46

Leitgeist

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Leitgeist
Page 2: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 606

Leitgeist von Hubert Haensel

Hidden-X ist nicht mehr! Und somit haben Atlan und die fast hunderttausend Bewohner der SOL die bislang gefährlichste Situation auf dem an Gefahren reichen Weg des Gene-rationenschiffs fast unbeschadet überstanden. Doch was ist mit dem weiteren Weg der SOL? Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bemühen, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besor-gen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in neue, erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Indessen kommt bei Atlan der durch Wöbbeking ausgelöste »temporäre Reinkarnationsef-fekt« wieder zum Tragen, und der Arkonide und mit ihm die Solaner erfahren, was im Jahr 3587 und danach geschah, als Atlan zu den Kosmokraten gebracht werden sollte. Der Arkonide landet in der Namenlosen Zone – als Geisel von Anti-ES. Doch er bleibt nicht lange in Gefangenschaft – dafür sorgt LEITGEIST ...

2

Page 3: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide als Gefangener von Anti-ES. Leitgeist – Ein Miniaturisierer. Quälgeist – Ein unbequemer Zeitgenos-se. Anti-ES – Atlans großer Gegenspieler. Born – Ein Fragment von Anti-ES.

3

Page 4: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

1.

Das Glitzern seines Körpers wurde stärker

– ein Feuerwerk explodierender Sonnen, die er sich so vorstellte und nicht anders. Wirk-lich gesehen hatte er allerdings nie einen die-ser glühenden Gasbälle, die fremde Räume in gleißende Helligkeit und schier unerträgliche Hitze tauchten.

Tief in seinem Innern lag eine Ahnung ver-borgen, was es hieß, andere Ebenen zu durch-streifen. Sooft Leitgeist jedoch versuchte, diese Gedanken zu fassen, so oft entzogen sie sich seinem Zugriff.

Es gab nur die Schwärze ringsum ... Aber obwohl die Finsternis weder Anfang

noch Ende kannte, besaß sie Grenzen – Leit-geist und sein Pulk hatten dies deutlich zu spüren bekommen.

Wütend? fragte einer seiner beiden weiteren Körper mit der lautlosen Stimme.

Leitgeist erwiderte nichts. Dumpf brach die Erinnerung in ihm auf, daß es früher anders gewesen war.

Früher? Wie lange lag das zurück? Damals hatte es Nahrung in Hülle und Fülle

gegeben, auch wenn inzwischen niemand mehr ihren Geschmack kannte.

Damals hatte er sich noch als Einzelwesen gefühlt und keine drei Körper besessen.

Das Glitzern war wie ein Reigen stetig auf-flammender Leuchtpunkte, die wirre Schatten warfen und Leitgeists Äußeres zerfurcht er-scheinen ließen. Er beobachtete sich selbst dabei, wie er durch die Schwärze trieb, ohne Ziel, aber von einem unwiderstehlichen Ver-langen beseelt, das keinen seiner Art ver-schonte:

Wo gibt es Nahrung? erklang eine lautlose Stimme aus dem Pulk drängender als je zu-vor. Du hast versprochen, uns zu führen.

Tue ich das nicht? erwiderte Leitgeist ge-reizt.

Die Begegnung mit dem Grenzwächter hat-te ihm zu denken gegeben, weil jenes riesen-hafte Geschöpf allen Bemühungen wider-stand, den Weg in eine andere Ebene freizu-kämpfen.

»Eure Aufgabe ist es, bei den Verbannten zu bleiben«, hatte er gesagt und die Miniaturi-sierer zurückgewiesen. Dabei wußten weder

Leitgeist noch ein anderer aus dem Pulk etwas von einer solchen Aufgabe.

Wir sollen Nahrung zu uns nehmen, das ist alles.

Leitgeist verkrampfte sich. Das Braun sei-nes materiellen Körperteils wurde merklich blasser und geriet in wallende Bewegung.

Ich verspüre Hunger! Das konnte nicht sein. Kein Miniaturisierer

kannte dieses Gefühl, obwohl sie die Namen-lose Zone unablässig auf der Suche nach et-was durchstreiften, was sie sich einverleiben konnten. Das Dreifachwesen beschloß des-halb, den Einwand zu ignorieren.

Hunger! erklang es nun weit drängender, begleitet von einer Fülle sensitiver Eindrücke. Viele im Pulk wurden allmählich unruhig. Aber weder änderte Leitgeist seinen Kurs, noch ließ er sich zu einer unbedachten Äuße-rung hinreißen, die seinem Ansehen gescha-det hätte.

Hier gibt es Nahrung, weil es auch früher Nahrung gegeben hat. Alles, was wir brau-chen, ist ein fähiger Anführer.

Leitgeist konnte seine mühsam zur Schau gestellte Ruhe nicht länger bewahren. Er schickte eine Flut telepathischer Impulse über den Pulk hinweg.

Halte endlich deine Gedanken im Zaum, Quälgeist, oder ich werde dafür sorgen, daß du kleiner wirst als ein einziger Lichtpunkt deines Körpers.

Der solcherart Gerügte zuckte merklich zu-sammen. Von da an schwieg er ... Aber si-cherlich nicht für lange, denn das hatte er nie getan.

*

Der Begriff Zeit war ihnen fremd. Seit Äo-

nen durchstreiften sie die endlose Schwärze, von der sie nun wußten, daß Grenzen existier-ten, die zu überwinden ihnen verwehrt wurde.

Es gab nur knapp hundert von ihnen. Ihre Herkunft blieb so dunkel wie ihr Ziel, und sie ahnten nur, daß es nicht immer so gewesen war.

Viele von uns sind verhungert, behauptete Quälgeist.

Wir sollten dich umbenennen, schlug je-mand neben ihm vor.

4

Page 5: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Ja? machte Quälgeist hoffnungsvoll. Hungriger Geist wäre weit treffender. Quälgeist dämpfte seine lautlose Stimme

ein wenig zu spät. So blieb niemand verbor-gen, welch schamlose Erwiderung er dachte. Selbst rasche Flucht konnte ihn nicht vor dem spöttischen Gelächter bewahren.

Als er seine Sinne endlich wieder dem Pulk zuwandte, war dieser in der Düsternis der Namenlosen Zone verschwunden.

Furchtsam zog er sich zusammen – ein Ball leuchtender Energie, der einen braunen Mas-seklumpen umschloß.

Sollen die anderen bleiben, wo sie wollen, dachte er. Ich weiß mir allein zu helfen. Und ich werde ihnen beweisen, daß ich Nahrung finden kann.

Ein Gedankenstoß versetzte seinen Körper in irrlichternde Bewegung. Und als ein Ge-wirr flirrender, bunter Leuchterscheinungen trieb Quälgeist immer schneller dahin.

Aber die Einsamkeit holte ihn bald ein. Wem sollte er sich mitteilen, wem seinen Tri-umph offenbaren, wenn keiner in seiner Nähe weilte, der sich darüber ärgern konnte? Der Miniaturisierer fühlte sich zunehmend elend. Indem er die energetische Komponente seines Ichs umgruppierte, kam er zum Stillstand.

Mit seiner lautlosen Stimme, die ihn auch zum Hören befähigte, lauschte Quälgeist ins Nichts hinaus. Deutlicher als zuvor spürte er eine fremde Strömung, die sein Unbehagen verstärkte. Zweifellos war da etwas, und nicht einmal weit entfernt. Es schien überwiegend aus Masse zu bestehen.

Nahrung! Was sonst konnte es sein? Und er allein

hatte sie gefunden. Quälgeist versetzte sich in die rotierende Bewegung der Freude. Seine Stimme eilte durch den Raum. Erst als Leit-geists leise Antwort ihn erreichte, wurde ihm bewußt, daß er sich mittlerweile sehr weit von den anderen entfernt hatte.

Leitgeist befahl ihm unmißverständlich, zu warten, trotzdem pirschte er sich langsam näher an die Nahrung heran. So weit die Erin-nerung aller Miniaturisierer zurückreichte, sie hatten nie welche gefunden, ja, sie wußten nicht einmal, wie diese aussehen sollte. Und obwohl sie ihrer kaum bedurften, befanden sie sich immer auf der Suche.

* In endloser Reihe trieben große, unregel-

mäßige Körper durch die Namenlose Zone. Jeder von ihnen mochte gut das hundertfache Volumen von Quälgeist besitzen, doch das war kein Hindernis. Im Gegenteil. Gerade das wies darauf hin, daß er endlich gefunden hat-te, wonach die Miniaturisierer seit endlosen Zeiten vergeblich suchten. Es lag in ihrem gemeinsamen Willen, alles fast grenzenlos zu verkleinern, und sie wußten, daß diese Fähig-keit für die Nahrungsaufnahme von besonde-rer Bedeutung war.

Quälgeists telepathische Fühler tasteten durch den Raum. Vor Begierde heftig pulsie-rend, wuchs er dabei fast auf das Doppelte seiner vorherigen Größe an, und aus seinen materiellen Bestandteilen formte er einen weit vorgewölbten Trichter, der sich in Richtung Nahrung erstreckte.

In diesem Zustand äußerster Erregung be-fand er sich noch, als endlich der Pulk bei ihm anlangte.

Das ist mehr als genug für uns alle, jauchz-te er. Kommt!

Doch ein engmaschiges Netz versperrte ihm den Weg. Schimpfend formte er seine energetische Komponente um und wollte durch die Maschen schlüpfen, als etwas ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zurückzerrte. In Situationen wie dieser erschien ihm sein or-ganischer Leib oft überaus lästig. Zu spät er-kannte er, daß Leitgeists drei Bewußtseinsin-halte für das Netz verantwortlich waren.

Mir steht das Recht zu, als erster Nahrung aufzunehmen, protestierte er.

Leitgeists Glitzern wurde um mehrere Nu-ancen dunkler. Aber Quälgeist achtete nicht auf diese offensichtliche Warnung. Seine Sin-ne waren nur auf die vorübertreibenden Ge-bilde gerichtet. Er hatte so etwas nie zuvor gesehen.

Von einem gemeinsamen Mittelpunkt aus-gehend, strebten Dutzende durchscheinender Fäden kreisförmig auseinander. Hin und wie-der bewegten sich einige, als müßten sie die Flugrichtung korrigieren. In der Mitte ver-schmolzen diese Fäden zu einer ebenfalls durchsichtigen, pulsierenden Röhre. Dunkle Flüssigkeiten strömten darin, und hin und

5

Page 6: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

wieder stiegen schillernde Blasen auf.

Quälgeists Sinne konzentrierten sich auf den von dichten Fransen umgebenen Materie-klumpen am unteren Ende der Röhre. Er spür-te, daß unter einer unverdaulichen Kruste kosmischen Staubs die meiste Nahrung ver-borgen lag.

Der fordernde Impuls, er solle sich endlich dem Pulk anschließen, um gemeinsam eine rasche Verkleinerung herbeizuführen, schreckte ihn auf.

Aber er war zu unkonzentriert, und vermut-lich waren die anderen es ebenfalls. Die Aus-sicht, endlich ihre Bestimmungen erfüllen zu können, ließ ihre Fähigkeiten versagen.

Unverändert trieben die bizarren Gebilde durch die Schwärze dieser Ebene.

Du bist der Störfaktor, behauptete Leitgeist. Deine Gier überflügelt alle Vernunft.

Das durfte ihm niemand vorwerfen – schon gar nicht jemand, der sich als unfähig erwie-sen hatte, Nahrung aufzuspüren. Indem Quäl-geist sein Volumen rasch verkleinerte, ent-fernte er sich mit zunehmender Geschwindig-keit. Er beachtete die Rufe der anderen nicht, die ihn davor warnten, den nach wie vor gro-ßen Gespinsten zu nahe zu kommen.

Als er sich auf die kreisförmigen Fäden he-rabsinken ließ, schienen diese vor ihm zu-rückzuweichen. Es machte ihm nichts aus. Während sein materieller Körper schwankend zur Ruhe kam, umfloß sein energetisches Po-tential einige der Fäden in glitzerndem Rei-gen.

Er hätte wissen müssen, daß sie sich als un-verdaulich erweisen würden. Die Miniaturi-sierer waren nur dann in der Lage, Nahrung aufzunehmen, wenn sie diese vorher verklei-nert hatten.

Das lautlose Gelächter des Pulks ließ Quäl-geist noch ablehnender reagieren, als er dies ohnehin getan hätte. Ein flüchtiger Moment der Unachtsamkeit genügte, ihn in dem Ge-wirr der Fäden zu verstricken.

Wütend auf sich selbst zog Quälgeist sich weiter zusammen.

Zu seinem Entsetzen mußte er erkennen, daß nicht eine Ungeschicklichkeit ihn in diese Lage gebracht hatte, sondern daß die Fäden ihn unaufhaltsam mit sich zogen. Alle An-strengungen, freizukommen, waren verge-

bens. Hilfe! gellte seine lautlose Stimme. Dann

war Stille um ihn her, als er in die Röhre hin-eingezerrt wurde. Eine zähe Flüssigkeit spülte ihn mit sich. Quälgeist konnte verschwom-men erkennen, was ihn erwartete. Es schien alles andere als angenehm.

Schlagartig herrschte Dunkelheit, nur auf-gehellt vom Glitzern seiner energetischen Komponente. Er wußte, daß er sich nun in dem von Fransen umhüllten Materieklumpen befand. Obwohl er mit aller Kraft gegen die ihn umgebenden weichen Wände anrannte, gab es kein Entkommen.

In regelmäßigen Abständen zog sein Ge-fängnis sich zusammen und dehnte sich wie-der aus. Stets dann wurde eine unangenehm brennende Flüssigkeit freigesetzt. Quälgeist sah kleine Steine verdampfen, und die Er-kenntnis durchzuckte ihn mit eisiger Kälte.

Er, der Nahrung suchte, war selbst zur Nah-rung für ein unbegreifliches Geschöpf gewor-den.

Im ersten Anflug von Panik rannte er gegen die Wände an, ohne jedoch das geringste zu erreichen. Erst allmählich wurde er ruhiger und begann, überlegt zu handeln.

Die unregelmäßig geformten Brocken, die einen Teil seines Gefängnisses ausfüllten, erwiesen sich als Klumpen kosmischen Stau-bes. Obwohl Quälgeist allein keine großen Kräfte besaß, schaffte er es, diese Steine auf ein Minimum zu verkleinern, und er schleu-derte sie mit Wucht gegen die ihn umgebende halb organische Materie, in die sie tief ein-drangen.

Heftige Erschütterungen wirbelten ihn her-um. Trotzdem gab er nicht auf. Das Schicksal, gefressen zu werden, erschien ihm so ab-scheulich, daß er nicht einmal daran zu den-ken wagte.

Gasblasen stiegen auf. Von einer von ihnen ließ Quälgeist sich einhüllen, und ehe er es sich versah, wurde er in hohem Bogen ausge-spien. Weit unter sich gewahrte er die Reihe der transparenten Organismen, die mit stetig wachsender Geschwindigkeit dahintrieben.

Die lautlose Stimme Leitgeists erreichte ihn.

Das ist keine Nahrung für uns ... Quälgeist konnte nicht anders, als dem zu-

6

Page 7: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

zustimmen.

Du wärst wohl für immer von uns gegan-gen, bemerkte einer aus dem Pulk.

... es sind Lebenssporen, fuhr Leitgeist in seiner Erklärung fort. Niemand weiß, woher sie kommen und wohin sie ziehen, aber sie tragen Leben zu fernen Welten.

Organisches Leben? machte Quälgeist. Dann sind sie von minderer Qualität. Sie eig-nen sich nicht einmal als Nahrung, weil sie sich nicht verkleinern lassen.

*

Für eine Weile, herrschte betretenes

Schweigen. Natürlich war es Quälgeist, der sich als erster wieder telepathisch meldete.

Ein riesiger, durchlöcherter Materieklum-pen ... glaubt ihr, daß dieser besser geeignet wäre?

Leitgeist seufzte. Und wenn dieser Klumpen sogar von ver-

schiedenen energetischen Erscheinungsfor-men durchsetzt wäre? fuhr Quälgeist unge-rührt fort.

Hör auf damit! dachte der Anführer des Pulks scharf.

Da ist tatsächlich etwas, warf ein anderer ein.

Natürlich ist da etwas! Quälgeist verwan-delte sich in eine in allen Spektralfarben glit-zernde Kugel. Wir werden Nahrung bekom-men. Mehr als wir jemals benötigten.

Der Materieklumpen war so riesig, daß selbst alle längst in der Schwärze verschwun-denen Lebenssporen zusammengenommen sein Volumen niemals erreicht hätten.

Eine erloschene Sonne, meinte Quälgeist spontan.

Wie kommst du darauf? Was sollte es sonst sein? Die Oberfläche ist

taub und ohne jedes Leben. Allerdings umgab eine Hülle flüchtiger

Moleküle den Klumpen wie eine weitge-spannte Haut. Zu dünn, um verwertbar zu sein. Quälgeist war überzeugt davon, daß sämtliche Molekülketten ihren Zusammenhalt verlieren mußten, sobald die begleitende Ma-terie aufgelöst wurde.

Der Pulk änderte seine Richtung. Immer deutlicher verhießen die energetischen Impul-

se Nahrung. Kaum merklich ließ Quälgeist sich zurück-

fallen. Eine schlechte Erfahrung genügte ihm vollauf. Diesmal sollten die anderen sich ex-ponieren.

Gerade weil er sich alle Mühe gab, seine diesbezüglichen Gedanken zu verbergen, zuckte er heftig zusammen, als Leitgeist sich an ihn wandte:

Dem Entdecker gebührt die Ehre der ersten Erkundung.

Quälgeist wehrte sich dagegen. Es gäbe an-dere, denen das Vertrauen des Pulks eher zu-stünde als ihm; er fühle sich noch zu schwach nach der Begegnung mit der Lebensspore. Aber alle Ausflüchte halfen wenig. Schließ-lich kapselte er sich ab, verbarg sich hinter einer schier undurchdringlichen Sphäre aus Energie, die seinen organischen Körperteil den Sinnen der anderen entzog. Doch mit Un-terstützung des Pulks gelang es Leitgeist, den Schutzwall aufzubrechen. Quälgeist kam sich nackt und bloß vor, als das Dreiwesen plötz-lich unmittelbar neben ihm schwebte.

Du wirst diese Zusammenballung von Ma-terie untersuchen, und Quellgeist und Jen-seitsgeist werden dich begleiten.

Er verzichtete auf jede Art von Erwiderung. Vielmehr war er froh, Leitgeists bedrückender Nähe entrinnen zu können.

Die erloschene Sonne, für die er das riesige Gebilde inmitten der endlosen Leere noch immer hielt, war tot. Schroffes, zerklüftetes Gestein, das eine seltsame Kälte verstrahlte – mehr schien es in der Tat nicht zu geben.

Nach drei Umrundungen auf verschiedenen Bahnen war Quälgeist kaum klüger als vor-her.

Wir sollten uns mit dieser Erscheinung ver-traut machen, schlug Jenseitsgeist vor. Eine Berührung kann durchaus andere Eindrücke erwecken.

Obwohl Quälgeist sich dagegen sträubte, zogen die beiden ihn mit sich. Aber dann war er der erste, der tief in dem lockeren Staub versank.

Wo bist du? rief Jenseitsgeist aus. Er antwortete nicht, lauschte vielmehr ge-

bannt dem Flüstern ihrer lautlosen Stimmen. Irgend etwas heckten sie gegen ihn aus, das fühlte er überdeutlich.

7

Page 8: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Als er endlich erkannte, was sie vorhatten,

war es zu spät, sich dagegen zur Wehr zu set-zen. Er hatte genug damit zu tun, nicht selbst dem Prozeß der Verkleinerung anheimzufal-len. Schlagartig verschwand der Staub um ihn her.

Quälgeist wollte seinen beiden Begleitern all seine Verachtung entgegenschleudern, als ihm unvermittelt die Logik des Geschehens offenbar wurde. Nahrung ließ sich nicht nur verkleinern, sie mußte sogar in ihrem Volu-men reduziert werden. Alle Miniaturisierer wußten das, auch wenn es sonst kaum etwas gab, was in ihrer Erinnerung haftete. Wenn nun die fremde Materie auf ein Minimum zusammengeschrumpft war, bedeutete das nichts anderes als ...

Nahrung! schrie Quälgeists telepathischer Sinn. Zugleich stürzte er sich auf das Häuf-chen Staub, das noch verblieben war.

Warte! rief Quellgeist. Er achtete nicht darauf, umschloß vielmehr,

von jäher Gier getrieben, die anorganischen Molekülketten. Im nächsten Moment wand er sich unter heftigen Krämpfen.

Du mußt das Zeug ausspucken. Er begriff nicht, was Jenseitsgeist meinte.

Steil stieg er in die Höhe, kam jedoch nicht weit. Ihm war, als sauge eine unheimliche Macht jedwede Kraft in sich auf. Seine ener-getische Komponente wurde zunehmend fah-ler. Quälgeist bemerkte mit Entsetzen, daß kaum mehr ein Glitzern von ihm ausging.

... ausspucken! Das war leichter gesagt als getan. Vorübergehend schwanden Quälgeist die

Sinne. Die durch den Verdauungsvorgang entstandene Energie vertrug sich nicht mit der seines Körpers. Es war fürchterlich, das er-kennen zu müssen, doch blieb ihm keine an-dere Wahl, als einen Teil seines Ichs auf-zugeben. Wie leicht konnten beide Energie-formen sich ansonsten neutralisieren, um le-diglich als organische Materie weiterzuexis-tieren, was Quälgeist zutiefst zuwider war.

Eines war sicher: In Zukunft würde er jede vermeintliche Nahrung erst genauestens auf ihre Genießbarkeit hin überprüfen.

Ein beklemmendes Gefühl, gut ein Viertel seiner selbst langsam in der Schwärze verge-hen zu sehen. Zum Glück schwiegen seine

Begleiter. Haltet euch nicht unnötig lange mit Un-

wichtigem auf, erklang Leitgeists telepathi-scher Befehl. Der Pulk hat inzwischen he-rausgefunden, daß ihr ins Innere des Materie-klumpens eindringen müßt.

Quälgeist war nun wirklich zu schwach, um zu widersprechen. In der Hoffnung, dies alles möge bald zu Ende sein, ließ er sich treiben. Der Materiebrocken war von unzähligen Höh-len durchsetzt. Manche von ihnen besaßen sichtbare Verbindungen zur Oberfläche, ande-re wieder schienen in sich geschlossen und zumindest von außen her unzugänglich.

Da ist etwas Besonderes, bemerkte Jen-seitsgeist.

Der Ausgangspunkt der Strahlung blieb un-genau lokalisiert, schien jedoch tief unter dem tauben Gestein zu liegen. Quälgeist zögerte kurz, während seine beiden Begleiter in einer engen, düsteren Öffnung verschwanden, folg-te ihnen dann aber in einigem Abstand. Das war kaum anders, als durch die Namenlose Zone zu fliegen, nur eben mit dem Unter-schied, daß die umgebende dichte Materie bedrückend wirkte.

