195

Leichtkollisionen ||

  • Upload
    klaus

  • View
    267

  • Download
    8

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Leichtkollisionen ||
Page 2: Leichtkollisionen ||

ATZ/MTZ-Fachbuch

Page 3: Leichtkollisionen ||

Klaus Schmedding

Leichtkollisionen

Wahrnehmbarkeit und Nachweisvon Pkw-Kollisionen

2., ergänzte Auflage

Mit 193 Abbildungen

PRAXIS

Page 4: Leichtkollisionen ||

Klaus SchmeddingOldenburgDeutschland

ISBN 978-3-8348-2006-8 ISBN 978-3-8348-2007-5 (eBook)DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; de-taillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Vieweg© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2011, 2012DiesesWerk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus-drücklich vomUrheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmungdes Verlags. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be-rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne derWarenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermannbenutzt werden dürften.

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Springer Vieweg ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe SpringerScience+BusinessMediawww.springer-vieweg.de

Page 5: Leichtkollisionen ||

Vorwort zur 2. Auflage

Da Ende 2011 die 1. Auflage dieses Werkes vergriffen war, wurde in der jetzigen Zweitauf-lage eine Vertiefung der Schadenskompatibilitäts-Prüfung in Form eines neuen Kapitelsvorgenommen. Es soll dem technisch weniger bewanderten LeserHilfestellung bei der Ein-schätzung der Ausgangssituation, die dem Unfall vorausging, bieten.

Derzeit wurde eine weitere statistische Ergebnis-Absicherung (Wahrnehmbarkeits-schwelle) in Form einer studentischen Abschlussarbeit begonnen, deren Resultate dann ineiner grundlegend überarbeiteten (angestrebten) 3. Auflage einfließen werden.

Dort soll dann auch eine intensive Auseinandersetzung mit der akustischen Wahrneh-mungsmöglichkeit erfolgen, gibt es bislang nur wenig Mess- bzw. Erfahrungswerte bzgl.der Schalldämmung gängiger Fahrzeugtypen und -modelle.

im Juni 2012 Klaus Schmedding

Page 6: Leichtkollisionen ||

Vorwort des Autors

Stößt man bei einem Pkw-Rangiermanöver (z. B. auf einem Parkplatz) gegen ein nebenste-hendes anderes Kfz und verlässt den Vorfallsort, ohne sich um den angerichteten Schadenzu kümmern, so macht man sich wegen des unerlaubten Entfernens von der Unfallstelleschuldig, sofern man dieses Schadensereignis auch wahrgenommen hat. Ein solches Ver-fahren, das keinesfalls als „Kavaliersdelikt“ einzustufen ist, wird im § 142 StGB geregeltund mit vergleichsweise harten Sanktionen gegen den Verursacher belegt.

Da allerdings nicht jede Leichtkollision für den Verursacher sicher bemerkbar ist (bzw.von ihm wahrgenommen werden muss), verbleibt immer ein „Restrisiko“, dass Unfallver-ursacher vorschnell auch als „Unfallflüchtige“ behandelt werden. Hiervon konnte sich derAutor in sehr vielen Realfällen in den vergangenen (gut) zwei Jahrzehnten Berufstätig-keit überzeugen. Nicht selten wurdenUnfallverursacher auf Basis fragwürdiger, zumindestaber unvollständiger (technischer) Expertisen in 1. Rechtsinstanz verurteilt und erst nachumfangreichsten Untersuchungen hier (z. B. Crashversuche) im Berufungsverfahren dannschlussendlich freigesprochen, weil hier der Nachweis des „Wahrnehmen-Müssens“ letzt-lich nicht mehr haltbar war.

Um von vornherein diesen, nicht zuletzt sehr kostenträchtigen Verfahrensgang zu un-terbinden, wurden von uns umfangreiche Versuchsreihen gefahren (Crashversuche, Ver-suchsfahrten durch Probanden . . . ), um die bisher veröffentlichten Fühl-Spürgrenzen inrealen Fahrsituationen enger fassen zu können.

Damit nicht alles nur „graue Theorie“ bleibt, werden die gewonnenen Ergebnisse auftypischeVergleichsfälle angewandt, umdemLeser einenBeurteilungsmaßstab an dieHandzu geben, worauf im jeweiligen Einzelfall konkret zu achten ist und wann man vorab denNachweis der Bemerkbarkeit des Verkehrsunfalls nicht (sicher) wird führen können.

Die grundlegenden Beurteilungsparameter für den technischen Sachverständigenwurden in einer Fülle von Versuchsreihen gesammelt – auch der Einfluss kollisionsverde-ckender Parameter (aktive Bremsung des Fahrers, kollisionsfremde Erschütterungen . . . )wurden versuchstechnisch erfasst und können nunmehr in Begutachtungen solcher Pro-blemstellungen einfließen. Anhand übersichtlicher Grafiken, Diagramme, nicht zuletztvielen Crash- und Fahrversuchsergebnissen vermag auch der technische Laie nach Studi-um dieser Lektüre ein Gefühl dafür zu entwickeln, in welchen Fällen von einer sicherenWahrnehmung des stattgefundenen Ereignisses überhaupt auszugehen ist. Man sollte

Page 7: Leichtkollisionen ||

VIII Vorwort des Autors

sich grundsätzlich davor hüten, Aussagen außenstehender Beobachter (Zeugen) als we-sentlichen Maßstab für die alles entscheidende Frage der Wahrnehmungsmöglichkeitheranzuziehen, bewegt sich der Unfallverursacher real in einer quasi anderen Welt, näm-lich in seinem schall- und schwingungstechnisch gut abgeschirmten bzw. von der Umweltweitestgehend entkoppelten Pkw-Insassenraum.

Zielgruppe dieses Buches ist daher der mit solchen Verkehrsdelikten befasste Verkehrs-jurist (Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt) wie aber auch ermittelnde Polizeibeamte, Ver-sicherer und nicht zuletzt technische Sachverständige für Unfallrekonstruktion bzw. Klä-rung von Straßenverkehrsunfällen, die (wenn auch selten)mit derlei Problemfällen betrautwerden. Die Ausführungen in dieser Arbeit helfen genau jenen Personengruppen, Leicht-kollisionen auf wissenschaftlich gesicherter Basis bezüglich der Frage des Nachweises derBemerkbarkeit beurteilen zu können.

Oldenburg im Juli 2010 Dipl.-Phys. Klaus Schmedding

Page 8: Leichtkollisionen ||

Inhaltsverzeichnis

1 Juristisches Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Die Vorschrift des § 142 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Problembereiche des § 142 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1.2.1 Der objektive Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2.2 Der subjektive Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.3 Zeugenaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.4 Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3 Leichtkollision im unfallanalytischen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113.1 Verformungsverhalten von Kfz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154.1 Visuelle Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164.2 Akustische Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234.3 Wahrnehmbarkeit kollisionsbedingter Verzögerungen (taktil) . . . . . . . . 324.4 Fühl-/Spürbarkeit von Leichtkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

5 Bisherige, versuchsorientierte Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395.1 Wesentliche Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

6 Ergebnisse eigener Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen . . . . . . . . . . . 456.2 Einfluss von überlagerten Verzögerungen (Proband passiv) . . . . . . . . . . 596.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzen des „aktiven Versuchsfahrers“ . . . . . . . . . . 64

7 Anwendung der Versuchsergebnisse auf Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . 817.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817.2 Ausgedehnte Streifkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927.3 Ausparkkollision VW Golf/3er BMW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Page 9: Leichtkollisionen ||

X Inhaltsverzeichnis

7.4 Stumpfwinkelige Kollision zwischen einer Anhängerkupplungund einer Pkw-Frontpartie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

7.5 Anstoß mit voller Überdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1237.6 Schräge Kollision zweier Pkw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1347.7 Rangierkollision Transporter/Pkw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1407.8 Streifkollision Lkw/Pkw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1487.9 Rangierkollision schwerer Lkw/Pkw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527.10 „Überschwelliges“ Kollisionsgeschehen zwischen zwei Pkw . . . . . . . . . . 1557.11 Örtlich bedingte Verdeckungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

8 Kompatibilitätsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

9 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Page 10: Leichtkollisionen ||

1Juristisches Vorwort

1.1 Die Vorschrift des § 142 StGB

Die Vorschrift des § 142 StGB, also des „unerlaubten Entfernens von der Unfallstelle“, istein Sonderfall innerhalbunseres gesamten Strafrechtssystems. Er bedarf deshalb besondersintensiver dogmatischer Beachtung. Es ist kein Delikt wie jedes andere; denn es bedingteinen ungeheuren Eingriff in das höchste Rechtsgut einer demokratischen Rechtsordnung,nämlich sich selbst niemals belasten oder anzeigen zu müssen. Es wird sogar als „die ammeisten verunglückte Bestimmung“ bezeichnet. Sie greift daher erstaunlich weit in denFreiheitsraum des Bürgers ein.

Das geschützte Rechtsgut ist ausschließlich „das Interesse des Geschädigten daran, sei-ne Schadensersatzansprüche gegenüber dem Schädiger durchsetzen zu können“ sowie derSchutz vor unberechtigten Ansprüchen.Keinesfalls sollmit dieser Vorschrift ein staatlicherStrafverfolgungsanspruch sichergestellt werden, wonach der Täter also einer Straftat oderOrdnungswidrigkeit wegen der Verursachung eines Unfalls straf- oder bußgeldrechtlichbelangt werden muss. Denn es gilt selbstverständlich uneingeschränkt der Grundsatz, dasssich niemand selbst einer Straftat zu bezichtigen oder zu überführen braucht.

Dieser Grundsatz findet aber seine Grenze dort, wo die Interessen anderer Bürger be-troffen sind.

Nun könnte eingewandt werden, dass sich ja z. B. auch der Mörder oder Räuber kei-nes weiteren Strafdeliktes, etwa des unerlaubten Entfernens vom Tatort, schuldig macht,wenn er nach der Tat flieht, obwohl die Opfer in der Gestalt der Hinterbliebenen bzw. desBeraubten sicherlich ein zivilrechtliches Interesse daran haben, dass bei dem Täter Scha-densersatzforderungen durchgesetzt werden können.

Warum also dieser Unterschied, den es nur im Bereich des Verkehrsrechtes gibt?Nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung ist § 142 StGB ein „abstraktes Vermögens-

gefährdungsdelikt“, weshalb die Bestimmung trotz der offenkundigen Ungleichbehand-lung im Verhältnis zu anderen ebenso schwer zu ermittelnden Schadensverursachern mit

1K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_1,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 11: Leichtkollisionen ||

2 1 Juristisches Vorwort

dem Grundgesetz vereinbar sei. Ob diese Auffassung heute wirklich noch Bestand habenkann, wird immer wieder und heftig diskutiert. Wie unsicher der Gesetzgeber inzwischenist, zeigt die erst kürzlich vorgenommene Aufweichung in Absatz IV, wonach die Strafeabgemildert bzw. von Strafe abgesehen werden kann, wenn sich der Täter bei Vorliegen be-stimmter Voraussetzungen innerhalb von 24 h freiwillig meldet. Diese Vorschrift hat aberin der Praxis kaum zu positiven Ergebnissen oder gar zu einer Veränderung der Verhaltens-weisen der Täter geführt, weil die ja immer noch verurteilt werden, wenngleich auch ggf.zu einer geringeren oder gar keinen Strafe. Der Täter erhält also auch Punkte in Flensburgund ist vorbestraft.

Das alles zeigt: Die Vorschrift ist ein Fremdkörper in unserem Strafrechtssystem und ge-hört unbedingt und schnellstmöglich reformiert. Das fordern die Verkehrsjuristen auf demVerkehrsgerichtstag seit – zig Jahren – bislang vollkommen ohne jeden greifbaren Erfolg.Umso mehr ist es erforderlich, dass die damit befassten Juristen und Sachverständigen ge-rade im Falle einer solchen problematischen Vorschrift besonders gründlich, objektiv undfair arbeiten, frei von jedem „Bauchgefühl“ sind und sich streng an die gesetzlichen Vorga-ben halten, stets nach dem Grundsatz:

Lieber einmal einen Schuldigen laufen lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen!

1.2 Problembereiche des § 142 StGB

Der Tatbestand des § 142 StGB ist in zwei wesentliche Problembereiche untergliedert:

1.2.1 Der objektive Tatbestand

Er setzt voraus, dass ein Unfall im Rechtssinne stattgefunden hat. „Unfall“ ist ein „plötz-liches Ereignis im Straßenverkehr, in welchem sich ein verkehrstypisches Schadensrisikorealisiert und unmittelbar zu einem nicht völlig belanglosen Personen- oder Sachschadenführt“. Der objektive Tatbestand lässt sich also in aller Regel unproblematisch feststellen:Kollision + Schaden = Unfall im Sinne des § 142 St GB. Ein Unfall in diesem Sinne liegtaber nicht vor, wenn alle Beteiligten vorsätzlich zusammengewirkt haben.

Der Unfall muss sich im öffentlichen Straßenverkehr ereignet haben. Darunter ist einallgemein zugänglicher Verkehrsraum zu verstehen, also durchaus auch jeder Privatpark-platz, solange nicht mittels Zaun und Tor unbefugte Verkehrsteilnehmer ferngehalten wer-den. Auch gehören private Grundstücksein- und -zufahrten nicht zum öffentlichen Ver-kehrsraum, solange sie nur einem bestimmten Personenkreis zur Nutzung zur Verfügungstehen. Hier gibt es oft erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten.

Es kommt auch nicht darauf an, ob der Täter den Unfall verschuldet hat. Im Gesetz istnur davon die Rede, dass er an dem Unfall beteiligt war. Unfallbeteiligter ist jeder, des-sen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen, also eine

Page 12: Leichtkollisionen ||

1.2 Problembereichedes § 142 StGB 3

Mitursache gesetzt haben kann. Unfallbeteiligter kann also auch eine nicht unmittelbarverursachende Person sein. Das kann z. B. ein Autofahrer auf der Autobahn sein, der etwasunkonzentriert fährt, einen kleinen Schlenker macht, weswegen ein anderer Autofahrereine Vollbremsung ausführt und ein Dritter auf den auffährt. Viele meinen oft, sie seienan dem später stattfindenden Unfall nur deshalb gar nicht beteiligt gewesen, weil sie selbstkeinen Schaden erlitten hätten. Das ist ein erheblicher Irrtum.

1.2.2 Der subjektive Tatbestand

Er setzt voraus, dass der Täter den Unfall tatsächlich bemerkt und sich dennoch von derUnfallstelle entfernt hat, bevor zugunsten des Geschädigten die Person des Schädigers, sei-nes Fahrzeuges und die Art seiner Beteiligung an dem Schadensereignis festgestellt wordenist. Es reicht daher nicht aus, nur seine Personalienmittels Zettel an dieWindschutzscheibedes Fahrzeuges des Geschädigten zu befestigen. Es geht auch umdie Art seiner Beteiligung.Er soll später nämlich nicht behaupten können, das andere Fahrzeug habe aber verkehrs-widrig gestanden, der andere Fahrer habe falsch reagiert, er habe die Schuld, zumindestaber eine Mitschuld an dem Unfall.

Andererseits ist es ein weitverbreiteter Irrtum, dass immer die Polizei gerufen werdenmuss, um sich vor einer Strafbarkeit nach § 142 StGB zu schützen. Wenn sich der volltrun-kene und ggf. führerscheinloseAutofahrermit demGeschädigten über die Personalien undseineAlleinschuld einig sind und derGeschädigte nicht aus anderen – erheblichen –Grün-den ein Recht darauf hat, auf die Beiziehung der Polizei zu bestehen, er vielleicht sogarausdrücklich darauf verzichtet, dann darf sich der Schädiger straflos von der Unfallstel-le entfernen, ggf. sogar gegen den Willen des Geschädigten. Denn wenn die Alleinschuldund – wirklich – alle Fragen der Art des Unfalls feststehen, dann kommt es nicht darauf an,warum der Schädiger den Unfall verursacht hat. Das ist für die Schadenregulierung voll-kommen gleichgültig. § 142 StGB schützt keinesfalls die wirtschaftlichen Interessen derVersicherungen im Hinblick auf einen möglichen Regress gegenüber dem eigenen Versi-cherungsnehmer.

Hier, also bei der Frage der subjektiven Tatseite, passieren in der Justiz die allermeis-ten Subsumtionsfehler. Denn allzu oft wird vorgetragen, der Täter hätte ja – bei gehörigerAnspannung seiner Aufmerksamkeit – durch besonders sorgfältiges Fahrverhalten erken-nen können und müssen, dass er einen Schaden verursacht hatte. Die Forderung: „hätteerkennen können und müssen“ ist aber die juristische Definition von Fahrlässigkeit.

Vorsatz hingegen bedeutet: Der Täter hat den Schadenseintritt bemerkt („direkter Vor-satz“) oder er hat ihn zumindest für möglich gehalten („Eventualvorsatz“).

Weil Fahrlässigkeit nicht ausreicht, entfällt in sehr vielen Fällen auch die Strafbarkeitdes Autofahrers, der sich trotz objektiv eingetretenen Unfallereignisses von der Unfallstelleentfernt. Das widerspricht oft der diesbezüglichen Auffassung der Bevölkerung und findetdaher auch immer wieder entsprechende Bewertung bei Gericht. Aber Richter und Staats-anwälte sind studierte Juristen und denen darf ein solcher, mehr einer „Bauchentschei-

Page 13: Leichtkollisionen ||

4 1 Juristisches Vorwort

dung“ entsprechender, der Rechtslage aber nun einmal widersprechender Fehler einfachnicht passieren.

1.3 Zeugenaussagen

Wie kann aber objektiv festgestellt werden, dass der Täter den Unfall auch tatsächlich be-merkt hat? Denn kaum ein Täter wird ja so ungeschickt sein, dies später gegenüber denermittelnden Polizeibeamten einzuräumen. Die Justiz ist dabei oft ausschließlich auf Indi-zien angewiesen. Berichten z. B. Zeugen, der Täter habe nach dem „laut hörbaren Knall“sofort gebremst, sei dann aber weitergefahren, dann liegt möglicherweise Eventualvorsatzvor. Vielleicht hat er sich sogar kurz umgedreht, bevor er weiterfuhr. Schlimmer noch: Erist ausgestiegen, hat sich das Fahrzeug des Geschädigten angesehen und ist dann wiedereingestiegen und weitergefahren.

Aber Vorsicht:

• Musste er vielleicht aus anderweitigem Grund, z. B. verkehrsbedingt kurz abbremsen?• Oder sah er gar nicht zu dem Fahrzeug des Geschädigten, sondern bemerkte er zufällig

an derselben Örtlichkeit eine bekannte Person?• Und hat er sich das geschädigte Fahrzeug denn überhaupt an der Stelle angesehen, wo

die Berührung stattgefunden hatte?• Was haben die Zeugen eigentlich tatsächlich gesehen und was ist Produkt ihrer Phan-

tasie?

Überhaupt:Was heißt „lauterKnall“? Ein außerhalb eines Fahrzeuges stehenderMenschhört Geräusche vollkommen anders, als in einem Fahrzeug.

• Um was für ein Fahrzeug handelte es sich überhaupt: Eine gut schallisolierte Luxusli-mousine oder ein Kleinwagen? Benzinmotor oder Dieselfahrzeug? Pkw oder Lkw?

• War das Radio eingeschaltet oder nicht?• War der Motor kalt oder warm?• Befanden sich weitere Personen im Fahrzeug, die gelärmt haben, z. B. Kinder?

Wer auf der Straße einen lauten Knall hört, ist daher offenkundig leicht geneigt, zu be-haupten, das müsse der Fahrzeuginsasse ebenfalls gehört haben, also hat er es gehört. Undselbst wenn der Fahrer den Knall ebenfalls gehört haben sollte: Wieso musste er das Ge-räusch zwingend einemUnfallereignis zuordnen bzw. einem solchen, an dem ausgerechneter beteiligt war?

Page 14: Leichtkollisionen ||

1.4 Faktoren 5

1.4 Faktoren

Der Erfolg einer Verteidigung wegen des Vorwurfes des unerlaubten Entfernens vom Un-fallort hängt ganz entscheidend von drei Faktoren ab:

1. Der Verteidiger muss über die entscheidenden technischen Kenntnisse auf demGebietaudio-visueller und kinästhetischerWahrnehmbarkeit von Verkehrsunfällen verfügen.

2. Er muss mit einem Sachverständigen zusammenarbeiten, der auf diesem Gebiet inbesonders hervorragender Weise geforscht und dazu veröffentlicht hat, der also über„überragende Forschungsmittel“ und Spezialkenntnisse verfügt.

3. Beide müssen in der Lage sein, ihre Kenntnisse in geeigneter Weise der Justiz, also derStaatsanwaltschaft und dem Gericht, zu vermitteln.

In den allermeisten Fällen fehlt mindestens eine dieser Voraussetzungen und so kommtes dazu, dass es wohl kaum ein anderes Strafdelikt gibt, bei dem es so oft zu Fehlurteilenkommt, insbesondere in der Form unschuldig verurteilter Autofahrer. Ein Grund dafürist, dass es sich bei Unfallfluchtfällen fast immer um einen Indizienprozess handelt, derbekanntlich in besonders hohemMaße die Gefahr einer Falschverurteilung in sich birgt.

Richter und Staatsanwälte machen immer wieder den gleichen Fehler: Sie versetzensich – ohne sich jemals ausreichend mit der Materie befasst zu haben – bei jedem zu be-urteilenden Fall selbst in die Rolle des Beschuldigten, gehen den Unfallverlauf und dasFahrmanöver im Geiste durch und beurteilen den Fall somit in ihrer eigenen laienhaftenSphäre ausschließlich aufgrund eigenen Erfahrungsmusters. Sie werden dabei „sachver-ständig“ beraten durch Polizeibeamte, die den Fall nach dem gleichen Muster bewerten.Gerne werden dann auch noch „gutachterliche Erhebungen“ von Sachverständigenorgani-sationen zurUrteilsfindung herangezogen, die gerade eben diese eigenenVorstellungen derRichter und Staatsanwälte stützen, wonach „jede Berührung mit einem anderen Fahrzeugbemerkt werden muss“, ohne jedoch die anerkannten Regeln unabhängiger wissenschaftli-cher Forschung beachtet zu haben. Indizien werden demnach oft ausschließlich subjektivaus der Sicht des Richters betrachtet. Nirgendwo sonst in unserem Rechtssystem scheint esden Grundsatz „Im Zweifel gegen den Angeklagten“ zu geben, wie in Fällen angeschuldig-ten unerlaubten Entfernens vom Unfallort.

So kommt es dann zu der juristisch fatalen Fehleinschätzung: Weil eine Berührung be-merkt worden sein muss, hat der Täter sie auch bemerkt und ist deshalb des Deliktes des§ 142 StGB schuldig.

Der Betroffene jedoch beteuert so lange chancenlos, er habe den Unfall nicht bemerkt,wie es seiner Verteidigung nicht gelingt, jedenfalls das Gericht zum Umdenken zu bewe-gen. Wer regelmäßig Unfallfluchtdelikte verteidigt, weiß, dass dabei eine unüberwindlichscheinendeMauer von Vorurteilen und Ignoranz zu überwinden ist. Oft helfen kleine Bei-spiele aus dem täglichen Leben weiter.

Wenn Sie konzentriert einem Gespräch folgen, hören Sie nichts von dem, was Ihr Nachbarneben Ihnen sagt und spüren nicht, wenn er Sie berührt. Wenn Sie rückwärts ausparken, wie

Page 15: Leichtkollisionen ||

6 1 Juristisches Vorwort

wollen Sie dann hören oder spüren, wenn es vorne zu einer leichten Streifberührung in ei-nem spitzenWinkel, überdiesmit Kunststoffteilen kommt, wenn alle Sinne doch nach hintengerichtet sind?

ManchesMal muss dem Richter aber auch der Fall regelrecht praktisch vorgeführt wer-den, muss er kostenintensiv nachgestellt werden, um ihn zu überzeugen, ihn wenigstensaber zweifeln zu lassen.

Besser und überzeugender ist jedoch das Gutachten eines für dieses Fachgebiet quali-fizierten Sachverständigen. Voraussetzung für diese Qualifikation ist aber eine umfassen-de Forschungsarbeit auf diesem Gebiet, die frei ist von subjektiven Elementen, vielmehrstreng wissenschaftlich, unabhängig und objektiv einzig unter Zuhilfenahme von techni-schen Messinstrumenten durchgeführt wurde. Unabhängig heißt in diesem Zusammen-hang vor allem: Den Fall ohne Rücksicht auf die Interessen des Auftraggebers und ohneBlick auf die wirtschaftlichen Aspekte zukünftiger Aufträge zu beurteilen.

Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten kann daher nur auf das Dringlichste na-hegelegt werden, sich mit dieser Materie ausreichend gründlich zu befassen, bevor einanstehender Fall entschieden wird. Nur so kann verhindert werden, dass die ungeheureMenge von offensichtlichen Fehlurteilen bei der Beurteilung von unerlaubtem EntfernenvomUnfallort so weit wie möglich vermindert wird. Und im Zweifel – das wird dabei gernübersehen – ist bekanntlich zugunsten des Angeklagten zu entscheiden, ein Grundsatz, derwohl kaum häufiger missachtet wird, als gerade bei dieser Deliktsart.

Somit ist dem nun hier vorgelegten Werk nur zu wünschen, dass es mit der ihm gebüh-rendenGründlichkeit und Intensität von allenVerfahrensbeteiligten vonUnfallfluchtfällengelesen und anschließend auch im Gerichtsverfahren angewendet wird. Schließlich ba-siert dasWerk auf jahrelangermühevoller, aber hochgradig qualifizierter Forschungsarbeit,weshalb es für sich in Anspruch nehmen darf, höchste Anerkennung und Beachtung zufinden. Möge es dazu beitragen, die Rechtswelt auf diesem kleinen Teilgebiet gerechter zumachen.

Frank-Roland HillmannFachanwalt für Verkehrsrecht in Oldenburg

Page 16: Leichtkollisionen ||

2Einleitung

2.1 Ausgangspunkt

Nahezu täglich lässt sich in der Zeitung eine Mitteilung der Polizei lesen, dass Personengesucht werden, die Zeugen eines Unfallgeschehens waren.

Handelt es sich dabei um Vorgänge, die sich z. B. auf einem Parkplatz ereigneten, so isteher davon auszugehen, dass ein nicht allzu hoher Sachschaden entstand – man sprichtdann von einem Bagatellunfall.

Nicht selten verlässt (beabsichtigt oder nicht) der Unfallverursacher nach dem Anstoß-geschehen den Vorfallort. Der Halter des beschädigten Kfz bleibt dann in der Regel aufseinem Schaden sitzen, weil der Unfallverursacher die Art seiner Beteiligung sowie seinePersonalien nicht bekannt gegeben hat. Je nachHöhe des entstandenen Sachschadens wirdseitens der zuständigen Ermittlungsbehörde ein Verfahren nach dem Tatbestand des uner-laubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) eingeleitet, zumindest dann, wenn durchden oben genannten Zeugenaufruf der Unfallverursacher ermittelt werden konnte.

Der dann „Beschuldigte“wird sich in aller Regel eines Rechtsbeistandes bedienen.Nichtselten – und, was hiesige Erfahrungen zeigen, letztlich auch nicht unberechtigterweise –wird seitens der Verteidigung eingewendet, das Unfallgeschehen sei für den Unfallverur-sacher nicht wahrnehmbar gewesen.

Im Verlaufe des Prozesses wird dann nicht minder selten ein Unfallanalytiker einge-schaltet, der der Frage nachzugehen hat, ob das stattgefundene Ereignis unter strafrecht-lichen Gesichtspunkten, d. h. sämtliche Imponderabilien sind gemäß dem Grundsatz indubio pro reo, also zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen, sicher (auch als Kol-lision) wahrnehmbar war.

Es ist dann die Aufgabe des technischen Gutachters, zunächst die Frage der Schaden-kompatibilität (Zuordnung der Beschädigungszone in Lage, Ausprägung und Form) zubeantworten und ob ggf. aufgrund der wesentlichen unfallanalytischen Parameter eineWahrnehmbarkeit des Ereignisses zu bejahen ist oder nicht. Dies kann, hier schon vor-

7K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_2,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 17: Leichtkollisionen ||

8 2 Einleitung

weggenommen, nicht alleinig aus „sachverständigem Erfahrungsschatz“ heraus gelingen,abgesehen davon, dass dem „rein technischen“ Gutachter die physiologischenWahrnehm-barkeitsgrenzen nicht im Detail bekannt sind. Nicht zuletzt deswegen kann die Hinzuzie-hung eines weiteren (medizinischen) Experten im Rahmen einer interdisziplinären Begut-achtung angezeigt sein.

Dem Verursacher eines Verkehrsunfalls stehen bekanntermaßen optische, akustischeundmechanischeWahrnehmungsmerkmale für die eventuelle Registrierung eines stattge-fundenen Unfallereignisses zur Verfügung.

Einschränkend muss man sofort anführen, dass dann, wenn auf den Unfallverursachernur diese kollisionsbedingten Einflüssewirkenwürden, auch ein jedesUnfallgeschehenmitgroßer Wahrscheinlichkeit bemerkbar wäre. Eine solche Annahme ist freilich praxisfern.

Es macht daher wenig Sinn, wenn man ausschließlich auf das mit der Kollision ein-hergehende „Erschütterungssignal“ abzielt, ohne die Randbedingungen, unter denen dertatsächliche Unfall zustande kam, zu berücksichtigen. Zu den kollisionsbedingten Fahr-zeugerschütterungen können sich auch kollisionsfremde Ereignisse hinzugesellen, die bis-weilen eine nicht unerhebliche Ablenkung oder gar Verdeckung des „wahrzunehmenden“Vorganges bewirken. Dies macht eineOrtsbesichtigung in den allermeisten Fällen notwen-dig, kommt gerade unfallfremden Erschütterungen, beispielsweise durch einen unebenenFahrbahnbelag, große Bedeutung zu. Auch ist der eventuelle Einfluss von zusätzlichen Ver-deckungssignalen (klappernde Ladung, „tobende“ Kinder . . . ) einzubeziehen.

Letztlich ist es auch nicht statthaft, die in einem „Eigenversuch“ (Crashtest) praktischgewonnenen Eindrücke 1:1 auf den Unfallverursacher zu übertragen, ist nämlich die Leis-tungsfähigkeit des Menschen keine Konstante, was bedeutet, dassWachheit undAufmerk-samkeit sich nicht immer und bei jedem Menschen zu jeder Zeit auf gleichem Niveaubefinden.Neben einem z. B. geringen Aktivitätsspiegel (Übermüdung etc.) besteht das Pro-blem der Ablenkung durch z. B. „Reizüberflutung“.

Wie wir aus eigener Erfahrung wissen, können wir unsere bewusste Aufmerksamkeitvoll jeweils nur einem Sinnesorgan zuwenden. Deshalb ist es nicht möglich, mehrere In-formationsflüsse gleichzeitig aufzunehmen und umzusetzen. DiemaximaleAufnahme vonInformationen liegt viele Größenordnungen unter dem, was unsere Sinnesorgane (Rezep-toren) aufnehmen können. Unsere Wahrnehmung beschränkt sich damit auf einen winzi-genAusschnitt der vomNervensystemaufgenommenen Informationsfülle aus derUmwelt.

Ziel der nachfolgenden Ausführungen soll es daher sein, sämtliche, auf den vermeint-lichen Unfallverursacher wirkenden wahrnehmungshemmenden „Störgrößen“ zu erfor-schen.

Es ist, wie dem Autor aus einer Fülle gehaltener Vorträge und anschließender Diskus-sionen bekannt wurde, auch nicht so, dass beispielsweise bundeseinheitlich eine „gewisseSchadenhöhe“ Ausschlag für die Einleitung eines Verfahrens für die ermittelnde Behördewäre – tendenziell kann man sagen, dass man in diesen Dingen in den nördlicheren Bun-desgebieten „großzügiger“ ist als im Süden der Republik.

So hat im Mai 2005 der 2. Strafsenat des OLG Dresden „angesichts der allgemeinenPreis- und Kostenentwicklung auch in den neuen Bundesländern“ einen „bedeutenden

Page 18: Leichtkollisionen ||

2.1 Ausgangspunkt 9

Schaden“ erst ab 1300,00 € angenommen. Diese Richtgröße findet sich auch im Trönd-le/Fischer, STGB, 51. Auflage (2003) wieder.

Gegen eine solche „wirtschaftlicheBagatellgrenze“ sprechen aus unfallanalytischer Sichtaber gleich mehrere Argumente.

Verursacht man nämlich beispielsweise mit einem stabilen Geländewagen einenmassi-ven Schaden an einem nebenstehenden Golf II mit einem Wiederbeschaffungswert vonbeispielsweise nur einigen 100 €, so kann dieses Auto quasi völlig ruiniert werden (derGeländewagen bleibt im Übrigen weitestgehend unversehrt) – tauscht man jetzt den totalbeschädigten VWGolf II gedanklich gegen ein hochwertiges Fahrzeug, beispielsweise eineMercedes S-Klasse, aus, so führen bereits oberflächlichste Verschrammungsspuren (derenEntstehung nun nicht unbedingt wahrnehmbar sein müssen) zu höchsten Reparaturkos-ten.

Währendman also im 1. Fall aufgrund der wirtschaftlichen Bagatellgrenze – trotz einersicher wahrgenommenenKollision – durch das oben genannte grob geflochtene Netz fallenkann, so wird bei der in unfallanalytischer Sicht intensitätsschwachen Berührung der S-Klasse mit „Vehemenz ermittelt“.

DerUnfallverursacher, egal ob er das Kollisionsgeschehenwahrnimmt oder nicht, suchtsich bekanntermaßen seinen „Unfallgegner“ nicht aus. Er wird vielmehr im Nachhineinmit dem Ergebnis seines Handelns konfrontiert, wobei dann dieser eher unglückliche, fürdie Ermittlungsbehörde aber nicht unwesentliche Parameter des „bedeutenden Schadens“einfließt.

In diesem Zusammenhang sei noch angemerkt, dass gar nicht so selten Altschäden ambeschädigten Kfz mit verrechnet werden, bisweilen auch ohne Kenntnis des Halters. Es hatnämlich auch die mit der Reparatur beauftragte Werkstatt Interesse an einem „lukrativen“Instandsetzungsumfang.

Man sollte sich daher als fallbewertender Gutachter auch mit der Frage beschäftigen, obeine vollständige Schadenskompatibilität gegeben ist, und ob der beabsichtigte oder voll-zogene Reparaturweg insgesamt gerechtfertigt war (bedurfte es also unbedingt des Ersatzesdes kostspieligen Ersatzteiles oder wäre eine kostengünstigere Instandsetzungmöglich ge-wesen . . . ).

Page 19: Leichtkollisionen ||

3Leichtkollision im unfallanalytischen Sinne

3.1 Verformungsverhalten von Kfz

Unter einer Leichtkollision oder einem Bagatellunfall versteht man vorwiegend Ereignis-se, bei denen nur oberflächliche, geringe Schäden an beiden Kfz entstehen. Damit bringtman direkt auch ein niedrigeresGeschwindigkeitsniveau inVerbindung, also einenBereichzwischen über ca. 1 und unter etwa 5 km/h. Damit konzentriert sich die Vielzahl solcherVorgänge auf Ein- oderAusparkvorgängen,wie aber auchWendemanövern, bei denenmangegen ein geparktes Kfz oder ein Hindernis am Straßenrand stößt.

Oftmals sind die bei solchen Kollisionen entstandenen Schäden gerade am unfallverur-sachenden Kfz gering. Tangiert dieser den Gegner mit dem Stoßfänger, wird er aufgrundder reversiblen Bauweise fürKollisionen bis zu 4 km/hWandaufprallgeschwindigkeit (nachUS-Vorgaben bis 8 km/h) letztlich nicht in einen sichtbaren Deformationszustand versetzt.Dagegen können am gestoßenen Fahrzeug an Kollisionsstellen mit weicherer Strukturstei-figkeit (z. B. Türmitte) erhebliche plastische Deformationen zurückbleiben. Häufig wird,wenn seitens der Polizei der Unfallverursacher ermittelt wurde, an dessen Fahrzeug einsichtbarer Schaden nicht festgestellt. Der Grund ist dann nicht selten, dass sich der Kunst-stoffstoßfänger aufgrund seiner hohen Elastizität quasi wieder in den Ursprungszustandzurückbildete und nur unter diesem, beispielsweise an Prallelementen, bleibende plasti-sche Verformungen entstanden.

Diese Reversibilität ist dem Unfallverursacher aber mit Sicherheit nicht so bekannt, zu-mindest wenn es sich um einen „technischen Laien“ handelt.

In der Abb. 3.1 ist z. B. die Heckpartie eines gängigen Pkw (Golf IV) zu sehen. Dieserverfügt erkennbar über eine sehr großvolumige Kunststoffabdeckung imHeckbereich und,in der direkten Heckzone davor befindlich, ein Prallelement (grüner Pfeil, Abb. 3.2).

Dagegen ist die seitlich umlaufende Stoßfängerzone nicht konstruktiv verstärkt – dieFormsteifigkeit der Karosseriezone ändert sich also in wenigen Zentimeterschritten ganzerheblich.

11K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_3,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 20: Leichtkollisionen ||

12 3 Leichtkollision im unfallanalytischen Sinne

Abb. 3.1 Heckpartie Golf IV

Kommt es nun zu einem Eckkontakt hinten links, so kann sich der Stoßfängerüber-zug in den konstruktiv nicht verstärkten Hohlraum, der mit roten Pfeilen markiert ist(Abb. 3.2), hineinschieben und nach erfolgtem maximalem Kraftaustausch mit dem Un-fallgegner sich auch größtenteils wieder zurückverformen.

Auch die Lackierung solcher Stoßfängerpartien leidet nicht in optisch auffälliger Weise,werden der Farbmischung viele „elastische Komponenten“ beigemengt, d. h. der Stoßfän-gerlack ist in der Lage, sich „mitzuverformen“.

Dem Unterzeichner sind nicht wenige Vorfälle bekannt, bei denen der den Anstoßwahrnehmende Unfallverursacher nach dem Anstoß aussteigt, sein Fahrzeug „begutach-tet“ und letztlich (kopfschüttelnd) den Vorfallort verlässt, erscheint es ihm aus laienhafterSicht unmöglich, dass sein „völlig unversehrtes Auto“ den beachtlichen Eindellschaden inder Tür des anderen, geparkten Kfz verursacht haben soll.Wenngleich es selbstverständlichdie Pflicht des Fahrzeugführers, also des Unfallverursachers wäre, hier Angaben über seinePerson etc. amUnfallort zu hinterlassen, so wird diese „hochelastische“Pkw-Konstruktionredliches Handeln eher nicht fördern. Der Fahrzeughersteller hat also das Stoßfängerprin-zip wortwörtlich umgesetzt.

Aus diesem einfachen Beispiel lässt sich schon ersehen, dass der mit einer solchen Pro-blematik befasste Sachverständige auf jeden Fall auch auf die Zuordnung von Fahrzeug-schäden einzugehen hat, d. h. ob und inwieweit sie von der Lage (z. B. in puncto Boden-standshöhe), von der Ausprägung oder aber auch von der Struktursteifigkeit her zum Un-fallgegner passen.

Page 21: Leichtkollisionen ||

3.1 Verformungsverhalten von Kfz 13

Abb. 3.2 Heckpartie Golf IV/Stoßfängerabdeckung demontiert

Insbesondere ist zu prüfen, ob an dem letztlich geschädigten Pkw nicht zuvor schonirgendwelche Schäden vorhandenwaren, z. B. eine schon geschwächte Kotflügelpartie auf-grund eines Vorunfalls, die erst durch den Anstoß (des Beschuldigten) einen gewissenDeformationsumfang erhielt, der dann durch die vorausgegangene Materialschwächungentscheidend begünstigt wurde.

Es sei nochmals mit Nachdruck unterstrichen, dass der Gutachter auf jeden Fall kri-tisch einen zur Akte eingereichten Kostenvoranschlag oder auch ein Schadensgutachtenzum geschädigten Kfz prüfen muss, spielt, wie oben schon erwähnt, auch die Höhe desverursachten Schadens für das entscheidende Gericht scheinbar eine nicht unerheblicheRolle.

In solchen Kalkulationen sind nicht selten zweifelhafte Positionen enthalten, beispiels-weise dann, wenn ein Fahrzeugrad mit in der Berührebene liegt und dort Lenkungs- oderAchsbauteile „aus Sicherheitsgründen“ zu erneuern sind. Man sollte dann kritisch hinter-fragen, ob die bekanntermaßen kostspieligen Reparaturmaßnahmen überhaupt im Ver-hältnis zum eigentlichen Hergang stehen, nämlich einen nicht unbedeutenden (wirtschaft-lichen) Schaden angerichtet zu haben.

Verlässt man den „Hauptunfallort“ Parkplatz, so können Fragestellungen nach derWahrnehmbarkeit von Unfallgeschehen auch dann entstehen, wenn Kfz erheblich unter-schiedlicher Masse unfallbeteiligt waren.

