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62 MMW-Fortschr. Med. Nr. 2 / 2013 (155. Jg.) PHARMAFORUM „Aktionsbündnis schmerzfreie Stadt Münster“ Optimierte Schmerzkontrolle bei akzeptablen Mehrkosten _ Im postoperativen Schmerzmanage- ment wirkt sich eine interprofessionelle und strukturübergreifende Zusammen- arbeit positiv aus, auch in Bezug auf die Kosten-Nutzen-Bilanz. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Aktionsbündnis schmerzfreie Stadt“, das erstmals Gesamtdaten für die schmerzthe- rapeutische Versorgungssituation in einer Kommune erhob, wurde auch die Schmerzsituation von Patienten am ersten postoperativen Tag nach elektiven Ein- griffen in sechs Krankenhäusern der Stadt Münster evaluiert. Befragt wurden Patienten hinsichtlich ihrer Selbstein- schätzung zur Schmerzintensität sowie Pflegekräfte der operativen Abteilungen, Stationsärzte und Anästhesisten zur Schmerzerfassung und -dokumentation, zur medikamentösen Schmerztherapie, schmerzmittelbedingten Nebenwirkungen, nicht medikamentösen Maßnahmen sowie Beratung und Schulung der Patienten. Qualitätsverbessernde Maßnahmen Auf der Basis der gewonnenen Ergebnisse wurden durch qualitätsverbessernde Maß- nahmen wie z. B. Schulungen und Bera- tungen in den Kliniken Optimierungen des Schmerzmanagements vorgenommen und nach einem Jahr eine Reevaluation durchgeführt. Erste Ergebnisse stellte Prof. Ester Pogatzki-Zahn, Münster, vor. Danach war die postoperative Schmerztherapie in den meisten der teilnehmenden Kliniken schon bei der Ersterhebung zufriedenstel- lend bis gut. Es zeigten sich in den Kliniken individuell unterschiedliche Defizite. In der Zweitevaluation sei deutlich ge- worden, dass die Defizite nach gezielten In der Diskussion Kommt in der evidenzbasierten Medizin die Patientensicht zu kurz? Schulungen ausgeglichen werden konn- ten. Somit konnte die Ergebnisqualität im postoperativen Schmerzmanagement deutlich gesteigert werden, sagte Pogatzki- Zahn. Wie Prof. Matthias Augustin, Ham- burg, ergänzte, sei die Schmerzversorgung am ersten postoperativen Tage verbessert worden, ohne höhere Ausgaben für Arznei- mittel zu verursachen. Für einen zusätz- lichen „schmerzkontrollierten“ Patienten im Ruhezustand mussten Interventionskosten in Höhe von 77 Euro aufgewendet werden, d. h. durch das Aktionsbündnis getragene Kosten für Optimierungsmaßnahmen. Ingeborg Bördlein Quelle: Symposium „Sektorenübergreifende Versorgungsforschung – eine Stadt verbannt den Schmerz“, DGSS-Kongress, Mannheim, Oktober 2012 (Veranstalter: Mundipharma und „Aktionsbündnis schmerzfreie Stadt Münster“) _ Soll der Einsatz von Phytotherapeutika an wissenschaftlichen Daten zu einzelnen Präparaten ausgerichtet werden, wie in der evidenzbasierten Medizin (EBM) üblich, oder sollen Patientenwünsche und posi- tive praktische Erfahrungen mit Naturheil- mitteln Vorrang haben? Beim Debatten- gipfel Naturmedizin 2012 wurde diese Fra- ge kontrovers diskutiert. Evidenz ist nötig für eine individuali- sierte Medizin, betonte Prof. Gerd Glaeske, Bremen, Debattenführer der einen Frak- tion. Phytotherapie sei keine besondere Richtung der Pharmakotherapie, sondern beruhe ebenfalls auf Naturwissenschaften Die Gegenseite konterte: „Natur ist nicht von Natur aus gut“ und kritisierte den Mythos der Nebenwirkungsfreiheit von Phytotherapeutika. Vor osterluzeihal- tigen Produkten aus dem Internet wird we- gen der nierenschädigenden Wirkung ge- warnt, erinnerte Dr. Judith Günther, Frei- burg, Schöllkraut wirke leberschädigend und Süßholzwurzel fördere Elektrolytstö- rungen. Hier sei gezielte Forschung nötig. Dr. Berthold Musselmann, Lehrbeauf- tragter für Allgemeinmedizin und Natur- heilverfahren an der Universität Heidel- berg, dozierte: „Medizin ist eine Erfah- rungswissenschaft“, die rein wissenschaft- liche Medizin ein Irrweg. Er fragte ins Ple- num: Warum wenden wohl so viele Ärzte, auch hartgesottene Schulmediziner, bei sich selbst Naturheilmittel an? Roland Fath Quelle: Debattengipfel Naturmedizin 2012, Hamburg, Oktober 2012 (mit freundlicher Unterstützung von Dr. Willmar Schwabe) Phytotherapie und evidenzbasierte Medizin: Passt das zusammen? © Rainer Pfendl/shutterstock und sollte wissenschaftlich begründbar angewendet werden. Dem entgegnete Prof. Michael Habs, Geschäftsführer des Unternehmens Dr. Willmar Schwabe und Debattenführer der Gegenpartei: „Erfolg zeigt sich an dem, was mit dem Individuum passiert … Man muss für die vorhandene Medizin den richtigen Patienten finden.“ Natürlich müssen Extrakte als Voraus- setzung für evidenzbasierte Phytotherapie analysiert, klinisch getestet und reprodu- zierbar sein, betonte Prof. Theodor Dinger- mann, Frankfurt/Main. Aber sollten nur randomisierte klinische Studien zu einem Extrakt als Wirksamkeitsbeleg gelten? Naturheilmittel modifizieren in güns- tiger Weise die Erwartungshaltung des Pa- tienten, weil sie hoch akzeptiert sind und wenig Nebenwirkungen haben, sagte Prof. Manfred Schablowski, Essen. Dies könnte die Wirksamkeit der Phytotherapie ver- stärken.