Mehrmals mußten die Miniaturisierer um-kehren, weil ihnen unvermittelt der Weg ver-sperrt wurde, dennoch drangen sie zuneh-mend tiefer in die Kruste des zerfurchten Ge-bildes vor. Ein großer, halb aus der Wand herausragender Felsblock begann schlagartig zu schrumpfen, als Quälgeist seine besonde-ren Fähigkeiten anwandte. Die daraus resul-tierende Gewißheit, daß eine Flucht jederzeit möglich sein würde, beruhigte ihn.

Vor uns ist Helligkeit, verkündete Jenseits-geist.

Ein vager Schimmer erfüllte den Hohlraum, der sich schließlich zu einer riesigen Höhle weitete. Die Zuversicht, endlich wirkliche Nahrung gefunden zu haben, ließ Quälgeist an seinen Begleitern vorbeitaumeln.

Ein ungutes Gefühl sagte ihm allerdings, daß es erneut Probleme geben würde.

Die Nahrung besaß ein überaus seltsames Aussehen.

Zwei mächtige, dicke Säulen waren in den Boden gerammt. Allen Gesetzen der Schwer-kraft Hohn sprechend, ruhte auf ihnen ein nicht minder massiger Block mit seitlich her-

8

Page 9: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

ausragenden, weiteren Säulen. Lange, helle Fransen bedeckten einen Großteil des ab-schließenden annähernd runden Gebildes. Quälgeist bemerkte überrascht, daß es sich bewegte, als er kurz entschlossen darauf zu-flog.

Rötlich glühende, irgendwie lebendig wir-kende Vertiefungen richteten sich auf ihn. Und hätte er nicht Jenseitsgeists lautlose Warnung vernommen, die unvermittelt hoch-zuckende Säule hätte ihn wohl in zwei Hälf-ten geteilt.

2.

Irgendwo tropft Wasser von den Wänden.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Stelle ausfindig zu machen, habe ich es auf-gegeben.

Das Geräusch ist nicht laut, wirkt aber trotzdem zermürbend.

Plop! Ich zähle die Sekunden. Zehn sind es, dann

fällt der nächste Tropfen. Mittlerweile hat das Geräusch sich verän-

dert und klingt, als sei bereits eine Lache ent-standen. Selbst im Schlaf höre ich es.

Einbildung! schimpft mein Extrasinn. Ich reagiere nicht. Weshalb auch? Immer-

hin bin ich sicher, daß der Logiksektor nur darauf wartet, mir eine hieb- und stichfest begründete Abfuhr erteilen zu können.

Plop – plop ... Die Unregelmäßigkeit zweier aufeinander-

folgender Tropfen läßt mich aufmerken. Das Geräusch kam von rechts. Ich weiß aber auch, wie sehr die zerfurchten Wände meines Ver-lieses den Schall verzehren. In den vergange-nen Tagen hatte ich Zeit genug, das festzustel-len.

Meine Vorstellungen sind zerbrochen, mei-ne Träume zerplatzt wie Seifenblasen im Wind. Dabei muß ich meinem Ziel schon so nahe gewesen sein. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch immer jenes Gebilde vor mir, das ich für die Materiequelle halte, und ich fühle, wie sie mich abstößt.

Gegen was habe ich meine Freiheit einge-tauscht? Gegen ein mehrere Quadratmeter messendes, stickiges Verlies, in dem nicht einmal eine Vorrichtung zur Verrichtung kör-

perlicher Notdurft existiert. Gut formuliert, spottet mein Extrasinn. A-

ber im Turm der Bastille war es keinen Deut besser.

»... bis auf die Ratten«, gebe ich zähneknir-schend zurück. »Und ich vermisse den Ge-ruch faulenden Strohs.«

Das Extrahirn lacht. Dabei habe ich das un-trügliche Gefühl, daß es selbst nicht weiter weiß.

Seine Bemerkung hat mich jedenfalls daran erinnert, daß anderswo Freunde auf meine Rückkehr hoffen. Sie wissen nicht, was ge-schehen ist, werden es womöglich nie erfah-ren.

Wie lange wird Perry Rhodan warten? Er, der am liebsten selbst in Begleitung des Ro-boters Laire zu den Kosmokraten aufgebro-chen wäre, deren Wahl aber auf mich fiel.

Warum? Ich weiß es nicht. Kälte durchströmt mich. Sie strahlt von den

Felsen aus. Drei Tage bin ich nun schon hier. Drei endlos lange Tage, wie mir scheint.

Wie lange wird Anti-ES mich als Geisel festhalten, falls die Kosmokraten nicht auf seine Forderung eingehen? Für die verbannte Superintelligenz mögen hundert Jahre nur wie ein Tag sein.

Du beginnst, dir in einer Art von Selbstbe-mitleidung zu gefallen, behauptet mein Logik-sektor. Alles in dir war fieberhafte Erwar-tung, wie es wohl hinter der Materiequelle aussehen möge. Nun bist du enttäuscht.

»Blödsinn«, erwidere ich heftig. »Ich kann sehr wohl einen Rückschlag hinnehmen, ohne deshalb in Depressionen zu versinken. Das ist es doch, worauf du anspielst?«

Ich spreche meine Gedanken laut aus, um wenigstens den Klang einer menschlichen Stimme zu hören. Aber gerade das will der Logiksektor mir zum Vorwurf machen.

In der Hinsicht gleichst du deinen heißge-liebten Barbaren.

»Laß mich in Ruhe.« Wir sind beide gereizt. Vermutlich ist es

Anti-ES’ Nähe, die sich auf diese Weise aus-wirkt.

Ich weiß schon jetzt, daß mir die Zeit der Gefangenschaft lang werden wird – verdammt lang.

9

Page 10: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Soll ich aufgeben, mich vom Schicksal

treiben zu lassen? Ich war noch nie untätig. Aber gerade das bedrückt mich. Meine Lage erscheint hoffnungslos. Ich kann keinen Aus-weg finden. Und selbst wenn – wohin sollte ich mich wenden?

Hundertfünfzig Meter massiver Fels schlie-ßen mich ein. Sie zu überwinden, nur mit ei-nem Vibratormesser ausgerüstet, ist unmög-lich.

Was danach kommt, die Namenlose Zone, ist wohl das größte Hindernis. Ich habe ein-mal versucht, sie zu verlassen, und bin ge-scheitert.

Trotz der belebenden Impulse meines Zel-laktivators verspüre ich eine rasch aufkom-mende Müdigkeit. Die Lider werden mir schwer, ich wehre mich nicht dagegen.

Wenigstens für eine Weile muß ich verges-sen können. Es fällt unsagbar schwer, denn immer wieder tauchen vertraute Bilder vor meinem inneren Auge auf. Aber ich schaffe es und fühle, wie ich allmählich in einen leichten Dämmerzustand verfalle.

Die Grenze zwischen Gegenwärtigen und Vergangenem verwischt sich. Vielleicht ist es ein unbewußter Versuch, mich abzulenken – möglicherweise bemüht sich auch der Extra-sinn, mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich bin zu müde, um gegen diese Bevormun-dung zu protestieren.

Der flackernde Schein des hoch auflodern-den Holzfeuers lullt mich ein. Dazu der Duft des über dem Spieß bratenden Ferkels. Es zischt, wenn Fett in die Glut tropft.

Die Nacht ist sternenklar. Hoch über mir sehe ich den Großen Wagen. Mein Blick wan-dert weiter, sucht den Polarstern. Aber ich kann die unzähligen Lichtjahre nicht über-brücken – das Europa des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts kennt noch keine fortschritt-liche Technik. Ich bin nur ein Gefangener, der hin und wieder lenkend in die Geschichte der Menschheit einzugreifen versucht.

Der laue Nachtwind trägt uns das ferne Wiehern eines Pferdes zu. Meine Gefährten erstarren, lauschen hinaus in die Finsternis; es sind unsichere Zeiten. Einige von ihnen greifen zu den Waffen und verschwinden im dichten Unterholz des Waldes, die anderen werfen Sand und Erde auf das Feuer, das fast

ohne Rauchentwicklung erlischt. »Merde!« schimpft jemand aus voller Ü-

berzeugung. Ich kann ihn nur zu gut verste-hen, denn wer möchte schon unter dem Hen-kersbeil enden.

Das Ferkel verkohlt mittlerweile zwischen den Glutresten. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase. Es ist schade um den herrli-chen Braten.

Manchmal glaube ich, daß die Welt aus nichts anderem besteht als aus kriegerischen Auseinandersetzungen. Es muß diesen Barba-ren, die sich selbst zivilisiert nennen, Vergnü-gen bereiten, sich gegenseitig abzuschlachten.

Atlan! Ich benötige eine Weile, um zu begreifen,

daß der Ruf meines Extrasinns mich aufge-schreckt hat. Und einige weitere Augenblicke vergehen, ehe ich endlich erkenne, wo ich mich befinde. Die Erde ist sehr weit entfernt.

Deine Erinnerungen helfen dir nicht, spot-tet der Logiksektor. Wahrscheinlich, weil er nicht weiter weiß.

Oder weil du nahe daran bist zu resignie-ren. Wo bleibt dein Tatendrang?

Mein Traum zwischen Wachen und Schlaf ist verflogen, doch geblieben ist der Geruch, der mich würgen läßt. Anti-ES hat mich wie-der mit Nahrung und Getränken versorgt. Scheinbar aus dem Nichts heraus entstanden, sehe ich das Zeug einige Schritte neben mir.

Mein Gegner ist wohl auf Zermürbetaktik umgeschwenkt, denn jedesmal wird das Essen ungenießbarer. Verständlich, weshalb ich von Spanferkel am Spieß träume.

Diesmal schwappt mir ein trüber, schleimi-ger Brei entgegen. Der Brei scheint syntheti-schen Ursprungs zu sein. Zögernd beginne ich zu essen – in der Annahme, daß es sich vor-wiegend um Proteine handelt.

Noch ist die Superintelligenz auf mich an-gewiesen, sie braucht mich, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Nur ist ziemlich sicher, daß die Kosmokraten auf keinen solchen Handel eingehen werden.

Achtung! Mein Extrasinn hat die flüchtige Bewegung

Sekundenbruchteile vor mir bemerkt. In der Höhlendecke befinden sich etliche enge Schächte, die der Luftzirkulation dienen. Aus einem von ihnen fällt ein seltsames Glitzern,

10

Page 11: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

verharrt für Sekunden und schwebt dann langsam auf mich zu.

Ein Gefühl des Unbehagens beschleicht mich. Es riecht plötzlich nach Ozon, und die Luft scheint von elektrischen Entladungen durchsetzt.

Eine zweite solche Erscheinung und gleich darauf eine dritte folgen. Ihr Leuchten taucht mein Verließ in ein unheimliches Zwielicht.

*

Ich weiß beim besten Willen nichts mit die-

sen merkwürdigen Dingern anzufangen. Sie scheinen flüchtig wie verwehender Nebel und zugleich so materiell wie alles um mich her. In etwa faustgroß, ist jedes von ihnen von unregelmäßiger Form. Es hat sogar den An-schein, als würden sie sich unablässig verän-dern.

Fast möchte man sagen, wir starren uns ge-genseitig an. Dabei kann ich weder Wahr-nehmungsorgane noch sonst etwas Auffälli-ges an ihnen feststellen. Am ehesten sind sie wohl mit riesenhaften Amöben zu verglei-chen.

Das bunte Glitzern, als würden die Luftmo-leküle in einer aufflammenden Kettenreaktion vergehen, ist verlockend. Nur ein brauner Kern scheint wirklich von Bestand.

Wer weiß, welche Bosheit Anti-ES wieder ausgebrütet hat.

Die Erscheinungen umkreisen mich im Ab-stand von einem Meter. Ich verspüre ein un-gutes Gefühl; meine Rechte tastet nach dem Messer, das in einer Tasche meiner Kombina-tion steckt.

Ein stechender Schmerz läßt mich zusam-menzucken. Was schließlich bleibt, ist ein dumpfer Druck und ein nicht minder unange-nehmes Ziehen im Nacken, als versuche je-mand, meine Gedanken zu beeinflussen.

Das ist nicht einmal so abwegig, bemerkt der Extrasinn.

Erneut werfe ich den übergroßen Amöben mißtrauische, forschende Blicke zu. Als ich blitzschnell zupacke, weichen sie mir mit ei-ner Behendigkeit aus, als hätten sie meine Absicht geahnt.

Ich handle schon ganz so, als hätte ich den-kende Wesen vor mir. Dabei mögen diese

Gebilde eher eine Zusammenballung von E-nergie sein, die durch stete Entladungen sichtbar wird. Ihr Anblick jedenfalls ist faszi-nierend.

Je länger sie mich umkreisen, desto weni-ger werde ich den Verdacht los, daß sie etwas von mir wollen. Soll Anti-ES seinen Spaß haben. Die Superintelligenz hat sich lange nicht gemeldet. Vielleicht kann ich sie zu ei-ner gewissen Verhandlungsbereitschaft ani-mieren, wenn ich einfach alles ignoriere. Ob-wohl ich den Verdacht hege, daß dies kein besonders guter Einfall ist, wende ich mich wieder dem Synthobrei zu.

Im nächsten Moment verschwindet die Schüssel vor meinen Augen. Eine der glit-zernden halb-energetischen Erscheinungen schwebt herab.

Ich werde sie »Minis« nennen – immerhin sind sie höchstens so groß wie meine Faust. Das Gebilde, das jetzt vor mir auf den Boden sinkt, ist sogar wesentlich kleiner.

Überrascht halte ich den Atem an, denn die Schüssel mit dem Synthobrei ist noch da. Al-lerdings besitzt sie kaum mehr die Größe ei-ner Fingerkuppe. Für wenige Augenblicke wird sie von einem aufflammenden Lichter-reigen umflossen, dann ist sie endgültig ver-schwunden.

Mit einem glucksenden Geräusch löst der Mini sich vom Boden. Er zittert, scheint sich auszudehnen. Der dumpfe Druck in meinem Hinterkopf nimmt an Stärke zu. Anfangs glaube ich noch, daß die flüsternden Stimmen meiner Einbildung entspringen, dann aber werden einzelne Bilder deutlicher. Ich erken-ne eine seltsame, kompakt anmutende Statue von entfernt menschlicher Gestalt. Und ich sehe sie schrumpfen und die Minis über sie herfallen.

Das sind zweifellos telepathische Impulse. Gehen sie von den glitzernden Erscheinungen aus, die mich mittlerweile regelrecht einge-kreist haben?

»Könnt ihr mich verstehen?« frage ich laut, um meine Gedanken intensiver werden zu lassen.

Nichts geschieht, abgesehen davon, daß die visionäre Statue nun über helle Haare verfügt. Mit einer gehörigen Portion Phantasie kann ich mich selbst darin erkennen.

11

Page 12: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Mir knurrt der Magen. Nein, nicht wirklich,

das ist eher eine Art Assoziation, die mir auf-gezwungen wird.

»Was hast du vor, Anti-ES, willst du mich von diesen lächerlichen Gebilden verschlin-gen lassen?«

Nach wie vor erhalte ich keine Antwort. Beabsichtigt die Superintelligenz, mich aus der Reserve zu locken?

Ich habe den Eindruck, daß die Minis sich näher heranwagen. Ihr Glitzern ist wie ein aufstiebender Funkenregen, sie haben etwas Unwirkliches an sich.

Seufzend lasse ich mich in die Hocke sin-ken. Anti-ES erwartet wohl, daß ich etwas unternehme – ich sehe nicht ein, weshalb.

Eine Erschütterung durcheilt den Fels, ich muß um mein Gleichgewicht kämpfen. Der Boden meines Verlieses war nahezu eben, jetzt erinnert er eher an eine zerfurchte Kra-terlandschaft. Und die Wände scheinen sich himmelhoch aufzutürmen. Heftig schüttle ich den Kopf, um die aufkommende Benommen-heit wieder loszuwerden. Noch während ich mit den Fingerspitzen meine Schläfen massie-re, verändert sich meine Umgebung weiter. Risse durchziehen das Gestein, wegen des ständigen Wechselspiels von Licht und Schat-ten größer wirkend, als sie wirklich sind.

Einer der Minis kommt mir ganz nahe. Er ist auf über einen Meter angeschwollen. Ein-deutig geht der starke Ozongeruch von die-sem Wesen aus.

Als ich mich nach den anderen umwende, erschrecke ich. Mein Verließ erscheint mir riesig. Durch die großen Luftschächte könnte ich mühelos fliehen.

Die Erkenntnis, daß nicht alles um mich her in einem Prozeß der Vergrößerung begriffen ist, sondern daß ich zunehmend kleiner wer-de, trifft mich hart.

Endlich Nahrung! durchzuckte es mich. Das sind nicht meine eigenen Gedanken.

Entsetzt starre ich die Minis an, die wie glü-hende Gasbälle über mir hängen. Wenn ich mir die Relationen vergegenwärtige, muß ich mittlerweile die Größe eines Däumlings er-reicht haben.

Flieh! rät der Extrasinn. Das ist wirklich der beste Ratschlag, den er mir geben kann. Dreißig Meter entfernt ragt die rettende Fels-

wand auf, die von Höhlen durchsetzt und mit unzähligen Vorsprüngen übersät ist.

Der Schrumpfungsprozeß scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Ich bin nun endgültig überzeugt, es mit einer fremdartigen Lebensform zu tun zu haben. Als einer der Glutbälle auf mich herabstößt, beginne ich zu rennen. Aber ich komme nicht weit – eine breite Felsspalte versperrt mir den Weg. Auch ohne mich umzuwenden, weiß ich, daß der Mini (welch unglückliche Bezeichnung in dieser Situation) unmittelbar über mir sein muß. Sein elektrisches Potential läßt mir die Haare zu Berge stehen. Die Luft knistert.

Bin ich bis hierher gelangt, nur um nun als Winzling mein Ende zu finden? Meine Rechte verkrampft sich um den Griff des Messers, das ich in einer Tasche meiner Kombination gefunden habe. Es sieht zwar aus wie die All-zweckklinge, die ich häufig bei mir trage, aber es muß eine Replik sein, denn immerhin war ich nackt und wurde vom Grenzwächter Ahratonn sozusagen neu eingekleidet. Weite-re Ausrüstung besitze ich nicht, und ich weiß auch nicht, ob meine Waffe die Angreifer überhaupt gefährden kann, doch die Kälte des Metalls läßt mich ruhiger werden.

Das alles ist wie ein böser Alptraum. Die erzwungene Ruhe nach den sich überschla-genden Geschehnissen der ersten Tage ging keineswegs spurlos an mir vorüber.

Etwas Immaterielles streift mich und reißt mich von den Beinen. Ich stürze, breite die Arme aus, um mich abzufangen, doch ein jäh einsetzender Sturm wirbelt mich mit sich. Unmittelbar am Rand einer schmalen Spalte, die bisher nur ein unbedeutender Riß für mich war, schlage ich auf. Wie Geier kreisen die Angreifer über mir.

Da ist ein Felsblock, mehr als viermal so groß wie ich. Ein Stein, wenn ich es richtig überlege, doch er kann mir Schutz bieten. Während ich aus den Augenwinkeln heraus die Minis näherkommen sehe, wälze ich mich herum und presse mich an den Fels, so eng es geht.

Plötzlich ist ein Glitzern und Gleißen ringsum wie ein Meer aus immer neu auf-flammenden und wieder vergehenden Stern-schnuppen. Die Helligkeit schmerzt den Au-gen und durchdringt selbst die geschlossenen

12

Page 13: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Lider. Ich fühle, daß etwas nach mir tastet, und schlage blindlings mit dem Messer um mich. Doch schwache Stromstöße lassen mei-ne Finger taub werden und meinen Arm zit-tern.

So schaffst du es nicht, warnt der Extrasinn. Unvermittelt herrscht Ruhe. Ein letztes,

zaghaftes Aufblitzen noch, dann ist nichts mehr. Trotzdem lasse ich das Messer nur zö-gernd sinken. Ich denke an das alte irdische Sprichwort von der Ruhe vor dem Sturm. Während ich mich aufrichte und den Staub von meiner Kombination klopfe, suchen mei-ne Augen die Höhle ab. Alles scheint vorbei wie ein böser Spuk. Und ich wachse wieder, bin bereits halb so groß wie der Felsen neben mir.

Narr! schreit mein Logiksektor. Du unter-liegst keiner Veränderung.

Der Felsblock schrumpft. Das bedeutet, daß ich einem weiteren Angriff schutzlos ausge-liefert bin. Zwei, drei Schritte Anlauf müssen mir genügen, um die Spalte zu überwinden, deren Grund in Finsternis verborgen bleibt. Mit aller Kraft stoße ich mich ab, unter mei-nen Füßen poltert Geröll in die Tiefe – Staub-körner, wenn ich es richtig sehe.

Die Nahrung flieht! vernehme ich einen heftigen telepathischen Impuls, der nur mir gelten kann. Gleichzeitig werfe ich die Arme nach vorne und bekomme eine Abbruchkante zu fassen. Schmerzhaft bohren sich scharfe Splitter in meine Hände, aber ich verbeiße mir einen Aufschrei und suche mit den Füßen ebenfalls Halt. Keine Sekunde zu früh, denn schon bricht weiteres Gestein unter meinem Zugriff aus.

Warum sträubst du dich? zuckte es durch meinen Schädel. Es ist unsere Bestimmung, jegliche Nahrung zu vertilgen.

Mir ist nicht nach solchen Scherzen zumu-te. Nur Zentimeter um Zentimeter kann ich mich in die Höhe ziehen. Unter mir ragen nadelscharfe Felsspitzen auf.

Ich muß es schaffen. Sollen die Kosmokra-ten später sagen, sie hätten den Falschen er-wählt?

Da ist dieses Glitzern wieder. Unaufhalt-sam kommt es näher, während ich mich end-lich auf festen Boden schwingen kann.

Fünfzehn Meter noch ... Wie kleine Explo-

sionen flammt es vor mir auf. Ich kann kaum mehr atmen; die Luft wird

zum dickflüssigen Medium, das jeden weite-ren Schritt zur Qual macht.

»Anti-ES«, keuche ich und glaube, mein Brustkorb müsse zerspringen, »du hast deinen Spaß gehabt. Ein toter Arkonide eignet sich verdammt schlecht als Tauschobjekt.«

Aber die Superintelligenz schweigt. Ich weiß keine andere Erklärung dafür, als daß sie im Augenblick nicht zur Gänze auf dem Pla-netoiden weilt.

Ich werde die Nahrung zuerst verspeisen, hallt es in mir nach.

Halte dich zurück, Quälgeist. Immerhin hast du sie eben entkommen lassen. Das klingt unwirsch. Ich glaube sogar, obwohl sie nicht wirklich sind, zwei verschiedene Stim-men unterscheiden zu können.

Ich war vorsichtig, um nichts Unverdauli-ches aufzunehmen. Willst du mir das zum Vorwurf machen?

Leitgeist soll entscheiden. Da ist eine dritte Stimme. Ich muß phantasieren, wenn ich an-nehme, daß die Minis ...

Haltet sie wenigstens fest. Ich habe nie Nahrung gesehen, die zu fliehen versucht.

Du weißt nicht einmal, wie Nahrung aus-sieht.

Das muß früher anders gewesen sein. Früher, wann war das? Wie lange ziehen

wir schon durch die Namenlose Zone auf der Suche nach unserer Bestimmung?

