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Dezember 2011 LEBENSZEICHEN D Liebe Freunde des Schwarzen Kreuzes! Nein, entspannen konnte er sich nicht. Noch nicht. Gleich würde er es wissen. Gequält schloss er die Augen. Die Bilder der letzten Jahre tauchten vor ihm auf. Die eintönigen Tage, die immer glei- chen Gespräche, die Last, die ihn be- drückte. Ein einziger Augenblick hatte seine Vorstellungen vom Leben zunichte gemacht. Anfangs schrieben sie ihm noch, und seine Mutter kam auch zu Besuch, ab und zu wenigstens. Dann wurden die Briefe und Besuche we- niger, und in den letzten beiden Jahren bekam er auf seine Fragen und Bitten keine Antwort mehr. Sechs Jahre Gefängnis! Vor vier Wochen hatte er es noch einmal gewagt und ge- schrieben: In einem Monat werde ich entlassen. Wenn Ihr noch etwas mit mir zu tun haben wollt, dann hängt ein weißes Band in den Apfelbaum vor unserem Haus. Ich werde mit dem Zug fahren und aus dem Fenster sehen… Er öffnete die Augen. Nur noch wenige Kilometer trennten ihn von der Gewissheit. Sein Herz klopfte, als würde es ihm gleich aus der Brust springen. Und dann sah er es schon von weitem: Im Apfelbaum hing nicht nur ein weißes Band, da hingen hun- derte, von den Ästen und Zweigen war fast nichts mehr zu sehen… - Eine schöne Geschichte, aber leider nur erfunden? Ein Wochenende im November 2011. Im Kirchenraum der Justizvollzugsanstalt Bremen sitzen an einem Samstag dreißig Menschen. Fast zwanzig Inhaftierte, denen das eingeschlos- sene Leben anzusehen ist, und zehn Männer und Frauen aus der so genannten Freiheit. Nicht nur die Temperatur ist kühl. Wie werden wir warm miteinander? Ich lade alle ein, mit ihrem Nachbarn durch ein paar Fra- gen als Starthilfe ins Gespräch zu kommen: Was ist Ihr Lieblingsessen? Worüber haben Sie zuletzt gelacht? Wel- chen Spitznamen haben oder hatten Sie? as Gespräch kommt in Gang. Das Eis ist ge- brochen. Mit Spielen, Kaffee und Kuchen, einem Quiz, gemeinsamem Nachdenken und Lachen, Gesprächen unter vier Augen und dem Versuch, „Vom Aufgang der Sonne bis zum ihrem Niedergang“ im Kanon zu singen, vergeht die Zeit wie im Flug. Niemand denkt mehr daran, dass wir uns in einem Gefängnis befinden. Niemand fragt danach, was jemand in seiner Vergan- genheit getan oder unterlassen hat. Niemand wird ausgegrenzt oder abgesondert. Für eine Zeit steht uns der „Himmel offen“, so empfinde ich es. Am Sonntag treffen wir uns alle zum Gottesdienst und anschließenden Kirchenkaffe wieder. Die Frage „Wie und wo kann ich auftanken?“ beschäftigt uns. Viele haben etwas beizu- tragen und geben ihre Erfahrungen weiter. Wir können voneinander lernen… - Eine schöne Geschichte – und nicht erfunden! Ich gebe zu, es gibt auch Geschichten, die ohne happy end sind. Da schreibt ein Inhaftierter: „Ich habe schon seit langem keinen Kontakt mehr zu meiner Familie. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mir einen Briefkontakt vermitteln würden.“ Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin ist gerne bereit, diesen Wunsch zu erfüllen. Da geht noch was!

LEBENSZEICHEN 05/2011

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Da geht noch was!

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Page 1: LEBENSZEICHEN 05/2011

Dezember 2011

LEBENSZEICHEN

D

Liebe Freunde des Schwarzen Kreuzes!