Zum Beispiel wird nicht selten behauptet, dass ein Lkw-Fahrer bei innerstädtischemTempo den Kontakt mit einem rechts in einer Parkreihe abgestellten Pkw nicht wahr-

Page 22: Leichtkollisionen ||

14 3 Leichtkollision im unfallanalytischen Sinne

nahm. Es werden in der Regel bei solchen Vorgängen ganz erhebliche Reparaturschädenverursacht, die dem Unfallverursacher, nämlich dem im Lkw-Fahrerhaus sitzenden Be-schuldigten, vollständig entgangen sein können. Derlei Vorgänge gehören mithin nichtin die Kategorie „Leichtkollision“ und noch weniger zum „Bagatellunfall“. Die Besonder-heit solcher Fälle ist, dass der Unfallverursacher im Lkw-Fahrerhaus in der Regel schwin-gungstechnisch vom Gesamtfahrzeug entkoppelt ist, was die Wahrnehmungsmöglichkei-ten (akustisch/vestibulär) nun nicht gerade fördert.

Überhaupt ist zu beachten, dass die gesamte Kfz-Industrie in Richtung „Fahrkomfort“entwickelt, mit den sich daraus unweigerlich ergebendenWahrnehmungsdefiziten äußererKraft-/Schwingungseinwirkungen.

Spricht man also von Leichtkollisionen, so sind damit die, auf den Unfallverursachereinwirkenden, eher geringen Kräfte bzw. Einflüsse infolge des Anstoßes gemeint.

Die Tätigkeit des technischen Sachverständigen im Hinblick auf den Vorwurf der Un-fallflucht beschränkt sich daher nicht nur auf Parkplatzkarambolagen, sondern auch aufVorgänge im fließenden Verkehrsgeschehen. Hierzu werden an späterer Stelle noch meh-rere geeignete Fallbeispiele vorgestellt.

Abschließend für dieses Kapitel soll noch auf ein „unfallrekonstruktives Phänomen“im Zusammenhangmit „energiearmen“ Fahrzeugkollisionen eingegangen werden. Wenn-gleich unterschiedliche juristische Fallkonstellationen betreffend, stellt man als Gutachterhin undwieder fest, dass Kollisionserschütterungen im Fahrerfluchtprozess als nicht wahr-nehmbar dargestellt wurden – im zivilen Rechtsstreit bei vergleichbar hoher Belastungsin-tensität im gestoßenen Pkw dort zu Verletzungsentstehungen bei Insassen geführt habensollen (HWS-Problematik).

Der Übergang zwischen diesen Unfallkategorien müsste demzufolge fließender Natursein, wasman allerdings auch ohne umfangreichenmedizinischen Sachverstand sicher ver-neinen kann.

Page 23: Leichtkollisionen ||

4Grundsätzliches zurWahrnehmbarkeit

Sprichtman vomBegriff derWahrnehmung, so sind gleichzeitig auch die Aufmerksamkeitund das Bewusstwerden eines von einem Ereignis ausgehenden Reizes zu nennen.

Es handelt sich dabei um „neuronale Meldungen“, die für den Menschen erst dann zubewussten Wahrnehmungen führen, wenn man Selbigen ein ausreichendes Maß an Auf-merksamkeit schenkt. Es ist falsch, anzunehmen, man könne nur auf diejenigen Dingereagieren, die auch bewusst wahrgenommen werden. Solchermaßen geschieht ein Groß-teil unserer eigenen Handlungen, die wir im täglichen Leben ausführen, ohne Beteiligungunseres Bewusstseins. Genannt werden können hier z. B. die Aufrechterhaltung unseresGleichgewichtssinnes, wie aber auch bestimmte Tätigkeiten beim Führen eines Pkw.

Im eigentlichen Sinne werden dem Menschen nur grobe Abweichungen von diesemSollwertbereich bewusst. Dies ist nichts anderes als eine Schutzfunktion des Körpers.Wenner auf alle Reize, die auf ihn einprasseln, bewusst reagieren würde, wäre der Organismushoffnungslos überfordert.

Der Aufmerksamkeit kommt also eine große Bedeutung zu; sie dient zur Auswahl derfür den Menschen bedeutsamen Signaleinwirkungen und natürlich ebenso zu deren Filte-rungen, also solche herauszutrennen, die für ihn irrelevant sind.Man kann damit denGradder Aufmerksamkeit als Schutz vor einer gewissen Reizüberlastung sehen, da das zentraleNervensystemnur eine begrenzteVerarbeitungskapazität besitzt. Dies ist in Anbetracht dervon außen auf den Betrachter einwirkenden, zunehmenden Informationsfülle (Werbung,auch im Radio) beachtlich.

Das bewusste Wahrnehmen eines „vom Sollwert abweichenden Reizes“ bedingt dieÜberschreitung einer „Wahrnehmungsschwelle“. Es ist also eine gewisse Intensität einesSignals notwendig, nämlich in einer Größenordnung, die zumindest gerade noch wahrge-nommen werden kann.

Kann man so etwas nachweisen, steht längst noch nicht fest, dass dieses Ereignis auchrichtig gedeutet oder interpretiert wird. So muss ein lautes, gehörtes Geräusch, bedingtdurch einen Bagatellunfall, nicht zwingend eben diesem Vorgang zugeordnet werden, istman auch im Fahrbetrieb oftmals akustisch „angeregt“, sei es durch Geräusche im Außen-

15K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_4,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 24: Leichtkollisionen ||

16 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

bereich (Baustellenlärm . . . ) wie auch im Insassenraum (klappernde Ladung, Unterhaltungvon Insassen . . . ).

Spricht man von der Wahrnehmung stattgefundener Unfallereignisse, so hat sich dertechnische Sachverständige mit den unterschiedlichen Formen deren Registrierung zu be-schäftigen, nämlich:

Die visuelle, die akustische, die taktile und kinästhetischeWahrnehmung.

4.1 Visuelle Wahrnehmung

Diese Form derWahrnehmung wird durch den Gesichtssinn eingegrenzt. Alle Punkte, diebei fester Kopfhaltung und gegebener Augenstellung überblickt werden, machen das Ge-sichtsfeld aus. Es hat eine Breitenausdehnung von etwa 180°, wie die Abb. 4.1 zeigt. Doppeltschraffiert ist das „beidäugige“ Gesichtsfeld markiert [H1].

Abb. 4.1 Beidäugiges Gesichtsfeld

Page 25: Leichtkollisionen ||

4.1 Visuelle Wahrnehmung 17

Alle Punkte, die bei fester Kopfhaltung anvisiert werden können, bestimmen das Blick-feld. Es ist kleiner als das Gesichtsfeld, weil Objekte, die in der Nähe der Gesichtsfeldgren-zen liegen, zu deren Anvisierung eine Kopfdrehung erfordern. Es wird eine so genannteBlickzuwendung erforderlich. Will man also irgendein Objekt möglichst scharf mit demGesichtssinn wahrnehmen, so muss man es fixieren. Die Stelle des schärfsten Sehens liegtin der Mitte der Netzhaut im Auge – dies muss also der Ort sein, an dem das Objekt abge-bildet wird.

Unter den Bedingungen des Tages- und Dämmerungssehens ist der „schärfste“ Abbil-dungsbereich lediglich ca. 1° groß, also ein ganz geringer Bruchteil des Blickfeldes. Dieserfordert schlussendlich diverse Blickrichtungswechsel im rückwärtigen Ausparkvorgang,nämlich in die Seiten- und Innenspiegel sowie den so genannten Schulterblick. Dass damitein nicht unerhebliches Zeitfenster verbunden ist, liegt auf der Hand. Neben den Blickbe-wegungen gesellen sich ja auch noch Akkomodations- wie auch Adaptationsphasen hinzu,die ein stetes Erfassen des Umfeldes im dynamischen Ablauf stark erschweren.

Bei realen Leichtkollisionen ist es in der Regel so, dass die eigentliche Unfallstelle di-rekt nicht eingesehen werden kann. In der Regel stehen dem Beobachter, z. B. bei einemrückwärtigen Ausparkvorgang hierfür nur die Rückspiegel seines Kfz zur Verfügung, dieallerdings nicht die Aufgabe besitzen, den in Fahrzeugnähe liegenden Bereich punktgenaubzw. hochauflösend wiederzugeben, sondern dem Fahrzeugführer einen weiten Überblicküber die hinter ihm liegende Szenerie vermitteln sollen.

Außen- wie Innenspiegel verzerren dementsprechend die Umgebung nicht unerheb-lich und sind mithin wenig geeignete Hilfsmittel, um beispielsweise die vom Fahrer amweitesten entfernt liegende Karosseriekontaktzone, nämlich die hintere rechte Pkw-Ecke,in ausreichender Weise abzubilden.

Noch problematischer ist die Beurteilung der Frage, wie nahemanmit der eigenen vor-deren Karosserieecke dem Unfallgegner gekommen ist, Abb. 4.2.

Bevor man die nachfolgenden Absätze liest, möge sich der Leser mit der Frage beschäf-tigen, in welcher der drei Positionen die vordere rechte Karosserieecke (Blickwinkel ausFahrersicht) am gegnerischen Kfz anliegt und wie groß dann die Distanz in den beidenanderen Fällen ist (sofern die erste Frage beantwortet werden kann . . . ).

Unschwer festzustellen ist, dass eine solche Einschätzung eigentlich nicht gelingt, dasich die einzelnen Relativpositionen nicht nennenswert voneinander unterscheiden. InAbb. 4.2a beträgt im Übrigen die Distanz 30 cm, in Abb. 4.2b 15 cm und in Abb. 4.2ckommt es zum Kontakt.

Häufig liest man als „Belastungsargument“ gegen den Beschuldigten, dass die zuneh-mende Annäherung an das nebenstehende Kfz einen drohenden Kontakt erwarten ließeund deswegen eine große „Sensibilisierung“ des Fahrers zu erwarten sei. Führt man sichaber vorAugen, dass durchschnittliche Parkboxbreiten auf großen Parkplätzen in der Regelca. 230 bis 240 cm betragen und in der Pkw-Entwicklung eine stetige Zunahme der Fahr-zeugdimensionen zu erkennen ist (Breite Mittelklasse-Pkw = ca. 180 cm ohne Spiegel), soherrschen schon beim Einsteigen in das eigene Auto beengte Verhältnisse vor – die sichwährend des gesamten Rangiervorganges auch nicht ändern können.

Page 26: Leichtkollisionen ||

18 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Abb. 4.2 Fahrersicht auf einen rechts abgeparkten Pkw

Nicht zuletzt muss man sich auch auf weitere Verkehrsteilnehmer konzentrieren, wiez. B. querende Kfz in der Fahrgasse, Fußgänger etc.

Der Fahrzeugführer ist aber nicht nur einem „potenziellen Unfallgegner“ ausgesetzt,steht in aller Regel auch auf der anderen Seite ein Kfz. Auch die zumVerlassen des Parkplat-zes zu benutzende Fahrgasse will unfallfrei erreicht werden, was eine visuelle Absicherungdes Rückraumes bedingt.

Man beachtet also quasi nie eine einzelne, potenzielle Kontaktzone am eigenen Kfz,sondern imRahmen von Rangiervorgängen, z.B. bei einer rückwärtigenAusfahrt aus einerParklücke, werden ständige Blickwechsel durchgeführt, Abb. 4.3.

Wieman diesen, aus erhöhter Position entstandenenMomentanaufnahmen einer rück-wärtigen Ausparkbewegung unschwer entnehmen kann, sieht die fahrzeugführende Per-son in der 1. Phase der rückwärts gerichteten Bewegung nach vorne links, wird dort derKontakt mit der rechten Kfz-Seite des links parkenden Fahrzeugs vermutet (Ausparkennach hinten rechts).

Sodann ist aber seitens der Fahrzeugführerin eventueller Querverkehr in der Parkplatz-gasse zu beachten. Zudem muss natürlich auch geprüft werden, ob man mit der rechten

Page 27: Leichtkollisionen ||

4.1 Visuelle Wahrnehmung 19

Abb. 4.3 Typischer Ausparkvorgang mit entsprechenden Fahrer-Blickwechseln

Karosserieseite demnebenstehendenKfz zunahe kommt. Folglichwird der Blick im2.Mo-mentanbild durch die Person nach rechts gerichtet. Gerät hier die linke Karosserieeckegegen das auf der gegenüberliegenden Seite abgestellte Kfz (roter Kreis), so kann dies diefahrzeugführende Person logischerweise nicht sehen.

Erst am Ende der Ausparkbewegung, letztes Momentanbild, wird der Blick wieder nachlinks gelenkt.

In diesem Versuch wusste die Versuchsperson im Übrigen, dass Querverkehr in derFahrgasse nicht herrschte – kalkuliert man diesen (gedanklich) zusätzlich ein, so wird esnoch weitere Blickwechsel (auch nach hinten) geben.

Diese, für solche Ausparkvorgänge typische Blickbewegung verdeutlicht, dass man vonder nicht selten anzutreffenden Auffassung abrücken muss, wonach man bei derartigenFahrmanövern stur irgendeine Karosseriezone des nebenstehenden Kfz fixiert.

Page 28: Leichtkollisionen ||

20 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Abb. 4.4 a und b Anordnung Sattelzugmaschine/Pkw („Fastkontakt“)

Man sollte sich auch davor hüten, anzunehmen, ein Lkw-Fahrer habe aufgrund seinererhöhten Sitzposition grundsätzlich bessere Sichtmöglichkeiten in den ihn umgebendenVerkehrsraum.

Die Abb. 4.4a und b zeigen exemplarisch die Anordnung einer Sattelzugmaschine(DAF XF) zu einem Pkw. Dieser befindet sich in sehr geringer Distanz hinter einemVWGolf III.

Bei einer ungefähren Pkw-Länge von gut 4mmöchte man sofortmeinen, dass der Fah-rer des Sattelzuges den Pkw in großer Ausdehnung vor sich sehen müsste.

Dass dem nicht so ist zeigt die Abb. 4.5. Nur der Bereich ab der Pkw-A-Säule ist tat-sächlich zu sehen. Ähnlich schwierig stellen sich auch die seitlichen und rückwärtigenSichtmöglichkeiten aus einem solchen Fahrzeug dar. Nicht nur durch die deutlich wuchti-geren (größer dimensionierten) Karosseriesäulen, sondern auch durch die hohe „Fenster-linie“ sind andere Verkehrsteilnehmer teilweise nur durch Hilfseinrichtungen (Rampen-/Weitwinkelspiegel etc.) visuell wahrnehmbar, was auch die dramatische Anzahl von Lkw-Abbiegeunfällen mit Fußgängern und Radfahrern erklärt.

Bedenkt man jetzt noch, dass viele Lkw-Fahrer die großzügig dimensionierten Armatu-rentafelnmit allerlei Dingen „verzieren“ (Fernseher, Kaffeemaschine, Namensschilder etc.),so verwundert es nicht, dass oftmals auch „Leichtkollisionen“ im direkten Frontbereichnicht gesehen werden.

Vorsichtig sollte man auch mit den Einschätzungen von Außenbeobachtern, also „neu-tralen Zeugen“ umgehen, werden von diesen Wank- oder Wackelbewegungen des getrof-fenen Fahrzeugs oftmals gut gesehen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, befinden siesich meistens in einem völlig ruhenden System (z. B. parkendes Kfz gegenüber) und neh-men insofern auch leichte Veränderungen an einem zuvor stehenden Objekt problemlospwahr.

Der Außenbeobachter nimmt nicht selten einen so genannten „Logenplatz“ ein. Er stelltdie Annäherung der Karosseriekörper in kleinsten Schritten fest und wartet förmlich auf

Page 29: Leichtkollisionen ||

4.1 Visuelle Wahrnehmung 21

Abb. 4.5 Blick aus der Fahrerposition in der SZM

die Unfallkonsequenzen. Die erste Wahrnehmung ist in der Regel das „erkennbare Wa-ckeln“ des seitlich getroffenen Pkw.

Existiert demgegenüber vom Beobachtungspunkt des Unfallverursachers aus kein Be-zug zum Stillstand, ist er also in Bewegung, so sind dynamische Veränderungen im di-rekten Umfeld, so eine mögliche Wankbewegung des getroffenen anderen Kfz, wesentlichschwieriger bzw. gar nicht wahrzunehmen. Nicht einmal ein Insasse eines anfahrendenOmnibusses vermag (ohne fahrbedingte Ablenkung) einzuschätzen, ob andere Personenan der Bushaltestelle stehen oder in Bewegung sind.

Im Grunde genommen unterliegt damit die visuelle Wahrnehmbarkeit einer solchenFülle von Einflussfaktoren, dass ihre (im strafrechtlichen Sinne) technisch sichere Beweis-barkeit nur in den seltensten Fällen gelingt.

Abbildung 4.6 von HOLTKÖTTER zeigt die Parameter der visuellen Wahrnehmbar-keit [H2]. In der Mitte dieser Darstellung „thront“ die visuelle Wahrnehmbarkeit. In di-rekter Umgebung dazu sind die demUnfallverursacher „naheliegendsten“, beeinflussendenParameter angeordnet.

Die Blickrichtung, bereits in der 2. Ebene liegend, ist Grundvoraussetzung für die visu-elleWahrnehmung. Sie hängt direkt von den anderen, über Pfeile verbundenen Elementenab, die nicht beweissicher einschätzbar sind. EineDiskussion erübrigt sich schon deswegen,weil die Blickrichtung ohnehin nicht rekonstruierbar ist.

Wäre z. B. über Zeugenaussagen objektivierbar, dass der Unfallverursacher zielgerich-tet den nebenstehenden Pkw beobachtete, so kämen die weiteren umliegenden Parameter

Page 30: Leichtkollisionen ||

22 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Abb. 4.6 Einflussparameter auf die visuelle Wahrnehmung [H2]

noch zum tragen. Als erstes sind Verdeckungsmöglichkeiten durch den Pkw selbst (Fahr-zeugsäulen, Ladung, . . . ) zu nennen. Auch äußere Witterungseinflüsse sind in die Beurtei-lung einzubeziehen.

Blendungseinflüsse, ungünstige äußere Lichtverhältnisse sind ebenfalls von Bedeu-tung, wie aber auch schlussendlich die physiologischen Fähigkeiten des Unfallverursachers

Page 31: Leichtkollisionen ||

4.2 AkustischeWahrnehmung 23

selbst, seien es nun dessen Sehschärfe oder aber andere Beeinträchtigungen wie z. B. Me-dikamenteneinfluss.

Es genügt demnach definitiv nicht, Unfallversuche mit einem auf die Kollision vorbe-reiteten Probanden durchzuführen, um dann zu argumentieren, dieser habe das Unfallge-schehen auch visuell wahrgenommen (z. B. durch die Wankbewegung des Unfallgegners).Dieser Proband richtet natürlich gezielt seine Aufmerksamkeit auf die Kontaktzone.

Tests hierzu haben gezeigt, dass das Zusammenspiel des visuellen Sinneseinflusses unddes Gleichgewichtssinnes wichtig für das Gesamt-Wahrnehmungsempfinden ist. Schließtman z. B. die Aufnahme von Reizen durch das Auge aus, so muss das Gehirn mit den ver-bleibenden Sinnen des Körpers versuchen, ein Ereignis zu registrieren.

4.2 AkustischeWahrnehmung

Die allgemein als „nächst höhere Stufe der Wahrnehmung“ bezeichnete, akustische Re-gistrierung von Kollisionen beruht nicht auf einer zielgerichteten, direkten Zuwendungder Aufmerksamkeit zur Anstoßstelle, weil nämlich die Ausrichtung des Hörorgans für dieAufnahme eines kollisionsbedingten Schallpegels eher von untergeordneter Bedeutung ist.Eine Schallquelle, die sich hinter einer Person befindet, wird nicht völlig anders wahrge-nommen als eine solche, die sich direkt vor ihr befindet.

Bei Kollisionsgeräuschen handelt es sich um aperiodische, unspezifische Frequenzge-mische im eher niederfrequenten Bereich. Die für den Vorwurf der Unfallflucht zu bewei-sende, überschwellige Hörempfindung bedingt also grundsätzlich eine merkliche Über-schreitung dermenschlichenHörschwelle, die durch den Schalldruck beeinflusst wird. Dasmenschliche Ohr ist in einem Frequenzband von 1000 bis 4000Hz sehr empfindlich.

Der kleinste Schalldruck, den das menschliche Gehör gerade noch wahrnehmen kann,beträgt 20 μPa bei einer Frequenz von 1000Hz. Dieser Wert ist als Bezugspunkt für denabsoluten Schalldruckpegel festgelegt und mit 0 dB(A) bezeichnet worden.

Töne, die in ihrer Frequenz weit auseinander liegen, aber als gleich laut empfundenwer-den, können dagegen völlig unterschiedliche Schalldruckpegel besitzen.Dies demonstriert,dass der Frequenz des Schalls eine sehr große Bedeutung zukommt.

In Abb. 4.7 ist die Hörschwelle des menschlichen Ohres grafisch dargestellt. Auf der x-Achse sind die Frequenzen (Tonhöhe) des Hörbereiches in Hertz (Hz) und auf der y-Achseder Schalldruckpegel in Dezibel (dB) abgetragen. Die unterste Linie ist die so genannteHörschwelle, unterhalb derer keine Frequenzen bzw. Töne mehr wahrgenommen werden.Wie man dort sieht, nähert sich der Graph zwischen 1000 und 4000Hz ihr am stärkstenan, ist das Ohr, wie schon oben beschrieben, hier am „empfindlichsten“.

Die Empfindungsstärke der Schallpegel wächst mit dem Logarithmus der Reizstärke,weswegen eine Zunahme der Lautstärke um ca. 10 dB(A) einer Verdopplung der mensch-lichen Schallempfindung entspricht.

Soll ein Kollisionsgeräusch für den Unfallverursacher akustisch wahrnehmbar werden,so kann man grob sagen, dass der mit der Kollision verbundene akustische Reiz um aller-

Page 32: Leichtkollisionen ||

24 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Abb. 4.7 Hörschwelle des menschlichen Ohres [B3]

wenigstens 1 bis 2 dB(A) lauter sein muss als die Lautstärke eines kollisionsfremden Ge-räuschpegels. Diese Intensitäts-/Unterschiedsschwelle ändert sich aber mit dem Lebensal-ter durchaus bis auf Werte von merklich über 3 dB(A).

Dem Alter bzw. der Hörfähigkeit des Unfallverursachers kommt daher eine große Be-deutung zu, weswegen ein (im Übrigen wenig aufwendiger) Hörtest eine hohe Aussage-kraft im Rahmen von Gutachtenerstattungen besitzen kann. Gerade hier ist auch nochzu beachten, dass der durchschnittliche Alters-Hörverlust über das noch wahrnehmbareFrequenzband drastisch variiert. Von über 60-jährigen werden höhere Frequenzen als ca.4 kHz praktisch nicht mehr wahrgenommen – in der typischen Kollisionsfrequenz von ca.500Hz liegt die Gehörminderung gegenüber etwa 30-jährigen bei gerundet 6 bis 8 dB(A)(also fast „Lautstärkehalbierung“).

Für die Beurteilung der akustischen Wahrnehmung ist weiterhin von Bedeutung, wodie Schallquelle am Fahrzeug liegt, wie der Weg des Schalls aussieht, d. h., ob z. B. überdie Außenatmosphäre oder aber durch Körperschall, also durch das Fahrzeug hindurch(beispielsweise in rahmenfeste Bauteile des Pkw eingeleitet).

Beim Transport des Geräusches vom Außenbereich in das Fahrzeug hinein entstehenunweigerlich Frequenz- und Lautstärkeänderungen. Pkw-Karosserien schlucken in aller

Page 33: Leichtkollisionen ||

4.2 AkustischeWahrnehmung 25

Regel etwa 20 bis 30 dB(A) (Werte darüber sind nicht ungewöhnlich); ein Lkw kann dem-gegenüber im Mittel etwa zumindest 15 dB(A) absorbieren.

Um sich eine Vorstellung darüber zu machen, wie laut Geräusche eigentlich sind, kön-nen ein paar praktischeBeispiele genanntwerden. Eine normaleUnterhaltung in ansonstenruhiger Umgebung bewegt sich in einer Größenordnung von etwa 55 bis 60 dB(A), ein Ra-diogeräusch in einem Pkw, das in normaler Stadtfahrt unterwegs ist, liegt in einem Bereichvon etwa 70 bis 75 dB(A).

Im alltäglichen Gebrauch eines Fahrzeugs werden durch das Einschalten der Zündungviele fahrzeuginterne Aggregate in Betrieb genommen, die erhebliche Schallpegel erzeugenkönnen, ohne dass der Verbrennungsmotor in Betrieb ist.

Als Beispiele hierfür seien genannt:

• die Klimatronik• das Autoradio• das Gebläse• der Scheibenwischer• Navigationsgeräte• Bordcomputer.

In einer unlängst durchgeführten Untersuchung mit einer Mercedes-Benz-A-Klassewurde z. B. ein Schallpegel von 66 dB(A) bei eingeschalteter Lüftung auf hoher Stufe er-mittelt. Bei zusätzlich eingeschaltetem Radio in „gut verständlicher Lautstärke“ konnte inder Insassenzelle ein Wert von 70 dB(A) ermittelt werden.

Im Hinblick auf die durchschnittliche Karosseriedämmung moderner Pkw von über25 dB(A) müssten über den „Luftschallweg“ über 95 dB(A) an die Außenhaut des Fahr-zeuges dringen, damit innen noch gerade genug (hörbarer) „Kollisionslärm“ ankommt.

In einer von DEEKEN durchgeführten Versuchsreihe [D1] wurden die kollisionsbe-dingten Schalldruckpegel in der Nähe des Anstoßortes gemessen. Es ergaben sich im Rah-men von Streifkollisionen bei einem Anstoßwinkel von etwa 15 bis 20° und einer Ge-schwindigkeit um etwa 3 km/hWerte von im Mittel 75 dB(A). Dabei wurde außerhalb desFahrzeugs in ca. 1m Abstand zum Kollisionspunkt gemessen.

Eine Leichtkollision in ähnlichem Geschwindigkeitsbereich, wobei das unfallverursa-chende Fahrzeug mit 30% Überdeckung auf ein anderes Kfz auffuhr, ergab einen Schall-druckpegel in gleicher Distanz im Außenbereich von etwa 78 dB(A). Hier war dann ver-mehrt ein vergleichsweise deutliches „Knacken“ des Plastikstoßfängerüberzuges des un-fallverursachenden Kfz zu hören.

Die im Weiteren auch noch vorzustellenden Versuchswerte von DEEKEN wurden ineinem VW-Transporter T4 gemessen. Dort herrschte im Insassenraum bei ausgeschalteterLüftung und laufendem Motor ein Geräuschpegel von etwa 68 dB(A) vor.

Bei einem in 1m Distanz zum Anstoßgeschehen gemessenen Kollisionsgeräusch von78 dB(A) liegt also eine kollisionsbedingteÜberhöhung von 10 dB(A) vor.Man könnte jetztvorschnell argumentieren, dass doch unter diesen Umständen das Kollisionsgeräusch im

Page 34: Leichtkollisionen ||

26 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Inneren desVW-Transporters wahrnehmbar seinmüsste.Würdeman so vorgehen, so hätteman aber die schon benannte Schalldämmung des Kfz außer Acht gelassen, die, wie weiteroben schon erwähnt, bei zumindest ca. 20 dB(A) einzuordnen ist.

Als grober Richtwert sei hier angefügt, dass eine Lautstärkeminderung um 20 dB(A)in etwa dann entsteht, wenn man sich mit den Fingern die Ohren (kräftig) zuhält. Umdiesen Anteil schwächt also eine nicht einmal sonderlich gut isolierte Fahrzeugkarosserieden am Fahrzeug außen anliegenden Schalldruckpegel in Richtung Insassenzelle. Unnötigzu erwähnen ist, dass beim Übergang in die VW T4-Insassenzelle der zur Wahrnehmungerforderliche Kollisions-Schalldruckpegelunterschied dort nicht mehr anlag und mithindie Kollisionen in den Versuchen auch tatsächlich nicht hörbar waren.

Wie weiter oben erwähnt, spielt aber nicht nur der eigentliche Schalldruckpegel, son-dern insbesondere auch die Frequenzlage des kollisionsbedingt eingetretenen Geräuscheseine große Rolle.

Auch dem technischen Laien ist das Phänomen der guten Schalldämmung von Kfz-Karosserien gegenüber hochfrequenten Geräuschen bekannt. Die (innen) laute Musik ei-nes vorbeifahrenden Pkw (so genannte „rollende Disco“) wird nur in Form dumpfer Töne,also niederfrequenterGeräusche registriert; der hochfrequenteAnteil dringt nicht nach au-ßen. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass gerade hochfrequente, außerhalb der Insassenzelleauftretende Geräusche sehr gut gedämmt werden, weswegen z. B. das Klirren eines beimUnfall zerstörten Scheinwerferglases für den Insassen im Fahrzeug wesentlich schlechterwahrnehmbar ist, als für den Außenstehenden. Ähnlich verhält es sich natürlich auch mithochfrequenten Quietschgeräuschen, beispielsweise wenn ein (heute quasi nicht mehr ver-bauter) Metallstoßfänger über die Seitenpartie eines anderen Kfz hinwegkratzt.

Gezeigt werden kann dieser Effekt mithilfe des nachfolgenden Versuchsaufbaus:ImAbstand eines (knappen)Meters wurden (durch einen Verstärker angesteuert) Laut-

sprecherboxen seitlich neben einem Pkw Seat-Altea (Baujahr 2009) postiert, Abb. 4.8.Mittels Signalgenerator, Abb. 4.9, wurden Tönemit definierten Frequenzen vorgegeben.Im Pkw-Innenraum, Abb. 4.10, waren in Kopfstützenhöhe ein Lautstärkepegelmesser,

aber auch ein zusätzliches Mikrofon (Bestandteil eines weiteren Lautstärkemessers) in-stalliert – mit letzterem sollte untersucht werden, ob sich beim Schalldurchgang durchdie Karosserie eine Frequenzverschiebung ergibt (Prüfsignale auf Oszillator gegeben). Daskonnte nach Versuchsauswertung in guter Näherung letztlich aber verneint werden (mar-ginale Verschiebung).

Demgegenüber war aber die (gemittelte) Abnahme des Lautstärkepegels (aus mehrerenVersuchsabläufen) frappierend, Abb. 4.11.

Unschwer ist dort zu erkennen, dass der Prüfton mit einer Frequenz von 500Hz einerLautstärkedämmung von ca. 20 dB(A) unterlag, wohingegen im höherfrequenten Bereichbereits (annähernd) 35 dB(A) ermittelt wurden. Dies ist letztlich der messtechnische Be-weis für das oben genannte „Hörerlebnis“. In niederfrequenten Bereichen, also wenn dasKollisionsgeräusch imWesentlichen aus einem dumpfen Eindellvorgang einer Blechpartiebesteht, ist die Karosseriedämmung (des Luftschalls) erheblich geringer als bei einem (vonZeugen nicht selten vernommenen) höherfrequenten Schrammgeräusch.

Page 35: Leichtkollisionen ||

4.2 AkustischeWahrnehmung 27

Abb. 4.8 Versuchsaufbau: Verstärker mit Lautsprecherboxen

Abb. 4.9 Prüfton 1000Hz am Signalgeber

Erste Untersuchungen zu dieser Thematik gab es vonWELTHER [W1]. Er führte um-fangreichste Messungen durch, die für die 1980er-Jahre auch sehr aufschlussreich waren.Das Gros der von ihm gefundenen Zusammenhänge basiert also auf praktischen Versu-chen, die allerdings mit Fahrzeugmodellen durchgeführt wurden, die heute quasi gar nichtmehr anzutreffen sind. Stahlstoßstangen, die direkt überMetallhalter an den Fahrzeugrah-men angebunden sind, trifft man im modernen Karosseriebau nur noch sehr selten an.

Fast alle Pkw- und mittlerweile auch Lkw-Karosserien verfügen über großvolumigeKunststoffstoßfänger, hinter denen sich nicht selten Schaumstoffkonstruktionen, Prallele-

Page 36: Leichtkollisionen ||

28 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Abb. 4.10 Eingesetzte Lautstärkepegelmesser in Kopfstützenhöhe

Abb. 4.11 Abnahme des Lautstärkepegels in Abhängigkeit der Frequenz

mente etc. befinden, die eben eine direkte (schwingungstechnische) Anbindung an dieLängsträger eines Fahrzeugs verhindern.

Heute sind eine große Anzahl von Stoßfängerkonstruktionen, also deren Überzüge,lackiert und damit sehr glattflächig. Streifen diese Komponenten seitlich über eine nichtminder glatt lackierte Karosserieseitenstruktur eines anderen Kfz her, so entstehen fastnie höherfrequente (kollisionsbedingte) Geräusche. Einzig plastische Verformungen jenerStoßfängerstrukturen, also akustisch im eher niederfrequenten Bereich anzusiedeln, tretennoch auf, die dann unter gewissen Bedingungen auch wahrnehmbar sein können (nämlichüber den „Körperschallweg“).

Page 37: Leichtkollisionen ||

4.2 AkustischeWahrnehmung 29

Genau dieser „Wahrnehmungschance“ arbeitet die Automobilindustrie aber gezielt ent-gegen, wird dem Schwingungs- undAkustikverhalten des gesamten Fahrzeugs eine immergrößere Bedeutung beigemessen. Begründet wird dies natürlich auch mit den steigendenAnforderungen der potenziellen Kfz-Käufer an den Schwingungs- und Geräuschkomfort.

Grob gesagt besteht ein durchschnittlicher Pkw aus mehr als 10.000 Bauteilen, von de-nen einigeHundert akustisch bzw. schwingungstechnisch relevant sind. Sie agieren in kom-plexen Wechselwirkungen miteinander, was sich natürlich auf das Innen-/Außengeräuschund dem Schwingungskomfort in durchaus konkurrierender Weise auswirkt.

Das „Bauteil“ eines Autos ist dessen Antrieb, bestehend aus Motor und Getriebe.Der Betriebszustand des Motors ist neben seiner Konzeption (Otto-, Wankel-, Diesel-

aggregat) maßgeblich, d. h., mit welcher Drehzahl er betrieben wird.Hier wird in der Regel eine Unterteilung in Fahrzeuge mit Automatik- oder Schalt-

getriebe vorgenommen. Das hat den Grund, dass beim Automatikgetriebe Rangiervor-gänge gewöhnlich im Bereich der Leerlaufdrehzahl durchgeführt werden, während dasSchaltfahrzeug nicht nur durch die Elastizität des Motors und die Beschaffenheit derKupplung beeinflusst wird, sondern im hohen Maße auch von den „Rangierkünsten“ desFahrenden.

Grundsätzlich sind aber beim Schaltwagen höhere Motordrehzahlen nötig, die sich jenach Hubraum und Zylinderzahl des Aggregates im Bereich von ca. 2000± 500U/minbewegen. Je nach Geschick des Fahrzeuglenkers, also der Art und Dosierung des Kupp-lungspedals, sind auch bisweilen erheblich höhereMotordrehzahlen anzutreffen (die dannnicht nur die akustische Wahrnehmung beeinflussen . . . ).

Führt man sich weiterhin die unterschiedlichen Pkw-Konzeptionen vor Augen, alsoeine normale Limousine, ein dazu entworfenes Kombimodell oder gar ein Cabriolet, sokann man pauschal erst einmal anführen, dass in dem Kombifahrzeug eine Kollision eherwahrgenommen wird als in den beiden anderen Typen, da dessen größerer Innenraumnämlich als „Resonanzkörper“ fungieren kann. Dies gilt nur für Kollisionen im Heck-bereich.

Bei frontgetriebenen Fahrzeugen wird eine Kollision im vorderen Bereich schlechterwahrgenommen, als eine vergleichbare Heckkollision, da der Motor, der selbst stark ge-dämpft ist, mit der Fahrgastzelle gekoppelt und zwischen Anstoßpunkt und Fahrersitz ver-baut ist.

Durch die geringeren Dämpfungseigenschaften der beim Cabriolet verwendeten Falt-dachmaterialien wird der Luftschall hier weniger stark gedämpft als in vergleichbaren Li-mousinen oder einem Kombimodell.

Ein wichtiger Faktor ist hier natürlich auch der Einfluss der Beladung. Er kann Ge-räusch verringernd wirken, weil der Resonanzraum reduziert wird und die tragenden Ele-mente eine weitere Schwingungsdämpfung erfahren. Zudem kann die Beladung selbst alsGeräuschquelle dienen. Auch weitere äußere Einflüsse, wie z. B. Starkregen können eineSchallpegelerhöhung im Auto bewirken (bis zu 5 dB(A) gemäß eigener Messungen). Derdabei eingeschaltete Scheibenwischer unterstützt die hierdurch bedingte Senkung der Be-merkbarkeitsschwelle zusätzlich.

Page 38: Leichtkollisionen ||

30 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Verkehrsgeräusche behindern ebenfalls die akustischenWahrnehmungsmöglichkeiten,da sie, z. B. in der Nähe einer Baustelle (Kompressorlärm) schon imAußenbereich das Kol-lisionsgeräusch überdecken können.

Beim Übergang ins Innere des Fahrzeugs kommt der heutzutage in sehr vielen Fahr-zeugen verbauten Klimaanlage (Lüftergeräusche) und demAutoradio eine große wahrneh-mungsspezifischeWirkung zu. Gerade die Einstellung der Radiolautstärke und die Art derRadiosendung (Wortsendung, Hörspiele . . . ) beeinflussen die Wahrnehmungsmöglichkei-ten enorm, da gerade bei Wortsendungen der Anteil tiefer Frequenzen überdurchschnitt-lich groß ist.

Die in den modernen Kfz verbauten Musikanlagen setzen vorwiegend auf optimaleBeschallung des Fahrzeuginnenraumes (so genannte Surround-Systeme). Das dadurchentstehende, hohe räumliche Klangniveau erschwert die sichere Richtungszuordnung vonakustischen Signalen eines erfolgten Bagatellunfalls enorm.

In einer Reihe von Versuchen konnte hier im Übrigen festgestellt werden, dass eineRadiosendung etc. durchschnittlich um 3 bis 6 dB(A) lauter als das lauteste vorkommendeGeräusch im Pkw-Inneren eingestellt wird.

Hinein spielt auch eine etwaige Insassenunterhaltung eine Rolle, die natürlich die Reiz-schwelle der akustischen Wahrnehmungsschwelle erhöht.

Wenngleich bei Frequenz- „Maskierungsmöglichkeiten“ zu beachten ist, dass hohe lei-se Töne durch tiefe laute Töne verdeckt werden können, umgekehrt aber tiefe leise Tönenicht durch hohe laute Töne, ist stets zu berücksichtigen, dass bei modernen Fahrzeugennicht selten bei Einschalten der Zündung das Autoradio nebst Klimaanlage aktiviert wird,wodurch im Fahrzeuginneren ein sehr hoher Geräuschpegel auftritt.

Unnötig zu erwähnen ist, dass sich viele Parkplatzkollisionen dann ereignen, wenn sichder Unfallverursacher (z. B. vom erledigten Einkauf zurückkehrend) in das auf dem Park-platz stehende, entweder ausgekühlte oder aufgeheizte Kfz begibt und alsbald durch Ein-schalten der Klimaanlage eine behagliche Atmosphäre im Fahrzeug herzustellen versuchtwird.

Es ist also eher selten der Fall, dass der Innenraum wohl temperiert und leise ist undman sich nur noch auf das Kollisionsgeräusch zu konzentrieren hat, das natürlich umsobesser wahrgenommen wird, wenn auch der „visuelle Eindruck stimmt“.

Auch an dieser Stelle sei auf die Vielzahl der Einflussfaktoren hinsichtlich der akus-tischen Wahrnehmbarkeit von HOLTKÖTTER [H2] hingewiesen, Abb. 4.12. Dort stehtwiederum in der Mitte die akustische Wahrnehmbarkeit und umliegend diverse Ebenenvon Einflusselementen.

Diese Übersicht führt noch einmal vor Augen, dass die vom Fahrzeug verursachtenGeräusche, die nicht nur vom Typ bzw. von dessen Zustand, sondern auch vom Betriebs-zustand (Drehzahl, Kupplung, . . . ) abhängig sind, in ihrer Gesamtheit zu beurteilen sind.

Auf der anderen Seite sind neben der maßgeblich beeinflussenden (subjektiv eingestell-ten) Musikanlage auch die Lüftereinstellung (eventuell Klimaautomatik), eine eventuelleUnterhaltung, Klappergeräusche . . . zu nennen, die allein für sich betrachtet nicht un-bedingt geeignet sind, ein Kollisionsgeräusch zu überdecken; in ihrer Summe aber eine

Page 39: Leichtkollisionen ||

4.2 AkustischeWahrnehmung 31

Abb. 4.12 Einflussfaktoren auf die akustischeWahrnehmung [H2]

erhebliche Reduktion der Wahrnehmbarkeit zur Folge haben. Entscheidend ist dabei auchdie Geräuschform, d. h. die Frequenz, Amplitude, Zeitstruktur und der Übertragungsweg,also Luft- oder Körperschall der Stör- wie auch der Kollisionsgeräusche.

Die Einstufung der Lautstärke von Kollisionsgeräuschen gestaltet sich eher schwierig,da die aus den Fahrzeugschäden eventuell noch ablesbareKollisionsgeschwindigkeit hierzunicht direkt proportional ist.