Es fällt schwer, das Gehörte zu verarbeiten. Die Arme vor den Leib gepreßt, taumele ich vorwärts. Ich sehe nichts mehr. Nur noch grelles, blendendes Glitzern, das aber genau-sogut meinen überreizten Sehnerven entsprin-gen kann.

Aufhalten! Den Befehl vernehme ich so deutlich, als

würde ihn mir jemand ins Ohr brüllen. Gleich darauf umschließt mich etwas Zähes, Nach-giebiges. Ich fühle mich hochgehoben, schla-ge mit Händen und Füßen um mich, doch die mich einhüllende Substanz ist ungeheuer weich. Die grellbunten Schlieren vor meinen Augen weichen allmählich einem beruhigen-den Braun. Ich muß mich im Innern eines der Minis befinden, in dem vermutlich bioplas-matischen Gewebeklumpen, der zugleich die

13

Page 14: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Verdauungsorgane dieses seltsamen Ge-schöpfs enthält.

Sie beginnen sich tatsächlich zu streiten, wer das größere Recht auf mich besitzt. Ver-ständlich, daß ich nicht darauf warten kann, zu wessen Gunsten die Entscheidung ausfällt. Daß ich mit dem Messer zustoße, ist wohl mehr ein verzweifelter Versuch, die Freiheit zurückzuerlangen. Ich nehme an, daß ich die-ses überwiegend energetische Wesen nicht verletzen kann.

Nicht damit gerechnet habe ich allerdings, daß ich telepathisch aufs Schärfste zurecht-gewiesen werde.

Hör endlich auf, oder weißt du nicht, wie Nahrung sich zu verhalten hat?

Ich muß träumen. Erst das anstrengende Training unter Laires Aufsicht, dann der ü-bereilte Aufbruch zur Materiequelle und der Schock, daß diese mich abstieß ... Nicht ein-mal der Träger eines Zellaktivators ist gren-zenlos belastbar. Irgendwann sieht man eben sogar weiße Mäuse.

Diese Annahme ist unbegründet und unzu-treffend, behauptet mein Extrasinn.

Die Minis sind mittlerweile zu einem Entschluß gekommen, der alle zufriedenstellt. Sie wollen jeder ein Drittel von mir verspei-sen und anschließend nach weiterer Nahrung suchen.

Ich könnte jetzt die Nerven verlieren und mit den Fäusten auf die Zellwände trommeln. Ich weiß nicht, weshalb ich es nicht tue. Mög-licherweise, weil ich die Minis für intelligent genug halte, um doch noch eine Verständi-gung herbeizuführen.

»Ich will nicht gefressen werden!« sage ich laut und deutlich.

Du bist nicht gefragt, erklingt die Antwort spontan in meinen Gedanken.

»Ich habe ein Recht darauf ...« Nein. Das scheint endgültig. »Wer bist du?« will ich wissen. Quälgeist. »Gut. Dann werde ich dich so nennen.« Wenn es dir Spaß macht. Das ist Irrsinn. Am liebsten möchte ich hell

auflachen, aber die Situation ist mehr als nur bedrückend. Ich bemühe mich, mir diesen Quälgeist vorzustellen, wie er unter schreckli-chen Verdauungsbeschwerden leidet.

Merkt er überhaupt, daß ich ihn meine? Fast eine Minute vergeht, ohne daß irgendeine Reaktion erfolgt.

Dann – ein gedanklicher Aufschrei: Hör so-fort auf damit.

»Wieso?« Weil es mir Schmerzen bereitet. »Ich bin ungenießbar«, behaupte ich. »Sieh

das endlich ein.« Quatsch. Es war leicht, dich zu verkleinern. »Was hat das damit zu tun?« Wir müssen unsere Nahrung verkleinern,

ehe wir sie aufnehmen können. Ich seufze ergeben. »Wenn Anti-ES euch geschickt hat, sagt

ihm, daß es inzwischen genug ist.« Anti-ES? Ist das ebenfalls Nahrung? Das klingt ehrlich. Ich glaube, ich bin tat-

sächlich auf Fremdwesen getroffen, deren Heimat die Namenlose Zone ist, und muß umdenken.

Wir sind Wanderer auf dieser Ebene, bestä-tigt eine andere Stimme. Ich stelle fest, daß sie meine Gedanken lesen können, auch ohne daß ich diese laut ausspreche.

Viele von uns können sich anderen auf die-se Weise mitteilen.

»Dann siehst du endlich ein, Quälgeist, daß ich nicht die Art von Nahrung bin, die du und deinesgleichen benötigt?«

Wieso sollte ich ... Irgendwie reden wir aneinander vorbei. Mir

ist alles andere als wohl zumute. Der Schweiß bricht mir aus sämtlichen Poren, als die Zell-wände sich ruckartig zusammenziehen.

»Sprichst du immer mit deiner Nahrung?« frage ich.

Weiß nicht. »Was heißt das: weiß nicht?« Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas

verdaut zu haben. Das wird immer verrückter. Kein Mensch

würde mir diese Geschichte als wahr abkau-fen. Eine übelriechende Flüssigkeit spritzt auf mich herab. Jede Berührung auf der Haut ruft einen höllischen Juckreiz und Rötungen her-vor. Haltlos werde ich inmitten der weichen, zuckenden Masse von einer Seite auf die an-dere geschleudert. Wie Kuchenteig in einer automatischen Backform, schießt es mir durch den Sinn.

14

Page 15: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Daß ich Quälgeist die fürchterlichsten Ver-

dauungsbeschwerden prophezeie, scheint die-sen nicht im mindesten zu interessieren. Er glaubt mir nicht, daß ich ungeeignet bin.

Seit langer Zeit zum ersten Mal spüre ich wieder die belebende Ausstrahlung meines Zellaktivators. Über und über bin ich von Verdauungssäften bedeckt.

3.

Schlagartig ebben die Kontraktionen des

Verdauungstrakts ab. Dumpfe, glucksende Geräusche dringen an mein Ohr. Außerdem vernehme ich einen telepathischen Aufschrei, den zweifellos Quälgeist ausgestoßen hat.

Im nächsten Moment werde ich abermals herumgewirbelt; es fällt mir plötzlich leichter, wieder frei zu atmen. Der Mini spuckt mich aus. Noch ein wenig benommen richte ich mich auf und beginne, mich zu säubern.

»Können wir endlich vernünftig miteinan-der reden?« frage ich.

Du bist unappetitlich, behauptet Quälgeist. Das ist nicht gerade ein Kompliment. An-

dererseits – wenn ich an mir herabsehe, ge-winnt diese Feststellung durchaus an Glaub-würdigkeit.

Da ist etwas an dir, was dich leider unver-daulich macht, fährt Quälgeist fort. Traurig-keit schwingt in seinen Gedanken mit.

Ich muß sagen, dieser Mini hat eine eigen-willige Art, sich beliebt zu machen. Scheinbar fällt es ihm unsagbar schwer, auf mich zu verzichten. Aber zumindest muß ich nicht länger befürchten, als besonderer Leckerbis-sen angesehen zu werden.

Während ich unbewußt mit der Hand über meinen Brustkorb streiche, schreit Quälgeist auf.

Das ist es. Das macht dich ungenießbar. Mein Zellaktivator. Ich muß lachen, als ich

den Zusammenhang erkenne. Zugleich reift ein verwegener Plan in mir heran.

»Ihr sucht Nahrung«, wende ich mich wie-der an die Minis. »Mag sein, daß ich euch genug davon verschaffen kann.«

Genug für alle? »Wie viele seid ihr?« stelle ich die Gegen-

frage. Knapp hundert, antwortet Quälgeist, der

noch immer unmittelbar vor mir schwebt. Dieses glitzernde Geschöpf ist gut dreimal so groß wie ich.

»Wenn ich richtig verstanden habe, müßt ihr jede Form von Nahrung erst verkleinern, ehe ihr diese verdauen könnt.«

Der Mini bestätigt das. »Dann verkleinert den Planetoiden, in des-

sen Innern wir uns befinden.« Du meinst die erloschene Sonne. Das ist

unmöglich. Es gibt einiges Hin und Her, ehe ich Quäl-

geist den Unterschied zwischen einer Sonne und einem kosmischen Felsbrocken plausibel machen kann.

Dann, meint er, ist das natürlich etwas an-deres.

Auch wenn ich bereits nahe daran war zu resignieren, habe ich meine Gedanken an Flucht noch immer nicht aufgegeben. Grund-sätzlich liegt mir daran, zu den Kosmokraten zu gelangen, obwohl ich weder weiß, wo sie sind, noch wie ich sie erreichen kann.

Daß es mir keinesfalls möglich ist, Anti-ES zu besiegen, steht von vornherein fest. Allen-falls könnte ich diesem Wesen eins auswi-schen. Wie wird die Superintelligenz reagie-ren, wenn sie feststellen muß, daß ihre Geisel verschwunden ist?

Du glaubst wirklich, daß die erloschene ... der Planetoid für uns zuträglich ist? unter-bricht Quälgeist meine Gedanken.

»Natürlich«, bekräftige ich. »Ihr müßt ihn nur weit genug verkleinern. Ich darf davon aber nicht betroffen sein.«

Der Mini zeigt sich skeptisch. Das behaupten die anderen auch immer,

läßt er mich wissen. Aber ich bin ganz einfach vorsichtig geworden, das ist alles.

Ich habe meine Gedanken sträflich ver-nachlässigt. Weshalb der Mini trotz meiner Mentalstabilisierung in der Lage ist, meine Überlegungen nachzuvollziehen, bleibt mir indes ein Rätsel.

Du mußt dich damit abfinden, meint er. Al-lerdings ist es gut zu wissen, daß du die Wahrheit sagst.

»Dann gib mir meine alte Größe zurück. Oder ...«, ich stocke, »ist das unmöglich?«

Augenblicke später beginne ich zu wach-sen. Ich erkenne es an meiner Umgebung. Die

15

Page 16: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Felsspalte wird zum Riß, und schließlich muß ich mich anstrengen, um sie überhaupt noch zu entdecken.

Als ich meine normale Größe wieder er-reicht habe, strecke ich beide Hände aus. Quälgeist versteht die Aufforderung und schwebt heran. Ein leichtes Prickeln auf der Haut, mehr verspüre ich nicht.

»Der Planetoid muß verkleinert werden«, sage ich nochmals. Meine Absicht ist es, er-neut an Bord der ÜBERZONE zu gehen. In dem sicherlich entstehenden Durcheinander könnte mir die Flucht gelingen. Inzwischen weiß ich, was ich anders machen muß als bei meinem ersten Versuch.

Gute Nahrung, wispert Quälgeist. Er löst sich von meiner Handfläche und verschwindet zusammen mit seinen beiden Begleitern in einem der Lüftungsschächte.

Glaubst du wirklich an einen Erfolg? fragt mein Extrasinn.

Ich weiß keine Antwort darauf.

* Die Zeit vergeht wie im Flug. Endlich darf

ich wieder hoffen. Ich möchte nur das dumme Gesicht von Anti-ES sehen, wenn es von sei-nem Ausflug in die Namenlose Zone oder sonstwohin zurückkehrt und seinen Planetoi-den auf einen Bruchteil verkleinert vorfindet. Oder ist es doch anwesend und hat nur noch nicht bemerkt, was geschieht? Allerdings fällt mir schwer, das zu glauben. Meine einzige wirkliche Sorge gilt der ÜBERZONE. Hof-fentlich gehorcht dieses seltsame Raumschiff nun meinen Befehlen. Immerhin besitze ich in den Miniaturisierern ein gutes Druckmittel.

Ich habe einen kurzen telepathischen Kon-takt mit einem Mini namens Leitgeist, der sich als Anführer des Pulks bezeichnet. Er ist froh, endlich Nahrung gefunden zu haben und verspricht, daß ich von jeglicher Verkleine-rung ausgenommen sein werde. Obwohl ich dieses Wesen nicht kenne, ist es mir von An-fang an sympathisch.

Wir beginnen jetzt, läßt Leitgeist mich nach einer Weile wissen. Zugleich übermittelt er mir Bilder, so wie er sie sieht.

Ich muß mich ganz darauf konzentrieren, denn ich empfange ein verwirrtes Durchein-

ander an Formen und Farben – ein psychede-lisches Puzzle, das nur gänzlich andersgearte-ten Wahrnehmungsorganen entsprungen sein kann.

Leitgeist scheint meine Verwirrung nicht zu bemerken.

Die Minis müssen im molekularen Bereich sehen. Wobei sie zweifellos nicht über Augen im herkömmlichen Sinn verfügen. Vermutlich senden ihre Körper Ortungswellen aus, die reflektiert und von einem entsprechenden Organ in brauchbare Tastmuster umgewandelt werden. Eine Art biologisches Radar im Mik-robereich.

Ich vernehme ein belustigtes Lachen in meinen Gedanken. Quälgeists wispernde tele-pathische Stimme meldet sich wieder.

Du bist wirklich zu schade, um verdaut zu werden. Stellst du oft solch spekulative Über-legungen an, in denen du der Wirklichkeit nahe kommst?

Das klingt beinahe wie eine Aufforderung. Der Mini will etwas Bestimmtes von mir wis-sen.

Richtig, pflichtet er bei. Wir ziehen wie Va-gabunden durch die Namenlose Zone, ohne unsere Herkunft zu kennen.

Er ist enttäuscht, als ich ihm darauf keine Antwort geben kann. Nur Leitgeist schickt mir noch immer Bilder, die sich allerdings rasch verändern.

Das schier unbeschreibliche Gewimmel in düsterem Rot muß der Planetoid sein, dessen Molekularstruktur sich zusammenzieht. In geringem Abstand um diesen mehrere hundert Meter durchmessenden Körper haben sich die Minis gruppiert. Ihr Anführer läßt mich wis-sen, daß sie solch ein für ihre Verhältnisse riesiges Objekt nur gemeinsam verändern können.

Ich verspüre erste Erschütterungen; Staub rieselt von der Decke. Erwartungsvoll blicke ich mich um. Mein Verlies besitzt keinen sichtbaren Zugang, ich warte jedoch darauf, daß eine der Wände reißt oder so dünn wird, daß ich sie durchbrechen kann. Falls Anti-ES mittlerweile nicht den gesamten Planetoiden umgestaltet hat, dürfte es mir nicht schwerfal-len, den Weg zur ÜBERZONE zu finden.

Wenn ich die Arme ausstrecke, kann ich fast schon die Decke erreichen. Das ist für

16

Page 17: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

mich der erste sichtbare Beweis der fort-schreitenden Verkleinerung.

Ich frage mich, wie schnell es gehen wird. Wir müssen mit unseren Kräften haushal-

ten, meint Leitgeist. Keiner weiß, wie es ist, ein Objekt dieser Größenordnung zu verän-dern.

Hoffentlich mußt du sie nicht enttäuschen, wisperte mein Extrasinn.

Wieso? gebe ich ebenso lautlos zurück. Anti-ES wird sich wehren. Ich glaube, du

benutzt die Minis nur als Mittel zum Zweck. Das ist nicht wahr! protestiere ich. Und das

ist meine ehrliche Überzeugung, denn ir-gendwie sind mir diese halbenergetischen Geschöpfe bereits ans Herz gewachsen.

Aber das Problem läßt sich nicht leugnen. Ich habe ihnen Nahrung versprochen.

Immer mehr Risse entstehen in den Wän-den. Ich fürchte, der Asteroid bricht auseinan-der, lange bevor die Verkleinerung abge-schlossen sein wird. Ich muß mich beeilen.

Mit Wucht trete ich gegen den Fels und fühle, wie er nachgibt. Faustgroße Steine pol-tern zu Boden.

In der Gewißheit, endlich freizukommen, trete ich ein zweitesmal zu. Gut ein halber Quadratmeter Wandfläche kippt nach der an-deren Seite. Sofort breche ich mit bloßen Händen weiteres Gestein heraus. Der Plane-toid scheint aus unzähligen aufeinander basie-renden Sedimentschichten zu bestehen.

Ein enger, niederer Stollen schließt sich an. Ich muß den Kopf einziehen, um nicht anzu-stoßen.

So schnell ich kann, haste ich weiter. Die-ser Abschnitt ist mir unbekannt.

Eine Treppe ... Daran, daß ich vier Stufen mühelos auf einmal nehmen kann, erkenne ich, wie weit die Verkleinerung fortgeschrit-ten ist.

Ich habe das Gefühl, der Oberfläche des Planetoiden nahe zu sein. Dumpf verzerrt hallt das Geräusch meiner Schritte von allen Seiten wider. Endlich erreiche ich einen Gang, der mir bekannt ist. Hier war ich, nach-dem ich Anti-Homunk das Steuergerät ent-wendet hatte.

Erstaunt bemerke ich, daß ich deutlich sichtbare Spuren im Fels hinterlasse. Die Verkleinerung scheint also nicht zugleich eine

Verdichtung der Masse herbeizuführen. Das bedeutet, daß jedes einzelne Atom in sich schrumpft.

Einem plötzlichen Impuls folgend, greife ich zu. Mühelos durchdringen meine Finger den Fels.

Du führst dich auf wie ein Haluter, spottet mein Extrasinn.

Ehe ich zu einer passenden Erwiderung an-setzen kann, hebt ohrenbetäubender Lärm an, der aus allen Richtungen zugleich zu kommen scheint. Ich habe das Gefühl, daß etwas Un-sichtbares mich streift, doch diese Empfin-dung ist zu flüchtig als daß ich wirklich sicher sein könnte.

Anti-ES ist zurückgekehrt, behauptet der Logiksektor. Sieh dich vor.

Tatsächlich spüre ich das Böse, das sich in meiner Nähe manifestiert. Es scheint verwirrt zu sein. Zugleich meldet sich Leitgeist wieder und läßt mich wissen, daß irgend etwas den Planetoiden erreicht hat, das sich nun gegen die Miniaturisierer stellt.

Wir können dagegen bestehen, behauptet er, weil die Verkleinerung bereits fortge-schritten ist.

Ein wahnwitziger Gedanke ergreift von mir Besitz.

Selbst wenn es nicht materieller Existenz ist, bestätigt Leitgeist, wird diese Intelligenz, die du Anti-ES nennst, der Schrumpfung eben-falls unterliegen.

Noch ist es zu früh, um zu triumphieren. Aber sollte es möglich sein, Anti-ES zu mei-nem Gefangenen zu machen, den Spieß prak-tisch umzudrehen? Dann wäre ich auf die ÜBERZONE nicht angewiesen.

Euphorische Stimmung ist ebenso wenig angebracht wie die Niedergeschlagenheit, die du während der letzten Tage gezeigt hast, warnt mein Extrasinn.

Die Verkleinerung schreitet nun rasch vor-an, und ein Effekt tritt auf, mit dem ich noch nicht gerechnet habe. Die Wände aus blankem Fels sind mittlerweile so dünn, daß ich sie mühelos durchbrechen kann. Außerdem hängt die Decke bereits so weit herab, daß mir nur eine krampfhaft gebückte Haltung möglich ist.

Als ich mich aufrichte, durchstoße ich die Oberfläche des Planetoiden. Im ersten Mo-

17

Page 18: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

ment zucke ich entsetzt zurück und halte den Atem an, aber Quälgeist teilt mir telepathisch mit, daß die flüchtigen Gasmoleküle von den Minis nicht beeinflußt wurden.

Im anderen Fall hätte es ohnehin schon zur explosiven Dekompression kommen müssen. Ich darf also beruhigt durchatmen.

Trümmerstücke baumeln davon und verlie-ren sich in der Schwärze des Alls. Ich über-blicke weite Teile des Planetoiden. Zum Grei-fen nahe über mir schweben die Miniaturisie-rer. Welcher von ihnen mag Leitgeist sein?

Hier? In meinen Gedanken entsteht das Abbild

des Dreifachwesens, dessen Glitzern heller ist als das der anderen. Suchend sehe ich mich um. Ein eigenartiges, unwirkliches Gefühl, mit halben Körper aus einem kosmischen Trümmerstück herauszuragen. Das erinnert mich an die Geschehnisse in M-87, als Tschai Kulu, Ramdor und Jefferson zu Überriesen wurden und ganze Planeten unter ihren Hän-den zerbrachen. Doch das ist weit über tau-send Jahre her.

Ein Schimmer vager Helligkeit lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas Leuchtendes schält sich langsam aus dem Planetoiden her-aus und kämpft verzweifelt gegen die Ver-kleinerung an. Dennoch verliert es zuneh-mend an Größe.

Beklemmend ist der Hauch des Bösen, der nach mir greift. Zweifellos hat er seinen Aus-gang in diesem Leuchten.

Hilf uns! schreit Quälgeist auf seine lautlo-se Art. Aber ich bin wie gelähmt und kann nicht eingreifen. Untätig muß ich dem sche-menhaften Kampf zwischen den Miniaturisie-rern und dem leuchtenden Etwas aus dem Planetoiden beiwohnen.

Mir ist klar, daß dies zumindest ein Teil von Anti-ES ist, vielleicht sogar die Superin-telligenz selbst.

Die Minis haben einen schweren Stand. Hin und her wogt der Kampf, ohne daß ich in der Lage bin, die Entscheidung zu beeinflussen. Einmal scheint Anti-ES die Oberhand zu ge-winnen, und der Planetoid beginnt wieder zu wachsen, doch sofort ziehen die Minis sich enger zusammen.

Wie willst du eingreifen? fragt der Logik-sektor. Anti-ES mit bloßen Händen den nicht

vorhandenen Hals umdrehen? Wenn ich mich wenigstens bewegen könn-

te. Aber es scheint, als übe die Superintelli-genz einen verhängnisvollen Einfluß auf mich aus. Obwohl sie geschwächt ist, komme ich nicht dagegen an.

Minuten vergehen, dann werde ich auf die Veränderung aufmerksam, die mit Anti-ES vor sich geht. Das helle Leuchten zieht sich an mehreren Stellen zusammen, zugleich be-ginnt es zu verblassen.

Wie gebannt verfolge ich den lautlosen Vorgang. Das Glitzern der Minis bildet jetzt eine schier undurchdringliche Kugelschale um uns her.

Anti-ES versucht verzweifelt, die unsicht-baren Fesseln abzuschütteln und Auswüchse zu formen. Es ist nun höchstens noch so groß wie ich.

Ich vernehme Leitgeists triumphierenden Aufschrei. Zumindest teilweise fällt die Läh-mung von mir ab.

Schließlich steht ein dunkelglimmendes, halbtransparentes Ei fast zum Greifen nah vor mir.

In dieser Form ist es am wenigsten angreif-bar, behauptet der Extrasinn. Vorerst gibt es also eine Pattsituation zwischen den Gegnern, die sich aber rasch zuungunsten der Minis verändern kann.

Ich spüre, daß die Superintelligenz, obwohl stark geschwächt, bereits wieder im Begriff ist, neue Kräfte aufzubauen.

Meine Hände sind nicht mehr taub, ich kann auch die Arme wieder bewegen.

Leitgeist! rufen meine Gedanken. Haltet dieses Wesen noch eine Weile hin!

Ich weiß nicht, ob der Mini mich verstan-den hat, denn meine Aufmerksamkeit widmet sich dem hellen Kern, der wie ein Fremdkör-per im Innern des Eies wirkt. Vermutlich ist dies das Gehirn von Anti-ES, zumindest kann ich mir nichts anderes vorstellen.