Kommt in der evidenzbasierten Medizin die Patientensicht zu kurz?

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Page 1: Kommt in der evidenzbasierten Medizin die Patientensicht zu kurz?

62 MMW-Fortschr. Med. Nr. 2 / 2013 (155. Jg.)

PHARMAFORUM

„Aktionsbündnis schmerzfreie Stadt Münster“

Optimierte Schmerzkontrolle bei akzeptablen Mehrkosten_ Im postoperativen Schmerzmanage-ment wirkt sich eine interprofessionelle und strukturübergreifende Zusammen-arbeit positiv aus, auch in Bezug auf die Kosten-Nutzen-Bilanz.

Im Rahmen des Forschungsprojekts „Aktionsbündnis schmerzfreie Stadt“, das erstmals Gesamtdaten für die schmerzthe-rapeutische Versorgungssituation in einer Kommune erhob, wurde auch die Schmerzsituation von Patienten am ersten postoperativen Tag nach elektiven Ein-griffen in sechs Krankenhäusern der Stadt Münster evaluiert. Befragt wurden Patienten hinsichtlich ihrer Selbstein-schätzung zur Schmerzintensität sowie Pflegekräfte der operativen Abteilungen, Stationsärzte und Anästhesisten zur Schmerzerfassung und -dokumentation, zur medikamentösen Schmerztherapie,

schmerzmittelbedingten Nebenwirkungen, nicht medikamentösen Maßnahmen sowie Beratung und Schulung der Patienten.

Qualitätsverbessernde MaßnahmenAuf der Basis der gewonnenen Ergebnisse wurden durch qualitätsverbessernde Maß-nahmen wie z. B. Schulungen und Bera-tungen in den Kliniken Optimierungen des Schmerzmanagements vorgenommen und nach einem Jahr eine Reevaluation durchgeführt. Erste Ergebnisse stellte Prof. Ester Pogatzki-Zahn, Münster, vor. Danach war die postoperative Schmerztherapie in den meisten der teilnehmenden Kliniken schon bei der Ersterhebung zufriedenstel-lend bis gut. Es zeigten sich in den Kliniken individuell unterschiedliche Defizite.