Bei quasistatischen Krafteinwirkungen z. B. entstehen insgesamt nur geringe Lautstär-ken – erst am Ende des Kontaktes kann dann ein tieffrequentes Geräusch durch eine

Page 40: Leichtkollisionen ||

32 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

elastische Rückverformung einer z. B. hochelastischen Kunststoff-Stoßstangenecke entste-hen.Dann,wenn karosseriegebundeneBauteile des stoßendenKfzmitbeaufschlagtwerden(z. B. Fahrzeugrad, Außenspiegel . . . ), kann es zur Körperschallübertragung kommen, mitdann deutlich geringeren Lautstärkepegelabnahmen als im Falle der Luftschallweiterlei-tung.

Wie schon bei der visuellenWahrnehmbarkeit nimmt (gemäßAbb. 4.12) auch hier nachaußen hin die Bedeutung der Parameter ab, wenngleich man sie deswegen aber nicht außerAcht lassen darf.

Ähnlich wie bei der optischenWahrnehmbarkeit hängt also die Frage des Hörens einesKollisionsgeräusches maßgeblich von sehr vielen Parametern ab, die sie letztendlich zu ei-ner eher „unsicheren“Wahrnehmungsformwerden lässt, was aber nicht bedeuten soll, dasssie unter gewissen Umständen nicht auch bejaht werden muss. Man hat sich aber schonumfänglichst mit den Randbedingungen der Unfallszene auseinanderzusetzen, um demnicht unerheblichen Vorwurf der Unfallflucht gerecht zu werden.

4.3 Wahrnehmbarkeit kollisionsbedingter Verzögerungen (taktil)

Als Schlagwort, die Fühl- oder Spürbarkeit einer Kollision bezeichnend, liest man oftmalsden Fachbegriff der „taktilen“ Registrierung von Anstößen.

Die taktile Wahrnehmung bedingt die Registrierung von entsprechenden Reizen durch(die in der Haut liegenden) „Mechanorezeptoren“. Sie umfassen alle Sensoren, die in derHaut des Menschen für eine Reizwahrnehmung verantwortlich sind. Dadurch ist soforteineAbgrenzung zu anderen Sinnesorganen, die sich z. B. imKopf befinden (Sehen,Hören,Gleichgewichtssinn), gegeben.

Die menschliche Haut besitzt verschiedene Arten von Mechanorezeptoren, die hiernicht gesondert vorgestellt werden sollen. Es sei nur soviel erwähnt, dass sie sich durchein unterschiedliches Empfindungsverhalten auszeichnen. Unter Laborbedingungen rei-chen selbst geringste Hauteindruck- oder Verformungstiefen, um eine Berührung fühlbarwerden zu lassen. Die Dichte der vorgenannten Sensoren ist insbesondere an den Händen,den Fingern und auch der Fußsohle besonders hoch.

Hier ist der Begriff der so genannten simultanen Raumschwelle einzuführen, der besagt,wie weit zwei Hautreizungen (Belastungen durch einen z. B. geöffneten Zirkel) auseinanderliegen dürfen, damit sie noch als zwei Sinnesempfindungen registriert werden.

Während die Öffnungsweite des Zirkels an den Tastorganen, also z. B. der Zeigefinger-spitze, nur sehr klein zu sein braucht (hier ca. 3mm), nimmt sie in Bereichen, die nichtzum Tasten benutzt werden, um ein Vielfaches höhere Werte an (z. B. am Rücken um denFaktor 30).

Zu erwähnen ist noch, dass z. B. behaarte Körperregionen, wie Arme oder Beine mitzusätzlichen Sensoren ausgestattet sind, die ebenfalls durchaus geringe Ansprechschwellenbesitzen.

Page 41: Leichtkollisionen ||

4.3 Wahrnehmbarkeit kollisionsbedingter Verzögerungen (taktil) 33

Auch werden taktile Reize von Personen individuell unterschiedlich empfunden. Dieskonnte von Sinnesphysiologen in Versuchen, in denen die Abhängigkeit der Druck-empfindung von der Reizstärke bestimmt wurde, belegt werden. Untersuchungen vonSchmidt [S1] zeigten nämlich, dass bei experimentell erzeugten Drücken gleicher Stär-ke (auf die Probandenhaut) Abweichungen in der Intensitätszuordnung von bis zu 60%vorkamen. Bei der Beurteilung der taktilen Registrierung ist also stets das individuelleReizempfinden des Einzelnen zu betrachten.

Der Unfallverursacher sitzt aber nicht in dem Labor eines Sinnesphysiologen sondernin einem „unruhigen“ System, also seinem Pkw, der im Fahrbetrieb z. B. durch Unebenhei-ten der Fahrbahn noch zusätzlich „schwingungstechnisch“ belastet wird. Auf der anderenSeite kann der Insasse (oder die Mitinsassen) natürlich auch durch z. B. eigene Bewegun-gen (um eine sichere Fahrzeugführung zu gewährleisten) Schwingungen auf das Kfz oderzumindest auf seinen Sitz ausüben, die dann wiederum Einfluss auf die Wahrnehmbar-keit einer Kollision in Form von Verwechslungs- oder Verdeckungsmöglichkeiten habenkönnen.

Die taktile Wahrnehmbarkeit erfordert also eine ähnliche Betrachtungsweise wie dieakustische, da die durch eine Kollision ausgelösten Schwingungen aus einem riesigen Kon-glomerat von Betriebsschwingungen signifikant herausstehen müssen, um überhaupt re-gistriert zu werden.

Ein Kfz wird in der Fahrzeugdynamik als Schwingungssystem betrachtet, das aus Mas-sen, Federn und auch Dämpfungselementen zusammengesetzt ist. Um eine aussagekräf-tige Beurteilung des Schwingungsverhaltens im Kollisionsablauf zu erhalten, wären allemiteinander in Verbindung stehenden Schwingungssysteme zzgl. äußerer Beeinflussungen(Fahrbahnunebenheiten z. B.) in einer aufwendigen Berechnung zu vereinen, um die Fra-ge der auf den Insassen wirkenden Schwingungsanteile zuverlässig beurteilen zu können.Solche Rechenkapazitäten stehen dem Unfallanalytiker nicht zur Verfügung und würdenden Sinn einer Begutachtung auch ad absurdum führen. Eine theoretische Betrachtung derdurch Bagatellunfälle entstehenden Schwingungen gestaltet sich also viel zu schwierig undist mithin für den forensisch tätigen Gutachter ein ungeeignetes Instrument.

Analog zur Übertragung des Körperschalls werden Schwingungen, so auch solche, diedurch ein Unfallgeschehen erzeugt wurden, bis in den Innenraum der Fahrgastzelle über-tragen.

Die Einwirkung auf den Fahrer erfolgt über die Kontaktstellen zwischen ihm und demFahrzeug. Sie liegen üblicherweise imBereich folgender Fahrzeug-Mensch-Konstellationen:

• Pedal-Fuß• Sitz-Gesäß• Lenkrad-Handinnenflächen• Lehne-Rücken.

Diese unterschiedlichen Kombinationen führen beim Insassen zu einem mehraxialenSchwingungszustand. Es ist nicht nur die Intensität der Kfz-Schwingung bedeutsam, son-

Page 42: Leichtkollisionen ||

34 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

dern auch die Frequenz, ist ja auch der Mensch ein schwingungsfähiger Körper. Autofah-ren ist mithin kein eindimensionaler Vorgang; vielmehr werden die unterschiedlichstenSchwingungen, translatorischer wie rotatorischer Art, aufgenommen.

Die an den oben genannten Kontaktstellen auftretenden Schwingungen werden nichtim gleichen Wahrnehmungsbereich registriert, da letztlich die Reizschwellen und die An-zahl der Rezeptoren „amMenschen“ viel zu unterschiedlich sind.

Zurückgreifend auf die oben genannte letzte Kontaktstelle, ist anzumerken, dass natür-lich dem Sitzkomfort eine nicht unerhebliche Rolle zukommt. Nimmt man hier z. B. einenLkw-Fahrer, der in der Regel auf einem luftgefederten Sitz „thront“, so zeigt sich schon, wiestark Fahrersitze schwingungstechnisch von derGesamtkarosserie entkoppelt sein können.

Auch ist es in der Regel so, dass der Fahrzeugführer bekleidet fährt, d. h. auch denDämpfungseigenschaften seiner Oberbekleidung ausgesetzt ist. Wird z. B. ein Fahr-zeug vom Fahrer „in einem dicken Wintermantel“ gelenkt, so ist ein Kollisionsgesche-hen taktil natürlich deutlich schlechter wahrnehmbar, als wenn man „leicht“ bekleidetwäre.

Ähnlich gestaltet es sich bei den ersten beiden Kontaktstellen, nämlich zwischen Pedaleund Fuß sowie zwischen Sitz und Gesäß, sind auch hier stets dämpfende Materialien beimBetrieb eines Kfz anzutreffen, sei es im Extremfall der hochgedämpfte Joggingschuh oderdie wattierte Thermohose auf sitzerhöhendem Kissen.

Eigentlich besitzen nur die Hand bzw. deren Innenflächen direkten Kontakt mit einemmehr oder minder fest mit der Karosserie verbundenen Bauteil, nämlich dem Lenkrad.

War das Lenkrad in älteren Kfz so z. B. einem alten VW-Käfer, noch aus unnachgiebi-gen, hartenMaterialien gefertigt, so sind heutzutage die Lenksäulen selbst schon gedämpftund im Übrigen die Lenkräder merklich stärker gepolstert. Nicht selten befinden sich imGriffbereich der Hand, also am Lenkrad diverse Taster und Schalter (Multifunktionslenk-rad), z. B. für die Einstellung des Radioprogramms etc., die dann auch bedient werden(stetige Anregung der „Handinnensensoren“).

Im Zuge von Rangiermanövern wird das Lenkrad nicht konstant fest in den Händengehalten, sondern ständige Umgreifbewegungen werden vollzogen, die zu einer steten Rei-zung der (insoweit für die taktile Wahrnehmbarkeit empfindlichen) Sensoren führen.

All dies zusammengenommen demonstriert, dass auch die taktile Wahrnehmungsformeiner erheblichen Fülle von Einflussfaktoren ausgesetzt ist, wie die Abb. 4.13 (HOLTKÖT-TER [H2]) zeigt.

Die den Unfall betreffenden Elemente „münden“ nach außen in (4. Ebene) kollisions-mechanische Begriffe, wie Kollisionsdauer, Ruck, Anstoßwinkel etc. Da dem Gutachteraber „nur“ die Schadensbilder zur Verfügung stehen und man diesen z. B. nicht die sehrwesentliche Kollisionsdauer ansieht, ist selbst die Prüfung einer eventuell taktilen Wahr-nehmbarkeit ohne geeignete, gut dokumentierte Crash-Versuche unmöglich.

Die Quintessenz also ist, dass, ebenso wie bei der akustischen Wahrnehmbarkeit, dietaktile Bemerkbarkeit (für sich alleine genommen) auf eher „wackeligen Füßen“ steht, dadieMenge der Einflusselemente zu groß und letztlich nicht so eng fassbar ist, dass in grenz-wertigen Fällen eine einigermaßen sichere Beweiskette gelingt.

Page 43: Leichtkollisionen ||

4.3 Wahrnehmbarkeit kollisionsbedingter Verzögerungen (taktil) 35

Abb. 4.13 Einflussparameter auf die taktile Wahrnehmbarkeit

Page 44: Leichtkollisionen ||

36 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

4.4 Fühl-/Spürbarkeit von Leichtkollisionen

Die beweissicherste Wahrnehmungsform wird über das so genannte Vestibularorgan er-reicht, das im Innenohr des Menschen sitzt. Es registriert Beschleunigungen (respektiveVerzögerungen), sofern sich diese schnell einstellen bzw. gleichermaßen wieder abbauen.

Oftmals wird auch von der so genannten kinästhetischen Wahrnehmung gesprochen,die die Aufnahme von entsprechenden Reizen durch den Gleichgewichtssinn bzw. die Be-wegungswahrnehmung beinhaltet. Hier gehen die Meinungen bzgl. der Begriffsbildun-gen in der „Sachverständigenwelt“ bisweilen recht weit auseinander, sodass im Weiterendiese Fachbegriffe nicht überstrapaziert werden sollen, sondern vereinfachend als Fühl-/Spürbarkeit der Kollision benannt werden.

Es ist auch verzichtbar, den genauen Aufbau des Vestibularapparates im menschlichenInnenohr vorzustellen, es kommt imWesentlichen darauf an, was damit letztlich registriertwerden kann.

Es sei schon hier erwähnt, dass jenes Gleichgewichtsorgan im Innenohr, also der Vesti-bularapparat, einer erwiesen geringeren Anzahl von beeinflussenden Faktoren ausgesetztist, wie alle drei vorangegangenen Wahrnehmungsquellen. Die Abb. 4.14 kann schon imVergleich zu den weiter oben genannten Flussdiagrammen unmissverständlich der gerin-gere (äußere) Parameterumfang entnommen werden.

So nehmen hier erkennbar quasi nur die von einer Kollision verursachten Änderungennennenswerten Einfluss. Effekte wie Insassenbewegungen oder die durch den Betriebszu-stand des Kfz hervorgerufenen Schwingungen sind vernachlässigbar.

Allerdings kann auch diese Wahrnehmungsform durch Alkoholkonsum, Drogenein-nahme, usw. beeinflusst werden.

Selbstverständlich kommt es bei der Beurteilung der kinästhetischen oder vestibulä-renWahrnehmbarkeit auf die Kollisionseigenschaften, wie die Geschwindigkeitsänderung(positiv oder negativ) an. Die Insassenbewegung spielt eine Rolle, wie auch die kollisions-unabhängige Fahrzeugreaktion, sei es durch gewolltes Abbremsen oder Gasgeben.

Auch das Fahrzeug selbst, also dessen Fahrwerk, Antrieb etc. ist bedeutsam, was imEinzelfall zu berücksichtigen ist. Es liegt auf derHand, dass in einem (aufgrund erheblichenFahrzeugalters) verschlissenen Fahrwerk die Fühlbarkeit eines Unfallgeschehens deutlichschwieriger ist, als in einem baugleichen, quasi neuwertigen Kfz, mit straffem Fahrwerk.

Generell kann aber gesagt werden, dass man es hier mit der sichersten Form derWahr-nehmung von Leichtkollisionen zu tun hat, da es insgesamt nur wenige Verdeckungsei-genschaften gibt. Die im Innenohr befindlichen Rezeptoren besitzen eine recht niedrigeAnsprechschwelle.

In Laborversuchen wurden Werte von 0,02 bis 0,2m/s2 für die ebene Bewegungsrich-tung (vorwärts/rückwärts/seitwärts) bestimmt – in vertikaler Richtung waren es gar nur0,04 bis 0,12m/s2. Diese Werte sind also nicht alsWahrnehmungsschwellen für den realenUnfall anzusehen (da Laborwerte), zeigen aber die Empfindlichkeit dieses Sinnesorgans.

Zur Begriffsbestimmung ist abschließend noch zu sagen, dass sich die kinästhetischeWahrnehmbarkeit zusammensetzt aus dem Lage-, Kraft- und Bewegungssinn, also quasi

Page 45: Leichtkollisionen ||

4.4 Fühl-/Spürbarkeit von Leichtkollisionen 37

Abb. 4.14 Einflussfaktoren auf die vestibular-kinästhetischeWahrnehmbarkeit [H2]

eine Eigenwahrnehmung des Körpers darstellt. Sie ist eng verwandt mit der vestibulärenWahrnehmung, durch die Lageveränderungen undLagewechsel des Körpers bzw. auchRo-tationen registriert werden.

Diese Wahrnehmungsform bedingt also das Registrieren irgendeiner Veränderung derKörperlage.

Page 46: Leichtkollisionen ||

38 4 Grundsätzliches zur Wahrnehmbarkeit

Ist sie als gesichert anzusehen, so bedeutet das aber noch nicht, dass diesem Reiz nunauch zwingend eine Kollision zugeordnet wird. Man muss sich daher Gedanken darübermachen, welche technisch relevanten Parameter vorliegen müssen, um letztgenannte, ent-scheidende Überzeugung für einen akuten Parkplatzunfall zu gewinnen.

Es ist nur logisch, dass man sich bei der Beantwortung der oftmals seitens der Ermitt-lungsbehörde gestellten Frage, ob das Unfallgeschehen für den Beschuldigten wahrnehm-bar gewesen sein muss, vornehmlich mit dieser Form der Registrierung auseinanderzuset-zen hat.

VomVestibulärapparat werden letztlich die durch die Kollision verursachten Nick- undWankbewegungen, die beim Kfz typischerweise mit 1Hz erfolgen, wahrgenommen. Da-her sind Verdeckungseffekte wie durch Bewegungen des Kopfes oder Umdrehen insgesamtunwahrscheinlich.

Page 47: Leichtkollisionen ||

5Bisherige, versuchsorientierte Veröffentlichungen

5.1 Wesentliche Parameter

Als Standardwerke, letztgenannte Problematik betreffend, haben sich die Arbeiten vonWELTHER [W1] (Anfang der 1980er-Jahre) und von WOLFF [W2] (Anfang der 1990er-Jahre) herauskristallisiert.

In letztgenannter Veröffentlichung beschäftigte sich der Verfasser mit den kollisions-bedingten und kollisionsunabhängigen Fahrzeugverzögerungen aus Fahrversuchen. Diesewurden messtechnisch erfasst und in ihrem zeitlichen Verlauf analysiert. Es wurde hierausein Kriterium für die so genannte sichere Wahrnehmbarkeit von Fahrzeugverzögerun-gen bzw. Geschwindigkeitsänderungen im unfallverursachenden Fahrzeug entwickelt. ImGrunde genommen wurde erstmals so etwas wie eine praxisnahe „Wahrnehmbarkeits-schwelle“ definiert.

DasMaß der Dinge, also die Frage der Fühlbarkeit vonmit Kollisionen einhergehendenFahrzeugverlangsamungen oder Beschleunigungen hängt nämlich nicht nur von der Höhedes Maximalwertes der Verlangsamung, sondern insbesondere vom zeitlichen Anstieg desSignals ab.

Es leuchtet ein, dass eine stark streifende Kollision, die in der Regel eine lange Be-rührstrecke zweier Kfz bedingt, auch zeitlich ausgedehnt ist. Selbst wenn es hier zu einerdeutlichen Fahrzeugverlangsamung des unfallverursachenden Kfz kommt, so ist doch dasZeitfenster, bis dessen Maximalwert erreicht wird, recht groß.

Anders verhält es sich bei teilelastischen Kollisionen, beispielsweise einem Auffahrun-fall, bei dem in der Regel hohe Verzögerungswerte in relativ kurzen Anstiegszeiten auftre-ten. Erstgenannte Streifkollision bezeichnet man daher als weichen „Stoß“, letztgenannteseher kurzes Kollisionsgeschehen erzeugt einen harten „Ruck“.

WOLFF führte eine Vielzahl von praktischen Fahrversuchen durch, bei denen Pro-banden (in einem Kfz) Fahrzeugverzögerungen im Kfz-Fahrbetrieb zu registrieren hatten.Unterschieden wurde dabei zwischen Versuchen abgelenkter Probanden (Ablenkung z. B.

39K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_5,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 48: Leichtkollisionen ||

40 5 Bisherige, versuchsorientierte Veröffentlichungen

Beschleunigung - Anstiegszeit

0

1

2

3

4

5

6

0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2

Anstiegszeit t [s]

Ver

zöge

rung

[m/s

²]

Grenzlinie nach Wolff

Abb. 5.1 „Wahrnehmbarkeitsgrenze“ nachWOLFF

durch einVideospiel) und solchen, die es nicht waren. Es wurden also keine realen Kollisio-nen gefahren – auch wurde im Versuchsablauf nicht geprüft, ob es „Verdeckungserschei-nungen“ gab, die neben einem gewissen Ablenkungsgrad das Wahrnehmungsvermögenzusätzlich beeinträchtigen können. Hierzu wurden eigens Versuchsfahrten durchgeführt,um diesen Einfluss empirisch einstufen zu können.

Leicht nachvollziehbar kam er zu dem Ergebnis, dass geringere Verzögerungssignaledann wahrgenommen werden, wenn der Proband nicht abgelenkt war. So lag die Wahr-nehmungswahrscheinlichkeit bei einem Verzögerungssignal von 0,4m/s schon bei etwa40%. Genau diesen Sachverhalt trifft man an, wenn man im „Selbstversuch“ die Intensitätdes Kollisionsrucks zu beurteilen versucht. Es liegt auf der Hand, dass man bei konzen-trierter Aufmerksamkeit schon leichte Veränderungen im Bewegungsverhalten des Pkwregistriert – ein im alltäglichen Verkehrsgeschehen allerdings eher selten anzutreffenderVorgang.

Im umgekehrten Fall, nämlich bei abgelenkten Probanden und einem sehr langsamenSignalanstieg, wurden selbst Verzögerungen von bis zu 3,5m/s nicht (sicher) registriert.

Die Abb. 5.1 zeigt eben jene Abhängigkeit zwischen der so genannten Anstiegszeit (alsodem Zeitfenster zwischen dem Beginn der Verzögerung und dem Erreichen des Spitzen-wertes) sowie demMaximalwert der Verzögerung/Beschleunigung selbst. Die Einheit dortist mg, wobei 100mg etwa 1m/s entsprechen.

Genau genommen stellt die Grenzlinie im Diagramm nicht die eigentliche Wahrnehm-barkeitsschwelle dar – vielmehr ist es das, für diesen Versuchsaufbau „worst-case“-Limit,

Page 49: Leichtkollisionen ||

5.1 Wesentliche Parameter 41

Abb. 5.2 BRK nachWOLFF

ab dem keinem Probanden der Versuchsreihe ein induziertes Verzögerungssignal mehrentging.

Man würde es sich aber zu einfach machen, allein diesen grafischen Zusammenhangals ultimatives „Maß der Dinge“ heranzuziehen, besagt er doch lediglich, dass etwas ge-spürt oder gefühlt wurde, wobei noch nicht geklärt ist, ob es sich auch tatsächlich um einKollisionsgeschehen handelt.

Diese Registrierung wird maßgeblich vom Kollisionscharakter beeinflusst. Es leuchtetein, dass ein kurzzeitiger, harter Fahrzeug/Fahrzeug-Kontakt viel weniger in das „Verwech-selungsspektrum“ einer gewollten Pkw-Bremsung hineinpasst, werden harte, kurze Brem-sungen in aller Regel in Gefahrensituationen induziert – also anlässlich eines Ereignisses,dem eine erkannte oder bemerkte Gefahr vorausging.

In seiner weiteren Ausarbeitung entwickelte WOLFF auch eine Abhängigkeit zwischender Wahrnehmbarkeit des Verzögerungs- oder Beschleunigungssignals und dem so ge-nannten „Ruck“.

Mit dem hierüber kreierten „Beschleunigungs-Ruckkriterium (BRK)“ war eine weitereBeurteilungsgröße gefunden, wenngleich man hier nochmals anführenmuss, dass sich dieErgebnisse auf reine Fahrvorgänge beziehen.

InAbb. 5.2 ist anstelle derAnstiegszeit in [s] der Ruck in [mg/s] aufgetragen. Er definiertsich als Quotient aus der Beschleunigung (Verzögerung) a in [m/s2] und der Anstiegszeitt in [s].

Page 50: Leichtkollisionen ||

42 5 Bisherige, versuchsorientierte Veröffentlichungen

Sämtliche Versuchswerte fanden auch in diesem Diagramm Einzug – die Grenzkurveverläuft hier nicht mehr linear und kann mathematisch wie folgt beschrieben werden:

agrenz =C ⋅ Ruck(Ruck − B)

mit B = und C = .

Viel praktikabler ist nach Autorenansicht aber das weiter oben abgebildete Diagrammmit den Parametern Anstiegszeit und Beschleunigung, da die BRK-Kurve bzw. dasBeschleunigungs-Ruckkriterium im Grunde genommen eher eine weniger übersichtli-che Weiterentwicklung erstgenannter Korrelation ist.

Zur insoweit „praktikableren“ Abb. 5.1 ist auszuführen, dass dort ausschließlich allenicht wahrgenommenen Versuche beachtet wurden, was bedeutet, dass natürlich unter-halb der (als Gerade eingezeichneten) so genannten „Grenzkurve“ auch Versuchswertelagen, die vom Probanden sicher registriert wurden. Diese sind aber im Rahmen der Er-mittlungstätigkeit (im Sinne: in dubio pro reo) wohl weniger interessant, da aufseiten derVerteidigung niemand behaupten wird, seine Mandantschaft gehöre zu dieser sensiblenGruppe.

Liest man beispielsweise für eine teilelastische, harte Kollision, die bei einem stumpf-winkeligen Auffahrunfall eine Anstiegszeit von etwa gut 0,1 s nach sich zieht, einen zurRegistrierung der Beschleunigung bzw. Verzögerung notwendigen Spitzenwert von etwa130mg ab, so ist bei einer schrägwinkeligeren Fahrzeugkontaktierung (mit einer dannrelevanten Anstiegszeit von 0,3 s) ein Wert von bereits ca. 200mg (bzw. 2m/s) für dieRegistrierung der Verzögerung oder Beschleunigung notwendig.

WOLFF leistete letztlich mit seiner im Jahre 1992 abgefassten Untersuchung quasi einePionierstudie in Sachen Beurteilung von Unfallfluchtdelikten. Nachdem mehr als einein-halb Jahrzehnte nur relativ wenig neue Erkenntnisse auf diesem unfallanalytisch wesent-lichen Sektor veröffentlicht wurden, haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, zunächst imRahmen von realen Unfallversuchenmit (insoweit) abgelenkten Probanden die so genann-te Wahrnehmungsschwelle bzw. die Grenzkurve nach WOLFF zu prüfen bzw. auch nachDurchführung von realen Unfallgeschehen ggf. zu korrigieren.

Hierzu erschien aus unseremHause vor nicht allzu langer Zeit eine Veröffentlichung inder Fachzeitschrift „Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik“ [S3].

Daraufhin gab es eine Korrespondenz mit H. Dr. Wolff, in der er sinngemäß mitteilte,dass die hier gewonnenen Erkenntnisse ggfs. dahingehend zu relativieren seien, dass dieWahrnehmung einer, durch eine Bremsung überlagerten Kollision von einer Person, diedas Fahrzeug auch aktiv (selber) führt, deutlich sicherer wäre, als von einem „Mitinsassen“im Kfz, der zudem durch anderweitige Aufgaben abgelenkt ist.

Wenngleichman sich diesemEinwandnicht sofort anzuschließen vermag (der Probandsitzt ja nun einmal im Kfz), wurde er dennoch zum Anlass genommen, den Versuchsauf-bau zu optimieren, indemnämlich der Proband fahrzeugführend einer, im Fahrbetrieb von„außen“ induzierten, zusätzlichenVerzögerung ausgesetztwurde.Hierüberwar esmöglich,zu bestimmen, welche Bedeutung eine nahe des Kollisionsereignisses vom Fahrzeugführer

Page 51: Leichtkollisionen ||

5.1 Wesentliche Parameter 43

willentlich eingeleitete Bremsung für die Wahrnehmbarkeit des Unfalles (oder Verzöge-rungssignals) hat bzw. ob diese dann auch als solche wahrgenommen wird.

Letztgenannte Untersuchungen wurden von SCHÖNFELD [S2] sowie von THIEN [T1](statistische Absicherung durch weitere Versuchswerte) angegangen.

Gerade diese neuen Untersuchungen führen zu dem bereits zuvor prognostizierten,erheblichen Einfluss einer etwaigen überlagerten Bremsung zum Zeitpunkt des Kollisions-geschehens.

Dass ein solcher Verzögerungsvorgang seitens des Unfallverursachers nahe des eigentli-chen Kollisionsereignisses oder quasi zeitgleich mit ihm eingeleitet wird, ist alles andere alsrealitätsfern, wenn man das oft nachzulesende Argument beachtet, aufgrund der beengtenParkplatzverhältnisse müsse man doch mit einem Fahrzeugkontakt rechnen.

Dann ist es doch wohl so, dass man sein Fahrzeug bewusst verzögert und infolge je-ner Bewegungsveränderung ein objektiv stattgefundenes Kollisionssignal in derWahrneh-mung entweder abgeschwächt oder gar nicht mehr als solches erkannt wird.

Page 52: Leichtkollisionen ||

6Ergebnisse eigener Studien

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen

Die in unseremBüro erstmals betreute Diplomarbeit zur oben genannten Problematik ent-stand im Jahr 2006.

DEEKEN [D1] durchfuhr mit einer Probandengruppe, die optisch wie akustisch vonder Außenwelt isoliert war, einen Parcours. Entlang der festgelegten Fahrstrecke fandeninsgesamt vier Einzelversuche statt:

1. Bremsversuch – rückwärts gefahren2. Kollisionsversuch – vorwärts gefahren3. Bremsversuch – vorwärts gefahren4. Kollisionsversuch – rückwärts gefahren.

Die Versuchsteilnehmer hatten die Aufgabe, das jeweilige Kollisionsereignis möglichstzu registrieren, wobei in Analogie zum Versuchsaufbau von WOLFF der Proband im un-fallverursachenden Kfz visuell und akustisch abgeschirmt war.

Beim Versuchsfahrzeug handelte es sich um einen VW T4-Doppelkabine (Pritsche).Der Proband nahmhinten rechts im Fahrzeug Platz. Dieser Bereich war vollständig ab-

geklebt, sodass die Umgebung nicht eingesehen werden konnte. Außerdem hatte er/sie dieAufgabe, einen Videofilm aufmerksam zu verfolgen (aufgesetzte Kopfhörer), da im An-schluss der Versuchsdurchführung ein Fragebogen zur Filmthematik auszufüllen war.

Das in den Versuchen eingesetzte Fahrzeug ist in der Abb. 6.1 zu sehen. Dort sieht manden VWT4-Doppelkabiner aus dem Baujahr 1994. Ausgerüstet war er mit einem 2,4 l Die-selmotor – das Leergewicht lag bei 1775 kg.

Die genauen technischen Daten sind eher belanglos, da ja den Fahrzeugverzögerungenim Realversuch (und der jeweiligen Anstiegszeit) die Hauptbedeutung zukommt.

45K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_6,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 53: Leichtkollisionen ||

46 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.1 Versuchsfahrzeug VW T4

Um die mit der Kollision bzw. den Verzögerungsversuchen auftretenden Signale regis-trieren zu können, wurde ein Datalogger DL1 der Firma Race Technology im Aufenthalts-bereich des Probanden (nahe der Rücksitzbank) montiert.

DasGerät ist in der Lage, Beschleunigungen (Verzögerungen) sowieGeschwindigkeitenzu messen. Basis für die Registrierung erstgenannter Parameter ist ein integrierter Be-schleunigungssensor, der Spitzenwerte bis zu ca. 2 g (20m/s2) verarbeiten kann.

Gemessen wird in zweiachsiger Richtung, nämlich im Versuchsablauf in Längs- wie inQuerrichtung.

Ferner ist das Gerät mit einem GPS-Empfänger gekoppelt, mit dessen Hilfe die Kfz-Positionsänderungen registriert werden (und in Abhängigkeit der Messzeit auch die Ge-schwindigkeit).

Über eine Schaltbox können analoge Signale in die Messspektren integriert werden,womit es unter anderemmöglich ist, das eventuelle „Registrierungssignal“ des Probandenzeitnah aufzuzeichnen.

Der vom Datalogger realisierbare, maximale Pegel von 2 g reicht für die Messwertauf-bereitung von Leichtkollisionen allemal aus, bewegt man sich hier allenfalls in 25%igerGrößenordnung – im Übrigen liegt die Auflösung bei immerhin 0,005 g, was 0,05m/s2

entspricht. Die Abtastrate beträgt bei diesem Gerät 100Hz (Abb. 6.2).Mit Hilfe dieses Messinstrumentes konnten die bei den Versuchsfahrten auftretenden

Verzögerungssignale gespeichert werden. Zeitgleich wurde mittels GPS-Signal dann auchdie Fahrtroute festgehalten.

Der Proband konnte mit einemTaster das von ihm ggf. wahrgenommene Signal quittie-ren. Diese Einrichtung lieferte ein „Rechtecksignal“ in der Datalogger-Aufzeichnung, wor-über festzustellen war, welches Verzögerungsereignis vomVersuchsfahrer (wann) wahrge-nommen wurde.

Page 54: Leichtkollisionen ||

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen 47

Abb. 6.2 Innenraummit Messinstrumenten

Abb. 6.3 Verzögerungsverlauf einer Rückwärtsbremsung

Im Verlaufe der Versuchsdurchführung wurde die Intensität der Abbremsung respekti-ve des stattgefundenenUnfallereignisses langsam gesteigert, um letztlich die Versuchsfahrtmit einer kurzen Verzögerungsanstiegszeit, also einem merklichen Ruck, zu beenden. Indem ersten, rückwärts durchgeführten Bremsversuch traten Verzögerungssignale von 1,1bis hin zu 3m/s auf. Die Abb. 6.3 zeigt exemplarisch den Verzögerungsverlauf im Rah-men einer solchen Rückwärtsbremsung. Der Einfluss der Querbeschleunigung, also ein-fach ausgedrückt seitlichen Wankbewegung des Kfz, war dabei vernachlässigbar gering.

Wie man der blauen Längsbeschleunigungskurve entnehmen kann, trat in diesem Ver-such bei einer (ausgedehnteren) Anstiegszeit von ca. 0,5 s eine Maximalverzögerung von2,2m/s auf.

Im Rahmen der Kollisionsversuche traf der oben genannte VW T4 einen Opel Astra Fan dessen Seite. Dieser entstammte dem Baujahr 1993 und verfügte über ein Leergewicht

Page 55: Leichtkollisionen ||

48 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.4 Vorwärtskollision(Prinzipskizze)

von 1025 kg. Das Massenverhältnis der „Kontrahenten“ lag also bei etwa 2:1 (Insassen imT4 beachtend).

Es wurden somit imVersuchsablauf auch zwei reale Kollisionen gefahren, die aus einemflüssigen Fahrvorgang resultierten (also zuvor kein Halt des Verursacher-Kfz).

Beispielhaft zeigt die Abb. 6.4 die Vorwärtskollision in einer Grafik. Der VWT4 wurdein einer Bogenfahrt streifend an der Opel-Seite entlanggeführt. Es wurden im Rahmendieses Kollisionsversuches Längsverzögerungen von bis zu 2m/s registriert.

Der vom Versuchsfahrer eingehaltene Kollisionswinkel schwankte dabei zwischen ca.15 und 20°. Der Grund dieses flach gewählten Winkels ist die gute Vergleichbarkeit zurealen Unfällen im Rahmen von Ein- und Ausparkvorgängen. Zudem wurde der VW T4infolge dieses Unfallgeschehens nur vergleichsweise gering belastet, sodass eine Fülle vonKollisionsversuchen, ohne dass sich die Fahrzeugstruktur nennenswert änderte (bzw. be-schädigt wurde), gefahren werden konnte.

Über „Peilhilfen“ (Pylone) in Kollisionsortnähe wurden die Versuche mit einer rechtgroßen Präzision in puncto Anstoßwinkel, Erstkontaktpunkt und Kollisionsdauer wieder-holt.

In der nachfolgenden Bildreihe sind einige Momentaufnahmen des Unfallablaufes (inder Draufsicht) zu sehen. Unschwer erkennt man, dass im 5. Momentanfoto (Foto E) derTransportermit derKarosseriefläche, oberhalb des Stoßfängers gelegen, fast an der Fondin-sassentür des gegnerischen Opel Astra anliegt – hier ist (für diesen Versuch) die maximaleEindringtiefe erzielt worden. In den dann Abb. 6.5 und 6.6 lösen sich die Kfz wieder von-einander.

Page 56: Leichtkollisionen ||

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen 49

Abb. 6.5 Videostandbilder der „Vorwärtskollision“

Page 57: Leichtkollisionen ||

50 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.6 Rückwärtskollision (Prinzipskizze)

Hier ist der VW T4 im Übrigen der wenig nachgiebigen B-Säule des Opel Astra nahe –ein Kontaktpunkt, mit dem per se viele Fachleute eine „harte Kollision“ und dann vor-schnell auch eine sichere „taktile Wahrnehmbarkeit“ verknüpfen.

Selbige wurde dann auch in den Versuchsfahrten regelmäßig überquert – mit dem Er-gebnis eines längst nicht immer wahrgenommenen „Kollisionsereignisses“.

Die oben genannte Reihenfolge der vier Einzelereignisse wurde strikt eingehalten –nach dem 1. Vorwärtskollisionsversuch gab es nachfolgend eine reine Abbremsung, be-vor dann abschließend ein weiterer, jetzt aber rückwärts gefahrener Crash durchgeführtwurde.

Wie man erkennt, wurde nach Stillstand dieses Kfz aus der Vorwärtsbremsung dieRückwärtsfahrt eingeleitet und dann im Rahmen einer S-Bogenlinie der wiederum seit-lich abgestellte Opel Astra getroffen. Bei dieser 2. Kollision wurden vom VersuchsfahrerWinkel von ca. 10 bis 15° eingehalten. Auch hier wurde stets die B-Säule überfahren, mitbereits oben genanntem Resultat.

Zu erwähnen ist noch, dass nach jeweils ca. 10 durchgeführten Versuchen die vorde-re Halterung des VW-Stoßfängers gebrochen war, worauf die nachfolgende Versuchsreiheseitenverkehrt (also dann mit der vorderen linken VW-Ecke) gefahren wurde.

Im Anschluss an die Versuchsreihe hatte der Proband einen Fragebogen auszufüllen, indem es um das persönliche Befinden, die wahrgenommenen Eindrücke und insbesondereauch um den Inhalt der gezeigten Videosequenz ging.

Interessanterweise wurde längst nicht von allen Probanden der Inhalt der gezeigtenVideosequenz auch nur einigermaßen korrekt wiedergegeben, was beweist, dass die Ab-lenkung nicht in der „gewünschten Intensität“ erreicht wurde. Es wäre angesichts diesesUmstandes zu erwarten gewesen, dass gerade diese offensichtlich „konzentrierten“ Pro-banden sämtliche Versuche wahrgenommen hätten, was allerdings nicht der Fall war.

Page 58: Leichtkollisionen ||

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen 51

Abb. 6.7 Beschädigungen am Versuchsfahrzeug VW T4

Wenngleich man jetzt argumentieren kann, dass diese optische und akustische Abge-schirmtheit (wie schon bei WOLFF) praxisfern ist, so sei daran erinnert, dass man sich –sofern gewollt – aller Ablenkungen im Versuchsablauf entledigen kann, also dem Video-programm weder zusehend noch zuhörend.

Dann kannman sich als Versuchsperson vollends auf den Fühl-/Spürsinn konzentrierenund wäre nunmehr in einer wahrnehmungsspezifisch besseren Lage als ein Pkw-Lenker,der allen möglichen äußeren Einflüssen ausgesetzt ist. So schien es in Anbetracht deroben genannten Fragebogenresultate bzgl. der Videosequenz bei diversen Versuchsperso-nen auch gewesen zu sein.

Bevor auf die eigentlichen Versuchsergebnisse dieser 1. Untersuchung eingegangenwird, seien vorab noch die in den Kollisionsgeschehen entstandenen Beschädigungen kurzvorgestellt, exemplarisch Abb. 6.7 und 6.8.

Wie man sieht, ist an der vorderen rechten VW T4-Ecke nicht nur der seitlich umlau-fende Stoßstangenschenkel fehlgestellt, sondern auch das Blinkerglas gebrochen und dieKarosseriestruktur darunter oberflächlich verschürft/verkratzt.

Demzufolge kam es auch zum „Impulsaustausch“ mit dem „Blechkleid“ des Versuchs-fahrzeuges, was eigentlich bedeuten müsste, dass die kollisionsbedingte Geräuschentwick-lung merkbar höher liegen müsste als bei einem alleinigen Stoßfängerkontakt. Im vorlie-genden Fall kam es mithin also zu teilweisen Körperschallweiterleitungen – eben über dieumliegenden Karosseriepunkte. Die Lautstärkepegelmessungen ließen hier aber keinen si-gnifikanten Unterschied zu Versuchen mit alleiniger Stoßfängerbeteiligung erkennen.

Der seitlich belastete Opel Astra erlitt diverse Streif-, Schürf- und auch Deformationss-puren.Diese führten alle über die insoweit formsteifen Fahrzeugsäulen hinweg.Dortwaren

Page 59: Leichtkollisionen ||

52 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.8 Beschädigungen am Versuchsfahrzeug Opel

Abb. 6.9 Eindringtiefe im Türbereich rund um die B-Säule

bei nachträglicher Türöffnung geringe Belastungsspuren in Form von Lackschäden festzu-stellen, wurde der Türkörper über den elastischen Anteil in den Gummidichtungen hinausnach innen gedrückt (Abb. 6.9).

Der nach einem solchen Vorfall tätig werdende Schadensgutachter würde also auchInstandsetzungsarbeiten an der struktursteifen Karosseriesäule kalkulieren, die für dentechnisch weniger „Versierten“ den Eindruck eines kräftigen Kollisionsereignisses vermit-teln. Es ist also mitnichten so, dass das Überwinden von Fahrzeugsäulen unbedingt hoheErschütterungen im unfallverursachenden Kfz bewirkt.