Das wäre dann meine Chance. Ich taste nach dem Messer, der einzigen

Waffe, die ich besitze. Es hat den Anschein, als würde Anti-ES im Augenblick kaum auf mich achten. Lächerlich, ein solch unbegreif-liches Wesen mit blankem Stahl besiegen zu wollen, aber die belebende Kühle des Metalls in meiner Hand macht es mir leicht, mich

18

Page 19: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

über solche Bedenken hinwegzusetzen.

Im letzten Moment wird die Superintelli-genz aufmerksam; ein scharfer, geistiger Be-fehl läßt mich zusammenzucken. Wie mit glühenden Nadeln sticht es durch meine Schädeldecke hindurch.

Anti-ES mobilisiert seine letzten Reserven. Ich vernehme einen entsetzten Aufschrei der Minis. Sie können meinen Widersacher kaum mehr zurückhalten. Schon zucken einzelne Pseudo-Gliedmaßen aus dem Ei hervor und umklammern mein rechtes Handgelenk, daß ich unter dem schmerzhaften Zugriff aufstöh-ne. Mit der Linken versuche ich, mich aus dem erbarmungslosen Griff zu befreien.

Anti-ES will mich zurückstoßen, was ihm aber ebenfalls nicht gelingt. Wir ringen mit-einander – ein stummes, unerbittliches Kräf-temessen.

Mein Gegner weiß, daß ich nicht mehr zö-gern werde, ihn zu vernichten. Andererseits ist mir unklar, ob Anti-ES mich noch schonen wird. Vielleicht war es bei den Kosmokraten, und der Versuch, mich gegen seine Freiheit einzutauschen, ist gescheitert. Dann bin ich ihm nichts mehr wert.

Es gelingt mir, mit dem Messer zuzuste-chen. Blut fließt keines. Statt dessen bildet Anti-ES zwei neue Auswüchse, die sofort heranschnellen. Handelt es sich um normale Materie oder Formenergie?

Wenigstens einen Teil meiner Bewegungs-freiheit habe ich zurückerhalten. Und ich kann mit der Waffe umgehen.

Blitzschnell wechsle ich die Klinge von der rechten in die linke Hand und schlage zu. Ei-ner der beiden Arme, der nach meinem Hals tastet, wird glatt abgeschnitten.

Ohne zu zögern, werfe ich mich vorwärts. Anti-ES ist von diesem Angriff offensichtlich überrascht, denn es setzt mir nicht den ge-ringsten Widerstand entgegen.

Als das Messer in die mannsgroße, eiför-mige Erscheinung eindringt, durchzuckt mich ein heftiger Stoß. Schwer schlägt das Herz in meiner Brust; ich ringe krampfhaft nach A-tem. Anti-ES umschlingt mich mit vielen Gliedmaßen.

Sie sind nicht wirklich, behauptet der Extra-sinn. Du unterliegst einer Täuschung. Deine Psyche wird beeinflußt.

Noch einmal steche ich zu. Das Geistwesen schreit gellend auf. Un-

bändiger Haß schlägt mir entgegen. Aber da ist auch ein anderes Gefühl, das Wärme und Zuversicht vermittelt. Und da sind die Minis, deren kollektiver Wille Anti-ES nach wie vor behindert.

Leitgeist übermittelt mir seine Wahrneh-mungen. Ich sehe das große Ei als grellbunte Ansammlung unzähliger Punkte, die wild durcheinanderwirbeln. Nur in seiner Mitte befindet sich eine begrenzte Zone der Ruhe – der helle Kern. Mein Messer hat ihn offen-sichtlich um eine Handbreit verfehlt.

Instinktiv stoße ich ein weiteres Mal zu, und eine Welle positiver Empfindungen schlägt über mir zusammen. Verschwommen nehme ich wahr, daß der helle Kern durch die von mir erzeugte Öffnung schlüpft und Anti-ES verläßt. Scheinbar verwirrt flattert er wild umher, während der Kampf zwischen der Su-perintelligenz auf der einen und den Minis und mir auf der anderen Seite an Heftigkeit gewinnt.

Indem ich mich hochstemme, gelingt es mir, den auf allerhöchstens drei Meter Durchmesser zusammengeschrumpften Plane-toiden zu verlassen. Leitgeist will mir etwas mitteilen, bricht jedoch unvermittelt ab. Ich nehme ebenfalls das Entsetzen wahr, das über uns zusammenschlägt.

Anti-ES, das nur mehr aus Finsternis zu be-stehen scheint, triumphiert. Die Minis sind mit ihrer Kraft am Ende, denn es bläht sich fast schlagartig zu gewaltiger Größe auf, wäh-rend zugleich der Planetoid zu wachsen be-ginnt.

Dein Gegner wird uns vernichten! Deutlich drückt sich Leitgeists Verzweiflung in diesen Gedanken aus.

Nichts und niemand kann verhindern, daß Anti-ES sich wieder in den kosmischen Trümmerbrocken zurückzieht und somit un-sichtbar wird.

Ich habe erneut verloren.

* Was ist der helle, von Anti-ES abstammen-

de Kern, der sich nun ebenfalls zu einem leuchtenden, aus sechseckigen Waben beste-

19

Page 20: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

henden Ei formt und dabei zu wachsen be-ginnt? Innerhalb weniger Augenblicke wird er fast mannsgroß.

Eine beruhigende Ausstrahlung haftet ihm an. Da ist nichts Böses.

Kaum mehr als fünf Meter voneinander entfernt, stehen wir uns auf dem Planetoiden gegenüber, als mich völlig unerwartet ein telepathischer Hilfeschrei der Minis erreicht. Sie sind offensichtlich entsetzt über etwas, was ich noch nicht wahrnehmen kann. Auch mein Extrasinn warnt mich.

Bevor ich überhaupt Zeit finde, darauf ein-zugehen, brechen düstere Energien aus den Kratern des Planetoiden hervor und hüllen diesen in Gedankenschnelle ein.

Atlan, wir ... Quälgeists Mitteilung bricht abrupt ab. Anti-ES schlägt mit seinen über-mächtigen Energien zu und vernichtet den Pulk der Minis. Überall verblaßt das Glitzern und Gleißen, wird von Finsternis verschlun-gen.

Die Todesschreie der Minis hallen in mir nach. Benommen raffe ich mich auf. Einzig und allein ich trage die Schuld an ihrer Ver-nichtung. Doch für Selbstvorwürfe ist es zu spät – ich hätte wissen müssen, daß Anti-ES nicht so leicht zu besiegen ist.

Es tut mir leid, denke ich und weiß zugleich, daß keines dieser fremdartigen Ge-schöpfe mich noch hören kann.

Plötzlich ist Helligkeit um mich her. Ich weiß nicht, was geschieht, aber ich könnte ohnehin kaum etwas dagegen tun. In eine transparente Blase eingehüllt, kann ich mitan-sehen, wie der Planetoid rasch unter mir zu-rückfällt und schon nach wenigen Sekunden völlig verschwindet.

Ich bin nicht allein. Freude überkommt mich, als ich das Glitzern bemerke, nur weicht sie rasch erneuter Benommenheit. Si-cher, ein Mini ist gerettet, doch das ist einer von annähernd hundert.

Du hast es nicht gewollt, wispert seine laut-lose Stimme in meinen Gedanken. Ich mache dir deshalb keinen Vorwurf.

Der Miniaturisierer, der langsam auf mich zu schwebt, besteht aus drei aneinanderge-klebten Körpern. Ich frage mich spontan, ob er somit auch über drei Bewußtseinsinhalte oder nur über eines verfügt.

Ich bin Leitgeist, bestätigt er, ohne auf mei-ne Überlegungen einzugehen. Wir verdanken es dem Ei, daß wir noch leben.

»Wohin bringt es uns?« frage ich in der Hoffnung, Leitgeist möge die Antwort bereits herausgefunden haben. Aber der Mini weiß es ebenfalls nicht. Alles, was er mir mitteilen kann, ist, daß der Kern flieht (vermutlich vor Anti-ES) und daß sein Ziel irgendwo in der Namenlosen Zone liegen muß.

Heißt das, daß ich einen potentiellen Ver-bündeten gefunden habe? Noch sind die Vor-gänge für mich rätselhaft, selbst mein Logik-sektor liefert nicht mehr als Vermutungen. Was wirklich geschehen ist, davon habe ich keine Vorstellung.

Die uns umgebende Hülle ist transparent. Sterne, nach denen ich mich orientieren könn-te, sehe ich nicht, aber ich spüre ebenso wie Leitgeist die rasend schnelle Bewegung, mit der wir vorangetrieben werden. Der helle Kern schützt mich außerdem vor dem Vaku-um des Raumes; die Luft, die ich atme, unter-scheidet sich zumindest nicht merklich von der Atmosphäre des Planetoiden.

4.

Leitgeist verhält sich schweigsam. Ich kann

verstehen, daß er um seinen Pulk trauert. Stunden sind vergangen, in denen ich mehr-

fach vergeblich versucht habe, mit dem Kern Kontakt aufzunehmen. Mindestens ein Dut-zend Mal erwähnte ich die Kosmokraten und die Materiequelle, ohne jedoch eine erkennba-re Reaktion zu erzielen.

Inzwischen habe ich es aufgegeben. Wenn ich erfahren will, wohin die Reise geht, muß ich wohl oder übel abwarten.

Auf jeden Fall bin ich Anti-ES entkommen. Zumindest vorerst, schränkt mein Extrasinn

ein. Du meinst ...? Anti-ES wird sich diese Schlappe nicht ge-

fallen lassen. Wir verbergen uns an einem sicheren Ort,

wispert es in meinem Hinterkopf. Das muß das leuchtende Ei sein. Doch zu mehr als die-ser orakelhaften Erklärung läßt es sich nicht herab.

Ich starre hinaus in die lichtlose Finsternis

20

Page 21: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

der Namenlosen Zone. Die Schwärze er-scheint mir vollkommener als die des interga-laktischen Leerraums. Nicht einmal der weit entfernte Schimmer von Galaxien ist auszu-machen. Überlegungen, wie ich von hier aus in den Einsteinraum zurückkehren könnte, wären müßig. Außerdem wurde ich für eine Aufgabe auserwählt, und ich werde diese Aufgabe erfüllen.

Die Schwärze ist endlos. Gibt es in der Namenlosen Zone überhaupt

Entfernungen, die mit menschlichen Begriffen erklärbar sind?

Irgendwo voraus taucht ein fahler Licht-schimmer auf. Er wird rasch größer.

Ein Raumschiff? Ich fiebere förmlich dem Augenblick ent-

gegen, da mehr zu erkennen ist. Der helle Kern bewegt sich nun genau darauf zu. Hat er sein Ziel erreicht?

Das unbekannte Objekt scheint relativ groß zu sein. Drei oder vier Minuten vergehen, ehe ich erste Einzelheiten ausmachen kann: eine natürliche Landschaft mit Hügeln und Tälern, aus denen ein steiles Felsmassiv in die Höhe ragt. Woher das Licht kommt, ist nicht festzu-stellen. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich die beiden Bauwerke, das eine mehr wie ein eckiger Kasten mit beleuchteten Kuppeln, das andere im Gegensatz dazu ein schlanker Turm mit aufgesetzter Plattform, der an Höhe dem Felsmassiv kaum nachsteht.

Daß ich tatsächlich ein Raumschiff vor mir habe, sehe ich erst, als sich auch dessen Rumpf aus der Finsternis herausschält. Vom Äußeren her erinnert es an eine Plattform. Vier weitgeschwungene Vorsprünge am Bug verleihen ihm zusätzlich das Aussehen eines Insekts, das sowohl Fühler als auch Saugrüs-sel vorstreckt.

Ich hoffe, meldet sich der helle Kern uner-wartet, daß dieses Objekt unbewohnt ist.

Wie er zu dieser Ansicht gelangt, ist mir ein Rätsel – sicher ist allerdings, daß sich bislang noch niemand gezeigt hat. Ich glaube, daß dieses Teilwesen, dem ich zur Flucht aus An-ti-ES verholfen habe, sehr geschwächt ist. Vermutlich hofft es, hier ein Versteck vor unserem Verfolger gefunden zu haben.

Das ist richtig, erhalte ich zur Antwort. Ich muß rasten und neue Kräfte sammeln, sonst

bin ich niemandem eine Hilfe. Hier können wir uns zumindest auf absehbare Zeit vor dem »dunklen Teil« verbergen.

Wir haben uns dem unbekannten Raum-schiff bis auf wenige hundert Meter genähert, als dort unten unvermittelt starke Scheinwer-fer aufflammen. Scharf abgegrenzte Lichtke-gel tasten durch die endlose Schwärze. Kein Zweifel: jemand sucht nach uns.

Abrupt ändert der Kern seine Flugrichtung, läßt sich absinken und rast dicht unter einem vorstehenden Stachel vorbei. Das könnten Antennen sein, doch alles geht viel zu schnell, um eine wirkliche Feststellung zu erlauben.

Die Scheinwerferkegel folgen uns unerbitt-lich. Wir gleiten jetzt unmittelbar an der Längskante des Schiffes entlang. So bekom-me ich zumindest einen ungefähren Eindruck von der Höhe des Objekts, die ich auf drei- bis vierhundert Meter schätze.

»Ist Anti-ES bereits vor uns hier?« spreche ich meine Befürchtung unwillkürlich laut aus.

»Nein!« erwiderte der helle Kern bestimmt. »Ich weiß nicht, was geschieht, obwohl der Erste Zähler nicht auf seiner Basis ist.«

»Basis?« frage ich. Aber die Stimme schweigt erneut.

»Wohin bringst du uns?« will ich wissen. Nichts. Es ist, als würde ich gegen eine

Wand reden. Im nächsten Moment steigt die Sphäre mit

Leitgeist und mir wieder in die Höhe. Hügel tauchen vor uns auf und eine ausgedehnte Waldlandschaft. Alles geht jedoch viel zu schnell, als daß ich Einzelheiten erkennen könnte.

Die mächtige Felswand huscht vorüber, dann sinken wir tiefer. Augenblicke später verschwindet das transparente Feld um uns her. Ich stehe inmitten einer blumenübersäten Wiese, und der Duft honigschwerer Blüten steigt mir in die Nase. Die Luft ist angenehm rein, wie sie der üppigen Flora entspricht. Keine noch so perfekte Umwälzanlage an Bord eines Raumschiffs vermag diese Frische zu erzeugen.

Einbildung! wispert der Extrasinn. Nach der Gefangenschaft auf dem Planetoiden würde dir sogar eine Ammoniak-Methan-Atmosphäre wohltuend erscheinen.

Das ist natürlich stark übertrieben, aber in

21

Page 22: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

gewisser Weise hat mein zweites Ich durchaus recht. Es ist eben alles relativ.

Ich bin mit Leitgeist allein. Der eiförmige helle Kern scheint verschwunden.

Er weilt noch in der Nähe, läßt mich der Mini wissen.

Unwillkürlich blicke ich mich um. Der Himmel über uns ist von einer geradezu voll-kommenen Schwärze. Es gibt weder eine a-tomare Kunstsonne noch Scheinwerfer ...

... und ebenfalls keine Schatten. Das ist richtig. Breitet sich das Licht auf

dieser Kunstwelt anders aus als gewohnt? Ist es vielleicht in der Lage, feste Materie zu durchdringen? Eine Hügelkette bildet den nahen Horizont; mir scheint, daß es dahinter noch heller ist, und daß in der entgegenge-setzten Richtung ein wenig mehr Düsternis herrscht. Aber das kann genausogut Einbil-dung sein.

Heisere Schreie lassen mich aufblicken. Hoch über uns kreist ein Schwarm großer Vögel. Wegen ihrer dunklen Zeichnung sind sie nur sehr schwer auszumachen. Ich habe das untrügliche Gefühl, daß sie uns beobach-ten.

Und noch etwas kann ich erkennen: die leichte Wölbung eines Schutzschirms, der sich über diese Landschaft spannt. Er hindert die Atmosphäre, in den freien Weltraum zu entweichen, muß aber zugleich von außen her durchlässig sein.

Im stillen frage ich mich, wo es ein Ver-steck vor Anti-ES geben kann. Das Geistes-wesen besitzt bestimmt die Möglichkeit, je-den an Bord dieses Schiffes aufzuspüren, selbst wenn er sich im hintersten Winkel des Maschinenraums verkriecht. Das habe ich jedoch keineswegs vor.

Es geht weniger um dich, meldet sich un-vermittelt der helle Kern. In erster Linie soll ich an einer weiteren Flucht gehindert wer-den.

»Warum wartest du dann auf unseren Ver-folger? Willst du mit ihm kämpfen?«

Dazu bin ich noch zu schwach. Erst scheint zwischen mir und Leitgeist die

Luft zu flimmern, schließlich entsteht prak-tisch aus dem Nichts heraus eine gut drei Me-ter große, eiförmige Gestalt, deren Oberfläche aus aneinandergefügten leuchtenden Sechs-

ecken besteht. Der helle Kern ist gewachsen. Die Zeit arbeitet für mich, meint er, ohne

auf meine Feststellung einzugehen. Aus den Augenwinkeln heraus gewahre ich

einen dunklen Schemen rasch näherkommen. Der Warnung meines Extrahirns bedarf es nicht, denn instinktiv werfe ich mich nach vorne. Ein mächtiges Krallenpaar verfehlt meine Schultern, und heiser krächzend strebt der Angreifer wieder in die Höhe. Ich schätze die Spannweite des Vogels auf gut drei Meter.

Der Schwarm kreist jetzt noch höchstens zwanzig Meter über uns. Leitgeist muß wie-der meine Gedanken gelesen haben, denn er läßt mich wissen, daß er bestimmt eines oder zwei der Tiere so weit verkleinern könnte, daß sie keine Gefahr mehr darstellen, keinesfalls aber alle.

Auch mit dem Messer rechne ich mir keine große Chance aus. Es sind zu viele. Sie zu zählen fällt schwer, da sie beinahe wie ein großer Klumpen in der Luft hängen. Fünf-zehn! meint der Extrasinn. Ich glaube ihm die Zahl unbesehen.

Das leuchtende Ei ist verschwunden. Ich fürchte, daß wir von ihm am wenigsten Hilfe zu erwarten haben.

Warum mußten wir ausgerechnet hier lan-den, auf der Basis des Ersten Zählers, was immer der Name bedeuten mag? Gibt es weit und breit keinen anderen Zufluchtsort, oder ist der Kern inzwischen zu erschöpft? Letzteres wäre wohl die plausibelste Erklärung.

Mir bleibt keine Zeit mehr, um weiter dar-über nachzudenken. Krächzend stoßen die Vögel herab.

Renne! fordert mich der Extrasinn auf. Du hast keine andere Wahl.

Ich werfe mich herum und haste mit weiten Sprüngen vorwärts. Die Schwerkraft beträgt ungefähr ein g.

Das Erdreich fällt sanft zu einer Talmulde hinab. Die hier wachsenden, halb mannsho-hen Büsche stehen dicht. Zu spät erkenne ich, daß es kein Durchkommen gibt. Federn stie-ben nach allen Richtungen davon, als der ers-te Angreifer heran ist und ich mit dem Messer zustoße. Aber dann trifft mich ein schmerz-hafter Flügelschlag, der mich benommen taumeln läßt.

22

Page 23: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Ins Gestrüpp, auch wenn deine Kombinati-

on dabei draufgeht, fordert der Extrasinn. Mir bleibt keine andere Wahl. Augenblicke

später kauere ich zwischen knorrigen Ästen und dicken, feuchten Blättern am Boden. Hin und wieder stößt einer der über mir kreisen-den Vögel herab und versucht, seine Fänge in das Buschwerk zu schlagen. Ich habe mich selbst in eine Falle hineinmanövriert, aus der ich nur schwer wieder entkommen kann. Ich bin gezwungen, die Dunkelheit abzuwarten. Ein Gefühl sagt mir jedoch, daß ich auf den Einbruch der Nacht lange warten muß. Ver-mutlich herrscht in dieser künstlichen Land-schaft ewiger Tag.

Eines der Tiere zeigt sich besonders hartnä-ckig und hackt mit dem Schnabel nach mir, wobei immer mehr Blätter und Holzstücke losgerissen werden. Ein Paar runder, schwar-zer Augen funkelt mich tückisch an. So fest halte ich mein Messer, daß die Knöchel weiß unter der Haut hervortreten.

Im nächsten Moment schnellt der Ast, auf dem der Vogel saß, in die Höhe. Das Ge-wicht, das ihn eben noch belastet hat, ist ver-schwunden.

Ein kaum wahrnehmbares Piepsen läßt mich den Boden zwischen den Wurzeln absu-chen. Da ist ein Küken, gerade so groß, daß es in meine Hand paßt.

Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich im Stich lassen? höre ich Leitgeists lautlose Stimme.

*

Ich bin verwirrt. Die Vögel sind so schnell

verschwunden, wie sie aufgetaucht sind. Der Himmel über mir ist leer und wolkenlos. Meine Kombination, obwohl schmutzabwei-send, ist dreckverschmiert. Aber das interes-siert mich im Augenblick herzlich wenig.

Leitgeist schwebt neben mir. Sein Glitzern ist wie ein nicht enden wollender Funkenrei-gen.

Das Ei ist verschwunden, teilt er mir mit. Ich weiß nicht, wohin.

Das habe ich geahnt. Damit sind wir inmit-ten einer fremden Umgebung praktisch nur auf uns gestellt.

Es ist keineswegs das erste Mal, daß du

dich ohne Hilfsmittel irgendwo durchschlagen mußt.

Aber nie hatte ich dieses flaue Gefühl im Magen. Ich fühle mich alleingelassen – von einem Wesen, über das ich nichts weiß. Si-cher, seine Ausstrahlung ist durchaus positiv zu bewerten, aber zugleich entstammt es doch meinem ärgsten Gegner.

Bist du sicher, daß es Anti-ES war? Die Frage meines Extrasinns verblüfft

mich. Immerhin kommt es äußerst selten vor, daß er von mir etwas wissen will.

Kurz entschlossen gebe ich mir einen Ruck. »Wir müssen herausfinden, was gespielt wird«, sage ich zu Leitgeist, der mir daraufhin einen bestätigenden Impuls schickt.

Der hoch aufragende schroffe Fels ist einer von drei markanten Geländepunkten und der Grund, weshalb ich ausgerechnet in diese Richtung aufbreche, ganz einfach der, daß er meinem jetzigen Standort am nächsten liegt. An die Zone üppiger Vegetation schließt sich ein ausgedehntes Geröllfeld an. Ungehindert erreichen wir schließlich den Fuß des Felsen. Zum wiederholten Mal ertappe ich mich da-bei, daß ich angestrengt zum pechschwarzen Firmament emporstarre. Aber alles bleibt ru-hig.

Der Extrasinn macht mich auf etwas auf-merksam, an dem ich sonst wohl achtlos vo-rübergegangen wäre. Es sind die Überreste mehr als kopfgroßer Felsbrocken, zum Teil zu winzigen Splittern zermalmt. Einige Meter entfernt muß ein schwerer Dampfhammer den felsigen Boden aufgerissen haben. Ein tiefes Loch gähnt an dieser Stelle, und von unten her schimmert blankes Metall herauf.