In der Zweitevaluation sei deutlich ge-worden, dass die Defizite nach gezielten

In der Diskussion

Kommt in der evidenzbasierten Medizin die Patientensicht zu kurz?

Schulungen ausgeglichen werden konn-ten. Somit konnte die Ergebnisqualität im postoperativen Schmerzmanagement deutlich gesteigert werden, sagte Pogatzki-Zahn. Wie Prof. Matthias Augustin, Ham-burg, ergänzte, sei die Schmerzversorgung am ersten postoperativen Tage verbessert worden, ohne höhere Ausgaben für Arznei-mittel zu verursachen. Für einen zusätz-lichen „schmerzkontrollierten“ Patienten im Ruhezustand mussten Interventionskos ten in Höhe von 77 Euro aufgewendet werden, d. h. durch das Aktionsbündnis getragene Kosten für Optimierungsmaßnahmen.

■ Ingeborg Bördlein Quelle: Symposium „Sektorenübergreifende Versorgungsforschung – eine Stadt verbannt den Schmerz“, DGSS-Kongress, Mannheim, Oktober 2012 (Veranstalter: Mundipharma und „Aktionsbündnis schmerzfreie Stadt Münster“)

_ Soll der Einsatz von Phytotherapeutika an wissenschaftlichen Daten zu einzelnen Präparaten ausgerichtet werden, wie in der evidenzbasierten Medizin (EBM) üblich, oder sollen Patientenwünsche und posi-tive praktische Erfahrungen mit Naturheil-mitteln Vorrang haben? Beim Debatten-gipfel Naturmedizin 2012 wurde diese Fra-ge kontrovers diskutiert.

Evidenz ist nötig für eine individuali-sierte Medizin, betonte Prof. Gerd Glaeske, Bremen, Debattenführer der einen Frak-tion. Phytotherapie sei keine besondere Richtung der Pharmakotherapie, sondern beruhe ebenfalls auf Naturwissenschaften

Die Gegenseite konterte: „Natur ist nicht von Natur aus gut“ und kritisierte den Mythos der Nebenwirkungsfreiheit von Phytotherapeutika. Vor osterluzeihal-tigen Produkten aus dem Internet wird we-gen der nierenschädigenden Wirkung ge-warnt, erinnerte Dr. Judith Günther, Frei-burg, Schöllkraut wirke leberschädigend und Süßholzwurzel fördere Elektrolytstö-rungen. Hier sei gezielte Forschung nötig.

Dr. Berthold Musselmann, Lehrbeauf-tragter für Allgemeinmedizin und Natur-heilverfahren an der Universität Heidel-berg, dozierte: „Medizin ist eine Erfah-rungswissenschaft“, die rein wissenschaft-liche Medizin ein Irrweg. Er fragte ins Ple-num: Warum wenden wohl so viele Ärzte, auch hartgesottene Schulmediziner, bei sich selbst Naturheilmittel an?

■ Roland FathQuelle: Debattengipfel Naturmedizin 2012, Hamburg, Oktober 2012 (mit freundlicher Unterstützung von Dr. Willmar Schwabe)

Phytotherapie und evidenzbasierte Medizin: Passt das zusammen?

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und sollte wissenschaftlich begründbar angewendet werden.

Dem entgegnete Prof. Michael Habs, Geschäftsführer des Unternehmens Dr. Willmar Schwabe und Debattenführer der Gegenpartei: „Erfolg zeigt sich an dem, was mit dem Individuum passiert … Man muss für die vorhandene Medizin den richtigen Patienten finden.“

Natürlich müssen Extrakte als Voraus-setzung für evidenzbasierte Phytotherapie analysiert, klinisch getestet und reprodu-zierbar sein, betonte Prof. Theodor Dinger-mann, Frankfurt/Main. Aber sollten nur randomisierte klinische Studien zu einem Extrakt als Wirksamkeitsbeleg gelten?

Naturheilmittel modifizieren in güns-tiger Weise die Erwartungshaltung des Pa-tienten, weil sie hoch akzeptiert sind und wenig Nebenwirkungen haben, sagte Prof. Manfred Schablowski, Essen. Dies könnte die Wirksamkeit der Phytotherapie ver-stärken.