Page 60: Leichtkollisionen ||

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen 53

Abb. 6.10 Videosequenz einer Vowärtskollision

Dass es bei diesen Unfallversuchen nicht nur zu leichten Wechselwirkungen kam, lässtsich anhand der nachstehenden Filmsequenz unmissverständlich nachvollziehen. Sie ent-stammt einer der vielen Vorwärtskollisionen unter oben genanntem flachen Berührungs-winkel.

Deutlich zu erkennen sind die nicht unerheblichen Wankbewegungen, die insbeson-dere der deutlich leichtere Opel im Zuge der Streifberührung ausführte. In der Abb. 6.10(Bild b und c dieser Filmsequenz) ist die starke Neigung des Opel in Richtung Fahrerseitedeutlichst zu sehen.

Stellt man sich hier einmal vor, man säße als Zeuge in einem geparkten Pkw in der ge-genüberliegenden Parkbox, so muss man zur Erkenntnis gelangen, dass der angestoßenePkw „ganz ordentlich gewackelt“ hat. Vorschnell wird hieraus nicht selten der Schluss ge-zogen, das hätte der Unfallverursacher auch sehen müssen.

Das vom Datalogger registrierte Signal eines kompletten Versuchsablaufes ist derAbb. 6.11 zu entnehmen.

Die schwarze „Zickzackkurve“ beschreibt das Längsverzögerungssignal imAufenthalts-bereich des Probanden. Die in den Signalverlauf induzierten Analogsignale geben die ei-gentlichen Versuche wieder, nämlich rot die Bremsungen und grün die Kollisionen. VomProbandenwurde, sofern das Ereignis wahrgenommenwurde, der Taster betätigt, der danndas blaue Rechtecksignal erzeugte, gestreckte Abb. 6.12.

Page 61: Leichtkollisionen ||

54 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.11 Dataloggersignal einer realen Kollision

Abb. 6.12 Dataloggeraufzeichnung (gestreckt)

Page 62: Leichtkollisionen ||

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen 55

Beschleunigung - Anstiegszeit

0

1

2

3

4

5

6

0 0,5 1 1,5

Anstiegszeit t [s]

Bes

chle

unig

ung

a [m

/s²]

Grenzlinie

Kollisionsversuch 1PR20

Kollisionsversuch 2PR20

Bremsversuch 1 PR20

Bremsversuch 2 PR20

Abb. 6.13 Versuchswerte Proband 20

Wie hier zu sehen ist, nahm der Proband das vom Fahrer des VW T4 eingesteuerteLängsverzögerungssignal (Bremsung, da rot unterlegt) zeitlich versetzt (innerhalb der nor-malen Reaktionszeit) wahr (blaues Rechtecksignal).

Die in diesemVersuch gemessene Spitzenverzögerung lag, wieman durchHerüberlotenauf die Y-Achse feststellt, bei gut 2m/s.

Die vier relevanten Verzögerungssignale, die im Unfallverlauf entstanden, wurden imHinblick auf die wichtigen Parameter Anstiegszeit und Maximalausschlag analysiert undin eine Excel-Tabelle exportiert. Beispielhaft für einen Versuchsteilnehmer (Proband 20)sei die Abb. 6.13 vorgestellt. Dort ist in Analogie zur Dissertation nach WOLFF auf derX-Achse die Anstiegszeit des Verzögerungssignals und auf der Y-Achse der Maximalbe-schleunigungswert aufgetragen. Die dort dargestellte Gerade ist die „Grenzlinie“ nachWOLFF.

Wie man erkennt, liegt der 2. Bremsversuch deutlich oberhalb dieser Grenzlinie, wäh-rend sich die beiden Kollisionsversuche und die Rückwärtsbremsung in direkter Nähe die-ser Geraden befinden. Dieser Proband nahm übrigens alle durchgeführten Versuche wahr(obschon zum Teil unter bzw. nahe der Grenzlinie liegend). Es sei an dieser Stelle aber so-gleich angeführt, dass eben diese Versuchsperson, ausweislich seines ausgefüllten Fragebo-gens, nicht gerade aufmerksam die Videosequenz (zum Zwecke des Ablenkens) verfolgte,womit man ihn – für sich allein genommen – nicht als Beweis für eine sichere Wahrneh-mung auch kleinerer Beschleunigungen/Verzögerungen anführen kann.

Genau anders herum verhält es sich mit dem Probanden 18, der im Gegensatz zur obengenannten Versuchsperson keinen einzigen der vier Versuche wahrnahm, Abb. 6.14.

Obwohl die Kollisionsversuche bei der Anstiegszeit von ca. 0,5 s ähnlich hohe Verzö-gerungswerte ergaben (jeweils gut 2m/s2), liefen dieWahrnehmungsprozesse völlig unter-schiedlich ab.

Bedenkt man, welch erhebliche Wechselwirkung zwischen den Kfz vorlag (Videomit-schnitt Abb. 6.10), so wird spätestens hier deutlich, dass das kollisionsbedingte „Überwin-

Page 63: Leichtkollisionen ||

56 6 Ergebnisse eigener Studien

Beschleunigung - Anstiegszeit

01

234

56

0 0,5 1 1,5

Anstiegszeit t [s]

Bes

chle

unig

ung

a [m

/s²]

Grenzlinie

Kollisionsversuch1 PR18

Kollisionsversuch2 PR18

Bremsversuch 1PR18

Bremsversuch 2PR18

Abb. 6.14 Versuchswerte Proband 18

Beschleunigung - Anstiegszeit

0

12

3

45

6

0 0,5 1 1,5

Anstiegszeit t [s]

Bes

chle

unig

ung

a [m

/s²]

Grenzlinie

Kollisionsversuch1 PR25

Kollisionsversuch2 PR25

Bremsversuch 1PR25

Bremsversuch 2PR25

Abb. 6.15 Versuchswerte Proband 25

den“ von harten Fahrzeugsäulen nicht sofort einer sicherenWahrnehmung gleichzusetzenist.

Auch wird klar, dass es die individuelle (menschliche Sinnes-) Komponente ist, die ent-scheidet, was wahrgenommen wird und was nicht.

So lieferte unter anderem Proband 25 (männlich, Lebensalter 40 Jahre) Ergebnisse, diedie „Schwelle“ nach WOLFF zumindest leicht erschüttern lassen, Abb. 6.15.

Von ihm werden gleich zwei Versuche, oberhalb der „Grenzlinie“ liegend, nicht regis-triert. Es handelte sich um eine Kollision und eine Bremsung.

DieKollision zeigt angesichts der Beschleunigungs-/Anstiegszeitkennung „härtere“ Zü-ge und belegt wiederum die nicht „normierbare“ Wahrnehmungsempfindung von Men-schen. Man sollte sich daher stets vor Augen führen, dass der subjektiven Empfindungsfä-higkeit eine sehr große Bedeutung zukommt.

Page 64: Leichtkollisionen ||

6.1 Fühl-/Spürgrenze von verzögerten Fahrzeugbewegungen 57

Bremsversuche

0

1

2

3

4

5

6

0 0,5 1 1,5

Anstiegszeit t in [s]

Bes

chle

unig

ung

a in

[m/s

²]

Grenzlinie

wahrgenommen BV1

nicht wahrgenommenBV1

wahrgenommen BV2

nicht wahrgenommenBV2

Abb. 6.16 Alle Versuchswerte der Bremsungen

Kollisionsversuche

0

1

2

3

4

5

6

0 0,5 1

Anstiegszeit t in [s]

Bes

chle

unig

ung

a in

[m/s

²]

Grenzlinie

wahrgenommen KV1

nicht wahrgenommen KV1

nicht wahrgenommen KV2

wahrgenommen KV2

Abb. 6.17 Versuchswerte aller Kollisionen

Stellt man die Versuchsergebnisse aller Probanden zusammen, nämlich getrennt für dieBrems- und Kollisionsversuche, so gelangt man zu den Abb. 6.16 und 6.17.

Wie man erkennt, ist eine Überschreitung der Grenzlinie im Hinblick auf die nichtwahrgenommenen Versuche bei der 1., nämlich rückwärtsgefahrenen Bremsung zu erken-nen. Die roten Rechtecke geben die jeweils nicht registrierten Versuche wieder.

Inmehreren Fällenwurden hier also rückwärtige Bremsungen nicht registriert, die nochoberhalb der bisherigen „Bewertungskurve“ lagen.Das Extrembeispiel findetman bei einerAnstiegszeit von ca. 0,3 s mit dort gut 2,3m/s2.

Noch viel gravierender fallen die Zusammenhänge bei der Versuchsreihe BV2, also Ab-bremsung in Vorwärtsfahrt aus.

Die rotenRauten liegen inmerklich größererAnzahl oberhalb der „Grenzlinie“ – imEx-tremfall wurden Wertekombinationen von 3,8m/s2 bei einer Anstiegszeit von 0,4 s nicht

Page 65: Leichtkollisionen ||

58 6 Ergebnisse eigener Studien

bemerkt. Die bisherigen WOLFF’schen Grenzwerte wurden also in punkto Beschleuni-gungsintensität hier um ca. 50% „überboten“.

Offensichtlich scheint der Mensch gegenüber Verzögerungen in üblicher Fahrtrichtung„wahrnehmungsresistenter“ zu sein als in Rückwärtsfahrt. Dies mag damit zusammenhän-gen, dass in letztem Fall neben der vestibular-kinästetischen Registrierung noch eine reintaktile Komponente über z. B. die Sensoren in der Rückenhaut hinzukommt.

Nun könnte man die Grenzlinie kurzer Hand einfach parallel nach oben in jenen obengenannten Extrempunkt hineinverschieben; dies wäre nach Ansicht des Autors aber einezu einfache Vorgehensweise, denn es fällt schwer zu glauben, dass sich das höchst individu-elle Sinnesempfinden (in vestibulär-kinästetischer Ansicht) einer solch strengen Linearitätunterwirft.

Bekanntermaßen gehorchen ja weder der Visus noch die akustischeWahrnehmung ei-ner derart (mathematisch) einfachen Beziehung.

Die Kollisionsversuche – vorwärts- wie rückwärtsgefahren – bewegten sich hinsicht-lich ihrer Intensität in direkter Nähe der Grenzlinie oder aber zum Teil deutlich darunter.Im Falle der Rückwärtskollision wurde insgesamt zweimal der Grenzbereich nachWOLFFüberschritten. In einem Fall wurde der Versuch nicht wahrgenommen, was bedeutet, dassman auch hier eine leichte Anhebung der Grenzlinie befürworten könnte.

Erstaunlicherweise war es hier allerdings die Rückwärtskollision, die „Wahrnehmungs-probleme“ bereitete. Dies könnte man als Hinweis dafür sehen, dass einfache Fahrzeugver-zögerungen doch noch anders beurteilt/verarbeitet werden als tatsächliche Kollisionen.

Als Quintessenz dieser Versuchsreihe bleibt letztlich festzustellen, dassman sich durch-aus in „grenznahen“ Fällen, also Wertekombinationen aus Anstiegszeit und Beschleuni-gungsmaximum noch oberhalb der bisherigen Grenzlinie, Gedanken darüber machensollte, ob das stattgefundene Ereignis denn tatsächlich „nachweisbar“ zu spüren/fühlenwar.

Die oben genannten Werte sollten dem (objektiven) Sachverständigen Anlass geben,hierüber genau nachzudenken, insbesondere dann, wenn man (z. B. versuchstechnisch)ermittelt hat, dass Anstiegszeiten im „kritischen“ Bereich von 0,2 bis 0,5 s zu diskutierensind. Hier gab es ja nicht wenige „Versuchsausreißer“ nach oben.

Hierzu kommt, wie stets anzuführen, die noch wesentlichere Frage, ob der gefühlte„Ruck“ nun auch als das Ereignis zu spüren war, das letztlich vorgeworfen wird.

Verlagert man nun die WOLFF’sche Grenzlinie parallel nach oben, so gelangt man zurAbb. 6.18.

Insgesamt ist aber nach Auswertung der einzelnen Versuchsfahrten festzustellen, dassdie schon von WOLFF prognostizierten Wahrnehmbarkeitsgrenzen im Wesentlichen zu-treffend sind.

Im Falle starker Ablenkung könnte man durchaus eine Anhebung der Grenzlinie, wiein der Abb. 6.18 gezeigt, befürworten.

Es wäre über diese einfache Betrachtung eine so genannte „modifizierte Grenzlinie“darstellbar. Insgesamt umfasste diese Untersuchung übrigens 96 Experimente, in des-sen Verlauf 56 Versuche nicht wahrgenommen und folglich 40 registriert wurden. Von

Page 66: Leichtkollisionen ||

6.2 Einfluss von überlagerten Verzögerungen (Proband passiv) 59

Versuchsreihe

01234567

0 0,5 1 1,5

Anstiegszeit t in [s]

Bes

chle

unig

ung

a in

[m/s

²]

Grenzlinie

wahrgenommen KV1

nicht wahrgenommen KV1

wahrgenommen KV2

nicht wahrgenommen KV2

wahrgenommen BV1

nicht wahrgenommen BV1

wahrgenommen BV2

ncht wahrgenommen BV2

verschobene Grenzlinie

Abb. 6.18 WOLFF’sche Grenzlinie parallel verschoben

den nicht wahrgenommenen Versuchen lagen 58% unterhalb und 24% oberhalb derWOLFF’schen Grenzlinie.

Alle bis hierher vorgestellten Versuchsergebnisse beziehen sich auf einen optisch wieakustisch (eher) abgelenkten, also in seiner Wahrnehmung eingeschränkten Probanden.Der schonweiter oben prognostizierte, nicht unbeachtliche Einfluss einer, dem Kollisions-oder Verzögerungsgeschehen gleichzeitig überlagerten (oder zeitlich nahe dazu stattgefun-denen), zusätzlichen Abbremsung blieb bislang versuchstechnisch völlig unbeachtet, wasAnlass für eine weitere Versuchsreihe war, bei der der Proband zunächst nicht als aktiverFahrer, sondern, ähnlich wie in den gerade vorgestellten Versuchsergebnissen, vergleichbarakustisch und optisch abgeschirmt im hinteren rechten Bereich des Verursacherfahrzeugssaß.

6.2 Einfluss von überlagerten Verzögerungen (Proband passiv)

Im zweiten Teil der Arbeit von DEEKEN [D2] wurden wiederum vier Einzelversuche, dieinsgesamt aber alle deutlich wahrnehmbar waren, gefahren. Ziel dieser Reihe war es, her-auszufinden, inwieweit die Probanden in der Lage waren, zwischen einer stattgefundenenLeichtkollision und z. B. einer solchen mit überlagerter Bremsung zu unterscheiden.

Hier kommt also erstmals die Problematik der „Zuordnungsfähigkeit“ einer gespürtenVerzögerung ins Spiel. Sie bestimmt jamaßgeblich, ob der „Unfallflüchtige“ auch als solcherwissentlich den Ort des Geschehens verlässt.

Der Proband wurde im Vorfeld über die im Weiteren durchzuführenden Versuche un-terrichtet, wobei er deren zeitliche Reihenfolge nicht kannte. Er bekam wiederum einenFragebogen, in dem er dann angeben sollte, wie er den gerade stattgefundenen Einzel-

Page 67: Leichtkollisionen ||

60 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.19 Bremsung und Kollision überlagert (Prinzipskizze)

versuch wahrgenommen bzw. interpretiert hat. Zur Auswahl standen dem Probanden dieAlternativen:

1. reine Bremsung ohne Kollision2. Bremsung und Kollision überlagert3. reine Kollision ohne Bremsung.

Tatsächlich wurden die Einzelversuche wie folgt gefahren:

1. Bremsung und Kollision überlagert (BKÜ)2. reine Bremsung (RBoK)3. reine Kollision (RKoB)4. reine Kollision unter einem schrägen Winkel (RKoBschräg).

Die Begriffsbildung „reineKollision“ beinhaltet, dass das Fahrzeug vor demCrash nichtzusätzlich abgebremst, sondern aus der Rollbewegung heraus gegen das andere Kfz prallte.

Die durch eine Bremsung überlagerte Kollision fand teilüberdeckt und längsachsenpar-allel, ähnlich Abb. 6.19 statt.

Der Überdeckungsgrad lag hier bei jeweils ca. 20%. Bei einem solchen Anstoß tre-ten natürlich kurze Anstiegszeiten und mithin „knackige“ Verzögerungssignale auf. DerVersuchsfahrer führte unmittelbar vor dem Unfallgeschehen eine Bremsung durch, wo-durch das Versuchs-Kfz zunächst infolge der Abbremsung und anschließend durch dennicht unerheblichen Crash verlangsamt wurde. Die Zeitspanne zwischen den Einzelverzö-gerungssignalen war stets so kurz, dass sie von allen Probanden nicht auflösbar war undals ein einziges, zusammenhängendes Ereignis wahrgenommen wurde.

In der nachfolgenden, dann reinen Bremsung wurden hohe Verzögerungswerte erzielt.Sowohl die Anstiegszeiten wie auch die Maximalwerte waren mit jenen einer teilüberdeck-ten Kollision vergleichbar. Im Mittel lagen die Verzögerungsspitzen bei 4 bis max. 5m/s2,wobei die Anstiegszeiten zwischen etwa 0,4 und 0,8 s schwankten.

Page 68: Leichtkollisionen ||

6.2 Einfluss von überlagerten Verzögerungen (Proband passiv) 61

Abb. 6.20 Videosequenz einer gebremsten Kollision (BKÜ)

Im Verlaufe des reinen Kollisionsversuches wurde eine vergleichbare Anstoßkonfigu-ration wie im 1. Crash gewählt, während beim letzten Unfallversuch der Relativwinkelzwischen dem stoßenden Kfz und dem seitlich Getroffenen zwischen 15 und max. 20°schwankte. Im erstgenannten Fall lagen die Wertekombinationen eng um 2m/s2 bisknapp 3m/s2, wobei logischerweise durchweg kurze Zeitintervalle auftraten (um 0,2 . . .0,25 s). Letztgenannte stiegen bei der schrägen Kollision auf um 0,4 bis 0,7 s bei ähnlichenBeschleunigungsmaxima.

Wie sich ein durch eine Bremsung überlagerter Kollisionsversuch in der Filmsequenzdarstellte, lässt sich exemplarisch der Abb. 6.20 entnehmen. Unschwer zu erkennen ist dieEinnicktiefe des Unfallfahrzeugs bereits vor der unmittelbaren Kontaktnahme mit demweißen Opel Astra. So fällt in der ersten Abbildung auf, dass der Abstand der rechten Vor-derradoberseite zum Radhauszenit kleiner ist als in dem Videobild danach.

Der vom Datalogger registrierte Signalverlauf kann exemplarisch der folgendenAbb. 6.21 entnommen werden. Durch die beiden Hinweispfeile sind die direkt aufein-anderfolgenden Maximalausschläge der im VW T4 auftretenden Verzögerungen markiertworden.Wie unschwer zu erkennen ist, liegt zwischen den beiden Verzögerungsspitzen einnur schmales Zeitfenster. Die vorkollisionär eingeleitete Verzögerung war etwas intensiverals die mit der Kollision verbundene Fahrzeugverlangsamung.

Es befanden sich sämtliche, in dieser Versuchsreihe durchgeführten Verzögerungs-signale im Wahrnehmbarkeitsbereich, und es wurden Amplituden von bis zu 4,8m/s bei

Page 69: Leichtkollisionen ||

62 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.21 Signalverlauf (BKÜ)

Anstiegszeiten von 0,2 bis 0,3 s erzielt. Nur bei der schrägen Kollision kam es zu „Wahr-nehmungsdefiziten“ – sie wurden längst nicht alle „quittiert“.

Von den insgesamt 36 durchgeführten Versuchen wurden ca. 50% nicht eindeutig demrichtigen Brems- bzw. Kollisionsereignis zugeordnet.

Die sicherste Beurteilung war bei den reinen Abbremsungen ohne jegliche Kollisionfestzustellen, vgl. Tab. 6.1. Dort ist mit dem Kürzel, wie oben schon skizziert, RBoK die„reine Bremsung ohne Kollision“, mit BKÜ die „Bremsung und Kollision überlagert“, mitRKoB die „reine Kollision ohne Bremsung“ gemeint – der Zusatz „schräg“ deutet auf dieabschließende, schiefwinkelige Kollision hin.

Auffällig ist, dass am schlechtesten die der Kollision überlagerte (bzw. zeitlich vorge-ordnete) Bremsung als solche erkannt wurde (BKÜ). Lediglich ein Drittel aller Versuchewurden richtig zugeordnet. Alle falschen Eindrücke wurden durch die Probanden als reineBremsung bewertet.

Dass gerade diese Variante so „unerkannt“ blieb, gibt zu denken. Es ist damit wohl so,dass man selbst als vorbereiteter Proband letztlich nicht (sicher) in der Lage ist, das indieser Versuchsreihe aufgetretene Doppelsignal (zwei Amplituden kurz hintereinander)aufzulösen.

Page 70: Leichtkollisionen ||

6.2 Einfluss von überlagerten Verzögerungen (Proband passiv) 63

Tab. 6.1 Versuchszuordnung durch die Probanden

Pro-bandNr.

BKÜ zugeord-net

RBoK zugeord-net

RKoB zugeord-net

RKoBschräg

zugeord-net

26 nein RBoK ja RBoK ja RKoB nein BKÜ27 nein RBoK nein RKoB nein RBoK nein BKÜ28 ja BKÜ ja RBoK ja RKoB nein RBoK29 ja BKÜ ja RBoK ja RKoB nein BKÜ30 nein RBoK nein BKÜ nein RBoK ja RKoB31 nein RBoK ja RBoK ja RKoB nein BKÜ32 nein RBoK ja RBoK nein BKÜ ja RKoB33 nein RBoK nein BKÜ nein BKÜ ja RKoB34 ja BKÜ ja RBoK ja RKoB ja RKoB

Wird also vomUnfallverursacher, der nun nicht mit einer Kollision rechnet (anders alsder Proband), in zeitlich dichterNähe zurKollision eineBremsung eingeleitet, sowird dieseSituation offenbar öfter falsch denn richtig eingestuft, d. h. nicht einer Kollision, sonderneher einer Bremsung zugeordnet.

Wohlgemerkt gelten diese Prognosen für den jeweiligen Probanden, im Fond des Ver-suchsfahrzeuges sitzend (von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschirmt), also nichtselbst agierend.

Ob allerdings der aktive Fahrer nun „wahrnehmungsfähiger“ ist, bleibt schon hier frag-lich, kann er sich nicht derart auf die bevorstehenden Ereignisse konzentrieren, wie diepassive Versuchsperson (die ja wusste, dass etwas passiert).

Dieses Ergebnis darf letztlich im Rahmen der Beurteilung solcher Ereignisse nichtunbeachtet bleiben. Es genügt dementsprechend nicht, nur eine Bewertung des Verzöge-rungssignals, resultierend aus den Schäden, vorzunehmen – es sind stets die Begleitum-stände des Realunfalls zu prüfen, die die Frage der Wahrnehmbarkeit oftmals merklichbeeinflussen.

Sehr bemerkenswert im Rahmen dieser Versuchsreihe sind die Ergebnisse der Proban-den 27 und 34, deren Trefferquote unterschiedlicher nicht sein könnte.

Ordnete der Proband 27 alle Versuche falsch zu, so wurden von der Probandin 34 alleEreignisse richtig eingestuft. Interessant ist, dass der Proband 27 ein „Vielfahrer“ ist unddie Probandin 34 sich selbst eher als Wochenendfahrerin bezeichnete.

Das zeigt, dass man dem vorschnellen Argument, wonach der routiniertere Fahrzeug-führer, eher (einwirkende) Verzögerungen richtig einstuft, als der unerfahreneKfz-Lenker,nicht zustimmen kann.

Wahrscheinlich ist es eher die „offensivere“ Fahrweise des routinierten Pkw-Lenkers,die hier „wahrnehmungshemmend“ ist, fällt in dessen tägliche Fahrpraxis auch viel öfterdas Registrieren abrupterer Fahrzeugverlangsamungen. Auch ist dieser Fahrertyp den zum

Page 71: Leichtkollisionen ||

64 6 Ergebnisse eigener Studien

Teil regelungstechnisch nicht immer einfachen Rangiermanövern gegenüber unkritischer,d. h. er neigt eher dazu, etwas zu riskieren und wird nicht bei der „kleinsten“ wahrgenom-menen Erschütterung gleich das „Schlimmste“ vermuten.

Demgegenüberwird ein vorsichtigerer, passiverer Fahrer ein schneller auftretendesVer-zögerungsereignis viel deutlicher als Gefahrensignal wahrnehmen, da es schlechter in sei-nen täglichen Erfahrungsschatz passt und die Möglichkeit eines „Remplers“ in sich birgt.

Im Rahmen einer weiteren Arbeit (Verfasser: Thorsten Schönfeld, Sommersemester2008) wurden die bislang vorgestellten Versuchsergebnisse statistisch untermauert, d. h.,es wurden insgesamt weitere 51 Einzelversuche gefahren (mit über 150 Ereignissen)[S2].

Er benutzte quasi die gleiche Versuchsanordnung wie in der vorangegangenen Unter-suchung von DEEKEN. Lediglich die letzte, schräge Kollision wurde hier ausgelassen.

Im Ergebnis gab es hier keine wesentliche statistische Abweichung zu der Vorgänger-untersuchung, auch hier war die weitaus schlechteste Zuordenbarkeit für die „gebremsteKollision“ festzustellen. Auch hier gelang es einer sehr großenAnzahl von Probanden nicht,obwohl sie auf die Versuche vorbereitet waren, diesen „Unfalltypus“ auch als solchen wahr-zunehmen.

Wieder waren es die „Vielfahrer“, also die routinierten Autofahrer, die die meistenAusreißer bzw. Fehlzuordnungen lieferten, während die vorsichtigen „Gelegenheitsfahrer“durchweg sehr gute Ergebnisse erzielten. Die schon von DEEKEN ermittelten Zusammen-hänge wurden durch diese Versuchsreihe also erhärtet. Die Routine im Umgang mit demKfz scheint ein nicht zu vernachlässigender Einflussfaktor zu sein.

Im Ergebnis dieser beiden Untersuchungen kann man also formulieren, dass es füreinen Unfallverursacher gerade dann schwierig wird, das Kollisionssignal wahrzunehmen,wenn er zuvor einer Verzögerung ausgesetzt ist. Wird also quasi zeitgleich mit dem Kol-lisionsereignis die Bremse betätigt bzw. gelöst oder aber unterscheidet sich der Verzöge-rungsverlauf, der durch die Kollision hinzukommt, nicht wesentlich vom eingesteuertenBremssignal, so wird die wahrgenommene Verzögerung eben nicht sicher einemUnfallge-schehen zugeordnet.

Dabei spielt natürlich die mit der Kollision einhergehende VerzögerungsverstärkungeinemaßgeblicheRolle, was bedeutet, dassman als „abbremsenderUnfallverursacher“ nunnicht einen „Freibrief “ dahingehend besitzt,man könne quasi keinenVerzögerungssprung,der durch eine zusätzliche Kollision bewirkt wird, wahrnehmen.

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzen des „aktiven Versuchsfahrers“

Das Hauptproblem, das sich dem Versuchsleiter stellt, wenn er einen aktiv fahrenden bzw.bremsenden Probanden einer überlagerten Kollision aussetzt, besteht darin, dessen we-sentliche Wahrnehmungssinne, wie Sehen und Hören, zu beeinflussen bzw. einzuschrän-ken.

So etwas wird nicht gelingen, wenn man ihn im Rahmen einer Versuchsfahrt bremsenund sodann (kalkulierbare Sekundenbruchteile später) mit irgendetwas kollidieren lässt.

Page 72: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 65

Abb. 6.22 Versuchsfahrzeug Opel Astra

Schon in der Phase, in der sich der Proband in das Fahrzeug begibt, ist ihm der weitereUnfallablauf klar, weswegen er niemals (in puncto Ablenkung) mit dem Verursacher einerParkplatzkarambolage im Wahrnehmungssinne gleichzusetzen wäre.

Die Lösung des Problems dieser „Antizipiation“ musste also auf andere Art und Wei-se erreicht werden. Wichtig ist ja, dass im Zuge eines, von einem Versuchsfahrer z. B. zudurchfahrenden Parcours, dieser plötzlichen (zusätzlichen) Fahrzeugverzögerungen aus-gesetzt wird, mit denen er nicht unmittelbar rechnet.

Dies gelang versuchstechnisch vergleichsweise einfach dadurch, dass die beiden Brems-kreise des Versuchs-Kfz voneinander getrennt wurden, d. h. der Versuchsfahrer durch Be-tätigen des Bremspedals aktiv nur die Vorderräder (die das Hauptbremsmoment liefern)verzögerte, während ein im Fond des Pkw sitzender Versuchsleiter über ein an die Hand-bremsvorrichtung befestigtes Seil zog,mit dem dieHinterräder zusätzlich abgebremst wur-den, was natürlich im gesamten Kfz zu einem (eventuell wahrnehmbaren) Verzögerungs-sprung führen musste.

Das von uns modifizierte Versuchsauto, ein Opel Astra, ist in der Abb. 6.22 zu sehen.In dieser Versuchsreihe wurde also die visuelle wie auch akustische Wahrnehmung des

Probanden nicht beeinflusst, da er das Fahrzeug selbst fuhr. Er hatte den Anweisungenseines Beifahrers (weiterer Versuchsbetreuer) zu folgen, der ihm vorgab, wann er wo (vor-wärts oder rückwärts) rangieren bzw. eine Wendebewegung etc. durchführen sollte.

Der Fahrzeugfond war vom Probanden nicht einsehbar; die Sicht in den hinteren Be-reich des Kfz war durch einen blickdichten Verdunkelungsstoff gehindert.

Page 73: Leichtkollisionen ||

66 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.23 Messtechnik im Fond des Opel Astra

Eine Bremskreistrennung zwischen vorderem und hinterem Bremssystem war notwen-dig, weil Vorversuche ergaben, dass (bei geschlossenem Bremskreis) der Proband einenerhöhten Leerweg immer dann registrierte, wenn zeitnah das Handbremsseil vom Ver-suchsleiter im Fond gezogen wurde.

Auch wurde im Frühstadium dieser Versuchsreihe ein Fahrschulwagen getestet(2. Bremsanlage im Beifahrerfußraum). Auch hier stellte sich der oben genannte Effektgleichermaßen ein – zudem hätte hier eine Sichtbarriere zum Beifahrer hin geschaffenwerden müssen, die den Visus des Probanden im Rahmen von durchzuführenden Ran-giermanövern zu sehr eingeengt hätte.

In das (im Übrigen voll fahrbereite und normal bedienbare) Versuchsfahrzeug wurdedie schon aus den früheren Versuchsreihen bekannte Messtechnik installiert, Abb. 6.23.

Der rote Pfeil markiert hier den Datalogger, der gelbe die Schaltbox. Über das mit demblauen Pfeil markierte Relais wurde ein Signal vomHandbremsschalter über die Signalboxdem Datalogger zugeleitet.

Die Stromversorgung wurde über die Standlichtleitung im Kofferraum (grüner Pfeil)realisiert.

In der Abb. 6.24 siehtman den Aufenthaltsbereich des Fondinsassenbzw. des Versuchs-leiters mit der Seilzugvorrichtung für die Handbremse. Zusätzlich war eine rote Brems-leuchte installiert, die ihm signalisierte, wann vom Probanden das Bremspedal betätigtwurde (Kopplung mit dem Bremslicht).

Dieser Bereich war, wie schon erwähnt, vom Versuchsfahrer wegen des blickdichtenStoffvorhanges nicht einsehbar. Er konnte sich also bei rückwärtigen Rangiermanövern

Page 74: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 67

Abb. 6.24 Fahrzeugfond mit Verdunkelung

nicht (zusätzlich) über den Innenspiegel „versichern“, hatte aber zwei Außenspiegel als„optische Hilfsmittel“ zur Verfügung. Erwähnt sei hier noch, dass sonderlich schwierigeRangiermanöver, also im verengten Verkehrsbereich, nicht zu absolvieren waren, sodassder Innenspiegel den meisten Probanden auch nicht „fehlte“.

Der Beifahrer im Versuchsfahrzeug gab die jeweiligen Anweisungen im Hinblick aufden zu durchfahrenden Parcours und quittierte mittels Taster (Abb. 6.25) die vom Pro-banden ggfs. wahrgenommenen, überlagerten Fahrzeugverzögerungen (die er lautstarkmitteilen sollte). Am oberen Bildrand sieht man die voluminöse, nachträglich angebrachteMittelkonsolenverkleidung mit dem darunter befindlichen Handbremsgestänge. Hier wareine starke Polsterung bzw. Dämmung notwendig, damit der Probandweder Zuggeräuschenoch Erschütterungen bei der Handbremsseilbetätigung durch den Fondinsassen verneh-men konnte.

Im Versuchsablauf, also der „Parcoursfahrt“, hatte sich der Fahrer (als Proband) nachden Anweisungen seines Beifahrers zu richten, der ihm genau vorgab, mit welchem Tempozu fahren sei und wo undmit welcher Intensität in etwa verzögert werden sollte. Es fandenauch Einpark- und Rangiermanöver statt, in deren Verlauf auch durch den im Fond sit-zenden Versuchsleiter der eingebaute Handbremsmechanismus betätigt wurde. Hatte derVersuchsfahrer das Gefühl, eine zusätzliche Verzögerung sei eingeleitet worden, so teilte erdies dem Beifahrer mit, der über den Handtaster dann ein Analogsignal an den Dataloggerübermittelte.

Der Parcours enthielt insgesamt etwa 20 Bremsungen, wobei in fünf Fällen durch denVersuchsleiter zusätzlich eingegriffen wurde.

Page 75: Leichtkollisionen ||

68 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.25 Beifahrersitz mit Quittierungstaster

Die Probanden wussten also, dass zusätzliche Verzögerungseinleitungen im Verlau-fe der Versuchsfahrt stattfanden, nicht jedoch, wann und wo sie erfolgten. Eine gewisseGrundsensibilisierung war damit natürlich gegeben, die imÜbrigen auch beabsichtigt war,rechnet man als Unfallverursacher in engen Verkehrsbereichen schon auch mit „Kollisi-onsvorgängen“. Die zu durchfahrende Fahrstrecke war insgesamt knapp 1 km lang, für dieinsgesamt jeweils ca. 5Minuten benötigt wurden. Es wurden zumTeil recht kräftige Brem-sungen aus Geschwindigkeiten von 30 bis 40 km/h vorgenommen. Zu Realkollisionenkam es in diesem Versuchsablauf letztlich nicht, was nicht weiter gravierend war, ging es jaim Wesentlichen um den Einfluss einer (zu einem Bremsvorgang) zusätzlich induziertenVerzögerung. In Analogie zu WOLFF ist ja die Intensität des fremden Rucks in Relationzur eigenen Bremsleistung bedeutungsvoll.

Im Rahmen der ersten Untersuchung von SCHÖNFELD wurden insgesamt 75 Einzel-versuche (15 Probanden) ausgewertet.

Die Tab. 6.2 gibt farbig die wahrgenommenen (grün) sowie die nicht wahrgenommenenVersuche (rot) wieder.

Wie man der Tabelle entnehmen kann, sind von insgesamt 75 Einzelversuchen 31 alswahrgenommen bestätigt worden, was einer 41-%-Trefferquote entspricht.

Erwähnenswert ist, dass die mit dem Versuchsaufbau vertrauten Probanden biswei-len so „hypersensibilisiert“ waren, dass sie insgesamt 15-mal ein Ereignis wahrnahmen,obschon ein Eingriff durch den Versuchsleiter gar nicht stattfand. Dies macht bei 75 Ver-suchsergebnissen immerhin 20% aus. Außerdem spiegelt dies die „hoheAnspannung“ derVersuchsfahrer wieder.

Page 76: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 69

Tab. 6.2 Wahrgenommene (grün) und nicht wahrgenommene (rot) Eingriffe

Proband Rückwärts 1 50 km/h Rückwärts 2 Vorwärts 30 km/h

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Von den insgesamt 15 Teilnehmern registrierten z. B. Proband 7 und 8 alle Eingriffe,während jene mit den Nummern 3, 12 und 13 nichts auffiel. An dieser Stelle sei bemerkt,dass es sich bei Proband 13 um einen erfahrenen Sachverständigen handelt. Die mit nur ei-ner richtigen Registrierung versehene Probandin 10 übt den Richterberuf aus, woran mansehen kann, dass die Problematik der Wahrnehmung in keiner Relation zum „Tätigkeits-feld“ der Person steht, sondern individuell stark schwankt.

Die Abb. 6.26 zeigt einmal schematisch, wie eine komplette Aufzeichnung einer Ver-suchsfahrt aussah. Die roten, analog induzierten Signale geben die zusätzliche Verzöge-rungseinleitung durch den Fondinsassen wieder – gelblich sind die Signale des Beifahrersüber denHandtastermarkiert, alsowenn der ProbanddenEingriffwahrnahm.Der schwar-ze Signalverlauf zeigt die vom Datalogger gemessene Längsverzögerung.

Durch diese analogen Fixpunkte war es sehr leicht möglich, aus der Datenfülle dierelevanten Versuchspunkte zu finden. Unschwer nachvollziehbar ist, dass der Probandim Verlauf der Versuchsfahrt 3 alle der insgesamt fünf Eingriffe des Versuchsleitersbemerkte.

Durch die schon in den vorangegangenen Versuchsfahrten eingesetzte Analyse-Soft-ware war es möglich, die vomDatalogger empfangenen Daten bequem auszuwerten. Es ge-

Page 77: Leichtkollisionen ||

70 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.26 Aufzeichnung einer kompletten Versuchsfahrt

lang vergleichsweise einfach, Anstiegszeiten und Verzögerungs-(Beschleunigungs-)werteim Diagramm direkt zu bestimmen.

Die Abb. 6.27 zeigt exemplarisch einen gezoomten Signalverlauf.Deutlich zu erkennen ist ein Knick in der Längsbeschleunigung (grüner Pfeil) an jenem

Punkt, an dem eine zusätzliche Verzögerung durch die Handbremsbetätigung induziertwurde. Ergo waren die Signale in zwei Abschnitte zu unterteilen, nämlich einmal in jenenzur Fahrerbremsung und im anderen Fall jenen zur Handbremsbetätigung gehörig.

Der zusätzliche Verzögerungssprung, Pfeil B, läuft, wie auch die Fahrerbremsung in po-sitive Richtung, weil es sich um ein rückwärtiges Rangiermanöver handelte. Das analoge(rote) Handbremssignal liegt geringfügig zeitverschoben, da es über ein (vergleichsweiseträgeres) Relais geschaltet wurde.

Im Rahmen dieser 1. Versuchsdurchführung nahmen im Übrigen auch viele Juristen(als Versuchspersonen) teil, die auf einer Fortbildungsveranstaltung im Frühjahr 2008 inunserem Büro zugegen waren.

Eine zusätzliche statistischeAbsicherung erfolgte durch die Arbeit vonTHIEN [T1], dieim Frühjahr 2009 fertig gestellt wurde. An dieser Versuchsreihe nahmen weitere 35 Pro-banden teil, sodass zusätzlich 175 Versuchswerte analysiert werden konnten. Insgesamtliegen also 250 Einzelversuchswerte vor, die damit zumindest Grundstein einer „Trendstu-die“ sind.

Zu erwähnen ist noch, dass in den gesamten Versuchsdurchführungen Probanden bei-derlei Geschlechts und auch unterschiedlichste Altersstrukturen vertreten waren. Die Pa-lette der Fahrer/-innen reichte (vom Alter) von 22 bis 70 Jahren.

Page 78: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 71

Abb. 6.27 Signalverlauf

In der 2. Untersuchung nach THIEN wurden insgesamt 66 von 175 Einzelversuchenwahrgenommen (also im Sinne der überlagerten Verzögerung). Dies entspricht 38% rich-tige Antworten.

Auch hier war es so, dass aufgrund von nicht vermeidbarem „Übereifer“ insgesamt 35-mal ein Verzögerungssignal (als vermutlich externer Eingriff) quittiert wurde, obwohl einsolches Ereignis gar nicht stattgefunden hatte. Dies entspricht wiederum der Fehlerquotenach SCHÖNFELD von ca. 20%. Im Rahmen der 2. Versuchsreihe mit insgesamt 35 Pro-banden registrierten nur drei Personen alle erfolgten Eingriffe, während insgesamt 5 nichteinen einzigen wahrnahmen.

VomAuswerteprinzip her unterscheiden sich diese beidenUntersuchungen imÜbrigennicht.

In der Arbeit von THIEN wurde der experimentale Versuchsaufbau dahingehend opti-miert, dass er an beidenBremseinrichtungen jeweils einenWinkelaufnehmer/Potentiometer(vgl. Abb. 6.28 und 6.29) anbrachte, der die Bremspedal-(Handhebel-)veränderung inSpannungssignale umwandelte (durch den zusätzlichen Hebel). Dieses Signal wurde ana-log auf den Datalogger gesetzt, wodurch es möglich war, festzustellen, ob und wie stark dieBremsung über das Bremspedal bzw. die Handbremse eingeleitet wurde.