Er hat ganz schön gewütet ... Ich achte nicht auf die Bemerkung, weil ich

im Gestein senkrechte, parallel verlaufende Furchen entdeckt habe. Ohne Bedeutung kön-nen sie nicht sein.

»Wer?« frage ich überrascht, als mir end-lich klar wird, daß der Logiksektor womög-lich auf etwas Bestimmtes hinweisen wollte.

Der Haluter, läßt er mich wissen. »Natürlich«, erwidere ich spöttisch. »Wir

sind vermutlich nur eine kleine Ewigkeit von Halut entfernt.« Dabei denke ich an Beyl Transot, dem ich erst vor kurzem begegnet bin, aber es erscheint mir nahezu ausgeschlos-

23

Page 24: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

sen, daß weitere dieser tonnenschweren Ko-losse in die Namenlose Zone verschlagen wurden.

Nur für Sekunden habe ich meine nähere Umgebung aus den Augen gelassen, schon läßt ein grollendes Geräusch mich herumfah-ren. Keine dreißig Meter entfernt, unmittelbar am Fuß des Felsens, kauert ein schwarzer Panther. Auch wenn die Ähnlichkeit nur flüchtig ist, drückt sich in dieser Bezeichnung doch die offensichtliche Gefährlichkeit des Tieres aus, dessen vier Beinpaare ihm eine große Sprungkraft verleihen mögen. Die Kör-perlänge beträgt ungefähr 2,50 Meter, die Höhe jedoch nur rund 40 Zentimeter. Deutlich sind fingerlange Reißzähne zu erkennen.

Unwillkürlich versteife ich mich. Wenn der schwarze Panther angreift, gibt es keine Ret-tung.

Verhalte dich ruhig! mahnt der Extrasinn. Versuche vor allem nicht, den Helden zu spie-len.

Unentwegt starrt das Tier mich mit seinen funkelnden Lichtern an, daß ich mich eines gewissen Schauderns nicht erwehren kann.

Dann stößt der Panther ein drohendes Fau-chen aus und ist von einem Moment zum an-deren verschwunden. Hat er sich mit einem kraftvollen Sprung zurückgezogen? Ich ver-mag es nicht eindeutig zu behaupten.

Es wäre besser, die Basis des Ersten Zäh-lers umgehend zu verlassen.

In der ersten Überraschung schreibe ich diese Bemerkung dem Extrasinn zu, bevor ich die ungeheure Fremdartigkeit dieser Gedan-ken verstehe.

»Wer bist du?« frage ich laut. Aber anstelle einer Antwort werde ich erneut aufgefordert, die Basis zu verlassen. Leitgeist bestätigt mir, daß auch er den Befehl vernommen hat. Trotz seiner telepathischen Gabe ist er jedoch in der Lage, den Unbekannten aufzuspüren.

Vielleicht würde ich mich tatsächlich nach einem anderen Ort umsehen, wäre ich dazu in der Lage.

Der helle Kern ist nach wie vor verschwun-den.

*

Es gibt keine Möglichkeit der Zeitbestim-mung; keine Sonne steigt über den Rand der Basis des Ersten Zählers herauf. Auf Dauer wirkt die gleichbleibende Helligkeit sogar ermüdend.

Wenigstens eine Stunde mag vergangen sein, während ich mich in der Nähe des Fel-sens umgesehen habe. Ich habe nichts gefun-den, was mir irgendwie wichtig erschienen wäre.

Nun bin ich auf dem Weg zu jenem großen, kastenförmigen Bauwerk. Leitgeist folgt mir wie ein treuer Hund. Ich kann verstehen, daß er Anhang sucht und wahrscheinlich auch Bestätigung. Immerhin war es ein Schock für ihn, als er seinen Pulk verlor.

Durch meine Schuld. Ich hätte voraussehen müssen, daß Anti-ES erbarmungslos zuschla-gen würde.

Du kannst nichts dafür. Das sagt der Mini immer wieder, und zwei-

fellos meint er es ehrlich. Ein Flackern wie von flüchtigen energeti-

schen Entladungen huscht über den schwar-zen Himmel. Vorübergehend hat es den An-schein, als würde aus dem Nichts heraus ein mächtiges Gebilde entstehen, ich glaube so-gar, die Andeutung einer eiförmigen Gestalt erkennen zu können, dann ist der Spuk so rasch vorüber, wie er erschien. Eine Erklärung dafür habe ich nicht, aber ich spüre förmlich, daß bedeutsame Ereignisse bevorstehen.

Vor uns erstreckt sich ein kleiner Misch-wald. Weit ausladende, blühende Laubbäume wechseln sich ab mit kegelförmigem, blutro-tem Nadelgehölz, das ohne erkennbaren Stamm aus dem Boden sprießt. Es wird schwer sein, hier durchzukommen.

Also muß ich einen Umweg in Kauf neh-men. Mein Ziel, das kantige, von Kuppeln bedeckte Bauwerk, kann ich nicht aus den Augen verlieren, denn es ragt über die Baum-kronen hinaus.

Kniehohes, saftiges Steppengras wogt sanft im Wind. Ich frage mich, wie er entstehen mag. Infolge des hügeligen Geländeverlaufs ist der Horizont scheinbar zum Greifen nahe. Dort beginnt die endlose Schwärze der Na-menlosen Zone, als wolle sie die Basis des Ersten Zählers jeden Moment unter eisigen Fittichen ersticken.

24

Page 25: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Pilze! macht der Logiksektor mich auf eine

Ansammlung faustgroßer Fruchtkörper auf-merksam. Schlagartig verspüre ich Hunger. Es ist lange her, daß ich etwas gegessen habe, und das waren Konzentratwürfel und zuletzt dieser zähe Brei, den mir die Robotautomatik in Anti-ES’ Planetoiden serviert hat.

Eine Vergiftung brauche ich dank meinem Zellaktivator nicht zu befürchten, dennoch betrachte ich die Pilze mit den langen, schlanken Stielen und den ausladenden flei-schigen Kappen mit einer Mischung aus Skepsis und Zurückhaltung. Sie verströmen ein eigenartig süßes Aroma.

Als ich einen der Fruchtkörper abschneide, erweist sich dieser als erstaunlich wider-standsfähig. Das Fleisch ist trocken und fast weiß. Ich säubere Stiel und Kappe und breche ein mundgerechtes Stück heraus. Der Ge-schmack ist nicht minder eigenartig als der Geruch. Selbst mein photographisches Ge-dächtnis erinnert sich nicht daran, daß ich jemals etwas Ähnliches gegessen hätte.

Ringsum bricht der Boden auf. Zu Hunder-ten sprießen winzige Keimlinge aus der Erde. Sie wachsen erstaunlich schnell. Gleichzeitig beginnt das Gras zu welken. Da ich auf halber Höhe auf einem Hügel stehe, bietet sich mir ein einigermaßen umfassender Rundblick. Schon sind die Pilze gut dreißig Zentimeter hoch und sie wuchern weiter. Ihr Geruch hat etwas Beklemmendes an sich. Kalter Schweiß bricht mir aus allen Poren.

Ich muß mich durch einen Urwald aus be-reits halb mannshohen Pilzen hindurchkämp-fen. Sie stehen dermaßen eng beieinander, daß es kaum noch ein Durchkommen gibt.

Niemand, der nicht gerufen wurde, betritt die Basis des Ersten Zählers ungestraft. Die Reaktion darauf kann nur die Auslöschung der jeweiligen Daseinsform sein. Diese War-nung brennt sich förmlich in meine Gedanken ein.

Die Wand aus Pilzen wird undurchdring-lich. Selbst wenn ich alle Kraft anwende, ge-lingt es mir nicht, auch nur eine der Kappen zu zerstören.

Du bist schuld daran! werfe ich meinem Extrasinn vor, erhalte jedoch keine Antwort.

Mit Armen und Beinen zugleich stemme ich mich gegen die Pilze, die inzwischen

Schulterhöhe erreicht haben. Es ist ein sinnlo-ses Unterfangen.

Obwohl ich ihn gerade jetzt dringender brauche als je zuvor, schweigt der Extrasinn. Er ist verwirrt. Wegen seiner offensichtlichen Fehlleistung? Wohl kaum, denn selbst dafür ließe sich eine logische Erklärung finden.

Leitgeist! schreien meine Gedanken. Hilf mir!

Ich vermag mich nicht einmal mehr umzu-wenden, um nach dem Mini Ausschau zu hal-ten.

Ich bin da, erreicht mich ein beruhigender Impuls.

Aber ... er versagt. Langsam werde ich zu-sammengequetscht, kann nicht einmal mehr die Arme bewegen.

Warum schrumpfen diese verdammten Pil-ze nicht? Sind sie keine Nahrung für Leit-geist?

Der Wächter ist stärker! Wer ist der Wächter? Es fällt mir schwer,

das telepathisch Gehörte richtig aufzunehmen. Ich kann kaum noch atmen. Der beginnende Sauerstoffmangel ruft Halluzinationen hervor. Eine andere Erklärung dafür, daß ich plötzlich ein riesenhaftes Lebewesen auf mich zurasen sehe, habe ich nicht. Der Boden erzittert unter dem Gewicht dieses Monstrums. Nur ver-schwommen erkenne ich eine gut 3,50 Meter große und in den Schultern 2,50 Meter breite massige Gestalt mit einem halbkugelförmig auf den Schultern sitzenden Kopf. In gebück-ter Haltung kommt sie heran, wobei sie sich auch mit einem ihrer beiden Armpaare ab-stößt.

Er ist es! stellt mein Extrasinn recht sach-lich fest.

Wer? Als die ersten Pilze entwurzelt nach allen Seiten davonfliegen, erkenne ich end-lich, daß ich einen Haluter vor mir habe.

Beyl Transot! behauptet mein zweites Ich erneut, während ich krampfhaft gegen eine beginnende Ohnmacht ankämpfe. Rücksichts-los zerfetzt der Koloß die Pilze um mich her.

Und er fängt mich auf, als die Beine mir den Dienst versagen. Seine tiefe, dröhnende Stimme reißt mich jäh ins Wachsein zurück, bevor ich endgültig die Besinnung verliere.

25

Page 26: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

5.

Der Hügel ist bedeckt von den Überresten

des Pilzfelds. Dicht über mir schwebt Leit-geist; sein Glitzern scheint mir neue Kräfte einzuflößen.

Da ist auch der Haluter. Er wirkt starr und unbeweglich wie eine aus schwarzem Stein gehauene Statue. Ich nehme mir Zeit, ihn ei-ner genauen Musterung zu unterziehen.

Kein Zweifel, mein Extrasinn hat recht. »Beyl Transot«, spreche ich ihn an. Es fällt

mir schwer, die Worte zu artikulieren, denn die Knochenplatte meines Brustkorbs schmerzt stark. Ein Terraner an meiner Stelle hätte wohl mehrere Rippenbrüche davonge-tragen. »Ich danke dir«, sage ich. »Aber wo sind die anderen? Ist allen die Flucht vom Grenzwächter Eppletonn gelungen?«

Der Blick seiner drei Augen ruht unver-wandt auf mir. Allerdings zeigt sich kein Er-kennen in ihnen.

Unbewußt habe ich mich des Interkosmo bedient. Nun versuche ich es auf halutisch.

Transots Reaktion beweist zwar, daß er mich hört, keineswegs aber, daß er auch ver-steht, was ich von ihm will. Ich deute hinauf in die Schwärze der Namenlosen Zone:

»Eppletonn ...« Er lauscht dem verhallenden Klang, hebt

seine beiden Augenpaare und läßt sie ruckar-tig wieder fallen. Deutlicher kann er kaum zu verstehen geben, daß er nicht weiß, wovon ich rede.

Aber er muß sich doch erinnern können. Oder ist auf der Flucht vom Grenzwächter mehr geschehen, als ich jetzt noch ahne?

Er weiß nichts, läßt Leitgeist sich verneh-men. Seine Gedanken liegen offen vor mir. Er kennt dich nicht.

Das ist unmöglich. Nein, Atlan. In gewisser Hinsicht ist Beyl

Transot wie ein Neugeborenes. Seine Erinne-rung reicht nur wenige Stunden weit zurück.

Zu meiner Überraschung beginnt der Halu-ter endlich zu reden.

»Freund?« kommt es grollend aus seinem Rachen.

Rein gewohnheitsmäßig nicke ich, obwohl ich mir darüber klar sein sollte, daß er diese Geste nicht deuten kann.

»Wir sind uns erst vor kurzem begegnet ...« »Weiß nicht ... kenne – dich nicht ...« Beyl

Transot spricht holpriges Interkosmo, als müsse er erst lernen, die Begriffe richtig zu gebrauchen.

Wo sind die anderen, denen ich mein Ver-sprechen gab, sie zu befreien? Was ist ge-schehen? Befindet sich die Basis des Ersten Zählers gar in unmittelbarer Nähe des Grenz-wächters? – Fragen über Fragen, auf die ich schwerlich eine Antwort finden kann.

Hier stinkt einiges, bemerkt folgerichtig der Logiksektor.

Ich frage mich, ob er seine Verwirrung, o-der was immer es war, inzwischen überwun-den hat.

Natürlich, läßt er mich wissen. Es bedarf nur einiger grundlegender Erkenntnisse, um jegliche irrationale Verhaltensweisen auszu-merzen. Welcher Art diese Erkenntnisse sind, verschweigt mein zweites Ich jedoch.

»Wo bin ich?« fragt der Haluter. »Auf der Basis des Ersten Zählers.« Er läßt seinen Blick schweifen. »Seit ich erwachte, frage ich mich, ob das

der Leerraum ist. Ich kenne den Begriff, weiß aber nichts damit anzufangen.«

»Wir haben unser Universum verlassen.« Beyl Transot starrt mich ungläubig an. »Manchmal glaube ich, auf dieser Welt ge-

boren worden zu sein. Aber vielleicht lebe ich auch erst einige Jahre hier.«

»Das ist unmöglich.« »Meinst du?« Beyl Transot hat sich völlig verändert. Die

Unsicherheit paßt nicht zu ihm. »Wieso hast du mir geholfen, wenn du dich

nicht an mich erinnerst?« frage ich. Der Haluter stutzt. »Ich mußte es tun«, bringt er schließlich

stockend hervor. Sein Interkosmo ist mittler-weile schon recht brauchbar.

»Wieso ›mußtest‹ du es tun?« »Weil es mir befohlen wurde.« Abrupt läßt Beyl Transot sich auf seine

kürzeren Laufarme nieder, und ehe ich reagie-ren kann, ist er hinter der Hügelkuppe ver-schwunden. Haluter können trotz ihrer rund 40 Zentner Lebendgewicht eine Spitzenge-schwindigkeit von 120 Kilometer pro Stunde erreichen.

26

Page 27: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Er denkt an ein kleines, vielgliedriges Le-

bewesen, das ihn aufgeweckt hat, teilt Leit-geist mir mit.

Damit kann ich zwar nichts anfangen, doch es tut gut zu wissen, daß da jemand ist, auf den man zählen kann.

*

Du belastest dich unnötig mit Fragen, auf

die es zumindest vorerst keine Antwort gibt. Vermutlich meint der Extrasinn es gut mit

mir. Trotzdem kann ich mir seine Einstellung nicht erklären. Hat er resigniert? Das alles ist so unwirklich, daß ich einfach auf diese Ver-mutung verfahren muß.

Du solltest mehr auf deine Umgebung ach-ten, als dich nutzloser Überlegungen hinzu-geben.

Unwillkürlich blicke ich mich um. Aber da ist nichts.

Paß auf! Die Warnung ist so intensiv, daß ich die

nahe Gefahr fast körperlich spüre. Eine jähe Berührung läßt mich zusammen-

zucken. Etwas ringelt sich um meine Beine. Es sind fast armlange, bleiche Würmer, die überall aus dem lockeren Erdreich hervorbre-chen. Wie Schlangen kriechen sie heran.

Obwohl ich gelernt habe, allem Leben, und mag es noch so fremdartig erscheinen, positiv gegenüberzustehen, ist meine erste Reaktion Abscheu.

Diese Würmer ziehen sich an meinen Stie-feln hoch und sondern dabei eine übelrie-chende Flüssigkeit ab. Schon hat der erste meine Hüfte erreicht. Als ich ihn berühre, durchzuckt mich ein rasender Schmerz. Ich habe das Gefühl, die Hand in kochendes Öl zu tauchen. Nur mühsam unterdrücke ich einen Aufschrei.

Zugleich ertönt über mir heiseres Krächzen; schützend reiße ich die Arme hoch. Ein harter Flügelschlag trifft mich.

Das ist die letzte Warnung! dröhnt es in meinen Gedanken. Verlasse die Basis des Ersten Zählers.

Als ich aufsehe, ist alles wieder ruhig wie zuvor. Die Würmer fallen von mir ab und verschwinden in der Erde; die Vögel ziehen hoch oben ihre Kreise.

»Was war das?« frage ich laut. Leitgeist, der nach wie vor als glitzernder Funkenreigen in meiner Nähe schwebt, weiß ebenfalls keine Antwort darauf; keine zumindest, die mich zufriedengestellt hätte.

Wer immer auf dieser Welt lebt, Fremde scheinen ihm nicht gerade willkommen zu sein. Wie lange mag die Frist sein, die der Unbekannte uns noch gewährt?

Gib dich keinen Illusionen hin, warnt mein Extrasinn. Du kannst der endgültigen Kon-frontation nicht entgehen.

Wenn ich wenigstens wüßte, wer unser Gegner ist. Die Bezeichnung »Wächter« sagt mir herzlich wenig. Aber es gibt etwas oder jemanden, der die Antwort kennen muß.

»Du«, rufe ich nach dem hellen Kern. »Teil von Anti-ES, wo steckst du?«

Nur in der Ferne huschen geisterhafte Leuchterscheinungen über den künstlichen Himmel. Ich muß einsehen, daß es so kein Weiterkommen geben kann. Und allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, daß der Extra-sinn so unrecht nicht hatte. Die Basis des Ers-ten Zählers birgt ein Geheimnis – das fühle ich. Wenn mir Zeit dazu bleibt, werde ich alles daransetzen, es zu ergründen. Vielleicht bringt mich das auch meinem Ziel näher, die Materiequelle zu durchschreiten, um zu den Kosmokraten zu gelangen.

Mir sind all diese Begriffe fremd, meint Leitgeist. So gerne ich dir helfen würde, ich kann es nicht.

Es zieht mich weiter in die Richtung des kastenförmigen Bauwerks. Wenn ich irgend-wo die Antworten auf meine Fragen finden kann, dann am ehesten dort, wo die Spuren des Wirkens intelligenter Lebewesen so deut-lich zu finden sind.

Vielleicht hundert Meter trennen mich noch von meinem Ziel, als eine heftige Erschütte-rung das Erdreich durchläuft. Ich kann förm-lich sehen, wie der nächste Hügel vor mir sich aufwölbt. Mächtige Baumriesen knicken wie Streichhölzer.

Die Erde tut sich auf. Immer neue Risse entstehen, die in scheinbar unergründliche Tiefe führen. Dabei ist mir klar, daß die künstlich aufgebrachte Humusschicht relativ dünn sein muß. Trotzdem gähnt mir das Nichts entgegen, als ich mich in letzter Se-

27

Page 28: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

kunde durch einen Sprung zur Seite vor dem Absturz retten kann. Der Extrasinn will mir einreden, dies alles sei nur Illusion – ich fin-de, die Wirklichkeit ist verdammt real.

Ungefähr zehn Meter entfernt bricht ein Teil des Hügels ein, darunter zeichnet sich etwas wie Schuppenhaut ab. Erde und sogar faustgroße Steine werden hoch aufgewirbelt und prasseln wie Hagel wieder herab.

Eine krallenbewehrte Tatze, gut und gerne so groß wie zwei ausgewachsene Männer, zuckt aus dem Hügel hervor. Ihr folgt ein nicht minder starker, von braunen Schuppen bedeckter Lauf. Dann hebt sich auch die Hü-gelkuppe ...

Ein drohendes Fauchen läßt die Luft erzit-tern. Ich ahne, was kommen wird, und ziehe mich unwillkürlich zurück, obwohl ich weiß, daß ich damit der Gefahr nicht entrinnen kann.

Erde und Pflanzen ruckartig von sich ab-schüttelnd, fährt ein Drachenschädel steil in die Höhe.

Das Tier ist mindestens vierzig Schritte lang. Drachen wie dieser sind in den Mythen vieler Völker lebendig. Und seltsamerweise gleichen sie sich alle. Auch dieser hier verfügt über zwei Köpfe, einen dünnen, biegsamen Hals und einen gedrungen wirkenden Körper. Ein lederartiges Schwingenpaar gestattet es der Kreatur, sich in die Luft zu erheben.

Dem ersten Angriff entgehe ich, indem ich mich blitzschnell in einen Graben werfe. Das Monstrum zieht dicht über mich hinweg. Als ich mich umwende, stürzt es erneut aus gro-ßer Höhe herab.

Zum Glück speit es kein Feuer. Ich habe den Gedanken kaum zu Ende ge-

bracht, als eine glutende Lohe nach mir greift. Sengende Hitze läßt mich für einen Augen-blick glauben, alles sei aus.

Unmittelbar vor mir sinkt der Drache herab, seine Krallen reißen tiefe Furchen ins Erd-reich. Fauchend zucken die beiden Köpfe heran. Die Vorstellung, mit den gut dreißig Zentimeter langen Reißzähnen Bekanntschaft zu machen, läßt mich schaudern.

Ich will nach Leitgeist rufen, doch der Dra-che ist mittlerweile so nahe, daß ich keinen Ton über die Lippen bringe.

Der Grund deiner Seele kehrt sich an die

Oberfläche, behauptet der Extrasinn. Ich ver-stehe nicht, was er damit ausdrücken will; wenn er jedoch meint, daß ich Furcht empfin-de, dann hat er recht.

Du solltest vor dir selbst Angst haben! Der Drache greift erneut an. Stinkender A-

tem schlägt mir entgegen. Übelkeit über-kommt mich, während ich mich taumelnd aufraffe.

Die Bestie folgt mir unerbittlich. Jeden Au-genblick kann ich ihren Feueratem im Nacken spüren.

Du bist zu verkrampft, meint der Extrasinn. So wirst du niemals gewinnen.

Dabei will ich keinen Kampf, weil mir klar ist, daß ich nur mit dem Messer keine Chance habe. Ich beginne zu rennen, so schnell meine Füße mich tragen. Panik kommt in mir auf – ein Gefühl, das ich bisher nicht kannte.

Du fliehst vor dir selbst! behauptet der Lo-giksektor. Will er allen Ernstes, daß ich mich stelle?

Noch hundert Meter trennen mich von dem Bauwerk, das ohnehin mein Ziel war. Hundert Meter, die zur Ewigkeit werden können.

Eine Unachtsamkeit läßt mich straucheln. Ich stürze, strecke spontan die Hände vor, um mich abzufangen. Bevor ich wieder auf die Beine komme, schiebt sich ein mächtiger Leib über mich. Dabei habe ich das Gefühl, als würden unsichtbare Bande meinen Brustkorb einschnüren. Ich kann nur noch krampfhaft schlucken.