Nein, entspannen konnte er sich nicht.Noch nicht. Gleich würde er es wissen.Gequält schloss er die Augen. Die Bilderder letzten Jahre tauchten vor ihm auf.Die eintönigen Tage, die immer glei-chen Gespräche, die Last, die ihn be-drückte. Ein einziger Augenblick hatteseine Vorstellungen vom Leben zunichtegemacht. Anfangs schrieben sie ihmnoch, und seine Mutter kam auch zuBesuch, ab und zu wenigstens. Dannwurden die Briefe und Besuche we-niger, und in den letzten beiden Jahrenbekam er auf seine Fragen und Bittenkeine Antwort mehr. Sechs JahreGefängnis!

Vor vier Wochen hatte er es noch einmal gewagt und ge-schrieben: In einem Monat werde ich entlassen. Wenn Ihr noch etwas mit mir zu tun haben wollt, dann hängt ein weißes Band in den Apfelbaum vor unserem Haus. Ich werde mit dem Zug fahren und aus dem Fenster sehen… Er öffnete die Augen. Nur noch wenige Kilometer trennten ihn von der Gewissheit. Sein Herz klopfte, als würde es ihm gleich aus der Brust springen. Und dann sah er es schon von weitem: Im Apfelbaum hing nicht nur ein weißes Band, da hingen hun-derte, von den Ästen und Zweigen war fast nichts mehr zu sehen… - Eine schöne Geschichte, aber leider nur erfunden?

Ein Wochenende im November 2011. Im Kirchenraum der Justizvollzugsanstalt Bremen sitzen an einem Samstag dreißig Menschen. Fast zwanzig Inhaftierte, denen das eingeschlos-sene Leben anzusehen ist, und zehn Männer und Frauen aus der so genannten Freiheit. Nicht nur die Temperatur ist kühl. Wie werden wir warm miteinander?

Ich lade alle ein, mit ihrem Nachbarn durch ein paar Fra-gen als Starthilfe ins Gespräch zu kommen: Was ist Ihr

Lieblingsessen? Worüber haben Sie zuletzt gelacht? Wel-chen Spitznamen haben oder hatten Sie?

as Gespräch kommt in Gang. Das Eis ist ge- brochen. Mit Spielen, Kaffee und Kuchen, einem Quiz, gemeinsamem Nachdenken und Lachen, Gesprächen unter vier Augen und dem Versuch, „Vom Aufgang der Sonne bis zum ihrem Niedergang“ im Kanon zu singen, vergeht die Zeit wie im Flug. Niemand denkt mehr daran, dass wir uns in einem Gefängnis befinden. Niemand fragt danach, was jemand in seiner Vergan-genheit getan oder unterlassen hat. Niemand wird ausgegrenzt oder abgesondert. Für eine Zeit steht uns der „Himmel offen“, so empfinde ich es. Am Sonntag treffen wir uns alle zum Gottesdienst und anschließenden Kirchenkaffe wieder. Die Frage „Wie und wo kann ich auftanken?“ beschäftigt uns. Viele haben etwas beizu-tragen und geben ihre Erfahrungen weiter. Wir können voneinander lernen… - Eine schöne Geschichte – und nicht erfunden!

Ich gebe zu, es gibt auch Geschichten, die ohne happy end sind. Da schreibt ein Inhaftierter: „Ich habe schon seit langem keinen Kontakt mehr zu meiner Familie. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mir einen Briefkontakt vermitteln würden.“ Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin ist gerne bereit, diesen Wunsch zu erfüllen.

Da geht noch was!