Es besteht theoretisch die Möglichkeit, dass die Verzögerungssteigerung (im Signal desDataloggers) auch durch eine zusätzliche Bremsverstärkung des Probanden erzielt wurdeund nicht allein durch die Handbremsseilbetätigung. Über diese Potentiometer war mess-technisch erfassbar, wie intensiv die jeweilige Druckeinsteuerung war.

Page 79: Leichtkollisionen ||

72 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.28 Winkelaufnehmer am Handbremshebel

Abb. 6.29 Winkelaufnehmer am Fußpedal

Page 80: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 73

Abb. 6.30 Spektrum mit Winkelaufnehmersignal

Exemplarisch für einen solchen Versuchsablauf sei die Abb. 6.30 vorgestellt. Man sieht,hier durch einen grünen Pfeil angedeutet, den Bereich, in welchem die zusätzliche Längs-beschleunigung durch den Versuchsleiter mittels Handbremsseil induziert wurde.

Schräg darüber befindet sich das Signal der beiden im Fahrzeug integrierten Potentio-meter (Winkelaufnehmer) die klar signalisieren, dass die starke Verzögerungsanhebungallein durch das Handbremssignal (gelbe Linie) und nicht durch den Probanden bewirktwurde (roter Verlauf).

Durch diesen zusätzlichen Versuchsaufbau gelang es, sichere Aussagen dazu zu treffen,ob der steilere Anstieg der Längsbeschleunigung wirklich nur durch den Versuchsleitermittels Handbremse aufgebracht wurde oder aber ob der Proband zusätzlich das Bremspe-dal noch stärker betätigte.

Alle Daten wurden in ein Excel-Programm exportiert, mit dessenHilfe dann die für dietechnische Aufbereitung solcher Fälle notwendigen Diagramme entworfen werden konn-ten.

In der Abb. 6.31 ist auf der X-Achse das von den Probanden, also dem Fahrer aktiveingeleitete Verzögerungssignal hinsichtlich seiner Intensität dargestellt, auf der Y-Achse(das vermeintlicheKollisionssignal) jenes, das vomFondinsassen durch dasHandbremsseilzusätzlich eingesteuert wurde.

Page 81: Leichtkollisionen ||

74 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.31 Versuchs-„Punktwolke“ in Abhängigkeit der Anstiegszeit und der Handbremsverzöge-rung

Neben dem Diagramm befinden sich die Erklärungen zu den einzelnen farbigen Ver-suchspunkten, wobei hier die jeweilige Anstiegscharakteristik (Anstiegszeit) des zusätzlichvom Fondinsassen aufgebrachten Signals berücksichtigt wird.

Die Anstiegszeiten variieren hier zwischen 0,1 und knapp 1,0 s, wobei, wie weiter obennachzulesen, mit dem kurzzeitigen Signalanstieg auch eine sehr abrupte Verzögerungsver-änderung durch den Fondinsassen stattfand, während bei der längsten, noch relevantenAnstiegszeit von 1,0 s das Signal durch einen allmählichen Zug am Handbremsseil erzieltwurde.

Wie man erkennt, liegt eine Fülle von nicht wahrgenommenen Versuchsereignissenzum Teil deutlich über der WOLFF’schen Grenzgeraden, so z. B. beim vorwärtigen, lang-samen Rangiervorgang bei gut 0,45 s Anstiegszeit (grüne Raute). Hier ist eine nicht sicherregistrierte Zunahme derVerzögerung von ca. 1m/s2 (3,5 zu ca. 2,5m/s2) festzustellen, waserheblich ist.

Der zeitnahen aktiven Bremsung eines Autofahrers zu einer Leichtkollision kommt da-her eine durchaus maßgebliche Bedeutung zu. Für vorgenanntes (Einzel-)Beispiel zeigtsich mithin eine „Schwellenanhebung“ um ca. 40%. Berücksichtigt man weiterhin, dass

Page 82: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 75

die Versuchspersonen allesamt nicht unsensibilisiert waren, so ist im Realgeschehen ehereine noch größere Verschiebung zu höheren Werten zu erwarten.

Die Versuchswerte kann man nun im Hinblick auf die jeweilige Anstiegszeit auflö-sen. Sie ergeben sich aus der Analyse der Versuchsspektren. Neben der „Störverzögerung“durch dieHandbremse ist auch die tatsächliche Bremsleistung des Versuchsfahrers bekannt(Anstiegszeit und Amplitude). Dies lässt eine Darstellung zu, bei der die Handbrems-verzögerung (entspräche dem Kollisionsvorgang) der Fahrerabbremsung gegenüber-gestellt ist. Dabei läuft als Parameter im Diagramm die Anstiegszeit des Handbrems-/Kollisionssignals.

Die „ruckartigste“ zusätzliche Verzögerungseinsteuerung liegt natürlich bei der kürzes-ten Anstiegszeit (sprich 0,1 s) in diesem Diagramm ganz unten und die längste, also eherseichte (zusätzliche) Verzögerungszunahme, sprich 0,7 s Anstiegszeit, ganz links oben indiesem Diagramm.

Sämtliche Versuche, die von den Probanden im Rahmen ihrer eigenen Abbremsungnicht mehr wahrgenommen wurden (also die zusätzlich induzierten Verzögerungssignale)befinden sich für die jeweilige Anstiegszeit unterhalb der dazugehörigen, farbig markiertenGeraden.

Anzumerken ist noch, dass die meisten Versuchswerte im Anstiegsbereich von 0,2 bis0,6 s erzielt wurden, weswegen die Lage der Grenzkurve hierfür am gesichertsten ist.

Greift man sich hier beispielsweise einmal die bei schrägwinkeligen Kollisionen unter20° bis ca. 30° typischeAnstiegszeit vonmax. ca. 0,4 s (grüne Linie) heraus, so stelltman fest,dass eine zusätzliche Verzögerungseinsteuerung (in diesem Fall durch den Fondinsassen,also quasi Kollisionsereignis) von 3,5m/s (Wert auf der Y-Achse) dann gerade nicht mehrwahrgenommen wird, wenn der Fahrer selbst aktiv mit 4m/s, also einer (leicht erhöhten)Angleichsbremsung, verzögert (Punkt A).

Bei einer schwachen Angleichsbremsung des Probanden bzw. des Versuchsfahrers vonnur 2m/s bliebe eine zusätzlicheVerzögerungserhöhung infolge eines äußeren Ereignisses(Kollision oder zusätzlicher Bremseingriff) von etwa 2,6 bis 2,7m/s denkbar unentdeckt.An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die hier vorgestelltenWerte an derObergrenzenicht mehrwahrgenommenwurden – es gab ergo auch Versuchsergebnisse, bei denen Pro-banden ein vergleichbares Ergebnis sicher wahrnahmen. Inwieweit diese Personengruppeallerdings derMaßstab in einem Strafverfahrenwegen Unfallflucht sein kann, ist wohl ehervon Juristen zu beurteilen.

In der Abb. 6.32 können zusätzlich noch die von WOLFF seinerzeit definiertenGrenzwerte integriert werden, da er für unterschiedliche Signalanstiegszeiten auch ent-sprechende max. Verzögerungsamplituden des Kollisionssignals (bzw. des Fremdsignals)angab. Diese Linie verläuft leicht bogenförmig, quasi diagonal in diesem Diagramm(Abb. 6.33).

Wie oben erwähnt, ist nicht das gesamte Spektrum des Diagramms, wie es hier zusehen ist, versuchstechnisch gut abgesichert. Auch wird ein Fahrzeugführer im Rahmeneines Rangierprozesses auf einem Parkplatz wohl nicht (grundlos) eine Vollbremsung ein-leiten, wenngleich nicht selten zu beobachten ist, dass Fahrzeugführer, die im Umgang mit

Page 83: Leichtkollisionen ||

76 6 Ergebnisse eigener Studien

Grenzkurven

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

4,5

0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 5,5 6,0 6,5 7,0 7,5

a (Fahrer) [m/s²]

a (K

ollis

ion)

[m/s

²]

0,1s

0,2s

0,3s

0,4s

0,5s

0,6s

0,7s

0,8s

0,9s

1,0s

A

Abb. 6.32 Schwellenwertdiagramm in Abhängigkeit der Anstiegszeit

Automatikfahrzeugen unerfahren sind, diese bisweilen voll abbremsen (vermeintliche Be-tätigung des Kupplungspedals).

Interessant ist deswegen schon eher der Ausschnitt auf der X-Achse zwischen etwa 1,0und max. 5,0m/s liegend.

Da man bei Parkplatzkollisionen in aller Regel auch keine Kollisionsanstiegszeiten vonca. 0,1 Sekunden betrachten muss, ist im Hinblick auf die Ordinate (also Y-Achse) eigent-lich der Bereich ab etwa 1,5m/s aufwärts von Interesse.

Ebenso stellt man nach Integration der WOLFF-Grenzkurve fest, dass der unterhalbdieser Linie liegende Bereich uninteressant ist, denn schon in seinen damaligen Versuchenwar nachweisbar, dass beispielsweise bei einer Anstiegszeit von 0,3 s mindestens eine Ver-zögerung von ca. 2m/s vorliegen muss, damit sie überhaupt sicher wahrgenommen wird(bis hierhin waren von ihm nicht wahrgenommene Versuche festzustellen).

Würde nun der Fahrzeugführer bei gleicher Anstiegszeit des Kollisions- bzw. externenVerzögerungssignals (also 0,3 s) zusätzlich abbremsen, nämlich mit beispielsweise 3m/s

Page 84: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 77

Grenzkurven

0,0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

4,5

5,0

5,5

6,0

0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 5,5 6,0 6,5 7,0 7,5

a (Fahrer) [m/s²]

a (K

ollis

ion)

[m/s

²]

0,1s

0,2s

0,3s

0,4s

0,5s

0,6s

0,7s

0,8s

0,9s

1,0s

eigene

Grenzkurvenach Wolff

Grenzkurve nach Wolff(verschoben)

Abb. 6.33 Weitere Grenzkurven integriert

(normale Betriebsbremsung), sowürde sich dieWahrnehmbarkeitsschwelle erhöhen, näm-lich in Richtung 2,3m/s (gegenüber demWOLFF’schen Wert von 2m/s).

Gravierender wirken sich oben genannte Zusammenhänge also erst mit zunehmenderKollisionsanstiegszeit aus, beispielsweise für eine mehr streifende Kollision mit dann rele-vanten 0,5 Sekunden. Hier wäre nachWOLFF eine Kollision bei einemWert von etwa gut2,7m/s als gerade wahrnehmbar einzustufen, während dann, wenn der Fahrzeugführerzeitgleich abbremst, der Verzögerungswert des Kollisionssignals auf bis zu nicht wahr-nehmbaren fast 4m/s ansteigen kann (Abbremsung durch den Fahrer mit ca. 3m/s2).

Dies führt direkt vor Augen, wie erheblich der Einfluss einer von einem Fahrzeugführerzusätzlich eingeleiteten Abbremsung sein kann.

Das soeben vorgestellte Diagrammmit den darin farbig dargestellten Parametern bzgl.der Anstiegszeit lässt sich auch – für den technischen Laien – wesentlich einfacher gestal-ten.

Sämtliche darin enthaltenen Geraden gehorchen folgendem Gleichungstyp:

aF = ,/b ⋅ (aK − c ⋅ ,) .

Page 85: Leichtkollisionen ||

78 6 Ergebnisse eigener Studien

Abb. 6.34 Anstiegszeit/Verzögerungsspitze für unterschiedliche Fahrerbremsstärken

Darin ist aF die vom Fahrer eingeleitete Verzögerung, aK die Verzögerung infolge desKollisionssignales. Die Variablen b und c ergeben sich über die jeweilige Anstiegszeit.

Für eine kurze Kollision, mit einer Anstiegszeit von nur 0,1 s betragen dieWerte b und cjeweils 1 (bei 0,2 s entsprechend 2, bei 0,3 s 3 usw.).

Nun unterscheidet man in unfallanalytischer Sicht allenthalben zwischen einer eherverhaltenen Verzögerungseinsteuerung durch den Fahrer, auch als Angleichsbremsung de-finiert (ca. 2,5m/s) und einer starken Betriebsbremsung, die mit max. 5m/s zu Bucheschlägt.

Wie durch das Einsetzen dieser Werte in vorgenannte Gleichungen leicht nachzuvoll-ziehen ist, ergeben sich für diese typischenVerzögerungseinsteuerungen von Fahrzeugfüh-rern ganz einfache mathematische Zusammenhänge:

aK > , ⋅ Δt starke Bremsung

aK > , ⋅ Δt Angleichsbremsung .

Diese beiden Gleichungen kann man wiederum in einem Diagramm darstellen(Abb. 6.34).

Da nach WOLFF schon folgte, dass bei gewissen Anstiegszeiten auch ebensolche Min-destkollisionssignale vorliegen müssen, kann der Gültigkeitsbereich des Diagramms nachunten durch die dort gelblich hervorgehobene Linie abgegrenzt werden. Das bedeutet, dassdann, wenn seitens des Pkw-Fahrers zeitgleich mit der Kollision eine Angleichsbremsungeingeleitet wird, ein Kollisionssignal infolge dieser Bremsung erst dann „beeinflusst“ wird,wenn es mindestens eine Anstiegszeit von 0,26 s besitzt.

Page 86: Leichtkollisionen ||

6.3 Wahrnehmbarkeitsgrenzendes „aktiven Versuchsfahrers“ 79

Im Falle der starken Abbremsung mit 5m/s beginnt der Einfluss bereits bei 0,16 s An-stiegszeit.

Diese beiden Gleichungen bzw. das soeben vorgestellte Diagramm sind nun auch fürden Nichttechniker vergleichsweise leicht handhabbar.

Hatman esmit einermehr streifendenKollision zu tun, die dannAnstiegszeiten von zu-mindest etwa 0,4 s nach sich zieht, so wäre dann, wenn eine Angleichsbremsung zeitgleichmit dem Unfallereignis eingeleitet wurde, eine mit der Kollision einhergehende Fahrzeug-verzögerung von bis zu 3m/s eventuell nicht mehr wahrnehmbar, also alle Wertekombi-nationen die unterhalb der blauen Geraden im Diagramm liegen.

Wäre stattdessen eine starke Abbremsung mit 5m/s seitens des Unfallverursachersinduziert worden, so müsste man zur roten Geraden hochloten, mit einer dann eventu-ell nicht mehr wahrnehmbaren Maximalverzögerung (durch die Kollision) von 3,8m/s.Dies entspricht einer prozentualen Anhebung von ca. 27%, wobei auch hier wieder inErinnerung gerufen wird, dass alle Probanden der Versuchsreihe schon sensibilisiertwaren.

Die Wahrnehmungsgrenze nach WOLFF, die auf Versuchsergebnissen fußt, bei denender Proband nur eine Verzögerung als solche wahrzunehmen hatte (nicht selbst aktiv fah-rend und bremsend), liegt deutlich flacher in diesem Diagramm (mit zunehmender An-stiegszeit des Kollisionssignals). Dieses Ergebnis verblüfft im Grunde genommen wenig,da ohnehin mit einem solchen „Überlagerungseinfluss“ zu rechnen war – bislang war aberunbekannt, wie gravierend er ausfällt.

Der Einfluss der vom Fahrer eingeleiteten, zusätzlichen Bremsung, sei es nun eine An-gleichsverzögerung oder aber eine starke Betriebsbremsung, ist hier offensichtlich. Je strei-fender die Kollision abläuft bzw. je weicher die beteiligten Konturbereiche sind (dies ver-längert auch die Anstiegszeit des Signals), um so mehr spielt der Einfluss einer vom Un-fallverursacher eingeleiteten Verzögerung eine Rolle.

Wurde also in der 1. und 2. Versuchsreihe, Abschn. 6.2 schon eine nicht unbeachtlicheEinflussnahme eines zur Kollision hinzukommenden Bremssignals vermutet bzw. (indi-rekt) versuchstechnisch herausgearbeitet, so ist durch diese Versuchsanordnung (und diebisherige statistische Ergebnisabsicherung) der Nachweis hierfür gelungen.

Sicherlich wäre eine Ergebnisfestigung durch weitere umfangreiche Versuche wün-schenswert. Die Frage z. B. der Fahrwerksteifigkeit und nicht zuletzt der Einfluss zusätzli-cher äußerer Parameter (z. B. unebene Fahrbahn) müsste nach Ansicht des Autors nähergeprüft werden – angesichts der für solche Versuchsreihen höchst beschränkten Mittel(auch Zeit ist Geld) ist so etwas zeitnah von einem kleinen Ingenieurbüro nicht zu bewäl-tigen. Eventuell wird in (vielleicht) künftigen neuen Buchauflagen dieser Thematik weiternachgegangen.

Die bisher dargestellten Ergebnisse sind für den technischweniger versierten Leserwohleher etwas schwerer verständlich, weswegen nun in diversen praktischen Fallbeispielen dievorgestellten Erkenntnisse angewendet werden sollen. Dabei werden Realfälle gezeigt, indenen unfallanalytische Begutachtungen schon existierten, die mit Kenntnis der vorge-nannten Zusammenhänge ganz gewiss zu einem anderen Ergebnis geführt hätten.

Page 87: Leichtkollisionen ||

80 6 Ergebnisse eigener Studien

Es lässt sich nämlich den Schadensbildern zweier Kfz pauschal nie ansehen, wie „hart“das eigentliche Kollisionsgeschehen war. Werden z. B. Karosseriesäulen überstrichen, alsovom Gegner beaufschlagt oder aber mit einer Anhängerzugvorrichtung ein anderes Kfztouchiert, somuss kein hoher „Ruck“ im Verursacherfahrzeug auftreten.

Page 88: Leichtkollisionen ||

7Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

7.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz

Im Rahmen eines Gerichtsauftrages war zu untersuchen, ob ein Unfallereignis auf einemParkplatzgelände für denUnfallverursacher bemerkbarwar bzw. ob er dieses hätte bemerkenmüssen, was ja im Rahmen von „Fahrerfluchtdelikten“ die wesentliche Frage ist. Es reichtnämlich nicht aus, die Wahrnehmbarkeit für „wahrscheinlich gegeben“ zu erachten: es giltja der Grundsatz in dubio pro reo.

Beteiligt an diesem Unfallgeschehen war ein älterer Toyota Corolla, der mit der vorde-ren linken Karosserieecke die hintere rechte Tür und das angrenzende Kniestück bzw. denBeginn des rechten Radlaufes eines Seat Leon verschrammte/verschürfte. Fotos der un-fallbeteiligten Fahrzeuge sind in Abb. 7.1 und 7.2 zu sehen. Die Kontaktfläche am ToyotaCorolla liegt im Bereich des Stoßstangenumgriffs, also direkt oberhalb der dort integrier-ten Blinkleuchte, was demonstriert, dass, sofern alle Spuren unfallrelevant sind, ein nichtganz flacher Anstoßwinkel in Betracht kommt. Bei derlei „vorschnellen“ Einschätzungenist aber Vorsicht geboten, besitzen Kfz mit zunehmender Betriebsdauer oftmals solche„Kampfspuren“, da die Stoßstange die Funktion hat, das Kfz vor bleibenden Schäden zuschützen.

Auch bei streifenden Kontakten kommt es nicht selten zu lokalen Einformungen beimUnfallgegner, z. B. im Bereich eines formschwächeren Türblechs. Auch wenn entsprechen-de plastische Deformationsstrukturen nachkollisionär nicht festgehalten wurden (etwa im„zeitversetzten“ Schadensgutachten), so bedeutet das noch lange nicht, dass so etwas nichtdirekt nach dem Unfall vorgelegen haben könnte. Lokale Eindellungen können sich auchwieder zurückbilden (etwa beim beherzten Türzuschlagen). Auch dies demonstriert, dassbisweilen etwas „Fantasie“ bei derDurchführung einer Kompatibilitätsanalyse nicht schad-haft ist.

Am Seat setzten die Berührspuren im vorderenDrittel der hinteren rechten Tür ein undzogen sich kontinuierlich bis über die hintere Türkante hinweg, wo anschließend der hin-

81K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_7,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 89: Leichtkollisionen ||

82 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.1 Toyota Corolla, stoßender Pkw

Abb. 7.2 Toyota Corolla, Stoßstange mit umlaufenden Schürfspuren

tere rechte Radlauf bzw. das dortige Kniestück eingedrückt und verschürft wurde, Abb. 7.3und 7.4.

Durchgehende Schleifspuren waren auch noch – intensitätsschwach – auf der rechtenFondinsassentür nachvollziehbar.

Page 90: Leichtkollisionen ||

7.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz 83

Abb. 7.3 Seat Leon, gestoßenes, geparktes Fahrzeug

Abb. 7.4 Schrammschäden auf der Tür in Höhe der Hinweispfeile

Für die Frage der Schadenkompatibilität ist auch ein Höhenvergleich der Schadensbe-reiche unerlässlich.

Wie man erkennen kann, liegt der verschürfte Stoßfängerbereich des Toyota genau inHöhe der Anstoßspur auf der rechten Seat-Fondinsassentür – insofern ist eine Schadens-komptibilität nicht ernsthaft in Frage zu stellen. Hier bildet im Übrigen die seitlich anstei-gende Karosserieflanke (hintere Tür/C-Säule bzw. Kniestück) ein schräges Kontaktprofil,an dem sich auch die etwas weiter eingezogenen, gegnerischen Bauteile „anlehnen“ undmithin Schaden nehmen können.

Page 91: Leichtkollisionen ||

84 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.5 Höhenvergleich der Schäden z. B. anhand von maßstabgerechten Skizzen

Abb. 7.6 Anstoßkonfiguration Toyota (rot)/Seat (schwarz)

Aufgrund der Kontaktspurlage am Toyota Corolla und dem von vorne nach hinten zu-nehmenden Verformungsgrad am Seat war von einem Erstkontakt der Kfz unter einemRelativwinkel von etwa max. 25°, (Abb. 7.6) auszugehen.

Überträgt man die so gefundene Anstoßkonfiguration in eine maßstabsgerechte Skizzezur Unfallörtlichkeit, so gelangt man zur Abb. 7.7, wobei blau skizziert der ursprünglicheStandort des Toyota und rot der Erstkontaktbeginn sowie grünlich der Lösevorgang derKfz wiedergegeben ist.

Wie in fast allen vergleichbaren Fällen erfolgte eine Besichtigung der Unfallstelle, wobeiinsbesondere auch dem Zustand des Untergrundes, auf dem das verursachende Fahrzeugzurückgesetzt wurde, Bedeutung geschenkt wird, Detailfotos Abb. 7.8 bis 7.10.

Der Fahrbahnbelag dort war mit Grobbasaltpflaster, das leicht uneben verlief, befes-tigt. Bei Erreichen der, ebenfallsmittels Kopfsteinpflaster versehenen Fahrbahn,warmithinvom Toyota ein leichter Höhenunterschied zu überwinden (etwa knapp 2 cm hoch).

Inwieweit für die Fahrerin der relevante Anstoßbereich am Toyota vorne links einseh-bar war, wurde bei der Besichtigung dieses Kfz geprüft, Abb. 7.11. Unschwer zu erkennen

Page 92: Leichtkollisionen ||

7.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz 85

Abb. 7.7 Unfall-Ablaufskizze

Abb. 7.8 Pflaster im Bereich der Parkfläche

Page 93: Leichtkollisionen ||

86 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.9 Flacher Bordstein am Übergang zur Straße

Abb. 7.10 Hochfoto der Unfallörtlichkeit

ist, dass der vordere linke Pkw-Eckbereich erst ab einer Bodenstandshöhe von ca. 70 cm,also Kotflügelspitze undMotorhaube, einsehbar ist. Die eigentliche Anstoßstelle liegt – wienicht anders zu erwarten – im „Sichtschatten“.

Da die Unfallverursacherin schon in diesemOrtstermin angab, stets das Radio gut hör-bar eingeschaltet zu haben, erübrigt sich an dieser Stelle eine detaillierte Auseinanderset-zung mit der Frage der akustischen Wahrnehmbarkeit, ist diese ja (bei stark streifenden

Page 94: Leichtkollisionen ||

7.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz 87

Abb. 7.11 Sicht vom Fahrersitz

Kontakten) maßgeblich von den Störgeräuschquellen abhängig, so auch dem Radioemp-fang und dessen Lautstärke.

Quasi unerlässlich für die Einstufung der kollisionsbedingten Verzögerung ist zumin-dest die Beiziehung geeigneten Crashversuchmaterials, das man beispielsweise aus demInternetportal CTS (crashtest-service.com) herunterladen kann.

Im konkreten Fall konnten wir aber auf einen eigenen Unfallversuch zurückgreifen, derin den Videosequenzen/Momentanaufnahmen, in Abb. 7.12a bis f zu sehen ist.

In diesem Versuch wurde ein Opel Astra im Rahmen einer Rückwärtsfahrt mit derlinken vorderen Karosserieecke gegen den Seitenbereich eines Opel Omega gesetzt. DerAnstoßwinkel erweiterte sich von zunächst gut 10 auf abschließend gut 15°.

Die in diesem Versuch an den Kfz entstandenen Schäden waren im Hinblick auf dieFormsteifigkeit der Kontaktzonen vergleichbar intensiv wie im vorliegenden Fall. Es wur-de am Opel Omega zunächst die Fahrertür, dann die A-Säule und abschließend auchnoch der vordere Radkastenbereich verschürft, verkratzt und oberflächlich eingedellt,Abb. 7.13.

Die vergleichsweise tiefe Eindellung, die im Fahrertürbereich erzeugt wurde, entnimmtman unmissverständlich der Video-Bildabfolge. Sowohl die sich in Richtung Türende „ab-hebende“ Zierleiste, wie aber auch die bleibende Verformungstiefe im mittleren, weichenTürhautbereich sind überdeutlich.

Dass darüber hinaus auch die Fahrertür und das Kotflügelabschlussblech deutlich be-lastet wurden, zeigt Abb. 7.13. Man nimmt ein (sich in der Anstreifzone) veränderndesSpaltmaß wahr, das belegt, dass es nicht nur zu einem leichten „Schleifkontakt“ kam. Nach

Page 95: Leichtkollisionen ||

88 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.12 Videosequenz – Crashversuch

„Überstreichen“ der Kotflügelpartie wurde auch noch die Seitenfläche des Vorderreifensgetroffen, also ein vergleichsweise wenig nachgiebiges Bauteil.

Auch der Opel Astra zeigte nachkollisionär deutliche Spuren des stattgefundenen Cras-hs, Abb. 7.14 und 7.15. Der seitlich umlaufende Stoßstangenschenkel bis etwa unter dieBlinklichtposition im Stirnflächenbereich, wie aber auch das vordere Kotflügelblech warenverschürft und eingedellt (Kotflügelspitze).

Das Schadensausmaß war insgesamt nicht „niederenergetischer“ als jenes, resultierendaus der Realkollision, weshalb es auch statthaft ist, das im Versuchs-Astra vom Datalog-ger registrierte Beschleunigungs-Zeit-Signal für die Beurteilung der Fühl-/Spürbarkeit desBagatellunfalls heranzuziehen, Abb. 7.16.

Page 96: Leichtkollisionen ||

7.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz 89

Abb. 7.13 Schäden am Opel nahe der A-Säule

Abb. 7.14 Detailschäden am Kotflügel

Die Messwerterfassung zeigt, dass zwei unterschiedliche Längs-Beschleunigungs-maxima (schwarze Kurve) auftraten, die daraus resultieren, dass der Stoßfänger des Astraüber die Radlaufkante des Opel Omega hinwegrutschte und es anschließend zu einerhohen Verzögerungseinsteuerung infolge des Kontaktes mit dem Vorderrad kam.

Relevant für denVerschürfungsvorgang auf der Tür respektive den anschließendenKot-flügelkontakt ist der Verzögerungsmaximalwert von 1,5m/s bei einer Anstiegszeit von0,8 s.

Page 97: Leichtkollisionen ||

90 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.15 Gesamtansicht desAstra-Schadensbereiches

Der anschließende Anstieg auf 1,9m/s2 hängt mit dem abschließenden Reifenkontaktzusammen, der im aktuellen Fall aber zweifelsfrei nicht vorlag. Er ist also aus dem Signal-verlauf gedanklich herauszustreichen.

Im Spektrum erkennt man zudem die vomDatalogger aufgezeichnete Querbeschleuni-gung des Opel Astra, die ihr Höchstmaß bei „Überstreichen“ der A-Säule erreichte, wenn-gleich derMaximalwert mit etwa 0,4m/s2 eher intensitätsarm ist. Folglich trat keine solcheWankbewegung im Inneren des Opel Astra auf, die nun von einem „normal“ konzentrier-ten Pkw-Fahrer hätte registriert werden müssen.

Überträgt man diese Wertekombination in das Schwellenwertdiagramm nach WOLFFmit der durchaus auch nach oben verschiebbaren, modifizierten Grenzlinie, so stellt manfest, dass man sich in einem Bereich befindet, der umgeben ist von „nicht wahrgenomme-nen Versuchen“, Abb. 7.17.

Es ließ sich also im Hinblick auf den, mit dieser real stattgefundenen Kollision nursehr schwachen, Verzögerungsanstieg im Toyota Corolla klar nachweisen, dass dieses Un-fallereignis von der Verursacherin nicht hätte wahrgenommen werden müssen und auchwahrscheinlich nicht wahrgenommen wurde.

Dies belegt zumindest indirekt die Aussage eines außenstehenden Zeugen, der angab,dass die Fahrzeugführerin in einem Zug aus der Parklücke heraussetzte und ganz normaldavonfuhr.

Letztlich beeinflusst hier auch noch der unebene Untergrund die Wahrnehmbarkeit innegativer Hinsicht, da beim Befahren dieses gepflasterten Bereiches stets eine gewisse Un-ruhe im Fahrzeug vorhanden ist.

Fahrversuche des Autors ergaben, dass das Überfahren von unebenen Fahrbahndecken(hier Basaltpflaster) kontinuierliche Längs- und Querbeschleunigungsausschläge von 0,2bis 0,4m/s2 (je nach Unebenheit) mit sich bringen können. Diesen Anteil müsste man,da er sich ja quasi als „Adaptationszustand“ darstellt, von oben genannten Spitzenwertenabziehen. So könnte ja ein Zustand auftreten, bei dem das Kfz infolge eines Abrollvorgangs

Page 98: Leichtkollisionen ||

7.1 Streifkollision zweier Pkw auf einem Parkplatz 91

Abb. 7.16 Verzögerungsdiagramm des Dataloggers im Opel Astra

(Herunterfahrens) von einer Bodenerhebung zeitgleich mit den Gegner kontaktiert; dieKollisionsverzögerung also um den oben genannten Anteil der Beschleunigung gemindertwird.

Da sich am Toyota Corolla (sichere) Anzeichen für eine verzögerte Bewegung währendder Kontaktphase nicht ergaben, bedarf es auch der Untersuchung der im Kap. 9 erar-beiteten Zusammenhänge für diesen Fall nicht. Die Spurantragungen am Seat verliefenannähernd horizontal, sodass zumindest merkliche Bremsmomente des Toyota nicht an-zunehmen sind. Letztlich wäre dies angesichts der auch so nicht (sicher) wahrnehmbarenKollision im Ergebnis unbedeutend.

Page 99: Leichtkollisionen ||

92 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.17 Schwellendiagramm

7.2 Ausgedehnte Streifkollision

In einem Strafbefehl gegen einen zum Unfallzeitpunkt 43 Jahre alten Pkw-Fahrer wirdvorgeworfen, infolge Unachtsamkeit beim Einparken einen Verkehrsunfall verursacht zuhaben, bei dem ein Fremdschaden in Höhe von gut 2200,00 € entstand. Es heißt weiterdort, dass, obwohl vomVerursacher der Unfall bemerkt worden sei, er sich zu Fuß von derUnfallstelle entfernte, ohne zuvor die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen.

Schon an dieser Stelle müssen, insbesondere dann, wennman die Aussage eines Zeugenliest, Zweifel an der Wahrnehmbarkeit des Unfallgeschehens aufkommen.

Vom außen stehenden Beobachter wurde nämlich vorgetragen, dass der Pkw-Fahrerin eine längs zur Fahrbahn angeordnete Parklücke in Vorwärtsfahrt einbog und mit derrechten Seite das hinter ihm stehende Fahrzeug vorne links touchierte. Dabei sei der Un-fallverursacher zügig gefahren und habe diesen Streifschaden verursacht.

Er selbst sei auf das Unfallgeschehen durch den Knall (Kollisionsgeräusch) aufmerksamgeworden, den er von seinemStandpunkt in demdort ansässigenGeschäftwahrgenommenhabe (Distanz zum Unfallort wenige Meter).

Der Unfallverursacher hatte das Fahrzeug verlassen und sei, ohne die Schäden zu be-trachten, schnellen Schrittes davongegangen.

In seiner eigenen Einlassung gab der Unfallverursacher an, in Eile wegen eines Arzt-besuches gewesen zu sein. Zum Unfallzeitpunkt habe er (wie immer) im Fahrzeug lautRadio gehört. Nach dem Arztbesuch sei er dann auf direktem Wege nach Hause ge-fahren.

Page 100: Leichtkollisionen ||

7.2 Ausgedehnte Streifkollision 93

Abb. 7.18 Schadensbilder Pkw VW Polo, grüner Pfeil = Kontaktbeginn

Abb. 7.19 Schadenszone nahe Kniestück mit bleibender Delle

Am Fahrzeug des Schädigers, einem VW Polo 1,2 l, entstand ein lang ausgedehn-ter Streifschaden an der rechten Karosserieseite. Die Abb. 7.18 bis 7.21 zeigen, dass derSchaden etwa im hinteren Drittel der Beifahrertür zunächst leicht streifend einsetzte unddann kurz vor der B-Säule zu einer Eindellung in der Türbeblechung führte. Nach Über-schreiten der B-Säule fanden sich dann Kontaktspuren am hinteren rechten Seitenteil, dasebenfalls leicht eingedrückt wurde. Der Radlauf sowie die sich daran anschließende hin-

Page 101: Leichtkollisionen ||

94 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.20 Schadensbild Pkw VW Polo/Detailansicht

Abb. 7.21 Schadensbild Pkw VW Polo/Pfeil: Kontaktende am hinteren Radlauf

tere, seitlich umlaufende Stoßfängerpartie wurden ebenfalls oberflächlich verschürft undverschrammt.

BeimUnfallgegner, einemSuzukiWagonR entstand ein Schaden an der vorderen linkenKarosserieecke, Abb. 7.22 und 7.23. Erkennbar ist eine Verlagerung bzw. Verdrückung dervorderen linken Stoßfängerpartie. Auch am Kotflügel oberhalb sind Schadensspuren zuerkennen. Zudem wurden vom Schadensgutachter Bruchspuren an den vorderen linken

Page 102: Leichtkollisionen ||

7.2 Ausgedehnte Streifkollision 95

Abb. 7.22 Schadensbild abgeparkter Pkw Suzuki Wagon R

Abb. 7.23 Detailansicht Pkw Suzuki Wagon R

Beleuchtungseinrichtungen festgestellt. Auch das Lampentrageblech sei seitlich gestauchtgewesen. Am Laufrad vorne links wären Anpressspuren feststellbar gewesen.

Seine Kalkulation führte auf einen Gesamtschadenbetrag am Suzuki von netto knapp1800 €, womit die „juristische Bagatellgrenze“ überschritten wurde.

Nicht nur wegen der zeugenschaftlichen Unfallschilderung, sondern unzweifelhaft we-gen der Fahrzeugschäden muss der VW Polo zunächst unter einem Relativwinkel vonannähernd 20° mit dem hinteren Drittel der Beifahrertür gegen die vordere linke Suzuki-Seite gestoßen sein, ähnlich Abb. 7.24.

Von hier an nahm dann allerdings (nach Kontaktnahme mit dem Suzuki) die Einlenk-bewegung des VW Polo nicht weiter zu, er konnte dann in quasi Geradeausfahrt in diedavor befindliche Parklücke am Fahrbahnrand gelangen.

Page 103: Leichtkollisionen ||

96 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.24 Anstoßkonfiguration (oben Suzuki/unten VW Polo)

Dies zeichnet sich auch am Schadensbild des VW Polo ab, dort ist eine merkliche Zu-nahme der Deformationstiefe entlang der rechten Fahrzeugseite insgesamt nicht festzu-stellen. Hätte der Unfallverursacher kontinuierlich stark nach rechts eingelenkt, so wäreaufgrund der Seitenteilverlagerung in Richtung abgeparktem Suzuki eine deutlich größereIntrusionstiefe entstanden, die man aber so nicht feststellen kann.

Auf den ersten Blick wirkt das Schadensausmaß an beiden Kfz durchaus beachtlich,nicht zuletzt deswegen, weil die Anstreiflänge am unfallverursachenden VW Polo immer-hin etwa 1,5m betrug.

Der Zeuge will durch das Unfallgeräusch auf den Schadenhergang aufmerksam gewor-den sein.

Dies bedingt natürlich ein, über die nicht gerade sehr hohe Lautstärke einer solchenStreifkollision hinausgehendes „Schalldruckpegelereignis“.

Was sehrwahrscheinlich seitens des Zeugen wahrgenommenworden sein wird, war dasReißen bzw. Platzen der vorderen Beleuchtungseinrichtungen am Suzuki (laute Knackge-räusche).

Befand er sich zudem unweit des eigentlichen Anstoßortes (seinen Angaben nach we-nige Meter), so wird je nach genauer Schallabschirmung in seinem Geschäft (eventuellFenster oder Tür geöffnet) eine merkliche akustische Dämmung möglicherweise nichtvorgelegen haben, womit für ihn das Unfallgeschehen auch akustisch gut wahrnehmbarwar.

Dies muss, wie bereits zuvor erläutert, für den Unfallverursacher so nicht gelten. Ersitzt im Fahrzeug von der Außenwelt akustisch gut abgeschirmt. Schenkt man dem Un-fallverursacher Glauben, dass er laut Musik hörte, so wäre damit ein Lautstärkepegel imWageninneren von zumindest 80–85 dB(A) verbunden. Es hätte eines Anstoßgeräuschesaußerhalb des Fahrzeugs von zumindest 100 dB(A) erfordert, damit die Weiterleitung insFahrzeuginnere, nämlich um zumindest 20 dB(A) geschwächt, an den Lautstärkepegel desRadios herangekommen wäre.

Page 104: Leichtkollisionen ||

7.2 Ausgedehnte Streifkollision 97

Wie umfangreiche Untersuchungen unseres Hauses gezeigt haben, treten aber bei der-lei Kollisionskonstellationen so hoheGeräuschpegel in der Außenatmosphäre (selbst beimPlatzen oder Knacken von Beleuchtungseinrichtung) nicht auf, so dass der Nachweis derakustischen Wahrnehmbarkeit, wie in vielen anderen Fällen, so nicht zu führen ist.

Für die Frage der Fühl- oder Spürbarkeit des Unfallgeschehens wurde ein Vergleichs-versuch gefahren.

Die Versuchsanordnung ist den Abb. 7.25 und 7.26 zu entnehmen.Mit zunächst leichtem Lenkeinschlag wurde der schadenverursachende Rover an den

schräg dazu positionierten Opel Astra gestellt.Sodann wurde mittels leichtem Lenkeinschlag um die vordere linke Karosserieecke des

Opel Astra herumgefahren, Videoeinzelbilder 7.26 und 7.27 (Bilder 1 bis 10).Nachkollisionär war am schadenverursachenden Pkw Rover ein insgesamt stärkeres

Schadensbild als am unfallverursachenden VW Polo festzustellen, Abb. 7.28 und 7.29.Auch am Rover setzte der erste Streifkontakt im hinteren Drittel der Beifahrertür ein,

überstrich dann die B-Säule und führte zu einer deutlichen Verformung im Bereich deshinteren rechten Seitenteils. Ein Radkontakt war durch eine entsprechende Berührspurfeststellbar.

Mittels angelegterWasserwaage, Abb. 7.29, war feststellbar, dass einewesentlich größereEindringtiefe im Seitenteil erzielt wurde als am schadenverursachenden VW Polo. Schondie statische Deformationstiefe lag bei gut 2 cm. Im dynamischen Kollisionsprozess liegtsie bekanntermaßen noch darüber, weil zumindest geringeRückverformungseigenschaftensolcher Karosseriebleche nachkollisionär zu beobachten sind.

Am getroffenen Opel Astra kam es zum Kontakt mit dem seitlich umlaufenden Stoß-fänger und dem darüberliegenden Kotflügelblech. Auch die vordere Reifenflanke wurdeleicht beaufschlagt.

Es war hier eine etwas geringere Verformungsintensität festzustellen als am Suzuki, dadieser deutlich eckiger konzipiert ist, womit die quasi senkrecht stehenden, allerdings nichtsehr formstabilen Beleuchtungsbauteile vorne links schneller kontaktiert werden konnten.

Interessant für die Frage der Fühl- bzw. Spürbarkeit dieses Anstoßgeschehens warennatürlich wieder der vom Datalogger registrierte Verzögerungsaufschrieb und auch dieWahrnehmung des Versuchsfahrers.

Von Bedeutung ist hier natürlich auch die mit einem solchen Kollisionsvorgang einher-gehendeWankbewegung des unfallverursachenden Kfz, also dessen Querbeschleunigung.