Dir geschieht nichts, behauptete der Extra-sinn mit einer solchen Überzeugung, daß ich ihm fast Glauben schenke. Doch schon ruckt einer der beiden Köpfe herab, und ein gei-ferndes Maul schließt sich um meinen Unter-leib.

Komm endlich zu dir, Atlan! Der Extrasinn scheint nahe daran, die Beherrschung zu ver-lieren. Für mich ist es eine völlig neue Er-kenntnis, daß auch mein zweites Ich Angst um seine Existenz haben kann. Du mußt dich selbst überwinden.

Ich verstehe nicht, worauf er anspielt. Bestialischer Gestank läßt mich würgen. Warum greift Leitgeist nicht endlich ein? Ich weiß nicht, was du meinst, meldet sich

der Mini. Da ist keine reale Gefahr. Zweifel ... Unsicherheit ... das sind im Au-

28

Page 29: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

genblick die mich beherrschenden Gefühle. Aber auch Furcht, die mich unschlüssig macht.

Viel zu zaghaft setze ich mich zur Wehr. Doch ich kann nicht einmal mehr das Messer erreichen, weil mein rechter Arm festge-klemmt ist.

Du Narr! schimpft der Logiksektor. Wo bleibt dein Blick für die Realität?

Ein fremder Einfluß hindert mich daran, über die Bemerkung nachzudenken. Ich spüre, daß ich nicht mehr Herr meiner selbst bin.

Endlich erkennst du es. Aber da ist noch etwas. Von einem Augen-

blick zum anderen werde ich von einem hel-len Leuchten eingehüllt. Beruhigende Impulse strömen von allen Seiten auf mich ein.

Die beiden Mäuler des Drachen schnappen zu. Gegen die fingerlangen Reißzähne habe ich keine Chance.

Doch schlagartig ist alles anders; ich finde mich unter dem rauschenden Blätterdach halbhoher Laubbäume wieder. Ungefähr fünfhundert Meter von dem Gebäude entfernt, in dessen unmittelbarer Nähe ich mich eben befand.

Warme, wohltuende Gedanken überlagern meine eigenen Überlegungen. Es ist der helle Kern, der zu mir spricht, und er zeigt sich mir als weiter angewachsenes, leuchtendes Ei. Allerdings stabilisiert sich diese Erscheinung nicht vollständig.

Ich habe mich in große Gefahr begeben, nur um dir zu helfen, vernehme ich vorwurfs-voll. Aber ich schulde dir diesen Dank.

»Warte!« rufe ich schnell, weil ich den Eindruck habe, daß die Erscheinung rasch verblaßt. »Ich muß wissen, was auf der Basis des Ersten Zählers geschieht.«

Nichts, worauf du Einfluß nehmen könntest, Atlan.

»Das ist mir zu wenig.« Ich mußte dich vor dir selbst beschützen.

Der Wächter, dessen Existenz mir fremd war, ist stark.

Der Zusammenhang, den der helle Kern hier offenbar sieht, bleibt mir leider verbor-gen. Vergebens warte ich auf eine diesbezüg-liche Feststellung meines Extrahirns.

Immerhin erkenne ich, daß auch der Kern voller Zweifel steckt. Ist trotz aller Stärke

Furcht vor Anti-ES die ihn beherrschende Empfindung?

Nenne mich nicht immer Kern. Das erinnert nur an die Zeit meiner Unfreiheit.

»Besitzt du einen Namen?« frage ich. Das inzwischen knapp vier Meter hohe Ei

erstrahlt eine Nuance heller. Ich bin Born, läßt es mich wissen. Der Begriff erzeugt vertraute Assoziatio-

nen, von »geborgen« bis hin zur Umschrei-bung für eine bestimmte Art von »Quelle«. Oder gibt es eine gänzlich andere Bedeutung?

Ein heftiger Impuls läßt mich erkennen, daß Born nicht mehr lange bleiben kann. Er be-findet sich auf der Flucht.

»Vor Anti-ES?« Ja, es ist, wie du vermutest. Das Wesen aus

dem Planetoiden war wirklich Anti-ES. Und ich bin ein Teil von ihm, genauer gesagt un-gefähr ein Hundertstel.

»Aber du bist nicht wie Anti-ES ...« Unruhig bewegt das Ei sich hin und her.

Schließlich kommt es unmittelbar neben ei-nem Baum zur Ruhe.

Du sollst wissen, was ich bin, Atlan, ob-wohl ich befürchte, daß du dies alles sehr bald wieder vergessen haben wirst.

»Ich verfüge über ein photographisches Gedächtnis, das keine noch so unbedeutende Kleinigkeit vergißt.«

Born reagiert nicht auf meinen Einwand. Früher, als Anti-ES in die Verbannung ge-

schickt wurde, gab es mich noch nicht. Erst im Lauf der letzten Zeiteinheiten bin ich lang-sam in ihm herangereift. Doch hat Anti-ES mich stets und mit Leichtigkeit unterdrückt.

»Dann bist du in der Tat so etwas wie ein positiver Ableger der Superintelligenz, ihr Kind ...«

Kein Kind! Ich bin ein reales Fragment von Anti-ES!

Der Einwurf zeigt mir, daß Born tatsächlich Furcht empfindet.

Ich danke dir, daß du mir durch dein Ein-greifen zur Freiheit verholfen hast. Jedoch wäre diese Tat ohne die Miniaturisierer nie-mals möglich gewesen.

Ich muß dich aber auch warnen, obwohl ich längst nicht alle Möglichkeiten kenne, die Anti-ES besitzt. Es wird versuchen, mich ihm wieder einzuverleiben und dich anschließend

29

Page 30: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

erneut zu seiner Geisel zu machen. Deshalb muß ich mich noch verbergen, Atlan, bis ich kräftig genug bin, um ...

Schlagartig endet die Gedankenflut, die zu-letzt immer hektischer geworden war. Von einem Lidschlag zum anderen wird Born un-sichtbar. Trotzdem bin ich nicht allein. Leit-geist schwebt neben mir.

Für wenige Sekunden zerreißt ein vielfach verästelter Blitz die endlose Schwärze über der Basis des Ersten Zählers. Vergeblich war-te ich auf einen dröhnenden Donner, der das Land erzittern läßt. Aber das sind fremdartige Energien, die im Zenit aufeinandertreffen.

Ich beginne zu ahnen, daß sich ein flüchti-ger Kampf abgespielt hat, eine Begegnung zweier unbegreiflicher Wesenheiten. Und ich hoffe, daß Born seine Freiheit behält.

*

Noch während ich sinnend aufblicke, ertönt

hinter mir ein bedrohliches Knurren. Zugleich vernehme ich langgezogenes Wolfsgeheul von jenseits des Wäldchens. Ein Schatten huscht heran.

Die Wucht des Aufpralls wirft mich von den Beinen. Schon ist das Tier über mir – ein prächtiger Wolf mit pechschwarzem Fell und glühenden Lichtern, die Lefzen hochgezogen und so seine blutigen Reißzähne zeigend. Ich spüre den heißen Atem auf meiner Haut und ziehe die Knie an, um das Tier von mir zu stoßen. Aber es ist schneller und springt mit einem Satz über mich hinweg, allerdings nur, um sofort herumzufahren und erneut an-zugreifen.

Mir bleibt keine Zeit, auf die Beine zu kommen. Mit den Armen versuche ich, den Wolf abzuwehren und entgehe dabei nur knapp den zuschnappenden Fängen.

»Deine Frist ist abgelaufen ...« Ich weiß nicht, ob ich diese Stimme wirk-

lich höre; sie scheint aber nicht nur telepathi-scher Natur zu sein. Eher erzeugt das Rau-schen des Windes im Blätterdach diese Laute. Auch das Erdreich flüstert.

Das ist Unsinn, behauptet der Extrasinn. Ineinander verkrallt, wälzen wir uns über

den Boden. Immer wieder versucht der Wolf, nach mir zu schnappen, nur habe ich nun sei-

nen Unterkiefer fest im Griff und biege seinen Kopf weit in den Nacken zurück.

Wieder ertönt das langgezogene Heulen. Aus allernächster Nähe diesmal.

Plötzlich läßt der Wolf von mir ab und ver-schwindet pfeilschnell zwischen den Bäumen. Jeden Augenblick rechne ich damit, daß das ganze Rudel auftaucht, aber nichts geschieht.

Leitgeist ist nach wie vor bei mir. Ich frage mich, weshalb er nicht eingegriffen hat.

Weil das Tier, das du Wolf nennst, sich der Verkleinerung widersetzte, läßt er mich wis-sen.

»Dann ist es keine Nahrung für dich?« Nein, ich glaube nicht. Mein Logiksektor lacht leise. Überraschend

weigert er sich, mir den Grund dafür zu nen-nen. Ich glaube, er weiß selbst nicht, was um uns herum geschieht.

Ich mag verwirrt sein, wispert es schließ-lich in meinen Gedanken. Aber du bist mit Blindheit geschlagen.

*

Ich kann nur schätzen, wie lange ich mich

inzwischen auf der Basis des Ersten Zählers befinde. Es gibt keine Anhaltspunkte, nach denen sich der Zeitlauf bestimmen ließe. Ein ganzer Tag ist es jedoch mit Sicherheit.

Rechterhand, nicht allzuweit entfernt, lo-dert ein unwirkliches Feuer. Rosafarbene und grünes Magma aus dem Krater eines brodeln-den Vulkans. Von dort scheint auch ein Groß-teil der Helligkeit auszugehen, die alles über-flutet. Es gibt keine Schatten auf der Basis des Ersten Zählers.

Leider kann ich von meinem jetzigen Standort nicht allzuviel erkennen. Aber es ist egal, wohin ich mich wende. Jedes Ziel er-scheint mir mittlerweile ebenso wenig erfolg-versprechend wie das andere.

Der Untergrund wird morastiger. Seltsam, wenn ich mir vorstelle, daß vielleicht schon in einer Tiefe von nur einem Meter blanker Stahl das Erdreich ablöst. Meine Stiefel hinterlas-sen zentimetertiefe Eindrücke, die sich rasch mit brackigem Wasser füllen.

Der Pflanzenwuchs wird üppiger. Schling-gewächse kriechen über den Boden; zwischen ihren dicken, handflächengroßen Blättern

30

Page 31: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

verbergen sich unzählige kleine Tiere, die bei meiner Annäherung sofort die Flucht ergrei-fen.

Dichtes Unterholz schließt sich an, das schon nach wenigen Metern in dschungelähn-liche Vegetation übergeht. Der Geruch nasser Erde und faulenden Holzes liegt drückend über diesem Abschnitt.

Es fällt mir schwer, vorwärts zu kommen. Ein Mangrovenwald ist diesem Dickicht noch am ehesten vergleichbar. Ein schier undurch-dringlicher Vorhang aus Lianen und Luftwur-zeln beschränkt die Sicht auf höchstens zwei Meter.

Mehr zufällig entdecke ich eine Ansamm-lung kleiner bleicher Pilze. Zweifellos sind sie von derselben Art wie jene, mit denen ich bereits unliebsame Bekanntschaft geschlossen habe. So weit wie möglich weiche ich ihnen deshalb aus.

Du wirst beobachtet, raunt der Extrasinn. Tatsächlich kann ich mich einer gewissen

inneren Anspannung nicht erwehren. Für mich geht es darum, mit dem oder den Unbe-kannten, die auf der Basis leben, in Verbin-dung zu treten.

Schließlich komme ich nicht mehr weiter. Zu dicht sind die Pflanzen miteinander ver-wuchert. Sogar mit dem Messer eine Bresche zu schlagen, erscheint aussichtslos.

Leitgeist muß mir helfen. Er hat sich zur kaum faustgroßen Kugel zusammengezogen und schwebt wie glitzernder Nebel inmitten dichtem Geäst.

Sein anfänglicher Tatendrang weicht all-mählich tiefer Verzweiflung, behauptet der Logiksektor. Und wenn der Mini erst erkannt hat, daß er für immer allein ist, wird diese Verzweiflung sogar in Haß umschlagen.

Ich weiß keine Erwiderung darauf. Die Zeit wird zeigen, wie Leitgeist wirklich reagiert. Noch steht er jedenfalls auf meiner Seite, und die ersten Äste verschwinden, wie von Geis-terhand fortgezaubert. Eine Lücke entsteht, durch die ich das unwirkliche Leuchten sehen kann.

Vor mir zersplittern plötzlich mannsdicke Stämme. Ein schwarzer Schatten schiebt sich heran, sein drohendes Fauchen läßt mich er-starren. Das Messer in der Rechten warte ich darauf, daß der Panther angreift. Ich komme

mir lächerlich vor. Ein Tier, das kräftig genug ist, Bäume zu entwurzeln, wird von einer nur eine Handspanne langen Klinge nicht zurück-schrecken.

Der gut einen Meter messende Schweif peitscht das Erdreich. Zwei der vier kräftigen Beinpaare stemmen sich gegen den Boden. Überdeutlich kann ich das Spiel der Muskeln erkennen und weiß, daß der Panther jeden Moment springen wird.

Einen flüchtigen Augenblick vorher veren-gen sich seine Lichter; ich bin gewarnt. Ins-tinktiv lasse ich mich fallen, während meine Hand mit dem Messer hochstößt.

Ich fühle Widerstand, ein heftiger Ruck ku-gelt mir fast das Schultergelenk aus. Der Schmerz läßt mich aufstöhnen, während mein Arm wie gelähmt herabsinkt. Die Finger sind taub, das Messer ist ihnen entglitten. Eine Fleischwunde quer über den Handrücken blu-tet heftig.

Das Tier ist unangreifbar, gibt Leitgeist te-lepathisch zu verstehen. Ich kann dir nicht helfen.

Auge in Auge stehen wir uns gegenüber. Mir scheint, daß der schwarze Panther spöt-tisch grinst, aber das ist wohl nur Einbildung. Auf jeden Fall hält er mein Messer zwischen den Zähnen, und als er kräftig zubeißt, zer-splittert der gehärtete Stahl wie dünnes Holz.

Abermals wird ein drohendes Knurren hör-bar. Das Tier belauert mich, verstellt mir den Weg, als wisse es genau, wohin ich mich wenden wollte. Deutlicher könnte es mir gar nicht zeigen, daß ich hier unerwünscht bin.

Ist es intelligent? Ausschließen kann ich das nicht, es besteht aber ebenso die Mög-lichkeit, daß es aus einem bestimmten Instinkt heraus so handelt. Vielleicht bin ich, ohne es zu wissen, seinem Bau zu nahe gekommen.

»Was willst du von mir?« frage ich leise und bemüht, jedes Zittern meiner Stimme zu vermeiden.

Der schwarze Panther legt den Kopf schräg, als lausche er. Gleich darauf schlägt er zornig fauchend mit zwei seiner Tatzen nach mir.

Mir bleibt keine andere Wahl, als zurück-zuweichen. Dabei ist mir unerklärlich, wes-halb das Tier noch nicht über mich hergefal-len ist. Ich will die Sache aber auch nicht auf die Spitze treiben. Rückwärts gehend, lasse

31

Page 32: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

ich den Panther nicht eine Sekunde lang aus den Augen, der lauernd jede meiner Bewe-gungen verfolgt.

6.

Ich habe das Dickicht kaum verlassen, als

heisere Schreie eine neue Gefahr ankündigen. Der Schwarm Vögel stößt wieder auf mich herab. Den zupackenden Fängen und nach mir hackenden Schnäbeln entgehe ich nur, weil ich mich instinktiv ins Gestrüpp fallen lasse. Vorübergehend bildet sich ein Gewirr aus Schwingen und gierig vorgereckten nackten Hälsen über mir. Das Krächzen übertönt jedes andere Geräusch.

Nun habe ich es endgültig satt, nur herum-gestoßen zu werden. Eine unbändige Wut steigt in mir auf. Ich werde jetzt weder auf Vorhaltungen des Extrasinns noch auf ir-gendwelche Konventionen achten, die auf dieser Welt allem Anschein nach überflüssig sind. Ich will endlich wissen, was gespielt wird, und das erfahre ich wohl nur, wenn ich die Initiative ergreife.

Entschlossen packe ich zu, bekomme einen hornigen Fang zu fassen und ziehe den sich heftig sträubenden Vogel zu mir herab. Fe-dern stieben auf, als ich ihm mit einem schnellen Griff den Kopf umdrehe.

Die anderen Tiere scheinen zu spüren, was geschieht. Jedenfalls steigen sie so hoch, daß ich sie kaum noch erreichen kann. Sie verhal-ten sich abwartend.

Zwischen dem üppigen Wurzelwerk ragen scharfkantige Steine aus der Erde. Es gelingt mir, einige davon zu lösen.

Der erste Wurf geht fehl, der zweite aber trifft, und kreischend stürzt einer der Vögel ins Dickicht.

Augenblicke später wird der noch aus zwölf Tieren bestehende Schwarm von einem irrlichternden Glitzern eingehüllt. Das muß Leitgeist sein, auch wenn ich nicht verstehe, wieso er mit einemmal fast ins Riesenhafte angewachsen ist.

Der Geist vermag vieles, vernehme ich sei-ne gedankliche Stimme. Was du jetzt wahr-nimmst, ist nur ein Teil meiner Existenz. Wir Geschöpfe der Namenlosen Zone bilden eine beständige Einheit von Geist, Energie und

Materie. Die Vögel werden zusehends kleiner.

Schon nach wenigen Augenblicken bedeuten sie keine Gefahr mehr. Leitgeist zieht sich ebenfalls wieder zu seiner ursprünglichen Größe zusammen und schwebt auf mich zu. Ich strecke die Handflächen aus, und die Zu-sammenballung dreier bräunlich schimmern-der Materieanteile, umgeben von einem ei-gentümlichen Flimmern, in dem sich die gan-ze Unendlichkeit der Schöpfung auszudrü-cken scheint, läßt sich herabsinken. Wärme durchpulst mich – ich verspüre Zuneigung zu diesem geradezu unbegreiflich fremdartigen Geschöpf. Wie gerne würde ich mehr über den Mini in Erfahrung bringen. Kann er mir helfen, die Materiequelle und damit den Weg zu den Kosmokraten zu finden?

Vielleicht ... läßt er mich wissen. Jene, die du Kosmokraten nennst, sind Gegner von An-ti-ES?

Hofft Leitgeist, Rache nehmen zu können? Er durchschaut meine geheimsten Gedan-

ken. Irgendwann werden unsere Wege uns tren-

nen, meint er. Dann werde ich allein sein und einsam. Und Einsamkeit tötet.

Falls es noch irgendwo welche von deiner Art gibt ...

... sind sie dennoch unerreichbar für mich, denn dann leben sie in einer anderen Region der Namenlosen Zone. Nein, Atlan, die Ver-nichtung des Pulks hat auch mein Schicksal besiegelt.

Leitgeist schweigt wieder, während ich ei-genen Gedanken nachhänge. Die Basis des Ersten Zählers birgt ein Geheimnis, das ich herausfinden muß. Zögernd blicke ich mich um.

Endlich habe ich Nahrung gefunden, teilt der Mini mir mit. Es ist bedauerlich, daß kei-ner des Pulks das noch erleben durfte.

Er löst sich von meinen Händen und schwebt langsam zu den Büschen zurück, bei denen die Kadaver der beiden Vögel liegen. Eine Weile verharrt er, dann dringt sein Glit-zern in das Dickicht ein.

Blendende Helligkeit flammt zwischen den Ästen auf. Im ersten Schreck befürchte ich eine atomare Reaktion, aber schon erreichen mich beruhigende Impulse. Leitgeist hat ge-

32

Page 33: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

funden, wonach er suchte.

Ich muß die Augen mit den Handflächen abschirmen, doch die Lichtflut bricht auch zwischen den Fingern hindurch. Als der Mini wieder aufsteigt, sind die Kadaver ver-schwunden.

Schlagartig sehe ich Leitgeist mit anderen Augen. Aufgrund seines Verhaltens ist anzu-nehmen, daß die Miniaturisierer nichts ande-res sind als eine Art »Müllabfuhr« oder »Ab-fallvernichtungseinrichtung« der Namenlosen Zone.

Deine Gedanken beinhalten etwas Abwer-tendes, vernehme ich die lautlose Stimme.

Ich erschrecke. Eigentlich mehr über mich selbst als über Leitgeists Tadel. Immerhin hat jedes Lebewesen seine Daseinsberechtigung, egal, welchem Zweck es dient.

Du glaubst wirklich, ich sei so etwas wie ein Aasgeier?

Der Vergleich ist sicher unzutreffend, wenngleich er mir als erstes in den Sinn kam. Zweifel an Leitgeists Intelligenz sind völlig unberechtigt; womöglich ist die Namenlose Zone auf Wesen wie ihn angewiesen.

Ist das der Sinn meines Daseins? werde ich gefragt. Habe ich dafür gelebt, ohne es zu wissen?

Wieder ertönt Wolfsgeheul aus allernächs-ter Nähe. Die Tiere haben mich eingekreist.

Leitgeist macht mich auf eine annähernd runde Bodensenke aufmerksam, über der die Luft flimmert. Ich kann nicht erkennen, bis in welche Tiefe sie reicht, doch ist sie kaum na-türlichen Ursprungs. Möglicherweise finde ich dort einen Weg ins Innere der Basis.

Wovor fliehst du? erkundigt sich der Extra-sinn spöttisch. Hast du vergessen, daß die Wölfe keine Nahrung für Leitgeist sind?

Weil sie noch leben, gebe ich gereizt zu-rück.

Dich konnte er auch verkleinern. Das ist etwas anderes ... Willst du nicht begreifen – oder kannst du

nicht? Leitgeist vermag nur Materie zu beein-flussen.

Der Extrasinn übersieht dabei, daß auch Anti-ES diesem Einfluß unterlag, und die verbannte Superintelligenz besitzt offenbar keinen materiellen Körper.

Atlan, erklingt es mahnend. Du irrst ...

Ich will nichts mehr hören und schreite zü-gig aus. Nicht weit entfernt sehe ich mehrere Wölfe. Sie sammeln sich.

Dichtes, blühendes Moos bedeckt den Bo-den wie ein federnder Teppich. Bedeutet dies, daß höhere Pflanzen hier wegen einer zu dün-nen Krume nicht wurzeln können? Das würde meine Vermutung, einen Zugang zum eigent-lichen Raumschiff gefunden zu haben, erhär-ten.

Als ich die Senke erreiche, zähle ich bereits acht Wölfe, die rasch näherkommen. Der Schacht ist ungefähr vier Meter tief, die steil abfallenden Wände scheinen aus natürlichem Fels zu bestehen, und am Grund wuchert dür-res Gras.

Inzwischen habe ich kaum mehr eine ande-re Wahl, denn das Wolfsrudel besteht aus mindestens zwanzig Tieren. Also lasse ich mich in die Hocke niedersinken, suche nach einem einigermaßen festen Halt und schiebe mich über die Abbruchkante hinaus.

Federnd komme ich auf, während von oben die ersten Wölfe zu mir herabblicken. Noch zögern sie, ebenfalls in die Tiefe zu springen, weil ihr Instinkt ihnen sagt, daß es dann kei-nen Weg zurück gibt. Allerdings weiß ich nicht, wann der Hunger ihre Scheu verdrän-gen wird.