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Schwarzes KreuzChristliche Straffälligenhilfe e.V.Jägerstraße 25a · 29221 CelleTelefon 05141 94616-0 · Fax [email protected]

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Sie schreibt ihm einmal, zweimal, dreimal… und erhält keine Post zurück. Enttäuscht ruft sie mich an: „Habe ich denn etwas falsch ge macht?“ Nein, sicher nicht. Ich kann nur sagen, dass es in letz- ter Zeit häufiger vorkommt, dass der Briefkontakt von Seiten des Inhaftierten überhaupt nicht begonnen oder nach dem ersten Brief abrupt abgebrochen wird. Im Forum Austausch der letzten Monate habe ich mit Ehrenamtlichen, die in einem Briefkontakt zu einem Inhaftierten stehen oder beginnen wollen, oft darüber gesprochen.

it unseren Möglichkeiten kommen auch wir im Schwarzen Kreuz immer wieder an unsere Grenzen. In der Straffälligenhilfe treffen wir auf Menschen, deren ganzes Leben oft ein einziges Dilemma war und ist. So viel ist in ihrem Leben kaputt gegangen oder überhaupt nicht entwickelt worden; die Inhaftierung ist nur die Spitze eines Eisbergs.Und wer immer nur als Versager angesehenwird, benimmt sich irgendwann auch wie einVersager und glaubt nicht, dass es irgendwanneinmal anders sein kann. Bei allen guten Ab-sichten, die Inhaftierte für ihre Entlassung ha-ben: die Erkenntnis über begangene Fehler undzukünftiges Handeln decken sich einfach nichtimmer. Das kennen wir selbst doch alle auchnur zu gut. Wie oft sind wir schon an unsereneigenen guten Vorsätzen gescheitert.

„Da geht noch was“ oder „Rien ne va plus“ – nichts geht mehr? Geben wir auf, wenn offensichtlich alles Menschenmögliche getan ist oder behalten wir eine Hoffnung, die über uns selbst hinausweist? Gott lässt sich seine Sehnsucht nach uns nicht nehmen, auch wenn so vieles dagegen spricht, dass er von uns eine Antwort bekommt. Wo wir an unsere Grenzen stoßen, da fangen seine Möglichkeiten erst an. Aber nicht ohne uns, nicht ohne unseren Einsatz. Gott schreit nicht und schmeichelt uns nicht. Er ruft. Uns. Zu den Menschen, die es nicht glauben können oder noch nie etwas davon gehört haben, dass ihr Leben eine Wendung nehmen kann, von der sie bisher immer nur geträumt haben. Bei der „Platzanweisung“ Gottes in der Straffälligenhil-fe ist es möglich, dass wir manchmal scheitern, keine Kraft mehr haben, vor den vielen Problemen resignie-ren. Aber seine Zusage bleibt: „Da geht noch was!“.

Heute morgen hörte ich im Radio von einer neuen Stu-die über den Wissensstand und die Lernmöglichkeiten in Deutschland. Zum ersten Mal wurde dabei nicht nur die Schule, sondern auch Sportmöglichkeiten und berufliche Weiterbildung berücksichtigt. Ein Satz ist in mir hängen geblieben: Die Hälfte (!) ihres Wissens erlernen Menschen im sozialen Umfeld. Wenn wir bereit sind, für Inhaftierte, aus der Haft Entlassenen und den Angehörigen dieses „soziale Umfeld“ zu sein – was läge darin für ein großer Gewinn!

„Da geht noch was“ – Gott weiß, dass bei uns nichts zu holen ist, was er uns nicht vorher gegeben hat. Alles wirklich Wichtige im Leben wird uns geschenkt. Das feiern wir Weihnachten. Geben wir unsere Freude darüber doch weiter!

Ich wünsche Ihnen mit allen Kolleginnen und Kollegen aus der Geschäftsstelle viel Vorfreude im Advent und gesegnete Weihnachten!

Irmtraud Meifert

M

möge gottneu in dir zur welt kommen

möge gottes gegenwartdein leben hell machen

möge dir kraft zuwachsenselbst mehr und mehr

mensch zu werden

Katja Süßaus dem neuen Kalender 2012

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Zum zehnten Mal ist es möglich, für nur 10 Euro einen Kalender zu bestellen und

damit gleichzeitig ein Exemplar für einen Inhaftierten zu finanzieren.