Die Abb. 7.30 gibt zu erkennen, dass ein Verzögerungsmaximum von etwa 2,0m/s beieiner Anstiegsdauer von etwa 0,9 s auftrat. Der Versuch wurde mit einem Tempo von gut6 km/h, also ebenfalls nicht sehr langsam, gefahren.

Dass ein kleiner Verzögerungssprung in der Datenaufzeichnung festzustellen war, hingmit der Eindringbewegung der vorderen linken Karosserieecke des Opel Astra in den sichin Richtung Hinterrad öffnenden Freiraum (Radkastenöffnung und tiefer liegendes Hin-terrad) zusammen.

Page 105: Leichtkollisionen ||

98 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.25 Versuchsanordnung, geparktes Kfz steht unter 20°. a Erstkontaktwinkel ca. 20°, b Blickin Gegenrichtung

Page 106: Leichtkollisionen ||

7.2 Ausgedehnte Streifkollision 99

Abb. 7.26 Videosequenz – Momentanbilder

Page 107: Leichtkollisionen ||

100 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.27 Videosequenz – Momentanbilder

Page 108: Leichtkollisionen ||

7.2 Ausgedehnte Streifkollision 101

Abb. 7.28 Schadensbild Versuchsfahrzeug Rover/Kontaktbeginn im Fahrertürbereich

Abb. 7.29 Schadensbilder Versuchsfahrzeug Rover/Eindringtiefe statisch ca. 2 cm

Infolge der schlussendlichen Kontaktierung im Bereich des Hinterrades und der hin-teren Karosseriestruktur kam es dann zu einer weiteren Verzögerungsabnahme auf denMindestwert in diesem Diagramm.

Vom Fahrer des hier schadenverursachenden Rover war die mit der Kollision zusam-menhängende Verzögerung selbst nicht zu spüren, auch nicht dieser kleine Verzögerungs-sprung.

Page 109: Leichtkollisionen ||

102 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.30 Verzögerungsaufschrieb Datalogger im stoßenden Rover

Obwohl im Rover kein Radio eingeschaltet war, konnte das Kollisionsgeräusch, das imAußenbereich relativ laut war (laut Lautstärkepegelmessermaximum 83,3 dB(A)), im Fahr-zeuginneren nur sehr leise vernommen werden.

Auch die im Fahrzeug aufgetretene Querbeschleunigung, Abb. 7.31, lieferte kei-ne großen Wertekombinationen. Das Maximum der Querbeschleunigung lag bei etwa1,3m/s (Anstiegszeit 0,59 s).

Page 110: Leichtkollisionen ||

7.2 Ausgedehnte Streifkollision 103

Abb. 7.31 Querbeschleunigungsspektrum

Bedenkt man, dass der Durchschnittsfahrer im Rahmen von zügigen KurvenfahrtenQuerbeschleunigungen von gut und gerne 2,5–3m/s noch „duldet“ bzw. „hinnimmt“,so ist die mit dieser Kollision einhergehende Wankbewegung bzw. Querbeschleunigungunauffällig klein. Der Fahrer des hier unfallverursachenden Kfz rechnet ohnehin mit ei-ner Wankbewegung aufgrund seiner Einlenkbewegung, so dass auch die oben genanntenQuerbeschleunigungskomponente letztlich nicht aus demüblichen Erfahrungsschatz „her-aussticht“.

Page 111: Leichtkollisionen ||

104 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.32 Schwellenwerte

Überträgt man nun die Wertepaarung ins so genannte Schwellenwertdiagramm, so er-kennt man, dass eine 100%-ige Überschreitung der Schwelle bei einer derart zeitlich aus-gedehnten Streifberührung erst in Bereichen sicher oberhalb von 4m/s festzustellen sind,womit folgt, dass auch hier der Nachweis der Fühl- bzw. Spürbarkeit des Anstoßgeschehensnicht führbar war (Abb. 7.32).

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass man in der Fahrerposition auch über den rechtenAußenspiegel die Nähe des letztlich getroffenen Unfallgegners nicht feststellen konnte. Eswar also dem Fahrer mithin nicht möglich, die Anstoßzone direkt einzusehen.

Man kam also für diese Unfallangelegenheit zu dem letztendlich nicht verblüffendenErgebnis, dass der Fahrer das Anstoßgeschehen wohl selbst nicht wahrgenommen habenwird. Nicht zuletzt seineVerhaltensweise vorOrt, nämlich das Stehenlassendes Verursach-erfahrzeugs direkt vor dem geschädigten Fahrzeug deutet nun nicht gerade darauf hin, dassdas mit dem Anstoß verbundene Kollisionssignal (akustischer oder kinästhetisch-taktilerArt) nun sonderlich auffällig gewesen wäre. Angesichts einer solchen Situation, nämlicheiner Direktbeobachtung durch Personen in einem nahe gelegenen Geschäft, den Unfall-ort zu verlassen, obschon die Schäden für die Zeugen offensichtlich erkennbar waren, setztschon eine gehörige „Portion Kaltschnäuzigkeit“ beim Unfallverursacher voraus. Wenn-gleich dies natürlich kein technischer Beweis ist, so lässt diese Ausgangssituation bei ersterSicht der Dinge schon eine Beurteilungstendenz zu.

Page 112: Leichtkollisionen ||

7.3 Ausparkkollision VW Golf/3er BMW 105

7.3 Ausparkkollision VWGolf/3er BMW

Anlass der Beauftragung war eine Kollision zweier Pkw im Rangiervorgang. Ein VWGolfTyp-V stieß im Rahmen einer Rückwärtsfahrt mit der hinteren rechten Konturecke gegenden vorderen linken Radlaufbereich eines dahinter befindlichen 3er BMW.

Im Rahmen eines gegen den VW Golf-Fahrer eingeleiteten Strafverfahrens sollte derFrage nachgegangen werden, ob das Unfallgeschehen, sofern die Schäden kompatibel sind,hätte wahrgenommen werden müssen.

Auch hier wurde vorab eine Besichtigung der Vorfallstelle durchgeführt, Abb. 7.33 und7.34. DerGolf wurde über die dort zu sehende, gepflasterte Ausfahrt rückwärts in RichtungStraße gesetzt und stieß gegen den BMW, der auf dem gegenüberliegenden Parkstreifenstand, also dort, wo man in Abb. 7.34 die sitzende Person sieht.

Am VW Golf waren Schäden hinten rechts an der Stoßfängerecke sowie der darunterbefindlichen Schürze deutlich zu erkennen. Letztgenannte wurde in Fahrtrichtung fehlge-stellt und war zuunterst eingerissen, Abb. 7.35 und 7.36.

Sofort ins Auge fiel natürlich der Reifenprofilabdruck (Abb. 7.35) an der unlackiertenSchürze, der einen entsprechenden Kontakt am „Gegner“ erwarten ließ.

Die Schäden auf dem lackierten Stoßfängerüberzug reichten bis an die Heckzone heran– man erkennt im Abb. 7.36 noch links oben den unteren Heckklappenbereich. Die Krat-zer und Schürfspuren durchdrangen die komplette Lackschicht; das Kunststoffmaterial tratdeutlich zutage.

Am geparkten BMW zeigten sich auffällige Schäden am linken Kotflügel. Die vordereHälfte des Radlaufes war auf einer Höhe von ca. 50 bis 65 cm Höhe beschädigt. Auch derseitlich umlaufende Stoßfänger inkl. der darauf befindlichen Leiste zeigte Berührspuren.

Ergo muss der potenzielle Unfallgegner mit einer Konturecke zunächst den Stoßstan-genschenkel des BMW getroffen und diesen seitlich verlagert haben. Hierdurch war dann

Abb. 7.33 Ausfahrt

Page 113: Leichtkollisionen ||

106 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.34 Seinerzeitiger Standort des BMW in Höhe der Person

Abb. 7.35 Schadenspuren am stoßenden VW Golf, Reifenkontaktspur

die merkliche Eindellung des rechten strukturharten Radlaufes möglich – ein Kontakt mitdem nahestehenden Vorderrad war hierdurch quasi „vorprogrammiert“.

Zum Zwecke der Kompatibilitätsprüfung wurden Vergleichsfahrzeuge mit einem Glie-dermaßstab abfotografiert unddann in einer Fotoüberlagerung einander gegenübergestellt,Abb. 7.39. An der Schadenszuordnung bestand aus technischer Sicht kein Zweifel, zumalder VW Golf im unteren Schürzenbereich klare Spuren eines Reifenkontaktes erkennen

Page 114: Leichtkollisionen ||

7.3 Ausparkkollision VW Golf/3er BMW 107

Abb. 7.36 Detailspuren am VWGolf

Abb. 7.37 Angestoßener, geparkter 3er-BMW

Page 115: Leichtkollisionen ||

108 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.38 BMW Seitenansicht

Abb. 7.39 Höhenvergleich mittels Fotoüberlagerung

Page 116: Leichtkollisionen ||

7.3 Ausparkkollision VW Golf/3er BMW 109

Abb. 7.40 Skizze Ausparksi-tuation

ließ, die natürlich zu der Belastungszone am BMW in der Nähe des linken Vorderradessehr gut passten. Das Reifenprofil des BMW war im Flankenbereich sogar noch bis in De-tails nachvollziehbar.

Aufgrund der bis ins VW-Heck hineinreichenden Schadensspuren könnte man ohnegenaue Kenntnis des BMW-Schadensbildes voreilig schließen, es hätte hier eine „stumpf-winkelige“ Kollisionsanordnung vorgelegen. Tatsächlich fanden sich aber auch am seitli-chen VW-Stoßfängerschenkel Verschürfungen, deren Herkunft ebenfalls zu klären waren.

Bedenkt man, dass der Stoßstangenumgriff des BMW vergleichsweise weich ist, sokonnte bei einer schrägen Kfz-Anordnung zunächst die VW-Seite dort anstoßen und so-dann die Heckpartie „stumpfwinkeliger“ gegen den BMW-Radlauf und das Vorderradgeraten, ähnlich Abb. 7.40 (rote Kfz-Modelle).

Die rückwärtige Bogenfahrt aus der Grundstückszufahrt ist hier durch die andersfar-bigen Modelle angedeutet worden. Man erkennt, dass der aus den Schäden hergeleiteteAnstoßwinkel, beginnend unter ca. 25°, auch plausibel zu einer normalen Fahrweise in derÖrtlichkeit passt.

Da es sich bei den beobachtbaren VW-Beschädigungen nicht um nur eher oberfläch-liche, leichte Kratzspuren handelt, sondern durchaus auch schon um Schäden, die einegrößere Wechselwirkung der Kfz voraussetzen, wurde zum Zwecke der Beurteilung desim VW Golf aufgetretenen Verzögerungssignals eigens ein Crashversuch gefahren. AusKostengründen wurde natürlich nicht auf so hochwertige Fahrzeuge zurückgegriffen, daes hier nur prinzipiell darum ging, wie stark die Erschütterungen im unfallverursachendenFahrzeug im Rahmen einer ähnlich gelagerten Kollision waren.

Im Versuch eingesetzt wurde ein, ebenfalls mit einem großvolumigen Stoßfänger imHeckbereich ausgestatteter Mazda 121, der rückwärts gegen einen VW Golf II gefahrenwurde.

Page 117: Leichtkollisionen ||

110 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.41 Videosequenz/Momentaufnahmen

Diese Crash-Konstellation wurde nicht zuletzt aufgrund des Massenverhältnisses derim Realfall kollidierenden Kfz gewählt – zusätzlich war der Crash-Mazda im Heck-Eckbereich von ähnlicher „Konzeption“ wie der VW Golf im vorliegenden Fall.

Einige Momentanstandbilder des Videofilms zum durchgeführten Unfallversuch sindzu sehen in den Abb. 7.41a bis f. Die im Versuch eingehaltene Geschwindigkeit lag bei gut3 km/h (Videoauswertung).

Bei dem auch hier unter 25° durchgeführten Anstoß (Beginn Abb. 7.41b) kam es zu-nächst zumKontakt mit der vorderen VW-Kotflügelfläche. Danach schob sich die Heckzo-ne desMazda-Stoßfängers in die Berührebene Radlauf undVorderrad des VWGolf hinein,wo die Bewegungsenergie des Mazda letztlich aufgezehrt wurde – er kam dort zum Still-stand, konnte also aufgrund der hier stumpfwinkeligen Kfz-Orientierung nicht amGegnervorbeifahren.

Page 118: Leichtkollisionen ||

7.3 Ausparkkollision VW Golf/3er BMW 111

Abb. 7.42 Verzögerungsdiagramm der nachgestellten Kollision

Auch hier war im unfallverursachenden Crashfahrzeug (Mazda) ein Datalogger instal-liert, der das nachfolgende Spektrum (Abb. 7.42) lieferte. Daraus ist ersichtlich, dass beieiner mittleren Anstiegszeit von 0,31 s ein Spitzenwert von insgesamt 3,1m/s (Summe derRelativwerte unterhalb und oberhalb der Nulllinie) auftrat.

In diesem Zusammenhang ist daraufhin zu weisen, dass der Maximalausschlag auchAnteile unterhalb der x-Achse beinhalten kann, kommt es auf den „Startpunkt“ des Verzö-gerungssignals im Diagramm an.

Page 119: Leichtkollisionen ||

112 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.43 Schadenausmaß am getroffenen Golf

Die am Crash-Golf eingetretenen Beschädigungen sind im Hinblick auf ihre Intensi-tät jenen am BMW nicht nennenswert „unterlegen“. Beginnend im vorderen, seitlichenKotflügelblech entstanden deutliche Schramm- und Schürfspuren, die sich auch bis in dieRadlauferhebung, Abb. 7.43, erstrecken. Letztgenannter wurden dann bis zum anschlie-ßenden Radkontakt durchgehend verformt. Auch die vertikale Schadensausdehnung lässtsich quasi 1:1 auf das Erscheinungsbild des BMW im Realfall übertragen. Von der unterenRadlaufkante bis zu ihremZenit stellten sich durchgehende Antragspuren und auch leichteEindellungen ein.

Eine deutliche Verfärbung an der seitlichen Reifenflanke verriet einen abschließendenPkw-Kontakt dort; dies ließ sich schon anhand des Videomitschnitts zu diesem Versuchnachvollziehen.

Der im Versuch stoßende Mazda erlitt starke Schramm- und Schürfspuren am hinte-ren, seitlich umlaufenden Stoßstangenschenkel, Abb. 7.45. Die kräftige Fehlstellung dortist leicht anhand des sich in Fahrtrichtung vergrößernden Spaltmaßes zur Seitenunterkan-te nachzuvollziehen.

Schlussendlich waren auch dort Belastungsspuren in Form von Lackabschabungen undleichten Eindellungen festzustellen.

Im Ergebnis ist damit das in diesem Versuch erzielte Schadensausmaß insgesamt nichtmerklich intensitätsschwächer als im Realfall.

Integriert man zunächst das aus dem Versuch resultierende Messwertgefüge in das Be-urteilungsdiagramm nach WOLFF, Abb. 7.46, so stellt man fest, dass er sich oberhalb der

Page 120: Leichtkollisionen ||

7.3 Ausparkkollision VW Golf/3er BMW 113

Abb. 7.44 Detailfoto Radlauf Golf

Wahrnehmbarkeitsgrenze befindet (grünes Kreuz). Rot in diesem Diagramm ist die nachDEEKEN als „oberste Wahrnehmungsschwelle“ definierte Linie zu sehen, die für den Falleines stark abgelenkten Fahrzeugführers gelten kann. Für einen „solchen Unfallverursa-cher“ wäre hier der Nachweis der Wahrnehmbarkeit des Unfallgeschehens technisch mit-hin nicht sicher führbar.

Nach Autorenansicht wäre daher im Sinne „in dubio pro reo“ die Fühl-/Spürbarkeit derstattgefundenen Kollision zumindest in Zweifel zu ziehen.

Nun fand der Anstoß – in der Örtlichkeit – in einem Bereich statt, wo man erwartenkann, dass der Betroffene die Rückwärtsfahrt beendete, um sodann nach vorn wegzufah-ren. Die Möglichkeit einer – zum Anstoßgeschehen – zeitnahen (willentlichen) Fahrzeu-gabbremsung durch den Verursacher ist diskutabel.

Mit den imKap. 9 gewonnenen Erkenntnissen, die auf einemögliche gleichzeitige (zeit-nahe) Fahrzeugverzögerung im Zuge der Kontaktnahme abzielte, wäre unter Rückgriff aufdie nachfolgende Abb. 7.47 festzustellen, dass bei der hier relevanten Anstiegszeit von gut0,3 s eine vom Unfallverursacher zeitgleich eingeleitete Fahrzeugverzögerung von erhebli-chen 5,5m/s notwendig gewesen wäre, um das Unfallgeschehen noch in den Wahrneh-mungsgrenzbereich zu verschieben. Eine solche Abbremsung ist im Rahmen eines Ran-gierprozesses schon als außergewöhnlich hoch zu bezeichnen – man könnte dann auchargumentieren, es handele sich um eine, zurUnfallvermeidung eingeleitete, starkeAbwehr-verzögerung.

Andersherumdemonstriert gerade dieser Fall, welcher Schadensausmaße es imRealfallbedarf, bevor man sich überhaupt in die „Grauzone“ der „Wahrnehmbarkeitsschwelle“ be-

Page 121: Leichtkollisionen ||

114 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.45 VersuchsfahrzeugMazda – starke Schrammspuren/Spaltmaßänderung

Abb. 7.46 Beurteilung der Spür-/Fühlbarkeit

gibt. Es müssen schon recht ausgeprägte Schadensspuren am getroffenen Fahrzeug vorlie-gen, bevor man die Fühl-/Spürbarkeit sicher bejaht – allein die Existenz von Schleifspuren(ohne Deformationen) wird denWahrnehmbarkeitsnachweis generell nicht ermöglichen.

Page 122: Leichtkollisionen ||

7.4 Stumpfwinkelige Kollision 115

Abb. 7.47 Einfluss einer überlagerten Fahrzeugabbremsung

7.4 Stumpfwinkelige Kollision zwischen einer Anhängerkupplungund einer Pkw-Frontpartie

Bisherwurdenmehr oderminder streifende Fahrzeugkontakte vorgestellt.Wie aber verhältes sich bei vermeintlich (weil auf den ersten Blick) stumpfwinkeligen Realunfällen? VieleGutachter neigen hier nicht selten zu vorschnellen Einschätzungen; mit dieser Art Crashswird ja ein harter „Ruck“wegen der zu erwartenden kurzenKollisionsdauer vermutet. Dassdem nicht so sein muss, zeigt das folgende Beispiel.

In einem seinerzeit zu beurteilenden Unfallgeschehen wurde die Front eines Pkw FordKA durch den Anhängerzughaken eines (zunächst davor parkenden) VW Passat Kombibeschädigt.

An dem abgeparkten FordKA entstand eine deutliche Eindellung imBereich des Kenn-zeichens und eine Durchdrückung des vorderen, voluminösen Stoßfängerüberzuges bis inRichtung des Querträgers, an dem sich leichte Abdruckspuren fanden.

Mit solchen Anstoßgeschehen verbindet man sofort eine kräftige Fahrzeugerschütte-rung, da es sich bei dem Zughaken des unfallverursachenden Fahrzeugs um ein sehr steifes

Page 123: Leichtkollisionen ||

116 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.48 Kennzeichen desFord KA mit deutlichen Ver-formungsspuren

Abb. 7.49 Verbauter Metallquerträger hinter der Stoßfängerverblendung

Bauteil handelt, das in starrer Verbindung zum Fahrzeugrahmen steht, mithin einen Kolli-sionsruck also gut in die Insassenzelle transportieren kann. Mit der Stirnfläche des getrof-fenen Pkw verbindetman ebenfalls eine hohe Formstabilität; die dortmontierte Stoßstangebesitzt die Aufgabe, leichte Anstöße möglichst schadenfrei zu absorbieren.

Da derlei Kollisionskonstellationen nicht selten sind, wurden mehrere Crashversuchemit zunehmender Intensität durchgeführt, nämlich bis der Kugelkopf der Anhängerkupp-lung des verursachenden Pkw sowohl das Kennzeichen des Ford KA, wie aber auch denStoßfängerüberzug so stark verformte, dass es zum Kontakt mit dem dahinter liegendenQuerträger kam.

Es wurden insgesamt drei Versuche gefahren, bei denen nur der dritte, weil mit ei-nem Tempo von knapp 3 km/h gefahren, zu merklichen Schäden am Ford KA führte. Inden ersten beiden Crashs kam es lediglich zur Eindellung des aus dünnem Blech gefer-

Page 124: Leichtkollisionen ||

7.4 Stumpfwinkelige Kollision 117

Abb. 7.50 Stoßender Versuchs-PkwVW Passat mit starr angebrachter AHK

Abb. 7.51 Höhenlage der AHK

tigten Kennzeichens. Nach dessen Demontage waren (nachhaltige) Belastungsspuren ander Kunststoffverkleidung (und auch dahinter) nicht ersichtlich. Der dritte Versuch führ-te dann zu einer deutlichen Verformung des Kunststoffteils – die Stoßweiterleitung in dendahinter befindlichen Querträger war offensichtlich, dort tat sich eine schwache Delle auf.

Auch an der strukturierten Rückseite des Stoßfängerüberzuges, Abb. 7.55, waren Aus-brüche der Kunststoffstege und Lamellen festzustellen. Sie demonstrierten eindrucksvoll,dass der Kugelkopf der AHK tief in die (punktuell belastete) Stoßfängerpartie des Ford KAeingedrungen war.

Page 125: Leichtkollisionen ||

118 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.52 Anstoßkonfiguration zu Beginn der Versuchsreihe

Abb. 7.53 Draufsicht: AHK stark exponiert

Die Untersuchung des Passat- Anhängerzughakens ließ erwartungsgemäß keine Be-schädigungen erkennen.

Für eine ordnungsgemäße Instandsetzung des Ford KAwären neben dem voluminösen(kompletten) Stoßfängerüberzug auch der Ersatz des vorderen Querträgers (und auch desKennzeichens) angezeigt gewesen, also ein in Hinsicht „Bagatellgrenze“ nicht vernachläs-sigbares Schadensausmaß.

In der Nähe des VW Passat-Fahrersitzes (dortige Bodengruppe) war wiederum einDatalogger installiert, der die mit dem Unfallgeschehen einhergehenden Verzögerungen

Page 126: Leichtkollisionen ||

7.4 Stumpfwinkelige Kollision 119

Abb. 7.54 Verformungsstellen an der Stoßfängerverkleidung hinter dem Kennzeichen

Abb. 7.55 Verformte Kunststoffstege bzw. Lamellen an der Stoßfängerrückseite

registrierte. Bei der Auswertung wurde allerdings die Querbeschleunigungskomponenteausgeblendet, da schon auf Grund der Anstoßgeometrie mit einer kollisionsbedingtenPkw-Wankkomponente nicht zu rechnen war. Der VW Passat wurde ja ausschließlich inlängsaxialer Richtung verzögert. Dieser Komponente kommt also die Hauptbedeutunghinsichtlich der Frage der Fühl-/Spürbarkeit zu.

In der Abb. 7.58 ist wieder in vertikaler Richtung die VW-Verzögerung, in horizontalerRichtung der Zeitverlauf dargestellt.

Dermit Rollverzögerung (ca. 0,17 m/s2 –Kupplung imVWPassat getreten) kollidieren-de Verursacher-Pkw wurde auf einen Absolutwert von 2,65m/s2 kollisionsbedingt abge-

Page 127: Leichtkollisionen ||

120 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.56 Stoßfängerrückseite, gebrochener Kunststoffsteg

Abb. 7.57 Kontaktspuren am Metallquerträger

bremst. Aufgrund der oben genannten „Nullpunktlage“ resultiert ein Verzögerungsniveauim Crashverlauf von 2,48m/s2, das sich in einem Zeitfenster von ca. 0,35 s aufbaute.

DieseWertekombination beschreibt ja die „Kollisionshärte“ oder auch den vonWOLFFdefinierten „Ruck“. Der oben genannte Versuchswert liegt (Abb. 7.59) erkennbar oberhalbder „Wahrnehmbarkeitsschwelle“ nachWOLFF und wäremithin als „spür/fühlbar“ einzu-stufen.

Die in den Versuchen von DEEKEN nach oben verschobene „modifizierte Grenzlinie“wird dabei aber nicht überschritten, was man zu Gunsten des Betroffenen bei „gehöriger“Abgelenktheit auch als Argument für ein „Nichtregistrieren-müssen“ anführen könnte.

Page 128: Leichtkollisionen ||

7.4 Stumpfwinkelige Kollision 121

Abb. 7.58 Messspektrum im VW Passat

Abb. 7.59 Versuchspunktlage im Bewertungsdiagramm

Page 129: Leichtkollisionen ||

122 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Grenzkurven

0,1s

0,2s

0,3s

0,4s

0,5s

0,35s

0,6s0,7s

B

A

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

4,5

0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0

a (Fahrer) [m/s²]

a (K

ollis

ion)

[m/s

²]

Abb. 7.60 Einfluss einer überlagerten Verzögerung

Damit hätte man aber das gesamte „Parameterspektrum“ zugunsten des Unfallverur-sachers noch nicht ausgeschöpft, ist ja nicht auszuschließen, dass in zeitlicher Nähe zumAnstoßgeschehen vom Fahrzeugführer willentlich verzögert wurde. In Abb. 7.60 wurde jader Einfluss einer (quasi) überlagerten Pkw-Abbremsung aufgezeigt.

Page 130: Leichtkollisionen ||

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung 123

Zeichnet man dieWahrnehmungsschwelle für die hier relevante Anstiegszeit von 0,35 sein und verbindet selbige mit dem Crash-Verzögerungswert von (knapp) 2,5m/s2, so stelltman nach Loten in Richtung X-Achse (vom Punkt B aus) fest, dass bei einer, vom Fahrerzeitgleich induzierten, schwachen Angleichsbremsung mit mindestens 2m/s2 eine Wahr-nehmbarkeit nicht mehr sicher nachweisbar ist. Für höhere Abbremswerte bewegt mansich im Diagramm unterhalb der Grenzlinie (für 0,35 s), womit dann die „Verdeckungs-qualitäten“ der Fahrerabbremsungen noch zunehmen.

Der Punkt A in Abb. 7.60 beschreibt im Übrigen die Lage des Maximalwertes nachWOLFF, der merklich unter der in unseren Fahrversuchen festgehaltenen Grenze bei akti-ver, zeitnaher Pkw-Abbremsung liegt.

Man kann auch ohne Einbindung des oben abgebildeten Diagramms argumentieren, daschon im Abschn. 6.3 die Mindest-Kollisionsverzögerung in Abhängigkeit der Angleichs-bremsung zu:

aK ≥ , ⋅ Δt

entwickelt worden war.Setzt man hier für den Parameter Δt oben genannte 0,35 s ein, so erhält man für die,

in dieser Abhängigkeit zugrunde gelegte, aktive Abbremsung des Pkw von 2,5m/s2, einen„Mindestkollisionspegel“ von 2,63m/s2, der den Crash-Versuchswert um bereits ca. 6%überschreitet.

Im Falle einer induzierten, erhöhten Betriebsbremsung (ca. 4m/s2) klettert die Wahr-nehmungsschwelle auf bereits 3m/s2, was einer Anhebung gegenüber der „WOLFF-Schwelle“ von über 30% entspricht.

Der Einfluss einer zeitnahen, überlagerten Pkw-Abbremsung ist also unübersehbar. Indiesem Zusammenhang ist noch zu bemerken, dass es für eine/n Fahrer/in sehr schwerist, einzuschätzen, wie stark der Pkw bei Bremspedalbetätigung (also dessen Dosierung)tatsächlich verzögert wird.

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung

Anlass einer anwaltlichen Beauftragung war ein Unfallgeschehen, bei dem ein VWGolf VPlus rückwärtssetzend gegen die Frontstruktur eines dahinter stehenden VW Golf III ge-riet. Der Unfall ereignete sich im dichteren Verkehrsgeschehen (Fahrzeugschlange). Nacherfolgter Rückwärtsfahrt des Unfallverursachers bog dieser nach rechts in eine Seitenstra-ße ein, verließ also die Unfallstelle. Der Fahrer des geschädigten Pkw notierte sich dasKennzeichen des Schädiger-Kfz, woraufhin Ermittlungen gegen dessen Fahrer eingeleitetwurden.

Der Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Fahrzeugführers schaltete eineSachverständigenorganisation ein, die überprüfen sollte, ob die Schäden an den Kfz kom-patibel sind und ob das Unfallgeschehen auch hätte bemerkt werden können.

Page 131: Leichtkollisionen ||

124 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.61 Schadensbild VWGolf, Geschädigter

Abb. 7.62 Schadensbild VW Golf, Geschädigter

Im Ergebnis der Gegenüberstellung der beiden unfallbeteiligten Kfz kam der damaligeSachverständige zu dem Ergebnis, dass der Gesamtschadensumfang am geschädigten Pkwdurch das Schädiger-Kfz ohne weiteres erzeugt worden sein kann.

Page 132: Leichtkollisionen ||

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung 125

Abb. 7.63 Höhenvergleich der Schäden

Er konstatierte, dass der Stoßfänger vorne bleibend verformt wurde – rechts wie linksam Kotflügelanschluss waren deutlich veränderte Spaltmaße festzustellen. Des Weiterensoll die Blende kollisionsbedingt unterhalb des Scheinwerfers eingedrückt, also gegen dieFahrtrichtung verlagert worden sein. Auch am vorderen (innenseitigen) Querträger hättensich Deformationsspuren befunden, Abb. 7.61 und 7.62.

Im Rahmen der Gegenüberstellung durch diesen Sachverständigen konnte festgestelltwerden, dass von der Höhenlage her die Schäden durchaus kompatibel seien, was letztend-lich nicht weiter verwundert, da die Anbauhöhen von Stoßfängern quasi klassengleicherPkw annähernd identisch sind, Abb. 7.63 und 7.64.

Im Rahmen der Beauftragung wurde der Pkw des Schadenverursachers dann nochnachbesichtigt, Abb. 7.65 und 7.66.

Mit Ausnahme einer ganz schwachen Andruck- bzw. Verschürfungsspur in Höhe desFingerzeigs fanden sich an diesem Fahrzeug keinerlei weitere Beschädigungen.

Auch die Untersuchung des in einiger Distanz zum Stoßfängerüberzug befindlichenhinteren Querträgers (Blick unter das Kfz) lieferte keine Anhaltspunkte dafür, dass es dort

Page 133: Leichtkollisionen ||

126 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.64 Gegenüberstellung Draufsicht

Abb. 7.65 Schadensbilder Pkw VWGolf, Schädiger

zu einer (nennenswerten) Druckbeaufschlagung gekommen war. Die Abb. 7.67 zeigt inso-fern die hohe Flexibilität des heckseitigen Stoßfängerüberzuges dieses VW Golf V Plus –bereits mittels „Daumendruck“ ist eine elastische Verformung dieses hochreversiblen Ma-terials technisch problemlos möglich.

Nach der vorliegenden Schadenbeschreibung des Vorgutachters und den insoweit auchzur Akte gereichten Lichtbildernwaren sofort Zweifel anzumelden, ob die dort festgestellte,

Page 134: Leichtkollisionen ||

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung 127

Abb. 7.66 Andruck- und Verschürfungsspur

Abb. 7.67 Stoßfängerüberzug

erhebliche Fronteindrückung (am VWGolf III) überhaupt durch den quasi schadenfreienGolf Plus erzeugt worden sein könnte.

Hier kann nämlich auf das Ergebnis eines Crashversuches (Internetportal crashtest-service.com) hingewiesen werden, aus der sich bei einerWandanprallgeschwindigkeit bzw.energie-äquivalenten Testgeschwindigkeit von 8,5 km/h erstmals eine bleibende Verfor-mung des vorderen Stoßfängers und des dahinter befindlichen Querträgers an einem GolfIII einstellte, Abb. 7.68 und 7.69.

ImHinblick auf die nicht völlig (von derGolf-Front-Strukturhärte) abweichende Form-stabilität des VWGolf V Plus wären also bei einer vollständigen Schadenszuordnung deut-lich intensivere Beschädigungen am Heck des Unfallverursachers zu erwarten – eine dies-

Page 135: Leichtkollisionen ||

128 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.68 Crashversuchsergebnis

Abb. 7.69 Crashversuchsergebnis

Page 136: Leichtkollisionen ||

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung 129

Abb. 7.70 Momentanbilder eines vergleichbaren Crashversuchs

bezüglich hier durchgeführte Energiebilanz hätte ein nötiges Anstoßtempo des Unfallve-rursachers in einer Größenordnung von ca. 13 bis gut 15 km/h erfordert, was man miteinem kurzzeitigen rückwärtigen Fahrprozess ohnehin nicht in Verbindung bringen kann(Zeugenangabe).

Um dieses zunächst theoretische Ergebnis zu untermauern, wurde dann ein Unfallver-such zwischen einem in puncto Strukturhärte vergleichbaren VW Passat-Heck und einerbaugleichen VW Golf-Front gefahren (Videostandbilder Abb. 7.70a–e).

Diese Einzelbilder verdeutlichen, dass der VWPassat den Golf kollisionsbedingt merk-lich zurückschob – man kann sich hier an den jeweiligen Reifenpositionen im Bild orien-tieren (der Kamerastandort wurde nicht verändert).

Als Ergebnis des Versuches war eine deutliche, bleibende Rückverlagerung des vorde-ren Stoßfängerüberzuges inkl. des dahinter befindlichen Querträgers auszumachen. Es seian dieser Stelle lediglich auf die Abb. 7.71 und 7.72 hingewiesen. Die erste Abbildung

Page 137: Leichtkollisionen ||

130 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.71 Zustand vor der Kollision

Abb. 7.72 Rückverlagerung des Stoßfängers/Querträgers nach dem Crash

gibt den Zustand des zuvor unbeschädigten Frontstoßfängers des VW Golf III mit ei-nem Abstandsmaß zur Frontstoßfängeraußenkante von 45mm wieder – nach dem Ver-such war eine Reduzierung um ca. 6mm, also eine deutliche plastische Verformung fest-stellbar.

Am unfallverursachenden VWPassat traten, vergleichbar wie amVWGolf Plus im Re-alfall, nur oberflächliche Verschrammungs- und Verschürfungsspuren am lackierten hin-teren Stoßfängerüberzug ein, Abb. 7.73.

Page 138: Leichtkollisionen ||

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung 131

Abb. 7.73 Verschrammungen am hinteren Stoßfängerüberzug des stoßenden VW Passat

Zwischen den dortigen Hinweispfeilen bildete sich eine durchgehende, horizontale Ab-druckspur aus – insgesamt war die Intensität der Schäden am VW Passat mit Sicherheitnicht geringer als das von der Polizei beschriebene Schadenbild amVWGolfVPlus bzw. je-nes, das von uns festgestellt werden konnte.Durch diesenVersuchwar letztendlich in punc-to Schadenkompatibilität der obere Grenzbereich erreicht worden – ein größerer Schadenkann am VWGolf III im realen Unfallgeschehen nicht erzeugt worden sein, es hätte dannunweigerlich zu intensiveren Schäden am VW Golf Plus des Unfallverursachers kommenmüssen. Die nachträgliche Untersuchung dieses Kfz hat im Übrigen ergeben, dass irgend-welche Reparaturarbeiten zwischen dem Unfallgeschehen und unserer Besichtigung nichtdurchgeführt wurden.

Der Einschätzung des Vorgutachters, dass das gesamte Schadensausmaß an der GolfIII-Front durch einen solchen Anstoß erklärbar sei, war mithin nicht zuzustimmen.

Natürlich wurdewieder imunfallverursachendenKfz (imCrashversuch) die kollisions-bedingte Fahrzeugverzögerung mittels Datalogger gemessen.

Wiederum in x-Achsenrichtung ist in Abb. 7.74 der Zeitverlauf, in y-Achsenrichtungdie Längsverzögerung des VW Passat aufgetragen. Der Spitzenwert der Längsverzögerunglag in einem Bereich von ca. 2,4m/s2 (Relativwert zum Startpunkt). Die Anstiegszeit lässtsich im Diagramm zu ca. 0,4 s nachvollziehen.

Dieser Wert verblüfft angesichts der stumpfwinkeligen Kollision zunächst etwas – es istaber darauf hinzuweisen, dass der VW Golf III im Frontbereich zwar durch einen Quer-träger versteift ist – dieser aber im vorliegenden Fall frontmittig, also in größter Distanz zuden Befestigungspunkten an den Längsträgerenden eingedrückt bzw. durchgebogen wur-de. Zudem ist der Stoßfängerüberzug an der Heckstruktur des unfallverursachenden Kfzrecht nachgiebig – auch das davor befindliche Prallelement wird im zentralen Bereich zwi-schen den Anknüpfungspunkten an den Kfz-Längsträgern belastet.

Page 139: Leichtkollisionen ||

132 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.74 Dataloggeraufschrieb

Da aufgrund der Schadensschilderung auch durch den Fahrer des Schädiger-Kfzfeststand, dass der Unfallverursacher kurz zurücksetzte, sein Kfz dann verzögerte (undkollidierte) und sodann nach rechts wegfuhr, muss also vom Unfallverursacher zeitnahzum Unfallgeschehen (Aufleuchten der Bremslichter, gesehen vom Zeugen) willentlichgebremst worden sein.

Integriert man das Ergebnis dieses Versuches (also die Wertekombination 2,4m/s beieiner Anstiegszeit von 0,4 s in ähnlicher Weise, wie im Kap. 9) in die hierfür relevanteAbb. 7.75, so siehtman, dass bereits bei einer sehr schwachenVerzögerungseinsteuerung indas Verursacher-Kfz die relevante Grenzkurve (für 0,4 s Anstiegszeit geltend) nicht über-schritten wird.

Entsprechend der schon im Abschn. 6.3 angegebenen Faustformel:

aK = , ⋅ Δt

Page 140: Leichtkollisionen ||

7.5 Anstoßmit voller Überdeckung 133

Abb. 7.75 Versuchspunktlage im Bewertungsdiagramm

wäre hier eine, für die sichere Fühl- oder Spürbarkeit notwendige Kollisionsverzögerungvon 3m/s notwendig, die den tatsächlichen, anhand der Fahrzeugbeschädigungen nach-vollziehbaren, oberenMaximalwert (der kollisionsbedingtenVerzögerung) umbeachtliche25% übersteigt.

Im Ergebnis war also der Einschätzung des Vorgutachters in allen wesentlichen Punk-ten zu widersprechen, so zunächst hinsichtlich der Schadenkompatibilität und – für denUnfallverursacher von größerer Relevanz – in puncto Wahrnehmungsmöglichkeiten.

Der Versuchsfahrer im VW Passat gab im Übrigen an, das Anstoßgeschehen (unge-bremst gefahren) schwach wahrgenommen zu haben – irgendwelche akustischen Auffäl-ligkeiten waren von ihm nicht wahrnehmbar, obwohl im Inneren des VW Passat wederein Gebläse noch ein Radio eingeschaltet war. Dies verwundert auch nicht weiter, da esim Rahmen einer solchen Kollision nur zur Durchbiegung von insoweit recht elastischenStoßfängerüberzügen und einer quasi geräuschlosen Durchformung vonMetallstrukturenkommt. Quietsch-, Schab- oder kräftige Einbeulgeräusche waren ohnehin nicht zu erwar-ten. Im Hinblick darauf, dass auch eine optische Wahrnehmbarkeit (zum Unfallzeitpunktherrschte Starkregen – zusätzlich war es dunkel) ausschied, wurde das Verfahren gegen denUnfallverursacher auch seitens des zuständigen Amtsgerichts sofort eingestellt.

Page 141: Leichtkollisionen ||

134 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

7.6 Schräge Kollision zweier Pkw

Rangierkollisionen werden nicht selten „sachverständig“ als intensivere Anstoßgescheheneingestuft, wenn „struktursteife“ Karosseriezonen amgeschädigten Kfz (mit) betroffen wa-ren. In einem konkret zu beurteilenden Fall geriet ein Ford Focus im rückwärtigen Ran-giermanöver gegen eine abgeparkten Mercedes-C-Klasse, Abb. 7.76.

An diesem war der Kontaktbeginn im vorderen Fahrertürbereich auszumachen – dieSchadensspuren verliefen dann über die „Nahtstelle“ zum vorderen linken Kotflügel, alsoder struktursteifen A-Säule nahegelegen.

Die Deformationstiefe nahm vom Erstkontaktpunkt vergleichsweise schnell zu, wasschon einen nicht sehr flachen Anstoßwinkel signalisierte.

Das Pendant zu diesem Schadensausmaß zeigt Abb. 7.77.Am Ford Focus kam es zu Schramm- und Schürfspuren auf dem seitlich umlaufen-

den, hinteren linken Stoßstangenschenkel. Die Frage der Schadenskompatibilität war an-gesichts der recht guten Fotodokumentation nicht weiter schwierig zu beurteilen. Dankder mit abgebildeten Fotometer und der bekannten Strukturhärte der seitlich umlaufen-den Stoßfängerkonstruktion waren in puncto Höhenzuordnung und Formsteifigkeit hierkein Zuordnungsschwierigkeiten gegeben.