*

Nirgendwo finde ich Anzeichen technischer

Einrichtungen. Wo immer ich mit bloßen Händen die Grasnarbe aufreiße, zeigt sich nur feuchtes, lehmiges Erdreich.

Langsam beginne ich zu begreifen, daß ich mich selbst in eine Falle hineinmanövriert habe, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Vier Meter über mir fallen die ersten Wölfe übereinander her. Ich fürchte, daß der Blutge-ruch sie in Raserei versetzt.

Die Sinnlosigkeit meiner Bemühungen wird immer deutlicher. Hier unten scheint es nichts anderes zu geben als Gras, bleiche Pil-ze und feuchte Erde. Ich habe mich geirrt.

»Verschwindet!« rufe ich zu den Wölfen hinauf und versuche, sie mit wütenden Arm-bewegungen zu verscheuchen. Einige trotten tatsächlich davon, die anderen antworten mit heiserem Bellen.

33

Page 34: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Seufzend lasse ich mich in die Hocke sin-

ken. Der kühle Fels in meinem Rücken macht mich frösteln. Meine Gedanken rufen nach Born, doch der helle Kern, dem ich zur Frei-heit verholfen habe, meldet sich nicht.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, bis ich endlich die Vibrationen fühle, die das Gestein erschüttern. Sofort bin ich wieder auf den Beinen, und diesmal finde ich nach eini-gem Suchen einen haarfeinen Riß, der wahr-scheinlich einen geometrisch exakten Kreis darstellt. Das muß der vermutete Zugang zur Basis sein.

Von einer Sekunde zur anderen verschwin-det der Fels. Ein großer, verwinkelter Raum liegt vor mir. Die nun noch deutlicher gewor-denen Vibrationen gehen von fremdartig an-mutenden Maschinen aus, über deren Funkti-on ich nicht einmal Vermutungen anstellen kann.

Als würden die Wölfe ahnen, daß die bis-lang sicher geglaubte Beute zu entkommen droht, springt einer aus dem Rudel hinter mir her. Für mich gibt es nun kein Zögern mehr. Unbemerkt scheint sich beim Eintritt in die Halle ein Energieschirm hinter mir geschlos-sen zu haben, denn der Wolf wird zurückge-schleudert bei dem Versuch, mir zu folgen. Schmerzerfüllt jaulend klemmt er sich die Rute zwischen die Hinterläufe.

Es riecht nach Ozon und kaltem Rauch. Licht aus verborgenen Quellen macht es leicht, die Halle zu überblicken. Irgendwie erweckt das Ganze den Eindruck einer Über-wachungsanlage; die jenseitige Wand ist mit Bildschirmen übersät. Ich muß annehmen, daß die Basis des Ersten Zählers tatsächlich verlassen ist, denn nirgendwo zeigt sich Be-wegung.

Hinter einem ovalen Schaltpult liegt ein Roboterwrack.

Teile des Roboters sind wie unter enormer Energieeinwirkung zerschmolzen. Ursprüng-lich muß er sowohl zwei Arme als auch zwei Beine besessen haben, geblieben sind davon nur verborgene Stummel.

Schon will ich weitergehen, als ein heiseres Krächzen aus dem Innern der Maschine kommt. Es wiederholt sich in kurzen Abstän-den. Einige Funktionen seines Sprachzent-rums sind demnach erhalten geblieben.

Was ist hier geschehen? frage ich, mehr für Leitgeist bestimmt als für mich selbst.

»... geschehen«, kreischt der Roboter. »... ist geschehen.«

Vielleicht kann ich mich sogar mit ihm un-terhalten, wenn er die Grundelemente meiner Sprache begreift. Zumindest muß ich es ver-suchen.

Etliche Minuten vergehen, in denen ich al-les erzähle, was mir gerade in den Sinn kommt. Auch Teile des eigens für den ersten Kontakt mit Fremdintelligenzen vorgesehenen Programms.

»Genug!« knarrt der Roboter schließlich. »Du Atlan ...«

»Wo ist der Erste Zähler?« frage ich. »Weiß nicht ... Du suchst auch?« Er meint, daß schon vor dir jemand nach

dem Ersten Zähler gefragt hat. Nach einer ganzen Weile des Schweigens meldet sich mein Extrasinn mit einer derart unnötigen Feststellung, daß ich nur den Kopf schütteln kann.

»Wer außer mir?« will ich von dem Robo-ter wissen.

»Weiß nicht«, erklingt es blechern. »Bin nur ein Diener des Ersten Zählers.«

»Ist dieser andere für deine Beschädigung verantwortlich?« Ehe ich eine Antwort erhal-te, läßt ein Geräusch mich herumfahren. Ich glaube, meinen Augen nicht zu trauen.

Alles habe ich erwartet, nur das nicht. Längst verschüttete Erinnerungen erwachen zu neuem Leben. Wesen wie dieses waren die gefährlichsten Gegner der Arkoniden während der Blütezeit des Großen Imperiums. Unwill-kürlich weiche ich einige Schritte zurück.

Aber sie sind inzwischen die besten Freun-de der Menschheit, seit Rhodan im Jahr 2405 das Beistandsbündnis mit ihnen schloß, be-hauptet mein Extrasinn. Ich verstehe nicht, was er damit erreichen will.

Haß steigt in mir auf. Wenn ich jetzt eine Waffe hätte ...

* Das Wesen ist ein Maahk; auf den breiten,

stämmigen Schultern sitzt ein sichelförmiger Kopf. Als seine vier Augen mich erblicken, öffnet er die dünnen, verhornten Lippen und

34

Page 35: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

entblößt sein kräftiges Raubtiergebiß.

»Arkonide!« faucht er verächtlich. Nur zu gut verstehe ich Kraahmak, die Ein-

heitssprache, derer er sich bedient. Es ist un-wichtig, wie er hierher gelangte, denn ich weiß, daß ich ihn besiegen muß. Er oder ich – eine andere Alternative gibt es nicht.

Atlan, schreit mein Extrasinn. In welcher Zeit lebst du? Zum Glück schweigt er wieder, als ich ihn mit einem nicht eben feinen Aus-druck bedenke.

Ich benötige eine Waffe. Aber da ist nichts, was sich als solche verwenden ließe, nur ein loses Verkleidungsteil des Roboters. Mit Wucht schleudere ich es dem Maahk entge-gen, doch der entgeht dem scharfkantigen Geschoß durch eine geschickte Drehung. Maahks sind an hohe Schwerkrafteinflüsse gewöhnt und trotz ihrer plump wirkenden Gestalt schnell und beweglich.

Ich fürchte, daß ich tatsächlich wider alle Vernunft handle. Aber ich kann nicht anders. Irgendwie fühle ich wie im Traum, als wäre ich selbst nur als Randperson an den Ereignis-sen beteiligt. Es ist, als liege über meinem Handeln dichter Nebel, den zu durchstoßen mir unmöglich ist.

Oder fehlt mir nur der Wille dazu? Ich weiß nichts. Meine Gedanken bewegen

sich im Kreis. Ein vertrautes Antlitz erscheint vor meinem

geistigen Auge: Perry Rhodan, den ich selbst kurz vor meinem Aufbruch zu den Kosmokra-ten noch für den größten Feind in meiner Vergangenheit, Orbanaschol, hielt.

Auch die Maahks waren Todfeinde des ar-konidischen Imperiums ...

Ich schlage diese Gedankenbrücke, ohne richtig zu verstehen, weshalb. Man kann bei-des nicht miteinander vergleichen.

Oder doch? Werde ich beeinflußt, ohne es wahrzunehmen?

Der Maahk kommt näher. Auch er ist waf-fenlos, nur darf ich die Kraft nicht unterschät-zen, die in seinen biegsamen Armen steckt. Zögernd weiche ich zurück und bringe eines der größeren Aggregate zwischen uns.

Der Methanatmer läßt sich davon nicht aufhalten, sondern schreitet mitten durch die Maschine hindurch. Für einige Sekunden verwischen sich seine Umrisse, dann steht er

wieder vor mir. Seine sechsfingrigen Hände zucken heran;

ich packe zu, setze zu einem Dagorgriff an, dem er jedoch mühelos widersteht. Weshalb, weiß ich nicht, ich habe keine Erklärung da-für.

Erneut weiche ich aus, bis ich kaltes Metall im Rücken spüre. Eine armdicke Stange glei-tet zur Seite, als hätte ich durch die Berührung einen unbekannten Mechanismus in Gang gesetzt. Entschlossen stemme ich mich dage-gen, und nachdem ich einen deutlichen Wi-derstand überwunden habe, halte ich die knapp einen Meter lange Stange in Händen.

»Bleib mir vom Leib!« rufe ich dem Maahk zu und hebe zum Zeichen meiner Entschlos-senheit die Waffe.

Im nächsten Moment wird sie mir von hin-ten entrissen.

Ein zweiter Maahk! Wie er unbemerkt he-rankommen konnte, ist mir ein Rätsel. Jeden-falls durchschaue ich beider Absicht – sie wollen mich zum Ausgang zurückdrängen. Mir bleibt keine andere Wahl, denn jeder Zeitgewinn ist kostbar. Vielleicht kann Leit-geist mir helfen.

Obwohl ich den Eindruck habe, daß der Mini gewachsen ist (vielleicht infolge der Nahrungsaufnahme), scheint seine besondere Fähigkeit auch bei den Maahks zu versagen.

Jetzt habe ich die Felswand wieder erreicht. Vom Innern der Halle her ist das kreisförmige Schott deutlich zu erkennen. Und auch der Öffnungsmechanismus. Trotzdem zögere ich, weil ich weiß, daß draußen die Wölfe auf mich warten.

Andererseits sind die Methanatmer fast heran. Ihre Körperschuppen glänzen in der künstlichen Beleuchtung wie flüssiges Silber.

Schlagartig weiß ich, daß ich etwas überse-hen habe. Aber ein merkwürdig flaues Gefühl ergreift von mir Besitz, als solle ich daran gehindert werden, den Gedanken weiter zu verfolgen.

Ist es das, worauf mein Extrasinn mich die ganze Zeit über aufmerksam machen wollte?

Ich bin verwirrt. Methanatmer! Schießt es mir durch den Sinn. Die Maahks können nur in einer Atmosphäre aus Wasserstoff, Methan und Ammoniak leben. Sauerstoff ist für sie tödlich. Dennoch tragen sie keine Raumanzü-

35

Page 36: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

ge, die sie davor schützen.

Hätte ich nicht bereits den Öffnungsmecha-nismus betätigt, ich würde es nun nicht mehr tun. Aber so löst sich der Fels auf, während ich mir erst darüber klar werde, daß ich von bloßen Projektionen genarrt wurde.

Sechs oder sieben Wölfe haben sich drau-ßen versammelt. Sie greifen sofort an.

Auch sie müssen meinem Unterbewußtsein entsprungen sein. Unterliege ich tatsächlich einer äußeren Beeinflussung? Versucht der Wächter der Basis, mich zu schlagen, indem er längst verschüttete Ängste aus meinem Unterbewußtsein emporholt? Dann ergäbe vieles endlich einen Sinn: die scheinbare Verwirrung meines Extrasinns, Leitgeists Versagen ...

Kaum habe ich das erkannt, fallen Maahks und Wölfe plötzlich übereinander her; mich scheinen sie völlig vergessen zu haben. Zum erstenmal seit Tagen kann ich wieder lachen.

»Wächter!« rufe ich laut, »was hast du nun vor?«

*

Die wenigen Pilze, die ich vorhin im Gras

fand, sind inzwischen um gut dreißig Zenti-meter gewachsen, und ich fürchte, sie sind die einzige reale Gefahr, mit der ich es zu tun habe. Hier unten könnten sie mich erdrücken. Kurz entschlossen trete ich deshalb zu. Einige Kappen zerbrechen unter meinen Stiefeln. Aber ich muß schnell handeln, weil die ande-ren schlagartig größer werden.

Unvermittelt geht ein Ruck durch den Bo-den, dann steigt dieser langsam in die Höhe. Der Schacht ist demnach nichts anderes als ein einfacher Aufzug, mit dem vermutlich schwere Lasten transportiert werden können. Irgendwie muß ich den Mechanismus ausge-löst haben. Oder will der Wächter nur, daß ich diesen Ort verlasse?

Weshalb? Was habe ich getan, das ihm schaden könnte?

Die Pilze ... Ich glaube kaum, daß sie von besonderem Wert sind.

Trotzdem beeile ich mich, wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen, als die Plattform anhält. Nichts hat sich in der Zwi-schenzeit verändert. Höchstens das seltsame

Leuchten am nahen Horizont ist intensiver als zuvor.

Obwohl der Zellaktivator belebende Impul-se aussendet, fühle ich eine stärker werdende Müdigkeit. Wie lange habe ich nicht mehr geschlafen? Ich weiß es nicht.

Ich werde Wache halten, verspricht Leit-geist telepathisch. Mir ist jegliches Ruhebe-dürfnis fremd.

Die Frage bleibt, ob es irgendwo einen Ort gibt, an dem ich vor dem Wächter sicher bin. Drei, vier Stunden Schlaf, mehr benötige ich gewiß nicht, um wieder zu Kräften zu kom-men.

Nicht allzuweit entfernt erhebt sich ein fel-siger Hügel. Wenn mich nicht alles täuscht, sind die dunklen Flecken inmitten des ihn bedeckenden Grün Höhlenöffnungen. Fast automatisch lenke ich meine Schritte in diese Richtung, die mich dem Rand der Basis nahe bringt.

Ich habe mein Ziel noch nicht erreicht, als ein dumpfes Brummen hörbar wird. Im ersten Moment glaube ich an einen sich rasch nä-hernden Gleiter, dann entdecke ich die düste-re, flirrende Wolke, die zweifellos Gefahr verheißt. Sofort werden Assoziationen an die Heuschreckenschwärme wach, die in früheren Jahrhunderten ganze Landstriche auf der Erde kahlgefressen haben. Mit etwas Ähnlichem scheine ich es hier zu tun zu haben.

Oder ist das ein erneuter Streich, den mein Unterbewußtsein mir spielt?

Ich will es nicht darauf ankommen lassen und nehme lieber die Beine in die Hand, um die schützenden Höhlen zu erreichen. Doch schon schwirrt und flattert es rings um mich her. Ich habe das Gefühl, in einem Meer ge-panzerter Leiber zu versinken.

Es sind faustgroße, sechsbeinige Tiere, mit Beißzangen und kräftigen Flügelpaaren aus-gestattet. Der Lärm, den sie erzeugen, läßt mich fast taub werden. Schmerzhaft prallen sie gegen meinen Körper, ich bin gezwungen, schützend einen Arm über den Kopf zu legen.

Mit der anderen Hand schlage ich um mich, ohne irgend etwas zu erreichen. Immer mehr Tiere verbeißen sich in meiner Kombination. Auch auf der Haut verspüre ich ihre unange-nehmen Bisse. Mein Pulsschlag beschleunigt sich, vor meinen Augen tanzen mit einemmal

36

Page 37: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

farbige Ringe. Dafür gibt es nur eine Erklä-rung: die Biester sondern Gift ab. Hoffentlich wird der Zellaktivator damit fertig.

Der Schwarm ballt sich so dicht zusammen, daß ich in meiner Bewegungsfreiheit immer mehr eingeengt werde. Da dringt ein Glitzern zu mir vor. Zunächst kann ich nicht recht er-kennen, was geschieht, dann lichtet sich die Wand aus schwirrenden und beißenden Insek-ten. Immer mehr von ihnen sinken leblos zu Boden. Dabei besitzen sie kaum noch ein Viertel von ihrer ursprünglichen Größe.

Keine der sechsbeinigen Heuschrecken flieht. Blindlings stürzen sie ins Verderben. Vermutlich liegt es nicht einmal in Leitgeists Absicht, sie zu vernichten, denn als ich einige der Tiere aufhebe, sehe ich, daß ihr Chitin-panzer der Verkleinerung nicht standgehalten hat und an vielen Stellen regelrecht aufge-platzt ist.

Die Bißwunden auf meinen Händen und im Gesicht schwellen rasch an. Ein starkes Gift muß in meinen Körper gelangt sein. Nur so kann ich die Benommenheit erklären, die von mir Besitz ergreift. Aber ich kämpfe dagegen an, so gut es geht. Den Rest muß mein Zellak-tivator erledigen – er hat mich bisher stets vor körperlichen Schädigungen bewahrt.

Leitgeist schwebt nun unmittelbar über dem von Insektenleibern schwarzen Boden. Er schickt mir freudige Impulse, denn das ist Nahrung für ihn im Überfluß. Nichts bleibt zurück. Selbst die harte Chitinschicht wird aufgelöst.

Deutlich erkenne ich, daß der Mini wächst. Nicht einmal mehr einer seiner drei materiel-len Körper hätte nun noch in meinen Händen Platz.

*

Ich sehe jetzt vieles anders, erklärt er mir. Wir haben unser Ziel erreicht, und ich schi-

cke mich an, eine Geröllhalde hinaufzustei-gen, an deren oberem Ende eine enge Höh-lenöffnung gähnt.

Vielleicht mußte der Pulk vernichtet wer-den, damit ich mit dir ziehe und endlich Nah-rung finde. Ich fühle neue Kräfte in mir wach-sen, von denen ich bislang nichts wußte.

Ein durch Mark und Bein gehendes Zischen

ertönt. Ein schuppenbewehrter Schädel schiebt sich aus der Höhle, und eine rauhe, gespaltene Zunge zuckt mir entgegen. Im ers-ten Schreck springe ich zurück, komme auf dem lockeren Geröll ins Straucheln und stür-ze.

Im Nu ist die Echse heran, schiebt sich ruckartig über mich, bevor ich wieder auf die Beine komme. Allein ihr Gewicht drückt mich nieder.

Einige Meter entfernt ertönt ein herausfor-dernder Ruf. Abrupt hebt das Tier den Kopf und antwortet mit abgehackten Lauten. Ein Zittern durchläuft den massigen Körper.

Wieder der andere Ruf ... Die Echse achtet plötzlich nicht mehr auf

mich. Mühsam rolle ich mich zur Seite, um nicht unter ihre krallenbewehrten Pranken zu geraten.

Jedes der Tiere ist gut und gern drei Meter lang. Für eine Weile belauern sie einander, versuchen, sich gegenseitig einzuschüchtern. Aber keines will weichen. Woher das zweite so unverhofft kam, weiß ich nicht. Ihre mus-kulösen Schwänze peitschen das Geröll.

Ich ziehe mich weiter zurück. Unmittelbar neben der Höhle ragt eine Felswand mehrere Meter weit steil in die Höhe. Keine der Ech-sen wird mir da hinauf folgen können.

Leitgeist ist verschwunden. Allerdings bin ich überzeugt davon, daß

dem Wesen aus Geist, Energie und Materie nichts geschehen kann.

Die erste Echse entschließt sich zum An-griff. Mit aufgerissenem Maul stürzt sie sich auf ihr Ebenbild, und beide verbeißen sich ineinander. Im nächsten Moment mißt der Angreifer kaum noch fünfzig Zentimeter, während das andere Tier in einem aufwallen-den Leuchten vergeht.

»Leitgeist!« rufe ich überrascht aus. Inzwischen bin ich in der Lage, meinen

Körper zu nahezu jeder gewünschten Form umzustrukturieren, vernehme ich die lautlose Stimme des Miniaturisierers, während er be-reits im Begriff ist, die neue Nahrung aufzu-lösen. Das habe ich dir zu verdanken. Ich glaube, ich bin dem Sinn meiner Existenz ... der einstigen Existenz des ganzen Pulks, be-richtigt er sich, ... näher als je zuvor.

Als ich mich umwende, steht vor mir ein

37

Page 38: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

seltsam anmutendes Geschöpf, das am ehes-ten einem aufrecht auf fünf Beinen gehenden Seestern ähnelt. Obwohl kaum einen Meter groß und keineswegs gefährlich aussehend, zeigt es keinerlei Furcht. Der von roten Haa-ren bedeckte Kopf besteht fast nur aus einem weit aufgerissenen Augenpaar, das mich inte-ressiert mustert.

Auf Anhieb fühle ich mich zu diesem We-sen hingezogen. Es hebt zwei seiner Arme und verschlingt sie ineinander. Vermutlich eine Geste für Freundschaft.

»Ich bin Atlan«, sage ich und tippe mit dem Zeigefinder an meine Brust.

Ein Schwall fremdartiger Laute antwortet mir. Darüberhinaus zeigt der braunhäutige Seestern jedoch nicht, daß er verstanden hat, was ich von ihm will.

Ich wiederhole meine Geste und füge eini-ge mehr oder minder belanglose Sätze hinzu. Zu meinem Erstaunen antwortet der Seestern daraufhin in einem holprigen, aber bei einiger Mühe durchaus verständlichem Interkosmo.

»Fremd, nicht wahr?« »Das bin ich, und ich möchte, daß du mich

zum Ersten Zähler führst oder mir zeigst, wo ich den Wächter finden kann.«

Er schaut mich aus treuherzigen Augen an, als hätte er nicht das geringste verstanden.

»Atlan, Kik, nicht wahr?« »Kik ist dein Name?« »Kik, Atlan.« Der Extrasinn erinnert mich sofort daran,

woher ich den Namen kenne. Duusnorz, der überdimensionale Wassertropfen, erwähnte ihn während meines unfreiwilligen Aufent-halts im Grenzwächter Eppletonn. Nach sei-ner Beschreibung war Kik eine dumme Krea-tur mit fünf sehr langen Extremitäten, und er war abgeholt worden.

»Ich soll dich grüßen, Kik«, sage ich des-halb. »Von Duusnorz und Paulau.«

Er reagiert in keiner Weise darauf, sondern blickt mich nach wie vor unbewegt an. All-mählich gewinne ich auch den Eindruck, daß er nicht eben übermäßig intelligent ist.

»Atlan Angst, nicht wahr?« Das ist es zwar nicht gerade, aber in gewis-

ser Weise hat der Kleine doch recht. »Wächter paß auf, Atlan. Ist überall, nicht

wahr?«

»Du weißt, wo ich ihn finden kann?« frage ich schnell.

»Atlan kennt Wächter.« Diesmal verzichtet der Seestern auf die Hinzufügung von »nicht wahr?«. Ich frage mich, woher er den Aus-druck kennen mag, da ich ihn nicht gebraucht habe. Aber womöglich verfügt auch er über eine geringe telepathische Begabung. Wie sonst hätte er so schnell Begriffe einer ihm fremden Sprache erlernen können?

Will er mir klarmachen, daß ich dem Wächter schon begegnet bin? Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen.

Kik sagte, er sei überall, erinnert der Lo-giksektor.

Die Pilze? Einen umfassenderen Organismus gibt es

kaum. Der Wächter ist überall zugleich und weiß alles, was auf der Basis des Ersten Zäh-lers geschieht.

»Ist er auch in der Höhle?« frage ich un-willkürlich.

Kik zuckt mit seinen Armen, die zugleich die Funktion von Laufwerkzeugen erfüllen.

»Nichts wächst auf Stein«, sagte er. »Nicht wahr?«

Ich weiß nun also, wer mein Gegner ist, und die Frage stellt sich, wie ich gegen ihn bestehen kann. Doch zuvor brauche ich Schlaf. Ich fühle mich schlapp und elend, wie nach ein paar durchzechten Nächten.

