochkultur gefunden hat.

ln vielen Gemälden bemerkt man verschiedenartigste Verschie­bungen: die Körperteile werden gelöscht, ausgestrichen oder durch

2 „O sol nas bancas de revista / Mc enche de alegria c preguiça / Quem lê tanta notícia / Eu vou...“. Almir Chédiak: Caetano I 'eloso: Sonplmk. Sào Paulo: Irmàos Vitale 1988, S. 37.3 Oswald de Andrade: Manifesto da Poesia Pau-Brasil. In: Mendonça Teles (Hrsg.): 11a aguarda Européia e Modernismo Brasileiro, S. 207-208.

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andere ersetzt. Die Beine werden abgetrennt, bleiben lose, zerstü­ckelt. Die Vielheit an Beinen und Armen gründet aut einem Kas­trationsprinzip: Hs ist, als ob man mehr Körperteile haben könnte, wenn man unsere Leiber zerstückelt. Gleiches gilt tür das Gesicht: Mund und Auge sind verschoben, ersetzt, bemalt oder hervorgeho­ben. Die Veränderung des Gesichts maskiert und demaskiert das maskierte W esen des Scheins.

Das Abnehmen und Hinzufügen von Körperteilen wird noch deutlicher im \ ropicalista-Gemälde. Aut fällig sind dabei barocke Merkmale wie Fülle, kräftige Farbigkeit, Symmetrie und Asym­metrie. Diese Popbarockrhetorik ist eine Galaxie von Signifikan­ten, die an ein episches Gedicht von Haroldo de Campos erinnert: Galaxie'. I laroldo de Campos nimmt das anthropophagische Hrbe und den brasilianischen Barock wieder auf, um den Tropikalismus vorzubereiten.

In der psvchcdelischen Atmosphäre des Tropikalismus (wie in (äs Mutantes Lied Ha/e/ttia, in das barocke Merkmale cingearbei- tet sind), ist das Übermaß nicht willkürlich: Der Aufbau und eine gewisse W irkung tier Uneinheitlichkeit ist wohl überlegt, ist ein misstönender Popkonstruktivismus. Der W iderspruch zwischen schöner Klassik und komplexem Barock spielt bis in den Popkon­text hinein eine Rolle und auch in W erken der bildenden Kunst, die eine psychedelische und tropikalistische Atmosphäre enthalten.

Der Hintergrund ist immer der tropische W ald. W ie Adorno in Idee der Naturgeschichte schreibt: „Natur selber stellt als vergänglicheNatur, als Geschichte sich dar“’. Das Bild des Waldes ist zweite Natur, nicht Zeichen, dass die Natur verloren gegangen wäre. Anderseits ist der Wald ein allegorischer Ausdruck für eine Natur, die sich als naturverfallene Geschichtlichkeit erweist, d. h. als „ver­gängliche Natur“.Im Mittelalter gehörte der Rätselwald zum Weltbuch Gottes, das sich öffnete, um von den Menschen entziffert zu werden. Der Wald war auch ein mystischer Ort, an dem sich die magische Kraft ver­barg. Wenn der Held des Märchenwaldes für längere Zeit mit seinen Zauberclementen isoliert werden würde, weit von seinem sozia­len Umfeld entfernt, fiele er „auf eine animalische Dascinsstufe 4 5

4 Haroldo de Campos: Xadre% de estrelas. São Paulo: Perspectiva 1976, S. 199-248.5 Theodor W. Adorno: Die Idee der Naturgeschichte. In: Ders.: Philosophische Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 345—365, hier S. 358.

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zurück“6 und würde wahnsinnig. Dieses europäische Imaginäre spielt eine Rolle in der Vorstellung des Waldes und seiner Ein­wohner, der brasilianischen Indigencn. Brasilien ist untrennbar mit der archaischen Kraft des Waldes verbunden: Es ist ein Land von Urwäldern, Steinurwäldern. Es vereinigt archaische und moderne Kennzeichen, genau jene Zutaten, mit denen die anthropophagi­sche Ironie spielt.

Am Anfang von Mário de Andrades klassischem Gedicht Notturno ron lie/o11orinante liest man über den Beginn der Industrialisierungin der Stadt Belo Horizonte: „Was für ein entsetzlicher Kampf zwischen Wald und Häusern“ . Das Gemälde Brokofs zeigt diesen Kampf in einer Stadt, die als Zeichenwald erscheint. Seine Kunst wendet die Magie des Zeichens an, sowohl im Surrealismus als auch in der Anthropophagie. Sie folgt mit großer Sorgfalt dem Ratschlag Oswalds: „Glauben an die Zeichen, glauben an die Werkzeuge und Sterne“8. Nur wenn man die ,Magie* des städtischen Wäldes mobili­siert, hat man die Möglichkeit, in diesem Steinurwald zu überleben.Ästhetische Freude, Humor und Ironie sind kein Zeitvertreib, son­dern Sicherheitsmaßnahmen gegen den Eingriff des audiovisuel­len Schocks in das menschliche Sensorium. Das künstlerische Fest des Zeichens ist eine Verteidigung gegen die Reiz-Bombardierung. Der dionysische Rauschzustand ist eine vitale Kraftprobe gegen die Rei z ü be r fl u tu ng.

Der Konflikt zwischen Wäre und Kunst treibt lan Brokof zur Ent- deckung des Tropikalismus und verschiedener Sichtweisen der gesellschaftlichen Dialektik von Natur und Geschichte, Archaik und Moderne, Moderne und Postmoderne, Europa und Latein­amerika. ln diesem Kampf ist cs erforderlich, viel vom Feind zu lernen und auch von weit entfernten Freunden.

Der Markt will den kapitalistischen Urwald naturalisieren und ver­fälscht seine organisierte Schönheit; die Kunst zeigt die künstliche Desorganisation dieses Wäldes und spielt dazu mit dem Reichtum seiner kulturellen Tierwelt. Die modernistischen und postmoder­nistischen Bewegungen Brasiliens haben diese Fauna erforscht.

6 Margit Stadlober: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Wien: Böhlau 2006, S. 115.7 „Que luta pavorosa entre floresta c casas“. Mário de Andrade: Poesia completa. Sáo Paulo: Círculo do Livro 1982, S. 151.8 „Acreditar nos sinais, acreditar nos instrumentos e nas estrelas“. Oswald de Andrade: Manifesto antropófago, S. 227.

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Tatsächlich haben sic wertvolle Strategien des Umgangs mit dem Markt, der Erneuerung des Kunstmediums und einer Kritik der konservativen Ideologie entfaltet.

Massenkultur frisst Kunst und Kunst frisst Massenkultur. Der Künstler ist ein kulturelles Tier. Kr macht Jagd auf die Kultur. Und wenn er sie erlegt, frisst er.

tropicalis ta