Der erste Gutachter fertigte unter Zuhilfenahme eines angewinkelten Gliedermaßsta-bes ein Lichtbild, Abb. 7.78, das den Eindruck: „Berührspur um das Stoßfängerheck herum“stützen sollte. Er schloss hieraus dann auf einen Kollisionswinkel von ca. 45°, da ja un-ter diesem Winkel zur Focus-Seite noch Kontaktspuren an dessen Stoßfängerüberzug zusehen gewesen sein sollen.

Eine solche Annahme vermittelt sofort den Eindruck einer stumpfwinkeligen Kollisionund einer letztlich harten Ruckeinleitung in das Verursacherfahrzeug.

Abb. 7.76 Mercedes-Schadensbild/BG = Beulengrund

Page 142: Leichtkollisionen ||

7.6 Schräge Kollision zweier Pkw 135

Abb. 7.77 Ford Focus mit Schürfspuren

Abb. 7.78 Laut Erstgutachter: „Berührspur um das Stoßfängerheck herum“

Schon bei der Einstufung des Kollisionswinkels waren diesseits Zweifel anzumelden,da bei einer derart „statischen“ Schadenszuordnung übersehen wird, dass die eingeformteBlechstruktur am gegnerischenMercedes (Kotflügelabschluss) eine Schräge im Berührver-lauf darstellt – es kommt also in Folge der sich verändernden Karosseriebauteile (auch derFocus-Stoßfängerüberzug verformt sich) zu einer kontinuierlichen Verlagerung der Kon-taktflächen zueinander. Auch ohne Beiziehung geeigneten Crashversuchsmaterials war dervom Vorgutachter favorisierte Kollisionswinkel von ca. 45° zu hoch angesetzt.

Für ihn war aber die Sachlage angesichts einer solchen Kfz-Orientierung glasklar; erformulierte (ohne Beiziehung von weiteren Quellen, wie z. B. Unfallversuchen) als Fazit:

Der Anstoß des Ford Fusion gegen den passiv geparkten Mercedes Benz . . . war derart mas-siv, dass eine ganz sichere taktil/vestibuläre Wahrnehmbarkeit vorlag. Unterstützt wird diese

Page 143: Leichtkollisionen ||

136 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.79 Anstoßkonfiguration/Pfeil = Erstkontaktpunkt

Anstoßinformation durch das Akustikereignis. Auch dieses war überschwellig im Fahrzeu-ginneren des Pkw . . . wahrnehmbar.

Damit gab sich der Verteidiger des Angeklagten nicht zufrieden, worauf er durch denStrafrichter die Einholung eines weiteren Gutachtens bewirkte.

Im Rahmen dieser Beauftragung wurden in einem ersten Schritt vergleichbare Kfz be-sichtigt und vermessen. Schon hier war feststellbar, dass sich die Schäden an der Focus-Ecke nicht über 45° erstreckten, sondern allenfalls bis in einen Bereich von ca. 30° („rundum das Stoßfängerheck“). Im Hinblick auf die im dynamischen Kollisionsverlauf auftre-tenden Karosserieverlagerungen wurde in einem Vergleichsversuch ein Kollisionswinkelvon 25° „eingestellt“, Abb. 7.79.

Das stoßende Kfz im Unfallversuch war ein VWPassat. Dieser traf unter oben genann-temWinkel einen stehenden 5er-BMWmit einem Tempo von 2,7 km/h, Abb. 7.80.

Im Rahmen der Versuchsdurchführung wurde im Wesentlichen das relative Massen-verhältnis im Auge behalten, da selbiges für die Verzögerungseinsteuerung im unfallve-rursachenden Kfz eine zentrale Rolle spielt.

Nach dem Versuch waren an beiden Fahrzeugen insgesamt stärkere Karosserieschädenfestzustellen.

Der Stoßstangenschenkel des VW Passat zeigte kräftige Schrammspuren bis gut 30°(von der Seite her betrachtet) herumlaufend. Zudem wölbte sich der Kunststoffüberzug

Page 144: Leichtkollisionen ||

7.6 Schräge Kollision zweier Pkw 137

Abb. 7.80 Fahrzeuganordnung vor dem Crashversuch

auf, wodurch deutliche Spaltmaßveränderungen im Anschluss an das hintere, linke Sei-tenteil auszumachen waren.

Am BMW setzten die ersten Belastungsspuren an der Fahrertür ein und liefen von dortaus in den Kotflügelbereich. Dessen Blech wurde durchgehend verformt. Auch an der hin-teren Radlaufkante war die Kollision noch nicht beendet – das linke Vorderrad des BMWwurde noch (energiearm) touchiert (über Videoauswertung nachweisbar), Abb. 7.81.

Das Schadensausmaß, aus diesem Unfallversuch resultierend, war damit zweifelsfreinicht energieärmer als jenes im Realfall, weswegen das im VWPassat gemessene Verzöge-rungsspektrum alsMaximalwertekombination vorliegend angewendet werden durfte. Dieszeigt die Abb. 7.82.

Dort ist bei einer mittleren Kollisionsanstiegszeit von 0,24 s ein Maximalausschlag derBMW-Verzögerung von 2,3m/s2 feststellbar, wobei hierin auch noch der versuchsabschlie-ßende Radlaufkontakt beinhaltet ist. Im Realfall wäre also das Verzögerungsmaximum imVerursacher-Ford noch nach unten zu korrigieren.

Betrachtet man dennoch in 1. Näherung nur die oben genannten Versuchswerte, sowäre gemäß bisheriger Untersuchungen nach WOLFF die nicht mehr fühlbare Maximal-verzögerung bei knapp 1,9m/s anzusetzen, sodass ohneweitere Prüfung demErgebnis desErstgutachters zugestimmt werden könnte. Schon die modifizierte Schwellen-Grenzlinienach DEEKEN erlaubt allerdings eine „Ergebniseinschränkung“, wenn sie bei dieser Wer-tekombination gerade eben nicht überschritten würde.

Zu berücksichtigen ist aber, wie gesagt, dass die Beschädigungen, die in diesemVersucherzeugt wurden, insgesamt intensiver waren als jene, die imRealunfall auftraten. Von dahermuss man sich ohnehin bzgl. der realen Verzögerungsspitze schon nach unten orientieren.

Page 145: Leichtkollisionen ||

138 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.81 Schadensbilder der Crash-Kfz links VW, rechts BMW

Auch hier könnte das „Argument“ der überlagerten Bremsung greifen. Zurückblickendauf die in Abschn. 6.3 dargestellten, Zusammenhänge ergäbe sich für eine höhere Betriebs-bremsung der folgende Zusammenhang:

aK ≥ , ⋅ Δt .

Setzt man in oben genannte Gleichung die gemessenen Anstiegszeit von 0,24 s ein, soergäbe sich ein Schwellenwert von 2,28m/s2, also in etwa die tatsächliche Verzögerungs-spitze im Versuchsverlauf.

Da vom Vorgutachter auch die akustische Wahrnehmbarkeit eindeutig bejaht wurde,war natürlich eine Schalldruckpegelmessung im Verlauf des Crash-Versuchs unerlässlich.Ein Lautstärkepegelmesser wurde in Ohrhöhe des Versuchsfahrers installiert. Dieser zeigteim Versuchsverlauf einen Maximalwert von 69,4 dB(A) an.

Wie schon im Abschn. 4.2 dargelegt wurde, sind solche Lautstärkepegel im normalenFahrbetrieb im Fahrzeuginneren (Radio eingeschaltet und gut verständlich) nichts Un-gewöhnliches, weswegen man auch in diesem Punkt dem Vorgutachter eine unkorrekte„Einschätzung“ attestieren kann.

Page 146: Leichtkollisionen ||

7.6 Schräge Kollision zweier Pkw 139

Abb. 7.82 Verzögerungsdiagramm im VW Passat

Hinzu kam hier noch, dass der Unfallverursacher Hördefizite besaß, wie durch ein,von seinemRechtsbeistand beigebrachtes, medizinisches Untersuchungsergebnis demons-triert, Abb. 7.83.

Dort ist im „Hörminderungsdiagramm“ für die relevante Kollisions-Frequenzlage eineAbweichung vom „Normalhörenden“ von über 20 dB(A) ausgewiesen.

Erinnert sei daran, dass eine derartige Schwellenreduzierung einem „Hörerlebnis“ ent-spricht, bei dem man sich mit den Fingern die Ohren zuhält . . .

Für den Realfall war also festzustellen, dass die kollisionsbedingt eingetretene Verzö-gerungsspitze ohnehin schon im Randbereich der Verzögerungsgrenze lag, was letztlichim Rahmen der Gutachtenerstattung in einem Ermittlungsverfahren dazu führen muss-te, dass das Unfallgeschehen für den Unfallverursacher nun nicht wahrgenommen werdenmusste. Deswegen wurde das Verfahren wegen Unfallflucht gegen den Betroffenen aucheingestellt.

Dieser Fall führt unmissverständlich vor Augen, wie unerlässlich eigentlich die Beizie-hung geeigneten Crashversuchsmaterials für die Beurteilung solcher Fallkonstellationenist. Man sollte sich auch dann, wenn man über einen „vergleichsweise großen Erfahrungs-schatz“ verfügt, nicht auf so voreilige Einschätzungen, wie im Erstgutachten geschehen,beschränken.

Page 147: Leichtkollisionen ||

140 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.83 Hörminderungsdiagramm des Betroffenen

7.7 Rangierkollision Transporter/Pkw

In einem weiteren Verfahren war seinerzeit von Gerichtsseite der Auftrag erteilt worden,zu untersuchen, ob ein an einem Ford Escort verursachtes, beträchtliches Schadensausmaßvom (unstreitigen) Unfallverursacher hätte wahrgenommen werden müssen.

Aus demAkteninhalt ergaben sich nur wenig Details. Es wurde lediglich ein Kostenvor-anschlag zum Schadensumfang am Pkw beigefügt, der vorgab, dass der vordere Stoßfän-gerüberzug, der Kühlergrill sowie der rechte Scheinwerfer (ohneBlinkleuchte) zu erneuernwaren. Zudem war eine Instandsetzung des rechten Kotflügels und der Motorhaube aufge-führt. Angesichts des Fahrzeugalters und der Laufleistung bewegte man sich „kostentech-nisch“ am Rande des Totalschadens.

Eine Nachbesichtigung dieses Pkws scheiterte an einem „schnellen Verkauf “ ins Aus-land, sodass nur die oben genannten Angaben verwertbar waren.

Das Unfallverursacherfahrzeug, ein VW T3-Doppelkabiner, trug laut Polizeiangabeneher leichte Schäden an der hinteren rechten Heckpartie davon. Auch zu diesem Fahrzeuggab es keine Fotos, da die Kamera der Beamten „defekte Bilder“ (nicht verwertbar) gelieferthabe.

Die nachträgliche Besichtigung dieses Kfz scheiterte ebenfalls wegen eines zügigen Ver-kaufs an einen „fliegenden Händler“ (Beauftragung durch das Gericht gut zwei Monatenach dem Schadenstag).

Page 148: Leichtkollisionen ||

7.7 Rangierkollision Transporter/Pkw 141

Abb. 7.84 Versuchs-Ford vor dem Crash

Konkretisiert werden konnte das Schadensbild nur durch die Beschreibung der aufneh-menden Beamten:

• Stoßfängerecke deutlich verbogen• Auspuffende getroffen

Nur dem Umstand, dass die an dieser Kollision beteiligten Fahrzeuge als baugleicheVersuchsfahrzeuge zum Beauftragungszeitpunkt günstig zu besorgen waren, ist es zu ver-danken, dass mit wenig Aufwand ein Versuchs-Crash gefahren werden konnte.

Für das Gelingen dieses Vorhabens war zunächst eine Gegenüberstellung jener Crash-Kfz notwendig.

Die vor Versuchsdurchführung unbeschädigten Fahrzeuge (VW-T3 mit leichten Ge-brauchsspuren) sind in den Abb. 7.84 und 7.85 zu sehen.

In der Gegenüberstellung der Crash-Fahrzeuge war dann auch sofort der Grund fürdie „weit nach oben reichenden“ Schäden am Ford Escort gefunden. Wie der Abb. 7.86 zuentnehmen ist, trifft im statischen Zustand die Heckstoßfängerpartie des Transporters aufden Bereich oberhalb des Kunststoffstoßfängerüberzugs des Ford Escort. Da sich Heckpar-tien im Rahmen von rückwärtigen Beschleunigungen ohnehin zusätzlich anheben, war einEindringprozess in die weiche „Lichtleiste“ des Ford Escort zwingend zu erwarten.

Da sich laut Kostenvoranschlag das Schadensausmaß auf die rechte Stirnfläche des Fordbeschränkte, zudem der Transporter imWesentlichen hinten rechts verbeult wurde, folgteein schrägwinkeliger Anstoß dieser Karosseriezonen, ähnlich Abb. 7.87, Draufsicht.

Page 149: Leichtkollisionen ||

142 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.85 „Unfallverursachender“ VW T3

Abb. 7.86 Höhenvergleich statisch

Page 150: Leichtkollisionen ||

7.7 Rangierkollision Transporter/Pkw 143

Abb. 7.87 Gewählte Anstoßkonfiguration

Der Anstoßwinkel im Versuch lag damit bei ca. 30°. Der Überdeckungsgrad derKarosseriezonen ergab sich aus dem Umstand, dass die vordere rechte Blinkleuchte imKostenvoranschlag nicht als Ersatzteil ausgewiesen war. Deswegen war die Heckecke desTransporter-Stoßfängers in den Scheinwerferbereich zu orientieren, um die Belastungdes darüber liegenden Kotflügels (dessen Spitze) durch eine Kontaktnahme mit der sichverformendenMotorhaubenvorderkante zu erzielen.

Die vomVersuchsfahrer eingehaltene rückwärtigeGeschwindigkeit lag bei ca. 2,5 km/h,wie durch eine nachträgliche Videoauswertung bestimmt werden konnte.

Im Ergebnis des Versuchs waren ganz beträchtliche Beschädigungen am Ford Escortfestzustellen, Abb. 7.88 und 7.89.

Wie bei der Karosserieanordnung vor der Versuchsdurchführung vermutet wurde, wa-ren an der Kotflügelspitze Verformungen auch durch die Verbiegung derMotorhaubenvor-derkante entstanden. Die Blinkleuchte war leicht beschädigt und hätte ebenfalls erneuertwerden müssen. Zudem war die Oberseite des Stoßfängerüberzuges stark verschrammt –an der Stirnfläche war ein markanter Abdruck des Abgasendrohres des Transporters zusehen, Abb. 7.90.

Durch die schrägeRückverlagerung des Ford-Scheinwerfers wurde auch der Kühlergrillverschrammt und in den Aufnahmepunkten beschädigt.

Das Schadensausmaß amVerursacher-Kfz war ebenfalls nicht vernachlässigbar gering,wie die Abb. 7.91 und 7.92 zeigen.

Page 151: Leichtkollisionen ||

144 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.88 Seitenansicht mitzerstörtem Scheinwerfer

Abb. 7.89 Schäden an der Motorhaube und der Kotflügelspitze

Deutlich zu erkennen ist die (rechts des Hecklängsträgers) nach vorne hin verbogeneMetallstoßstange. Diese ist bis nahe an dasHeckblech verformt worden. Zudem ist die seit-liche Abdeckkappe im Kontaktbereich gerissen und gequetscht.

Page 152: Leichtkollisionen ||

7.7 Rangierkollision Transporter/Pkw 145

Abb. 7.90 Abdruck des T3-Abgasendrohres am Escort-Stoßfänger

Abb. 7.91 Zustand des Transporters nach dem Crash – Heckecke deutlich verbogen

Bedenkt man,wiemassiv der Stoßfänger des T3-Transporters konstruiert ist, so erkenntman schon anhand des Schadensbildes eine erhebliche „Wechselwirkung“ der Kontrahen-ten im Crashverlauf.

Das Ergebnis dieses Unfallversuchs ließ eine sehr gute Vergleichbarkeit zum Realfall(anhand der Schadensübermittlung) zu, womit das vom Datalogger im Transporter ge-messene Verzögerungssignal in die Analyse der Bemerkbarkeit des Anstoßes einfließenkonnte.

Page 153: Leichtkollisionen ||

146 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.92 VW T3-Stoßfänger gewölbt – Ecke gebrochen

Die Abb. 7.93 gibt das Verzögerungsspektrum wieder. Ausgehend vom Bezugspunktauf der Y-Achse (bei etwa –0,08m/s2 liegend) ist ein Anstieg bis auf einen Absolutwert von1,92m/s2 festzustellen, was zu einem Maximalverzögerungspeak von ca. 2m/s2 führt.

Auf der X-Achse ist die Anstiegszeit abgreifbar – sie ergibt sich zu 0,34 s. Dieses Zeit-fenster ist angesichts der nicht unbeachtlichen Eindringtiefe der Transporterecke in denoberen (eher weichen) Stirnflächenbereich des Ford Escort auch zu erwarten gewesen.

Kalkuliert man auch hier wieder (zugunsten des Unfallverursachers) eine zum Kollisi-onsgeschehen eingesteuerte, zeitnahe Angleichsbremsung ein, so ergäbe sich gemäß Glei-chung:

aK = , ⋅ Δt

ein zur sicheren Registrierung nötiges, kollisionsbedingtes Verzögerungsmaximum von2,5m/s2 – ein Wert, der fast 30% über der real gemessenen kollisionsbedingten Trans-porterverzögerung liegt.

Selbst beiAnwendung der „WOLFF’schen“Zusammenhängewäre eine Fühl-Spürbarkeitnicht sicher zu attestieren, da hier der Grenzwert bei über 2m/s2 liegt.

Da auftragsgemäß auch die akustischeWahrnehmbarkeit zu prüfen war, wurde in Kol-lisionsortnähe der Lautstärkepegel (durch den Anstoß bedingt) gemessen. Es ergab sichein Wert (in ca. 1m Distanz) von 89,7 dB(A). Im Inneren des Transporters kamen hin-gegen nur (gemessene) 67,2 dB(A) an, die bei ruhiger Fahrt (kein Radio, kein Gebläse,ohne erhöhte Motordrehzahl bei z. B. schleifender Kupplung) auch gerade noch hörbarwaren.

Page 154: Leichtkollisionen ||

7.7 Rangierkollision Transporter/Pkw 147

Abb. 7.93 Gemessene Längsverzögerung im VW T3

Das Einschalten nur einer einzigen „Störgeräuschquelle“ hätte eine vollständige akusti-sche Verdeckung bewirkt, sodass trotz „weithin“ hörbaren Unfallknalls (Angabe eines au-ßenstehenden Zeugen), der Nachweis der akustischen Wahrnehmbarkeit vorliegend nicht(beweissicher) gelingt.

Dass die kollisionsbedingte Verzögerung im Transporter so vergleichsweise gering aus-fällt, mag auf den 1. Blick verblüffen – ursächlich hierfür ist das unausgewogene Massen-verhältnis der „Kontrahenten“.

Da auch im Unfallverlauf actio = reactio gilt, die Kraft aber als Parameter die Mas-se des Körpers beinhaltet, muss notwendigerweise die Beschleunigung (als 2. Parameterund Multiplikator) im Transporter merklich niedriger ausfallen als im leichteren FordEscort.

Page 155: Leichtkollisionen ||

148 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Es stellt sich damit sofort die Frage, wie intensiv eigentlich unfallrelevante Schäden anvon schweren Fahrzeugen ramponierten Pkw sein müssen, damit die relevanten Verzöge-rungsschwellenwerte (in Abhängigkeit der Kontaktdauer) überschritten werden.

7.8 Streifkollision Lkw/Pkw

Wiederum im Rahmen eines Gerichtsauftrages war ein Vorgang zu prüfen, bei dem einam Fahrbahnrand abgeparkter FordMondeo durch einen vorbeifahrenden 7,5 t-Lkw starkbeschädigt wurde. Hier lag, in Analogie zum Kap. 6, ebenfalls ein beachtlicher Massenun-terschied der Unfallfahrzeuge vor.

Die nachfolgendeAbb. 7.94 gibt einen ersten Eindruck vomganz erheblichen Schadens-umfang am seitlich abgeparkten Ford Mondeo wieder.

Das am Straßenrand abgestellte Fahrzeug wurde erstmals an der seitlich umgreifen-den, linken Rückleuchte erfasst. Auch darunter und davor ist das Seitenteil in Fahrtrich-tung kräftig gestaucht und gefaltet. AmC-Säulenübergang wurde der Abschluss der linkenFondinsassentür erheblich in Fahrtrichtung umgebördelt.

Damit war dasKollisionsereignis aber noch nicht beendet, da sich letzte (allerdings eherfiligrane) Schleifspuren bis in Höhe der Fahrertürhinterkante hinzogen.

Am schadenverursachenden Lkw war die vordere rechte Ladebordwandecke verkratztund mit blauem Farbauftrag des Mondeo „verziert“. Eine Fehlstellung der Konturecke warindes nicht feststellbar, Abb. 7.95.

Die Schadenkompatibilität war in diesem Fall kein Streitpunkt, da zum einen dieLackanhaftungen am Lkw dem Mondeo zuordenbar waren, zum anderen ein hinterher-

Abb. 7.94 Starke Beschädigungen am Ford Mondeo

Page 156: Leichtkollisionen ||

7.8 Streifkollision Lkw/Pkw 149

Abb. 7.95 Beschädigungen am Lkw

fahrender Zeuge (Beifahrer im nachfolgenden Kfz) den Anstoßvorgang genau beobachtenkonnte.

Dieser zeigt sich dann auch vergleichsweise „schockiert“ ob der Tatsache, dass sich derLkw-Fahrer mit seinem Fahrzeug „unbeeindruckt“ vomUnfallort entfernte (keine Brems-lichter am Lkw nach dem Anstoß).

Wenngleich es „in diesen Dingen“ auch „abgebrühte“ Verkehrsteilnehmer gibt, so hätteder Lkw-Fahrer dann, wenn er die Kollision registrierte, durch den Blick in den Außen-spiegel die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer sehen müssen – seine Beteiligung am Ver-kehrsunfall konnte also unmöglich unentdeckt bleiben.

Ergo wird man – in Kenntnis des Einflusses der Kfz-Masse – und dem Umstand, dassLkw-Fahrerkabinen schwingungstechnisch vom Fahrzeug abgekoppelt sind, der Frage derWahrnehmung versuchstechnisch nachzugehen haben, da man trotz des hohen Schadens-ausmaßes nicht sofort die Spür-/Fühlbarkeit wird bejahen können.

ZumZwecke der Versuchsdurchführungwurde ein Klein-Lkw (mit entsprechender Zu-satzmasse) mit einer in puncto Anbauhöhe und Formstabilität vergleichbaren Kontureckenachgerüstet Abb. 7.96.

Ein, demMondeo nicht unähnliches Pkw-Stufenheckmodell (Opel Omega mit passen-der Unfallmasse) wurde in vergleichbarer Weise seitlich getroffen. Das Massenverhältnisim Versuch entsprach damit in etwa jenem des Realfalls.

Die Anstoßschäden durch den Versuch am Lkw waren, wie im Realfall, fast belanglos,wie Abb. 7.97 zeigt. Außer tieferen Kratz- und Schürfspuren waren keine weiteren (nen-nenswerten) Belastungsspuren auszumachen.

Am Opel Omega setzten die ersten schwerwiegenden Karosserieschäden im hinterenlinken Seitenbereich ein. Im Bereich der stabilen C-Säule kam es, wie schon am FordMon-

Page 157: Leichtkollisionen ||

150 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.96 Lkw-Versuchsaufbaumit Opel Omega

Abb. 7.97 Crashversuch:leichte Schäden an der Lkw-Aufbauecke

deo im Realfall, zu sehr starken (insgesamt noch intensiveren) Deformations- undUmbör-delschäden, Abb. 7.98.

Genau dieser Karosseriezone kommt „wahrnehmungstechnisch“ die größte Bedeutungzu, wird für denMondeo (im Realfall) auch hier eine merkliche Fahrzeugverhakung trans-parent.

In der Abb. 7.99 ist ersichtlich, dass eine ganz erhebliche Stauchung der Opel-Fondtürentstanden ist – sie ließ sich nach (gewaltsamem) Öffnen nicht wieder ins Schloss (an derverbogenen C-Säule) zurückdrücken.

Page 158: Leichtkollisionen ||

7.8 Streifkollision Lkw/Pkw 151

Abb. 7.98 Schäden am gecrashten Omega

Abb. 7.99 Crashversuch: Türstauchschäden am Opel Omega

Page 159: Leichtkollisionen ||

152 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Dieser Versuch wurde übrigens auf der Crashanlage der Firma crashtest-service.com inMünster/Westf. gefahren, da eine, zur Schadenserzeugung erhebliche Kollisionsgeschwin-digkeit des Lkw nötig war, die eine entsprechende Beschleunigungsstrecke erforderlichmachte.

Im Versuchs-Lkwwar ein UDS (Unfalldatenschreiber) installiert, der auch hier wieder-um das Verzögerungsspektrum im Kollisionsverlauf registrierte.

Angesichts der mittels Lichtschranke gemessenen Lkw-Geschwindigkeit von gut30 km/h und der „Kontaktstrecke“ an der Omega-Seite war eine Kollisionsdauer in ei-ner Größenordnung von knapp 0,3 s zu erwarten.

So lieferte das UDS entlang einer Kollisionsphase von über 0,27 s eine (gemittelte) Lkw-Verzögerung bis auf einen „Endwert“ von nur 1,39m/s2.

Schon diese Wertekombination liegt unterhalb der Wahrnehmbarkeitsgrenze nachWOLFF (ohne zusätzliche Verzögerungseinsteuerung durch den Lkw-Fahrer), weswe-gen man einen solchen Anstoß als nicht (technisch beweisbar) sicher wahrnehmbar imtaktil/vestibulären Sinne einzustufen hat.

Zugleich wurden auch akustischeMessungen vorgenommen. In der Außenatmosphärelag das Kollisionsgeräusch bei knapp 80 dB(A) – ins Innere der Insassenzelle gelangte einum gut 10 dB(A) geringerer Schallpegelanteil, weswegen dann, wenn der Lkw-Fahrer mit„gut verständlich eingeschaltetem Radio“ fuhr, das Unfallgeschehen auch akustisch nichtwahrnehmbar war. Sehen konnte der Lkw-Fahrer die Kollision ohnehin nicht, lag sie nichtin seinem direkten Blickbereich und auch nicht in der „Rückspiegelzone“.

Insgesamt folgt auch hier, dass hohe Massenunterschiede bisweilen große Schäden, dienicht sicher wahrnehmbar sind, nach sich ziehen können, sofern man im deutlich schwe-reren Kfz sitzt.

7.9 Rangierkollision schwerer Lkw/Pkw

Ein schon in der Arbeit vonHOLTKÖTTER veröffentlichter Versuch soll abschließend fürdie Unfallkonstellation mit Kfz stark unterschiedlicher Masse vorgestellt werden.

Ein 12 t Lkw setzt mit typischer Rangiergeschwindigkeit, also langsam, rückwärts ge-gen einen rechtwinkelig dazu abgeparkten, am Fahrbahnrand stehenden Klein-Pkw, OpelCorsa.

Dieser Pkw war direkt am Bordstein abgeparkt und wurde infolge des Unfallgesche-hens ganz erheblich beschädigt (Ausgangspunkt: Gutachtenauftrag zur Problematik Un-fallflucht).

Im Rahmen einer Versuchsnachstellung wurde der dabei benutzte Crash-Pkw OpelCorsa mit der linken Bereifung an einem Stahlprofil, ähnlich einer Bordsteinkante posi-tioniert.

In der nachfolgenden Videosequenz, Abb. 7.100 sieht man den Unfallablauf, nämlichwie sich der Lkw mit langsamer, rückwärtiger Geschwindigkeit in die rechte Flanke desKleinwagens hineinbewegt.

Page 160: Leichtkollisionen ||

7.9 Rangierkollision schwerer Lkw/Pkw 153

Abb. 7.100 Videosequenz des Lkw/Pkw-Crashs

In der Abb. 7.100a sieht man die Situation unmittelbar vor dem Erstkontakt. DieAbb. 7.100b gibt zu erkennen, dass der Corsa bereits seitlich aus den Federn gehobenworden ist – der Lkw-Unterfahrschutz bohrt sich in den vorderen Beifahrertürbereich desCorsa hinein. Die maximaleWagenkastenanhebung stellt man in der Abb. 7.100c fest. Erst

Page 161: Leichtkollisionen ||

154 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.101 Nachkollisionärer Zustand des Opel Corsa

danach wurde der Lkw aus dem rückwärtigen Rangiervorgang wieder in Fahrtrichtungnach vorne wegbewegt, ab Abb. 7.100e endet der Kontakt der Kfz.

Nach Trennung der beiden Kfz wir das erhebliche Schadensausmaß am Opel Corsaoffensichtlich, Abb. 7.101.

Der Bereich nahe der A-Säule und die vordere Beifahrertürpartie sind seitlich starkgestaucht. Durch die Kontaktnahme der Lkw-Ladebordunterkante mit der oberen, seit-lichen Pkw-Dachpartie kam es zu einer deutlichen, queraxialen Dachverschiebung. DieWindschutzscheibe wurde wegen ihrer Rahmenstauchung aus dem Fahrzeugverbund her-ausgedrückt und riss an mehreren Stellen ein.

Die Opel-Erscheinung nach demAnstoß liefert unmissverständlich den Eindruck einesTotalschadens.

Da auch hier seitens des damaligen Auftraggebers eineWahrnehmbarkeit des Anstoßeswegen des beträchtlichen Schadensumfanges (im Realfall vergleichbar) geäußert wurde,war im Lkw wiederum ein UDS installiert, das untrügliche Wertepaarungen (Verzöge-rungsmaximum in Abhängigkeit der Kontaktdauer) lieferte, Abb. 7.102.

Man stellt dort bei einer Anstiegszeit von etwa 0,6 s eine Spitzenverzögerung von gut0,1 g bzw. etwa 1,1m/s fest, die unterhalb der (abgesicherten)Wahrnehmungsgrenze liegt,egal ob man unsere Versuche oder jene von WOLFF nimmt. Entsprechend war auch imFührerhaus des Lkw diese Kollision für den Versuchsfahrer in keinster Weise fühl- oderspürbar.

Gleichzeitig in dasUDS-Spektrum sind auch die gemessenen Schallpegelwerte imKolli-sionsverlauf ablesbar. Im Außenbereich erkennt man als Maximalschallpegelwert etwa gut80 dB(A) – im Inneren des Lkw stellt man für den Kollisionsverlauf einen Maximalwertvon etwa 63 dB(A) fest.

Page 162: Leichtkollisionen ||

7.10 „Überschwelliges“ Kollisionsgeschehenzwischen zwei Pkw 155

Abb. 7.102 UDS-Aufzeichnung

Im Inneren des Lkw war das Anstoßgeräusch schon alleine aufgrund des (mit dem Be-trieb des Lkw zusammenhängenden) Motorlärms nicht zu hören.

Auch hier kommt wiederum der erhebliche Masseüberschuss des Lkw zum Tragen.Herrschen also deutlicheMassenunterschiede zugunsten des Fahrzeugs, in demderUnfall-verursacher sitzt, vor, so wird die Fühlbarkeit des mit dem Unfallgeschehen einhergehen-den Kollisionssignals immer schlechter. Es bedarf dann schon ganz erheblicher Schadens-ausmaße am Geschädigten-Fahrzeug, bevor man sich dazu hinreißen lassen sollte, eineWahrnehmbarkeit des stattgefundenen Unfallgeschehens zu behaupten.

7.10 „Überschwelliges“ Kollisionsgeschehen zwischen zwei Pkw

Nach bisherigem Studium dieses Buches könnte man als Leser den Eindruck gewinnen, derAutor halte die überwiegendeAnzahl aller Leichtkollisionen für nicht sicherwahrnehmbar.

Dass dies nicht so ist, soll ein letztes Fallbeispiel zeigen.Ein massenmäßig seinem Kontrahenten überlegener 3er BMW stieß in einem Crash-

Versuch (Quelle: Internetportal crashtest-service.com) schrägwinkelig mit der rechtenFrontecke in das hintere linke Seitenteil eines Renault Clio (Massenverhältnis 1,3:1 zu-gunsten des BMW), Abb. 7.103.

Der Anstoß erfolgte unter knapp 40°; der BMW war laut Angabe 4,2 km/h schnell.Das Schadensausmaß am BMW war nicht weiter schwerwiegend – außer Lackabrieb

und einer leichten Fehlstellung der Stoßfängerecke fielen keine weiteren Belastungsspurenauf, Abb. 7.104 und 7.105.

Page 163: Leichtkollisionen ||

156 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.103 Anstoßkonfiguration 3er BMW/Renault Clio

Abb. 7.104 Geringe Schäden am 3er BMW vorne rechts

Auch das Beschädigungsausmaß am Renault Clio wirkt auf den ersten Blick nicht sehrgravierend. Im Bereich der relativ weichen Seitenteilmitte, also vor dem verstärkten Rad-kasten liegend, nimmt man eine tiefere Eindellung wahr, die relativ abrupt an der Fahrer-türhinterkante endet.

Im direkten Vergleich zur Ausparkkollision VW Golf/3er BMW (Abschn. 7.3) wirkendie Schäden, weil in der strukturschwachen Seitenteilmitte beginnend, auch nicht wesent-lich intensiver, Abb. 7.106 und 7.107.

Bedenkt man weiter, dass im oben genannten Fall (Abschn. 7.3) vom Datalogger eineKollisionsdauer von über 0,3 s gemessen wurde und hier wegen der länglich wirkenden(horizontalen) Eindellung auch ein längeres Zeitfenster zumindest möglich erscheint, sokäme man bei überschlägiger Verzögerungsberechnung (Geschwindigkeit/Zeit) auf einenMaximalwert von um ca. 2,5m/s2 (Kontaktdauer > 0,4 s).

Page 164: Leichtkollisionen ||

7.10 „Überschwelliges“ Kollisionsgeschehenzwischen zwei Pkw 157

Abb. 7.105 Geringe Schäden am 3er BMW/Frontansicht

Abb. 7.106 Schadensausmaß am Renault Clio

Tatsächlich lieferte aber das im 3er BMW installierte Verzögerungsmessgerät (UDS) einvöllig anderes Spektrum als bislang erörtert.

Die Anstiegsdauer des Verzögerungssignals war mit 0,124 s vergleichsweise kurz – derMaximalwert der Verzögerung lag bei 2,7m/s2 (interne Daten von CTS).

Hier ist es weniger der Maximalwert der Verzögerung, der sich „wahrnehmungsför-dernd“ auswirkt als die kurze Anstiegszeit. Diese Wertekombination steht nämlich füreinen insoweit harten „Ruck“ (3. Ableitung der Verzögerung).

Page 165: Leichtkollisionen ||

158 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.107 Seitenteileindellung bis Fahrertürhinterkante

Abb. 7.108 Versuchspunktlage im Bewertungsdiagramm

Page 166: Leichtkollisionen ||

7.11 Örtlich bedingte Verdeckungsmöglichkeiten 159

Da hilft auch eine, vom Fahrer vermeintlich eingeleitete Pkw-Abbremsung zeitnah zumKollisionsgeschehen nicht weiter, wie die Abb. 7.108 zeigt.

Lotet man nämlich auf der X-Achse amMaximalwert der Abbremsung (7,5m/s2 =Voll-bremsung) hoch, so liegt der Schnittpunkt mit der Anstiegszeitgeraden, auf einer Höhemit einer maximalen Kollisionsverzögerung von noch 1,5m/s2 (Punkt A). Die im Versuchgemessene Maximalverzögerung liegt aber um ca. 80% über diesem Extremwert (bei an-genommener Vollbremsung des Unfallverursachers), sodass man diese Kollision als sicherfühl-/spürbar einzustufen hat.

Der Grund für dieses kurze Kollisions-Verzögerungszeitfenster liegt in dem Umstandbegründet, dass sich der BMW an der Fahrertürhinterkante des Renault verhakte/verkeilteund dort abrupt seine kinetische Energie verlor. Da die Metallstoßstange dieses 3er BMWzudem besonders unnachgiebig ist (quasi keine Verformungszone = kurze Kontaktzeit),ergab sich im Vergleich zu den Versuchsauswertungen im Kap. 6 eben jene „ungünstige“Wertekombination.

Man sieht hieran, welche Fülle von Faktoren die Wahrnehmbarkeit von (vermeintlich)intensitätsschwachen Kollisionen beeinflussen. Es sollte generell seitens damit beauftrag-ter Sachverständiger vermieden werden, ohne Durchführung oder zumindest Beiziehungausreichend vergleichbarerCrashversuche, eineBewertung abzugeben. Eine „Fahrerflucht-Begutachtung“ ohne Berücksichtigung vorgenannter Beweismittel ist damit ganz sicherunvollständig und insgesamt unbrauchbar.

7.11 Örtlich bedingte Verdeckungsmöglichkeiten

Unebene Fahrbahnoberflächen (auch auf Parkplätzen) sind angesichts des letzten strengenWinters und der leeren öffentlichen Kassen quasi allgegenwärtig. Das Überfahren solcher„Fahrbahndefekte“ führt aber unweigerlich zu Fahrzeugerschütterungen, die, sofern in-tensiv genug, ebenfalls nennenswerteVerdeckungsqualitäten bei Leichtkollisionen erzielenkönnen.

Auch findet man auf größeren Parkplätzen Bodenvertiefungen zur Entwässerung (Ka-naldeckel, Regengossen, . . . ).

Wie intensiv solche Erschütterungen sein können, wird nunmehr abschließend erläu-tert.

Zunächst wird das Ergebnis einer Leichtkollision und das dazugehörige Beschleuni-gungsspektrum vorgestellt. Das unfallverursachende Fahrzeug, ein Nissan Maxima, wur-de mit langsamen Tempo (1,9 km/h) ungebremst in die Türzone des Opel Kadett hinein-gefahren. Am Nissan Maxima entstanden keine optisch auffälligen Beschädigungen: erdrang mit der formstabilen, vorderen Konturecke in die deutlich weichere, vordere Bei-fahrertür des Opel Kadett ein. An diesem verblieben dann kräftige plastische Schäden,Abb. 7.109.

Das Türblech verformte sich nachhaltig um den Hauptangriffspunkt in Zierleistenhöhe– die maximale statische Deformationstiefe konnte zu ca. 42mm nachgemessen werden.

Page 167: Leichtkollisionen ||

160 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.109 Schadensbild am stehendenOpel Kadett

Abb. 7.110 Verzögerungssignal im stoßenden Nissan

Im stoßenden Nissan war ein Unfalldatenschreiber installiert, der das mit der Kollisioneinhergehende Verzögerungssignal aufzeichnete, Abb. 7.110.

Liest man den Datenaufschrieb in chronologischer Reihenfolge, so sieht man die Be-schleunigung des Nissan aus dem Stand auf ein Tempo von knapp 2 km/h. Sodann fiel derSignalverlauf innerhalb von gut 0,4 s auf ein Verzögerungsmaximum von 1,7m/s2 ab.

Page 168: Leichtkollisionen ||

7.11 Örtlich bedingte Verdeckungsmöglichkeiten 161

Abb. 7.111 Nachträglich durchfahrene Regengosse

Wie schon durch den Abgleich mit den Versuchen nach WOLFF leicht feststellbar ist,ist ein solches Kollisionssignal nicht „zwingend“ wahrnehmbar. Dort reichen nämlich dienicht wahrgenommenenVerzögerungen bei einer Anstiegszeit von 0,4 s bis aufWerte ober-halb von 2m/s2.

Der Anstoß wurde vom Versuchsfahrer als „sehr weich“ und selbst mit Kenntnis desbevorstehenden Ereignisses als nur sehr schwach spürbar beschrieben.

Im direkten Anschluss an diesen Crash wurde die auf dem Testgelände befindliche Re-genentwässerungsrinne, Abb. 7.111, durchfahren. Diese lag am tiefsten Punkt ca. 20mmunter dem ebenerdigen Fahrbahnniveau, und war insgesamt ca. 40 cm breit.

ImEinrollvorgangwurde das zuvor eingesetzte Testfahrzeug entlang der schiefen Ebeneleicht beschleunigt, um sodann auf der anderen Seite bei derWiederausfahrt langsamer zuwerden (Verzögerung).

Auch die in diesemDurchrollversuch letztlich aufgetretene Fahrzeugverzögerung wur-de mit einem Beschleunigungsaufnehmer (UDS-Gerät) gemessen.

Die nachfolgende Abb. 7.112 zeigt denVerlauf der Pkw-Verzögerung infolge der Regen-rinnenquerung.

Der erste Anstieg ist auf dasHinabfahren der „Rampe“, der negative Anteil auf die Fahr-zeugverlangsamung bei dessen Verlassen zurückzuführen.

Interessant ist nun ein Vergleich dieser beiden Verzögerungsaufschriebe, die wohlge-merkt von einem vergleichsweise hochsensiblen Messsystem stammen, Abb. 7.113.

Rötlich skizziert ist hier das Kollisionsereignis, grünlich die Regengossendurchfahrt zusehen.

Die Ähnlichkeit dieser beiden Spektren ist verblüffend, was bedeutet, dass man nichteinmal anhand der hochsensiblen Datenaufzeichnung durch das UDS-Gerät nun sichersagen könnte, welches Signal zu welchem Ereignis gehört.

Page 169: Leichtkollisionen ||

162 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.112 Verzögerungssignal beim Durchqueren der Regengosse

Abb. 7.113 Vergleich der Verzögerungssignale

Insofern führt die Durchfahrt durch eine solche, auf Parkplätzen oftmals anzutreffendeBodenvertiefung auch beim Fahrzeugführer zur gleichen Verzögerungswahrnehmungwiebei einer schrägwinkeligen Kollision gegen die Türbeblechung eines parkenden Kfz.

Das mit der Kollision einhergehende Verzögerungsspektrum ist also von einer solchenRegengossendurchfahrt nicht hinreichend unterscheidbar, sodass natürlich auch der Be-schaffenheit des Bereiches, der vom Unfallverursacher befahren wird, eine sehr große Be-deutung zukommt.

Man sollte demzufolge bei vermeintlich klarer Sachlage (Wahrnehmbarkeit wird „sach-verständig“ bejaht) unbedingt prüfen, ob sich am Unfallort nicht etwaige, zu querende

Page 170: Leichtkollisionen ||

7.11 Örtlich bedingte Verdeckungsmöglichkeiten 163

Abb. 7.114 Versuchsergebnisse zum Bordsteinkontakt (Höhe 90mm)

„Störgrößen“, wie solche Bodenvertiefungen (z. B. auch Schlaglöcher) befinden, die zumeinen eine stattgefundene Kollision imWahrnehmungsvermögen beeinflussen, zum ande-ren auch den Verursacher dahingehend fehlleiten können, er habe gerade eben (statt dertatsächlichen Kollision) so eine Unebenheit gequert.

Kommt es z. B. in Straßenrandnähe zu einer Leichtkollision, so ist nicht selten ein mög-licher Bordsteinkontakt zu diskutieren.

Hierüber berichteten bereits die Arbeiten vonWOLFF undWELTHER.Auch von uns wurden diverse Bordsteinüberfahrten messtechnisch erfasst, um beur-

teilen zu können, inwieweit solchen Vorgängen eventuell „Verdeckungsqualitäten“ zukom-men.

Exemplarisch seien sechs Versuchsergebnisse an einem 90mmhohenHindernis vorge-stellt, Abb. 7.114.

Es wurden unterschiedliche Anfahr-/Querungswinkel in Relation zur Fahrbahn-längsachse eingehalten. Die gemessenenVersuchsgeschwindigkeiten schwankten zwischen3,5 und 4 km/h.

Es verwundert wenig, dass bei zunehmender Stumpfwinkeligkeit der Borsteinquerungdie insgesamt größten Verzögerungsspitzen bei gleichzeitig kleinster Anstiegszeit regis-triert wurden (und umgekehrt).

Bei 60° Anfahrwinkel stellten wir Werte zwischen etwa 2,6 bis 3,2m/s2 fest (Anstiegs-zeiten 0,45 s . . . 0,49 s) – bei 3-fach flacherem Winkel halbierte sich in etwa die Verzöge-rungsspitze (die Anstiegszeiten verlängerten sich auf max. 0,62 s).

Mit abnehmender Hindernishöhe traten erheblich geringere Wertekombinationen auf;so z. B: für 40mm im Schnitt um etwa 60 bis 70% niedrigere Verzögerungen bei dannabnehmenden Anstiegszeiten.

Page 171: Leichtkollisionen ||

164 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Wurde eine 90mmBorsteinkante langsamüberfahren (z. B.mit schleifenderKupplung)so verlängerten sich die Anstiegszeiten entsprechend – die Verzögerungsspitzen bewegtensich aber, ungeachtet des Anfahrwinkels, (recht einheitlich) zwischen gut 1,5m/s2 und un-ter 2m/s2.

Die seinerzeitige Einschätzung in der Arbeit von WOLFF, wonach Reifen/Bordstein-Kontakte Fahrzeugverzögerungen in einer Höhe erzeugen, wie sie auch bei leichten Kolli-sionen auftreten, ist insgesamt zu bestätigen. Der simple Vergleich mit den Versuchswertenin seinem„Schwellenwert-Diagramm“ zeigt vergleichbareWertekombinationen (Anstiegs-zeit, Verzögerungsmaximum).

Wenn allerdings weiter argumentiert wird, dass auf Grund des (auch hier gemessenen)eher halbkreisförmigen Signalverlaufes eine Unterscheidung zur mehr spitzen Charakte-ristik bei Realkollisionen möglich sei, so kann dies nur bei „direktem Vergleich“ oben ge-nannter Ereignisse gelingen. Ohne das genaue Zeitverhalten des Verzögerungsanstiegs zukennen bzw. als solches sicher gespürt zu haben, wird man einen nur in Nuancen abwei-chenden Signalverlauf nicht sicher davon unterscheiden können. Insofern ist das mit demReifen/Bordstein-Kontakt einhergehendeErschütterungssignal eben nicht sicher vom„un-erfahrenen“ Fahrzeugführer als solches einstufbar, insbesondere wenn es zeitnah zu einemKontakt zweier Kfz kommt, in dessen Verlauf sich die Verzögerungsverläufe – vom Verur-sacher schwerlich differenzierbar – vermengen.

Darüber hinaus sei noch angemerkt, dass neben der Bordsteinhöhe, dem Anfahrtempound -winkel der Reifenfülldruck einen nennenswerten Einfluss auf die Signalcharakteristiknimmt. Je höher der Reifendruck, umso „härter“ wurden die Verzögerungssignale (höhe-res Verzögerungsmaximum/kürzere Anstiegszeit) – war der Luftdruck merklich abgesenkt(halber, empfohlener Wert), so nahm die Verzögerung deutlich ab (im Mittel ca. 30%),Abb. 7.115 bis 7.117.

Wie man den Momentanbildern dieser Videosequenz entnimmt, kommt es bei zu ge-ringem Reifenfülldruck zu einer zunächst zeitlich ausgedehnten Karkassenverformung, indessenVerlauf das Rad langsamamKantstein hochsteigt (Fülldruck ca. 1,3 bar). In der wei-teren Radanhebung formt sich der Reifen elastisch zurück, was im Zusammenspiel mit derFahrwerksfederung zu einem „harmonischen“ (und im zeitlichen Verlauf runden) Verzö-gerungsverlauf mit geringer Amplitude führt. Es leuchtet sofort ein, dass dann, wenn derFülldruck übergroß ist, die Karkasse sehr hart wird, und folglich eine steilere Anstiegsbe-wegung, ähnlich einem „Vollgummirad“, resultiert.

War ein Reifen der Vorderachse Bordsteingegner, so nahmen die Verzögerungswertewegen der höheren Radlast (Frontmotor) etwas zu, während sie an der Hinterachse beigleichen Ausgangsbedingungen demgegenüber abnahmen.

Natürlich spielt auch die Reifengröße/-art eine gewisse Rolle, gelingt es logischerweisebei größeremRaddurchmesser leichter, einHindernis zu überfahren alsmit einemgeringerdimensionierten Reifen eines z. B. Kleinwagens.

Letztlich soll für etwaige Bordsteinkontakte nicht unerwähnt bleiben, dass man bei ei-nemÜberfahren eineWagenkastenanhebung registrieren wird, die man schon von der mit

Page 172: Leichtkollisionen ||

7.11 Örtlich bedingte Verdeckungsmöglichkeiten 165

Abb. 7.115 Bordsteinquerung mit minderbefülltem Vorderrad

Abb. 7.116 Komplette Karkassenquetschung am Bordstein

Leichtkollisionen einhergehenden geringen Vertikalbewegung (bei gehöriger Aufmerk-samkeit) wird unterscheiden können.

Kommt es allerdings nicht dazu, alsowurde nur der Bordstein (statt des nahe stehendenKfz) tangiert, so sind Fehlzuordnungen eines gespürtenAnstoßes ohneweiteres diskutabel.Dies ist also in jedem Einzelfall (bei Vorhandensein derlei Hindernisse) zu prüfen.

Auch WOLFF widmete sich seinerseits der Frage, ob eine mit der Kollision einherge-hende Fahrzeugabbremsung zu einer „Verwechselung“ führen kann.

Page 173: Leichtkollisionen ||

166 7 Anwendung der Versuchsergebnisseauf Fallbeispiele

Abb. 7.117 Auffahrt auf Bordstein

Es heißt bei ihm, dassman ohne äußeren Zwang vomFahrer des Fahrzeugs in derMehr-zahl wohl Verzögerungswerte zwischen 2 und 4m/s annehmen könne, was auch nachdiesseitiger Ansicht zutreffend ist.

Wie die gegen Ende des Kap. 6 dargestellten Zusammenhänge jedoch klar offenbaren,sind bereits solche, noch als leichte oder erhöhte Angleichsbremsungen zu bezeichnende,aktive Fahrzeugverzögerungen „im Sinne derWahrnehmung“ eben nicht vernachlässigbargering, weswegen die Schlussfolgerungen in der Dissertation von WOLFF, wonach eineNotbremsung zwar Verdeckungseigenschaften besäße, jedoch selbige wohl nicht grundlosausgeführt würde, schon zutreffend ist, die Problematik aber insgesamt nicht trifft.

Notbremsungen bedarf es nämlich nicht, da schon normale Betriebsbremsungen(von Fahrzeugführern) für oben genannte Verwechselungen bzw. für eine Anhebungder „Schwelle“ ausreichen.

Der von uns in den zuletzt vorgestellten Wahrnehmungsversuchen gewählte experi-mentelle Aufbau besaß (ungewollt) den Vorteil, dass man nämlich über die zusätzlich ver-zögerte Hinterachse ohnehin kein sehr hohes Verzögerungspotential in das Gesamtfahr-zeug induzieren konnte, die nun in den vonWOLFF nicht „fehlinterpretierbaren Bereich“gereicht hätte (also quasi Vollbremsung).

Insofern sind nach Durchführung der oben genannten „aktiven Wahrnehmungsver-suche“ die bisherigen Beurteilungen in puncto Wahrnehmungsdefizite bei zusätzlichenaktiven Abbremsungen der Unfallverursacher merklich zu relativieren.

Page 174: Leichtkollisionen ||

8Kompatibilitätsanalyse

Ausgangspunkt einer technisch angemessenenBegutachtung, also bzgl. der Frage, ob sämt-liche Schäden, die am Anspruchstellerfahrzeug geltend gemacht werden, auch schadenzu-gehörig sind, ist die sog. Kompatibilitätsanalyse. Ihr Ergebnis entscheidet u. a. auch den(für die Wahrnehmbarkeitsproblematik) nicht unwesentlichen Anstoßwinkel der Kfz zumZeitpunkt der Erstberührung und des Hauptimpulsaustausches. Da ja Abschn. 6.3 im Er-gebnis einen nicht unbeachtlichen Einfluss einer evtl. Fahrzeugverzögerung im Kollisi-onsverlauf lieferte, ist vom Unfallanalytiker im Vorfeld zu prüfen, ob sich über die Bo-denstandshöhen der zuordenbaren Schäden Hinweise für einen gebremsten Zustand desunfallverursachenden Kfz finden lassen.

Dabei reicht es nicht, z. B. ein Vergleichsfahrzeug nachzubesichtigen und dessen Bo-denstandshöhen toleranzfrei für die Beurteilung dieser Problematik heranzuziehen. Alseinfaches Beispiel kann auf die beiden Abb. 8.1 und 8.2 verwiesen werden. In beiden Fäl-len wurden baugleiche Audi A3-Fahrzeuge im Frontbereich mittels Messlatte abgelichtet.Wie man unschwer erkennt, befindet sich auf Abb. 8.1 die rot angedeutete Horizontale auf60 cmHöhe etwa im Bereich der 1. Lamellenreihe des Kühlergrills – im Falle des silbernenKfz (Abb. 8.2) deutlich darunter, nämlich fast am unteren Rand des Kühlergrills. Zwischendiesen beiden Kfz (gleiche Motorisierung, gleiche Bereifung) liegt also bereits ein Höhen-unterschied von 2 cm vor. Beide Kfz waren zumZeitpunkt der Fotoanfertigung unbeladen.

Fahrzeughöhen schwanken mithin zwischen baugleichen Kfz durchaus in einem Be-reich von um 2 cm, spielen nämlich eine Fülle von Einflussfaktoren hier eine Rolle. DerReifenfülldruck, die Reifenprofiltiefe, der Zustand der Fahrzeugfederung etc. sind nur ei-nige Beispiele.

Bei der Schadenszuordnung sollte man sich auch nicht ausschließlich auf maßstäblicheSkizzen aus einschlägigen Fahrzeugdatenbanken verlassen, wie das nachfolgende Beispieldemonstriert.

Lässt man dieses Kfz gedanklich mit der Karosserieecke gegen jene des VW Golf IVin der Abb. 8.4 fahren, so erhält man nach Fotoüberlagerung (Abb. 8.5) eine Höhenzu-ordnung dergestalt, dass die Oberkante der im Heckstoßfänger des VW Golf installierten

167K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_8,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 175: Leichtkollisionen ||

168 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.1 Audi A3 im Höhenvergleich

Abb. 8.2 Audi A3 im Höhenvergleich

(unlackierten) Stoßleiste etwa auf halber Scheinwerferhöhe des Audi A3 liegt (gelbe Hori-zontale).

Würde man sich hier ausschließlich auf Fahrzeugmodelle aus einer Fahrzeug-Daten-bank, Abb. 8.6, verlassen, so kämeman zu einer völlig anderenHöhenzuordnung, nämlich,

Page 176: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 169

Abb. 8.3 Audi A3, im vorde-ren Eckbereich

Abb. 8.4 Karosserieecke VWGolf IV

dass die Oberkante der VW Golf-Stoßleiste etwa mit jener des vorderen Stoßfängerüber-zuges des Audi A3 abschließt.

Aus diesem Grunde sei empfohlen, dass man, sofern man Datenbankskizzen heran-zieht, diese zunächst anhand von Vergleichsfahrzeugen oder noch besser dem seinerzeiti-gen Original-Kfz höhenmäßig angleicht, also quasi „eicht“.

Oftmals wird allein mit Fotoüberlagerungen, wie in der Abb. 8.5 zu sehen, gearbei-tet. Auch hier ist zu beachten, dass diese Darstellungen natürlich nicht toleranzfrei sind– i. Ü. sind sie bisweilen recht unübersichtlich, weil Fahrzeugdetails aufgrund der fotoeige-nen Vielzahl von unterschiedlichen Grau- oder Farbtönen nur schwer auszumachen sind(schlechter Kontrast).

Page 177: Leichtkollisionen ||

170 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.5 Fotoüberlagerung

Abb. 8.6 Fahrzeugmodelle aus einer Datenbank

Messlattenfotos, insbesondere wenn sie nicht nur als Höhenvergleich dienen sollen,sollten auch einen Quermaßstab erkennen lassen, um entsprechende Abbildungsfehler(durch die Brennweite des eingesetzten Fotoapparates) möglichst zu vermeiden. Hiersollte darauf geachtet werden, dass vergleichbare Fahrzeuge aus größerer Entfernung miteinem Teleobjektiv fotografiert werden und man eine Fotoposition wählt, in dessen direk-ter Verlängerung die jeweiligen Messlatten orientiert sind. Mit diesem Verfahren könnendann Kontaktvorgänge prinzipiell geprüft werden.

Ist ein Fahrzeug hingegen stark abgebremst, so führt es, je nach Fahrwerksstraffheitmehr oder minder intensive Einfederbewegungen aus.

Page 178: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 171

Abb. 8.7 VWGolf, statischer Zustand

In der Abb. 8.7 ist die Seitenansicht eines VWGolf im statischen Zustand zu sehen. DieOberkante des Stoßfängers schließt mit dem im Bildhintergrund erkennbaren, gekreuztenQuadrat (an der dortigen Stellwand) ab.

Im Rahmen einer Vollbremsung entstand das Videostandbild der Abb. 8.8 – Man er-kennt, dass sich nunmehr die Scheinwerferunterkante in Höhe des gekreuzten Quadratesbefindet – die Fahrzeugfront sank also an der vordersten Spitze im Rahmen dieser Vollver-zögerung um ca. 7 cm ein. Dies ist für einen normalen Pkw (keine Fahrwerksveränderun-gen) ein durchaus typischer Wert.

Im Rahmen der in Fahrtrichtung durchgeführten Vollbremsung hebt sich zusätzlichauch das Fahrzeugheck an. Die Abb. 8.9 zeigt die Heckpartie dieses VW Golf – hier istlinks wiederum ein gekreuztes Quadrat zu sehen. Im Videostandbild (Vollverzögerung)der Abb. 8.10 erkennt man, dass nunmehr die lackierte Stoßfängerprallleiste mit der Un-terkante auf dieser Höhe liegt – das Heck federte im Rahmen dieser Vollverzögerung umetwa knapp 5 cm aus.

Wie eine Fülle von Verzögerungsversuchen unseres Hauses mit unterschiedlichstenPkw zeigten, sind für straff gefederte Fahrzeuge im Rahmen von Vollbremsungen zumin-dest etwa 4 cm Einfederweg festzustellen – bei sehr weich abgestimmten Kfz (z. B. beiTransportern) können auch Bodenstandshöhenverschiebungen von durchaus um 10 cmauftreten.

Da im Rahmen der hier ausgewerteten Wahrnehmbarkeitsversuche regelmäßig der(schonweiter oben vorgestellte) DataloggerDL1 zumEinsatz kommt, wurde an einemdor-

Page 179: Leichtkollisionen ||

172 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.8 VWGolf, Videostandbild

Abb. 8.9 VWGolf Heckpartie, statischer Zustand

tigen Analogkanal ein Ultraschalldetektor angeschlossen, Abb. 8.11. Mit dem abgebildetenSUV Volvo XC90 wurde eine Vollbremsung durchgeführt. Der an der Stirnfläche ange-brachteUltraschallsensor (rot eingekreist)misst dabei in Abhängigkeit der vomDataloggerregistrierten Längsbeschleunigung (und der vom GPS festgestellten Geschwindigkeit) di-rekt den Einfederweg. Die Abb. 8.12 lässt erkennen, dass bei der, vom Kfz erreichbaren,

Page 180: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 173

Abb. 8.10 VWGolf, Heckpartie, Videostandbild

Abb. 8.11 Volvo mit Ultraschalldetektor

Vollverzögerung von 9,5m/s2 ein Einfederweg von etwa 6,5 cm auftrat. Mithilfe dieserrecht einfachen Sensorik lassen sich schnell und zuverlässig die fahrzeugtypischen Ein-bzw. Ausfederwege grafisch festhalten, wenngleich man natürlich auch videotechnischvorgehen kann.

Page 181: Leichtkollisionen ||

174 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.12 Einfederweg

Als Faustregel kann man also festhalten, dass Fahrzeughöhen baugleicher Kfz prinzi-piell im Bereich einiger weniger cm variieren können. Da hilft es auch nicht, wenn mannachträglich die Originalfahrzeuge in Augenschein nimmt, können sich an selbigen eben-falls merkliche Veränderungen eingestellt haben (Beladung, Tankinhalt, Reifenfülldrucketc.).

Sind allerdings deutliche Bodenstandshöhenverschiebungen gegenüber den Normal-lagen festzustellen, so kann man schon mit recht großer Zuverlässigkeit auf einen z. B.verzögerten Kollisionsvorgang schließen.

Ist man sich nicht sicher, ob sämtliche, z. B. in einem Kfz aufgetretenen Kratz- undSchrammspuren aus dem behaupteten Unfallereignis stammen, so lässt sich wiederumdurch Fotovergleich, derÜberlagerung von dann geeichten Skizzen, oder aber auch anhanddes sog.Maskenverfahrens die Frage der Schadenkompatibilität prüfen. In letztgenanntemFall legtman eine durchsichtige Folie auf das unfallbeteiligte Kfz oder ein Vergleichsmodellund zeichnet dessenKonturen ab.Diese Folienmaske kannmandannmit demunfallgegne-rischen Objekt (hier evtl. ebenfalls Vergleichsfahrzeug) abgleichen, sodass man quasi eine1:1 Prüfung erhält. Eine solche Vorgehensweise empfiehlt sich insbesondere dann, wennes auf Detailspuren bei der Beurteilung evtl. Unfallmanipulationen ankommt. Im Rahmenvon Kleinkollisionen war eine solche Vorgehensweise hier (in unserem Büro) bislang noch

Page 182: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 175

Abb. 8.13 Mitsubishi Lancer

nicht notwendig. Hier reichten nämlich Fotoüberlagerungen oder aber Vergleichsskizzen(geeichter Fahrzeugmodelle) aus.

Die Härte eines Anstoßes, also der mit der Kollision verbundene Ruck (bzw. die Ab-bremsung des unfallverursachenden Kfz) hängt auch maßgeblich von der Steifigkeit dergetroffenen Karosseriezonen und letztendlich dem Anstoßwinkel ab.

Die Abb. 8.13 und 8.14 zeigen einen, bei crashtest-service.com in einem Versuch ein-gesetzten Mitsubishi Lancer (Kombi). Dieser erlitt im Rahmen einer rückwärtsgerichtetenLeichtkollision einen deutlichen Schrammschaden an der umlaufenden, lackierten Stoß-fängerecke und auch eine deutliche Fehlstellung des darüber befindlichenRücklichtes.Die-ses sitzt schräg verlagert im Abschlussende des rechten Seitenteils. Die erhebliche Spalt-maßverlagerung ist durch das grüne Rechteck in der Abb. 8.15 nachvollziehbar.

Dieser Mitsubishi wurde mit 4 km/h rückwärts gegen die Fahrertür eines Opel Cor-sa B gesetzt, an dem die in den Abb. 8.15 und 8.16 zu sehenden Schäden entstanden.Es handelt sich um eine etwa 20 cm lange Farbantragung mit deutlicher Verformung desFahrertürblechs. Auf der Stoßleiste der Fahrertür waren leichteAbrieb- undKontaktspurenzu erkennen. Hier nahm die Rückleuchte des Mitsubishi Kontakt.

Hätte man nun zu beurteilen, unter welchem Winkel die Kfz aneinandergerieten, sowürde man dann, wenn man die Schadensbereiche auf maßstäbliche Draufsichtsmodel-le projiziert, gem. Abb. 8.17 zu einem Anstoßwinkel unter etwa 45° kommen. Schließlichreichten ja auch noch deutliche Kontaktspuren um die Stoßfängerecke des Mitsubishi her-um, also quasi bis in die direkte Heckzone hinein. Die Schrammspurausbildung an derMitsubishi-Stoßfängerecke verbindet man damit „vorschnell“mit einemAnstoßwinkel um

Page 183: Leichtkollisionen ||

176 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.14 Mitsubishi Lancer, Detail

Abb. 8.15 Opel Corsa B, Fahrertür

45°, ist die Aufnahmerichtung des Fotografen in der Abb. 8.13 ebenfalls etwa unter diesemWinkel zur Fahrzeuglängsachse orientiert.

Bei einer solchen, quasistatischen Schadenszuordnung begeht man dann aber den Feh-ler, dass man mögliche Verlagerungen von z. B. elastischen Bauteilen im Rahmen der dy-namischen Verformung ausblendet.

Der Videomitschnitt zu diesem Crashversuch ist in den Abb. 8.18 und 8.19 zu sehen.DieAbb. 8.18 gibt die Situation noch vor der eigentlichen Berührungwieder – dieAbb. 8.19

Page 184: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 177

Abb. 8.16 Opel Corsa B, Fahrertür mit deutlichem Lackantrag

Abb. 8.17 Draufsichtmodelle

Page 185: Leichtkollisionen ||

178 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.18 Vor der Berührung

lässt erkennen, wie sich die Stoßfängerecke des Mitsubishi im Rahmen der Kontaktphasean die Fahrertür des Opel Corsa „schmiegt“. Dieser Stoßfängerüberzug ist vergleichsweiseelastisch – dahinter verbirgt sich kein insoweit formfestes Bauteil, das eine solche elasti-sche Verformung verhindern würde. Dass letztlich die Kratz- und Schrammspuren um dieStoßfängerheckecke bis in den hinteren Bereich hineinlaufen, hängt also nicht mit einerprimären Kontaktierung der Schadenszonen zusammen, sondern ist ein Sekundärscha-den. Die heckseitige Stoßfängerfläche des Mitsubishi wird also quasi in die Berührebenehineingequetscht bzw. verlagert. Der tatsächliche Anstoßwinkel lag bei 35°, mithin umbeachtliche 10° unterhalb der, sich aus allein statischer Betrachtung ergebenden Schadens-zuordnung. Dies kann, da der Anstoßwinkel für die Frage derWahrnehmbarkeit durchausbeachtlich ist, entscheidend sein.

Gerade bei Leichtkollisionen spielen die Steifigkeiten der kontaktierenden Baugrup-pen eine sehr große Rolle. Es leuchtet ein, dass es bei Unfällen im Bereich größererGeschwindigkeitsunterschiede nicht mehr im Detail auf die Frage ankommt, ob sich nunhinter der Stoßfängerecke ein Querträger befand oder nicht. Für die Beurteilung sol-cher Rangierkollisionen, also im niedrigen Geschwindigkeitsbereich, ist die Kenntnis derbaulichen Gestaltung der Kfz in den jeweils kontaktierenden Fahrzeugzonen von großerBedeutung.

Vermutet der technische Laie im Wesentlichen nur Unterschiede zwischen den einzel-nen Fahrzeugklassen (also vomKompakt- bis hin zumOberklasse-Fahrzeug), so sei darauf

Page 186: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 179

Abb. 8.19 Hauptimpulsaustausch

hingewiesen, dass die Steifigkeiten auch innerhalb einer Fahrzeugklasse deutlich variierenkönnen.

In der Abb. 8.20 ist die Vorderwagengestaltung eines Opel Corsa C zu sehen. Demon-tiert man dessen voluminösen Stoßfängerüberzug, so blickt man auf einen Metallquerträ-ger, der an den jeweiligen Längsträgerendspitzen befestigt ist. Er endet jeweils etwa inHöheder Mitte der jeweiligen Scheinwerfer.

Völlig anders sieht die bauliche Gestaltung bei einem Ford Fiesta IV aus, Abb. 8.21. Die-ser verfügt über seitlich umlaufendeMetallträgerpartien, besitzt also unterhalb der Schein-werfer nahe den Eckkonturen eine merkliche Versteifung.

Lässt man diese beiden Fahrzeugtypen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich mit ge-ringer Überdeckung kollidieren, d. h., es werden die Bereiche jeweils neben den Längs-trägerendspitzen getroffen, so hat der Opel Corsa C dem Ford Fiesta nur vergleichswei-se wenig entgegenzusetzen, besitzt er nämlich neben den Längsträgern einen Hohlraum,Abb. 8.20 unten.

Hier ist der Ford Fiesta durch den Metallträger erheblich versteift. Im Endeffekt würdeein merklich größerer plastischer Verformungsschaden an dem solchermaßen (mit gerin-ger Überdeckung) getroffenen Opel Corsa entstehen, als am Ford Fiesta.

In diesem Zusammenhang sei davor gewarnt, im Rahmen von Leichtkollisionen, alsobei der Beurteilung vonWahrnehmbarkeitsproblematiken sich blindlings auf das ErgebnisvonVorwärtssimulationen (PC-Crash, CARAT . . . ) zu verlassen, werden dort diese erhebli-chen Steifigkeitsunterschiede nicht hinreichend erfasst. Eine hier durchgeführte PC-Crash-Simulation (Ford Fiesta IV gegen Opel Corsa C) führte dann auch bei einemDifferenztem-

Page 187: Leichtkollisionen ||

180 8 Kompatibilitätsanalyse

Abb. 8.20 Opel Corsa C, Vorderwagen

po von z. B. 10 km/h und der gerade eben genannten, sehr geringen Anstoßüberdeckungzu letztlich vergleichbar hohen (nachträglich errechneten) EES- bzw. Energiekennwerten,was faktisch nicht sein kann. In den Programmprotokollen werden dann auch die sog.Steifigkeiten (in kN/m) mit ausgedruckt. Diese werden aus mehreren Vorgabeparameternerrechnet. Im Rahmen der gerade angesprochenen Simulation waren für den Ford Fies-

Page 188: Leichtkollisionen ||

8 Kompatibilitätsanalyse 181

Abb. 8.21 Ford Fiesta, Vorderwagen

ta wie für den Opel Corsa quasi identische Steifigkeitswerte (für diese stark exzentrischeKollision) festzustellen, was letztlich nicht richtig sein kann.

Dies macht deutlich, dass sich die Beurteilung niederenergetischer Kollisionen vor-nehmlich auf praxisbezogene Lösungen stützen muss, also Crashversuche, Steifigkeitsprü-fungen zumindest an Vergleichsmodellen etc.

Page 189: Leichtkollisionen ||

182 8 Kompatibilitätsanalyse

Eine Fallbeurteilung, die vorrangig auf solchen Simulationen beruht, ist so lange pro-blematisch, wie die entsprechenden, dort eingesetzten Datenbanken nicht karosseriespezi-fische Steifigkeitswerte (pro Fahrzeugtyp) beinhalten. DemUnterzeichner sind viele „sach-verständige Beurteilungen“ bekannt, die sich maßgeblich auf solche Vorwärtssimulationenstützten, mit, im Ergebnis unhaltbaren Parametern. Der „praktische Aspekt“ muss alsoganz klar im Vordergrund stehen.

Page 190: Leichtkollisionen ||

9Zusammenfassung und Ausblick

Ziel der bisherigen Ausführungenwar es, der mit der Beurteilung vonUnfallfluchtdeliktenbefassten Personengruppe ein „Regelwerk“ an die Hand zu geben, um dem auch juristischerheblichen Vorwurf der Fahrerflucht gerecht zu werden.

Gelang es bereits in den frühen 1990er-Jahren durchWOLFF, verlässlicheBeurteilungs-kriterien zu entwickeln, so lässt sich nunmehr auf Basis der von uns durchgeführten Versu-che ein Trend im Sinne Abhängigkeit zwischen Kollisionshärte und Verzögerungseinflussdurch denUnfallverursacher imHinblick auf dieWahrnehmungsmöglichkeiten erkennen.

Auch in Zukunft wird hier an der statistischen Absicherung des Zusammenspiels dereben gerade genannten drei Parameter weitergearbeitet, d. h., es werden kontinuierlich ent-sprechende Versuche gefahren, um eine größere statistische Absicherung zu erhalten.

Es war nicht beabsichtigt, das Unfallfluchtdelikt etwa zu bagatellisieren, indem exem-plarisch im Zusammenhang mit den Fallbeispielen stets die Wahrnehmungsgrenzwerteangewandt wurden, die konsequent zugunsten des Unfallverursachers ausfielen.Man kannsich trefflich darüber streiten, ob eben jeneParameter für die betreffendePerson gelten odernicht. Es ist stets zu beachten, dass es auch eine sehr große Anzahl von Probanden gab,die unterhalb der Grenzlinie, sei es nun jene nach WOLFF oder eben die, die in den akti-ven Versuchen durch uns ermittelt wurde, Verzögerungsereignisse sicher und problemloswahrnahmen.

Im Rahmen eines Strafverfahrens ist dies allerdings wohl weniger bedeutsam, wenn-gleich sich der Autor nicht anmaßen möchte, juristische Belange zu prüfen.

Wenn also im vorgenannten Text von erschwerter oder Nicht-Wahrnehmbarkeit dieRede ist, so handelt es sich hierbei eindeutig um eine Kann-Bestimmung, d. h., das jeweili-ge Verzögerungsereignis kann vomVerursacher (eventuell) nicht wahrgenommen wordensein. Den Juristen interessiert ja in aller Regel auch nur die Beantwortung der Frage, ob derVorfall vom Betroffenen wahrgenommen worden seinmuss.

Genau diese Formulierungen bedeuten ja nichts anderes, als dass aus technischer Sichtder Nachweis der Spür- bzw. Fühlbarkeit (wie auch der akustischen oder optischen Regis-

183K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5_9,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 191: Leichtkollisionen ||

184 9 Zusammenfassung und Ausblick

trierung) ganz sicher geführt werden muss, weswegen es letztlich statthaft ist, eben auchjene Grenzwerte anzusetzen.

Ein technischer Sachverständiger wird daher nicht in der Lage sein, den Unfallverur-sacher bzgl. seinerWahrnehmungsmöglichkeiten zu kategorisieren – dies wird vermutlichnicht einmal einem in diesen Dingen versierten Spezialisten (Sinnesphysiologe . . . ) gelin-gen, da bekanntermaßen das Registrierungsvermögen solcher Ereignisse nicht nur von derTagesform, sondern auch von einer Fülle individueller Parameter zum Zeitpunkt des Ge-schehens abhängt.

Der Autor vertritt daher die Ansicht, dass zum sicheren Nachweis einer Überschwellig-keit eines Kollisionsereignisses eben sämtliche Einflussparameter in die Analyse einfließenmüssen, was man leider nur allzu oft in entsprechenden „Expertisen“ von technischenSachverständigen vermisst. In Erinnerung sei gerufen, welche Fülle von Einflussfaktorensich pro Wahrnehmungsform aufzeigen ließen. Diese kann man sicherlich nicht alle „ab-klopfen“, sollten aber den Beurteiler solcher Problemstellungen dazu veranlassen, vorsich-tig zu argumentieren, fällt das Strafmaß bei einer „Überführung zum Unfallflüchtigen“bekanntermaßen vergleichsweise hart aus.

Wenngleich einem so kleinen Ingenieurbüro (wie dem unseren) nur beschränkte fi-nanzielle Mittel für weiterreichende Versuchsreihen zur Verfügung stehen, soll dieses Zielim Sinne der „technischen Gerechtigkeitsförderung“ nicht aus den Augen verloren wer-den. Momentan halten Sie die 2. (leicht überarbeitete) Auflage in den Händen. Da seitErscheinen der 1. Auflage hier viele weitereVersuche und auchMessfahrtenmit Probandenstattfanden, wird in der angestrebten 3. Auflage eine noch umfangreichere Aufarbeitungdieses unfallanalytisch bedeutsamen Kapitels stattfinden.

Page 192: Leichtkollisionen ||

Literaturverzeichnis

[B3] Bierbaum, J.W.: Geräuschverhalten von Kraftfahrzeugen. Institut für Kraftfahrzeugwesen, RW-TH Aachen (1991)[D1] Deeken, B.: Wahrnehmungsvermögen von Verzögerungssignalen im Zusammenhang mitLeichtkollisionen. FH Osnabrück (2007)[H1] Zöller, H.: Wahrnehmungspsychologie. In: Hugemann, Hrsg. Unfallrekonstruktion. Verlag Au-torenteam, Münster (2007)[H2] Holtkötter, M.: Die Bedeutung der technischen Beurteilungsparameter von Bagatellunfällen.Bergische Universität Wuppertal (1999)[S1] Schmidt, R.F.: Grundriss der Sinnesphysiologie. Springer Verlag (1985)[S2] Schönfeld, T.: Fühl/Spürbarkeit von Pkw-Kleinkollisionen. FHWilhelmshaven (2008)[S3] Schmedding, K., Deeken, B., Austerhoff, N.: Fühl/Spürbarkeit von verzögerten Bewegungsvor-gängen. In: VKU, Ausgabe 02/2008[T1] Thien, T.: FHWilhelmshaven (2009)[W1] Welther, J.: Wahrnehmbarkeit leichter Fahrzeugkollisionen. Schweitzer Verlag (1983)[W2] Wolff, H.: Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmbarkeit leichter Pkw-Kollisionen.Eurotax-Autorenreihe (1992)

185K. Schmedding, Leichtkollisionen, DOI 10.1007/978-3-8348-2007-5,© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

Page 193: Leichtkollisionen ||

Sachverzeichnis

AAbbremsung

zusätzliche, 59Ablenkung

starke, 58Abwehrverzögerung, 113Adaptationszustand, 90Alters-Hörverlust, 24Altschäden, 9Angleichsbremsung, 78Anhängerkupplung, 115Anstieg

zeitlicher, 39Anstiegszeitkennung, 56Anstoßkonfiguration, 61Anstoßwinkel, 34Anstreiflänge, 96Aufmerksamkeit

zielgerichtete, 23Ausparkkollision, 105Außenspiegel, 17Autoradio, 30

BBagatellgrenze

juristische, 95Bagatellunfall, 7, 15Begutachtung

interdisziplinäre, 8Beladung, 29Berührungswinkel

flacher, 53Beschleunigungskennung, 56Beschleunigungssensor, 46Betriebsbremsung

starke, 78

Bewertungskurve, 57Blickbewegung, 19Blickfeld, 17Blickwechsel, 18Blickzuwendung, 17Bordsteinhöhe, 164Bordsteinkontakt, 163Bremskreistrennung, 66Bremsung, 62

starke, 78

DDämpfungseigenschaften, 34Datalogger, 46DEEKEN, 45Deformationstiefe, 159

EEinflussfaktoren, 21, 30, 34

auf die vestibular-kinästhetischeWahrnehmbarkeit, 37

Einflussparameter, 22auf die taktile Wahrnehmbarkeit, 35

Einzelverzögerungssignalen, 60Erfahrungsschatz

sachverständiger, 8Erschütterungssignal, 8

FFahrbahnbelag, 84Fahrbahndecken

unebene, 90Fahrbahndefekte, 159Fahrerbremsung, 70Fahrkomfort, 14Fahrzeug-Mensch-Konstellationen, 33Fahrzeugverhakung, 150

187

Page 194: Leichtkollisionen ||

188 Sachverzeichnis

Formsteifigkeit, 134Fotoüberlagerung, 106Fremdsignal, 75Frequenz, 23Frequenzlage, 26Fühlbarkeit, 36

GGeräuschkomfort, 29Geschwindigkeitsänderung, 36Gesichtssinn, 16Gleichgewichtssinn, 36Grenzkurven, 77Grenzlinie, 40, 58

modifizierte, 58Grundsensibilisierung, 68

HHandbremsbetätigung, 70Handbremssignal, 73Höhenzuordnung, 134Hördefizite, 139Hörminderungsdiagramm, 139, 140Hörschwelle, 23, 24hypersensibilisiert, 68

IInnenspiegel, 17

KKarosseriedämmung, 25Klimaanlage, 30Körperschall, 24Körperschallweg, 28Kollision

schräge, 134schrägwinkelige, 75stumpfwinkelige, 115teilelastische, 42überlagerte, 62

Kollisionsdauer, 34Kollisionsgeräusche, 23Kollisionsgeschehen

überschwelliges, 155Kollisionshärte, 120Kompatibilitätsprüfung, 106Kontaktstrecke, 152Krafteinwirkung

quasistatische, 31Kunststoffabdeckung, 11

LLautstärkepegel, 26Leichtkollision, 11, 20Lkw-Fahrer, 13, 20

MMaximalbeschleunigungswert, 55Mechanorezeptoren, 32

NNervensystem

zentrales, 15

OOberbekleidung, 34

PParkplatzkarambolagen, 14Proband

abgelenkte, 39passiv, 59

RRandbedingungen, 8Rangierkollision, 140Rangiermanöver, 34Raumschwelle

simultane, 32Registrierungssignal, 46Reifenart, 164Reifenfülldruck, 164Reifengröße, 164Reizempfinden

individuelles, 33Resonanzkörper, 29Ruck, 34, 41

harter, 39, 157Rückverformungseigenschaften, 97Rückwärtsbremsung, 55Rückwärtskollision, 50, 58

SSchaden

bedeutender, 9Schadenskompatibilität, 7, 9, 148Schalldämmung, 26Schalldruckpegel, 23, 26

kollisionsbedingter, 25Schleifkontakt, 87Schönfeld, 43Schwellenanhebung, 74

Page 195: Leichtkollisionen ||

Sachverzeichnis 189

Sichtschatten, 86Signal, 39Signalverlauf, 70Sollwertbereich, 15Spaltmaßveränderungen, 137Spürbarkeit, 36Störgeräuschquelle, 147Störgrößen, 8Störverzögerung, 75Stoß

weicher, 39Streifkollision, 81

Lkw/Pkw, 148Struktursteifigkeit, 11, 12

Ttaktil, 32Thien, 43

UÜberdeckung

volle, 123

VVerdeckungserscheinungen, 40Verdeckungsmöglichkeiten, 159Verdeckungsqualitäten, 123Verdeckungssignalen, 8Verkehrsgeschehen

fließendes, 14Versuchsfahrer

aktiver, 64Verwechselungsspektrum, 41Verzögerungen

überlagerte, 59Verzögerungsdiagramm, 91

Verzögerungssprung, 70Vestibularorgan, 36Vielfahrer, 63Vorwärtskollision, 48, 53

WWackelbewegungen, 20Wagenkastenanhebung, 153, 164Wahrnehmbarkeit, 32

akustische, 30Wahrnehmbarkeitsgrenze, 40, 64

physiologische, 8Wahrnehmbarkeitsschwelle, 39Wahrnehmung, 15

akustische, 16, 23kinästhetische, 16, 36taktile, 16visuelle, 16

Wahrnehmungsformtaktile, 34

Wahrnehmungsmerkmaleakustische, 8mechanische, 8optische, 8

Wahrnehmungsschwelle, 15Wankbewegung, 20, 90Welther, 27, 39Winkelaufnehmer, 73Wochenendfahrerin, 63Wolff, 39

ZZeugen

neutrale, 20Zuordnungsfähigkeit, 59