In der Tat muß ich schon seit etlichen Ta-gen ohne Schlaf ausgekommen sein, wenn nicht einmal die belebenden Impulse des Zellschwingungsaktivators verhindern, daß mir immer öfter die Lider zufallen.

»Atlan, Höhle ist sicher«, bestätigt Kik eif-rig.

Vor irgendwelchen Tieren brauche ich mich wohl nicht zu fürchten, nachdem die Echse sicher keine Untermieter in ihrer Nähe geduldet hat. Der wandelnde Seestern behaup-tet, auch später noch für mich da zu sein. Trotzdem verschwindet er, ehe ich ihn zu-rückhalten kann, zwischen den Felsen.

Ich bin so müde, daß ich im Stehen ein-schlafen könnte. Nur fünf Minuten später ha-be ich mich unmittelbar hinter dem Höhlen-gang zusammengerollt. Der nackte Fels stört mich nicht – ich habe schon schlechter gele-gen.

38

Page 39: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Leitgeists lautlose Stimme ist das letzte,

was ich wahrnehme. Er will mich wecken, sobald Unvorhergesehenes eintritt.

7.

Ich erwache von einem schmerzhaften

Druck auf mein Rückgrat. Meine Gelenke sind steif, und als ich mühsam hinter mich lange, ertaste ich einen faustgroßen, kantigen Stein.

Wütend schleudere ich ihn von mir. Sein Aufprall löst vielfältige Geräusche aus, als würden Dutzende von Steinen bergab ins Rol-len kommen.

Wo bin ich? Überrascht blicke ich mich um. Da ist nackter, von Moosen überwucher-ter Fels, und fast zum Greifen nahe vor mir eine enge Öffnung, durch die heller Licht-schein fällt.

Ich versuche, mich zu entsinnen, was ge-schehen ist, aber mir fehlt jede Erinnerung.

Das heißt, ich weiß noch, daß ich in Beglei-tung des Roboters Laire zu den Kosmokraten aufgebrochen bin. Aber wo ist Laire? Habe ich die Materiequelle durchschritten? Ein Wust von Fragen tut sich auf, von denen ich nicht eine einzige beantworten kann.

Vielleicht gehört das alles zu einem letzten, abschließenden Test, den die Kosmokraten mit mir durchführen. Ja, so muß es sein. Eine andere Erklärung habe ich nicht.

Als ich die Höhle verlasse, spannt sich über mir ein endloser schwarzer Himmel. Weder Sterne noch die Sonne zeigen sich, trotzdem herrscht angenehme Helligkeit. Zu meinen Füßen erstreckt sich dicht bewaldetes, hügeli-ges Land, und in der Ferne kann ich ein turm-artiges Bauwerk erkennen.

Du hast nicht lange geschlafen, Atlan, wis-pert eine angenehme Stimme. Überrascht wende ich mich um, aber da ist niemand, der zu mir gesprochen haben könnte.

Ich bin hier! Ein eigenartiges Flimmern erfüllt die Luft.

Es hat annähernd kugelförmige Gestalt und durchmißt gut eineinhalb Meter. Inmitten die-ser Erscheinung schweben drei braune, anei-nanderklebende Klumpen.

»Was bist du?« frage ich. »Oder soll ich lieber sagen: wer bist du?« Die Vermutung,

einen Vertreter der Kosmokraten vor mir zu haben, schiebe ich weit weg. Sie habe ich mir wirklich anders vorgestellt.

Du erinnerst dich wirklich nicht? hallt es in meinen Gedanken nach. Ich bin Leitgeist, der letzte meines Pulks, ein Miniaturisierer.

»Sollte ich dich kennen?« Born hat uns beide auf die Basis des Ersten

Zählers gebracht. »Wer ist Born? Und wo ist Laire? Hat der

Roboter seinen Auftrag nicht erfüllt?« Ich spüre, daß vieles anders ist, als ich es

erwartet habe. Mein Gefühl sagt mir, daß ich nicht erst seit wenigen Minuten auf dieser Welt weile. Womöglich sind es bereits Stun-den. Aber was ist geschehen, daß ich mein Gedächtnis verloren habe?

Es muß mit dem Aufbruch zu den Kos-mokraten zusammenhängen, behauptet der Extrasinn. Von da an verliert sich alles im Dunst des Vergessens.

»Ist das hier die Basis des Ersten Zählers?« wende ich mich an die irrlichternde Erschei-nung und vollführe eine ausschweifende Be-wegung.

Du hast vieles vergessen, bemerkt Leitgeist anstelle einer Antwort. In deinen Gedanken herrscht Leere.

»Dann hilf mir, die Erinnerung wiederzu-finden. Wie lange kennen wir uns schon?«

Viele Tage deiner Zeitrechnung, Atlan. Vielleicht noch länger.

Diese Aussage bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Mein Blick fällt auf ein klei-nes Päckchen, das auf einem Stein unmittel-bar neben dem Höhleneingang liegt.

»Was ist das?« will ich wissen. Kik hat es gebracht, erwidert Leitgeist. Er

meinte, du würdest es brauchen können. »Wer ist Kik?« Der Miniaturisierer beschreibt mir ein We-

sen, das in seinem Aussehen wohl einem ü-bergroßen, aufrecht gehenden Seestern ähnelt. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einem solchen Geschöpf begegnet zu sein. Auch einen gewissen Eppletonn, den Leitgeist er-wähnt, kenne ich nicht.

Mit zitternden Fingern öffne ich die Ver-schnürung des Päckchens. Etliche Konzent-ratwürfel und ein kleiner, aus losen Blättern zusammengehefteter Block sowie ein

39

Page 40: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Schreibstift fallen mir entgegen.

Kik vermutete, du könntest Hunger haben. Das ist in der Tat zutreffend. Während ich

mir zwei der Nahrungswürfel in den Mund stecke, versuche ich mir vorzustellen, wie und wo ich meinem unbekannten Freund begegnet sein könnte.

Die einzelnen Blätter des Blocks sind leer. Meine jäh aufflammende Hoffnung, dieser Kik könnte mir eine Nachricht hinterlassen haben, erweist sich als trügerisch.

Vielleicht solltest du Notizen machen, be-hauptet der Extrasinn.

Wozu? Ich weiß nichts, was des Aufschrei-bens wert wäre.

Das ist es eben. Notiere, was du in Erfah-rung bringst.

»Genausogut kann ich es mir merken.« Vor Erregung spreche ich meine Gedanken laut aus.

Meinst du? Der Extrasinn bleibt gelassen. Diese Annahme basiert auf unvollständiger Logik. Sage mir, was gestern war, und ich akzeptiere deinen Einwand.

Ich kann es nicht. Für mich ist gestern iden-tisch mit den letzten Vorbereitungen zum Aufbruch. Danach war nichts mehr.

Danach muß so vieles gewesen sein ... Ein erschreckender Gedanke ergreift von

mit Besitz: Glaubt Kik, ich würde erneut alles vergessen?

Ich muß mich förmlich zu anderen Überle-gungen zwingen, denn das ist ein Teufels-kreis. Ähnlich wie die Geschichte von dem Zeitreisenden, der in die Vergangenheit geht und versehentlich seinen Großvater tötet. Folglich wird er nie gezeugt, kann, da er nicht existiert, seinen Ahnen nicht umbringen, wird also doch geboren und ...

Soll ich dir helfen? fragt Leitgeist. Sein Funkeln und Gleißen ist wie eine stumme Verheißung. Ich habe das Gefühl, daß wir beide schon sehr lange zusammen sind.

Wir begegneten uns auf dem Planetoiden von Anti-ES.

Der Name läßt mich zusammenzucken. Aber ich kann mich soweit beherrschen, daß ich Leitgeist nicht unterbreche. Nach und nach erfahre ich alles, was er von mir weiß und was wir gemeinsam erlebt haben.

Ich befinde mich also in der Namenlosen

Zone, die keinesfalls mit dem Lebensraum der Kosmokraten identisch ist. Anti-ES muß es irgendwie gelungen sein, mich abzufangen, ich wiederum konnte mit Hilfe der Miniaturi-sierer und dem von mir befreiten hellen Kern, der sich Born nennt und wohl ein positives Bruchstück von Anti-ES ist, fliehen.

Vermutlich während ich schlief, muß ich mein Gedächtnis verloren haben. Jedenfalls gelangt Leitgeist zu diesem Schluß.

Das würde auch Kiks Fürsorge erklären. Selbst wenn ich mich noch so sehr dagegen sträube, irgendwann muß ich wieder schlafen. Mich fröstelt bei dem Gedanken, daß ich dann erneut ohne Erinnerung aufwachen werde.

Mag sein, daß der Wächter Schuld daran hat, vermutet Leitgeist, von dem ich inzwi-schen weiß, daß er telepathische Fähigkeiten besitzt.

Atlan, Kik hat gesagt, wenn du alles erfah-ren hast, soll ich dir das zeigen. Aber erst dann, denn sonst wäre es sinnlos, dir helfen zu wollen.

Aus dem Glitzern, das wie ein immer neu aufflammender Lichterreigen ist, schält sich ein lederartiges Behältnis heraus. Ohne zu zögern, greife ich zu.

Es ist ein einfaches, nur mit einer Schnur verschlossenes Säckchen. Sein Inhalt sind sechs faustgroße, sechsbeinige, geflügelte Insekten. Leitgeist hat sie mir vorhin be-schrieben. Tiere wie diese haben uns vorhin angegriffen. Vermutlich sondern ihre Beiß-zangen ein starkes, lähmendes Gift ab.

Was soll ich damit? Es gibt nur eine Erklärung, die jedoch nicht

minder phantastisch als logisch erscheint: diese sechs toten Tiere werden mir helfen, den Wächter zu besiegen.

*

Das Pilzmyzel ist überall, warnt der Extra-

sinn, während ich die sanft abfallende Geröll-halde hinuntereile. Du solltest nichts über-stürzen.

Doch was weiß er schon von den Gefühlen eines alten Arkoniden, der überraschend fest-stellen muß, daß man ihn um einen Teil seiner Erinnerung betrogen hat.

Kniehohes Gras löst das Geröll ab. Ich sehe

40

Page 41: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Bäume, wie ich sie in dieser Form und Farbe nie vorher zu Gesicht bekommen habe. Sie wirken wie flammende Säulen; eine üppige Blütenpracht ruft diesen Eindruck hervor.

Da ist noch etwas ... Überrascht bleibe ich stehen. Keine zehn

Meter vor mir schwebt ein durchscheinendes, eiförmiges Gebilde, das gut doppelt so groß ist wie ich. Seine Oberfläche besteht aus un-zähligen nahtlos aneinandergefügten Sechs-ecken.

Das ist Born! erklärt Leitgeist. Viele Fragen brennen mir auf der Zunge.

Doch bevor ich auch nur eine davon ausspre-chen kann, erreicht mich ein starker telepathi-scher Impuls.

Dafür ist keine Zeit. Ich bin gekommen, um dich zu warnen, Atlan. Anti-ES ist mit dem größten Teil seines Ichs auf dem Weg hierher.

Wie soll ich das verstehen? Ehe ich über das Gesagte nachdenken kann, fährt Born in seiner Erklärung fort:

Ganz kann Anti-ES ohne Einwilligung der Kosmokraten den Ort seiner Verbannung nicht verlassen. Auch muß es sich immer wie-der in seiner Gesamtheit auf den Planetoiden zurückziehen.

Bisher fiel es mir leicht, seinem Zugriff zu entgehen, weil nur ein geringer Bruchteil sei-ne Existenz den Weg zur Basis gefunden hat-te. Aber nun wird Anti-ES auch dich wieder als Geisel nehmen. Außerdem fürchte ich um den Ersten Zähler, der gewiß nicht ahnt, was ihn hier erwartet.

Dort, wo der die Basis umgebende Energie-schirm mit der Schwärze der Namenlosen Zone zusammentrifft, entsteht ein nebelartiges Wallen. Zum erstenmal habe ich den Ein-druck, daß flüchtige Schatten über das Land huschen. Ein Hauch von Kälte streift mich.

Auch Born spürt die Veränderung. Anti-ES ist näher, als ich dachte. Sieh dich

vor, Atlan, denn noch bin ich zu schwach, um dir beizustehen. Du mußt deinen Weg allein gehen.

Im nächsten Moment ist er verschwunden, hat sich praktisch in Nichts aufgelöst.

»Born«, rufe ich, allerdings vergeblich. Du wirst ihn nicht finden, behauptet mein

Logiksektor. Born ist endgültig vor dem her-annahenden Anti-ES geflohen. Er hat sich auf

der Basis des Ersten Zählers versteckt und dabei bestens getarnt. Wenn einer die Mög-lichkeiten der Superintelligenz kennt, dann er.

Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme habe ich nicht. Aber es spricht sehr viel dafür.

Unwillkürlich taste ich nach dem Block und dem Schreibstift, die ich beide in einer Tasche meiner Kombination verstaut habe. Meine Finger zittern, als ich zu schreiben be-ginne.

Born ist mein Freund, lese ich dann. Wa-rum ich gerade diesen Satz zu Papier gebracht habe, ist mir unklar. Aber irgendwie muß ich wissen, wem ich vertrauen darf, falls ich wie-der das Gedächtnis verliere.

Born ist ein Teil von Anti-ES ...

* Wir nähern uns dem ungefähren Mittel-

punkt des Geländes, der in der Nähe seltsamer Bauten liegt. Das große, kastenförmige Ge-bäude haben wir umgangen. Ein kleiner See erstreckt sich vor mir – seine Oberfläche ist bleiern. Auf den ersten Blick wirkt sie tat-sächlich wie geschmolzenes Metall. Bis an den Uferrand reicht eine üppige, blütenreiche Vegetation. Winzige, in allen Farben des Re-genbogens schillernde Insekten schwärmen zu Tausenden umher. Ich betrachte sie mit ge-mischten Gefühlen, muß ich doch befürchten, daß ihre Gleichgültigkeit mir gegenüber sich schlagartig ändern kann.

Sie werden dir nichts anhaben, wispert Leitgeist. Gleich darauf schickt er mir einen überraschten Impuls. Da er hoch über mir schwebt, muß er etwas entdeckt haben, was meinen Sinnen noch verborgen bleibt.

Halte dich links, Atlan. Mehr verrät er nicht.

Ein schmales Rinnsal kreuzt meinen Weg. Es ist Wasser, das den See verläßt und ver-mutlich irgendwo im Erdreich versickert, um an anderer Stelle erneut an die Oberfläche gepumpt zu werden. Ich schreite einfach hin-durch, wie auch durch das anschließende Buschwerk. Doch dann bleibe ich unvermit-telt stehen.

Vor mir, am Rand einer Lichtung, ragt ein gut einen Meter messender Pilz auf.

41

Page 42: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Das Summen der Insekten wird lauter. In

dem Moment achte ich kaum darauf. Ich sehe zwei weitere Pilze, jeder fast ge-

nau fünf Meter von dem anderen entfernt. Ein flüchtiger Rundblick zeigt mir, daß es insge-samt sechs bleiche Fruchtkörper gibt, die zu-sammen einen Kreis bilden.

Das kann kein Zufall sein. Mir wird klar, daß Leitgeist mich mehr oder weniger unauf-fällig an diesen Ort geführt hat, weil er mir stets einige Meter voraus war.

»Woher wußtest du ...?« Kik bat mich ... Weiter kommt der Miniatu-

risierer mit seiner Erklärung nicht. Es ist, als erwache die Natur ringsum zu geradezu un-heimlichem Leben. Von allen Seiten schwir-ren die Insekten herbei, im Gebüsch raschelt es, und Tiere, die ich vorher nicht zu Gesicht bekommen habe, brechen daraus hervor.

Mit unverständlicher Wildheit greifen sie mich an. Manches Krallenpaar rutscht an meinen Stiefeln ab, doch es werden immer mehr Angreifer, die an mir hochspringen. Leitgeist ist jetzt ganz nahe. Sein Glitzern hält zumindest die Insekten fern.

Ich brauche keinen weiteren Beweis, um zu wissen, daß ich den Wächter gefunden habe.

Geh! hämmert es in meinem Schädel. Ein schmerzhaftes Ziehen strahlt von den Schlä-fen bis weit in den Nacken aus. Ich habe den Eindruck, wie ein Betrunkener herumzutor-keln. Aber mein Extrasinn behauptet, ich würde dastehen wie angewurzelt.

Sechs Pilze ... Und sechs giftige Tiere trage ich in dem ledernen Beutel bei mir. Ein Dummkopf, dem der Zusammenhang verbor-gen bleibt.

Vor meinen Augen verschwimmt alles. Mühsam taste ich mich vorwärts. Leitgeist will mich beruhigen. Es ist, als müsse ich ge-gen einen mentalen Orkan ankämpfen, der über mich hereinbricht. Blindlings schlage ich um mich.

Bleischwer wird mein Arm, als ich das ers-te der sechsbeinigen Tiere, das sich nur zag-haft bewegt, auf die Pilzkappe werfe, der ich am nächsten bin. Sofort verbeißt es sich, doch kann ich keine Reaktion erkennen.

Fünf Meter weiter steht der nächste! schießt es mir durch den Sinn.

Ich kann nicht beschreiben, wie mir zumute

ist, als würde mein Innerstes nach außen ge-kehrt. Ich stolpere vorwärts, während um mich her ein wahres Chaos im Entstehen beg-riffen ist.

Der zweite Pilz ... Ein Maahk stellt sich mir entgegen, aber er ist nicht viel mehr als ein Schemen, den ich mühelos durchschreite. Entweder bin ich inzwischen gegen diese Art der Beeinflussung meines Unterbewußtseins gefeit, oder aber ich nehme nicht mehr richtig wahr, was geschieht.

Ich schlage um mich, ich fluche und schreie, stürze, raffe mich wieder auf, fühle, daß Leitgeist neben mir ist, spüre seine Mut machenden Gedanken ... Wie Blitzlichter brennen sich die Sekunden in meine Erinne-rung ein, in denen ich jeweils eines der gifti-gen Insekten in Händen halte. Der Extrasinn behauptet, daß ich wie ein Besessener schreie. Ich glaube, er übertreibt.

Ich weiß nur, daß ich dieses Chaos durch-stehen muß. Nur dieser eine Gedanke erfüllt mein Bewußtsein.

Plötzlich ist Stille – eine bedrückende, fast tödliche Stille. Der lederne Beutel ist leer, ich habe ihn weggeworfen. Das letzte Tier in meiner Hand beginnt zu zappeln.

Mit einemmal fürchte ich, daß ich es nicht schaffen könnte. Zwei Schritte noch, dann brauche ich nur den Arm auszustrecken ...

Eine unsagbare Erleichterung ergreift von mir Besitz. Ich habe es durchgestanden.

Das hast du, bestätigt Leitgeist. Auch wenn es Stunden deiner Zeitrechnung gedauert hat.

Die Pilze verändern ihre Farbe; sie verdor-ren förmlich und brechen innerhalb weniger Augenblicke zusammen.

Ist der Wächter tot? frage ich mich. Ganz sicher nicht, meint Leitgeist. Das My-

zel wurde von den Verfallserscheinungen nur teilweise erfaßt. Durch das Gift wird es aller-dings daran gehindert, erneut Fruchtkörper auszubilden, und diese Wirkung dürfte relativ lange anhalten.

8.

Die Tierwelt achtet nicht mehr auf mich;

ein deutliches Zeichen, daß der Wächter zu-mindest aktionsunfähig ist. Endlich kann ich mich daranmachen, eine Antwort auf all jene

42

Page 43: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

Fragen zu suchen, die mich nun brennender als zuvor beschäftigen.

Leitgeist begleitet mich auch weiterhin. Aber er hat sich verändert. Ich spüre, daß er mutlos geworden ist. Dies mag durchaus eine verspätete Reaktion auf die Vernichtung sei-nes Pulks sein. Leitgeist sieht in seinem Da-sein keinen Sinn mehr, und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.

Das kannst du nicht, meint er. »Aber du hast viel für mich getan ...« Die Umstände sind gegen uns, Atlan. Unse-

re Wege werden sich wohl bald für immer trennen.

Weiß er etwas, was er mir verschweigt? Ich kann mich eines unguten Gefühls nicht er-wehren.

Mir ist der Blick in die Zukunft ebenso ver-schlossen wie dir. Er hat meine flüchtigen Gedanken aufgefangen, sonst würde er das nicht erwähnen.

An einem kleinen Rinnsal mache ich Rast. Das Wasser ist erfrischend kühl. Nachdem ich meinen größten Durst gestillt habe, esse ich einen der Konzentratwürfel.

Leitgeist schwebt neben mir. Sein Durch-messer beträgt gut eineinhalb Meter.

»Kannst du irgendwelche Gedanken wahr-nehmen?« stelle ich die Frage, die mir schon lange auf der Zunge brennt. Von Kik einmal abgesehen, muß es auf der Basis intelligentes Leben geben.

Da sind einige Wesen, meint der Miniaturi-sierer schließlich, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben. Mehr recht als schlecht leben sie auf der Oberfläche. Aber niemand weiß, was im Innern der Basis geschieht.

Auf die Dauer wirkte die stets gleichblei-bende Helligkeit zermürbend. Von einer inne-ren Unruhe geplagt, breche ich schnell wieder auf. Ich will endlich wissen, woran ich bin, und niemand wird mich daran hindern, einen Weg ins Schiffsinnere zu finden.

Das Land könnte ein Paradies sein. Doch ich achte kaum auf die unzähligen blühenden Pflanzen, die meinen Weg säumen.

Plötzlich wird Leitgeists Glitzern derart in-tensiv, daß ich mich abwenden muß, um nicht geblendet zu werden.

Da ist etwas, vernehme ich seine lautlose Stimme. Es kommt aus weiter Ferne, nähert

sich aber sehr schnell. »Kannst du erkennen, um was es sich han-

delt?« Angestrengt suche ich das Firmament ab, ohne jedoch das geringste zu entdecken.

Wenige Sekunden später zucke ich zusam-men. Nun spüre ich es auch. Eine Aura des Unheimlichen ...

Atlan, dröhnt es in mir. Ich komme, um Born wieder zu einem Teil meiner Existenz und dich erneut zu meiner Geisel zu machen. Dröhnendes Gelächter folgte diesen Worten.

Unbewegt starre ich hinaus in die Schwärze der Namenlosen Zone, aber nichts ist zu se-hen. Habe ich überhaupt eine Chance? Wenn, dann muß ich rasch handeln.

Warum willst du fliehen? Das ist wieder Anti-ES. Du solltest wissen, daß du mir nicht entkommen kannst. Ich werde dich dafür be-strafen, Atlan.

Zu verlieren habe ich nichts. Im Gegenteil. Ich bewege mich jetzt auf den Rand der hüge-ligen Landschaft zu. Vielleicht ist es mir dort möglich, ins Innere der Basis vorzudringen. Wenn ich wirklich gegen Anti-ES bestehen will, benötige ich technische Hilfsmittel.

Ein starker Wind kommt auf, der mich frös-teln läßt. Vorübergehend wird die Wölbung des Schutzschirms hoch über mir sichtbar, dann ist alles wieder wie zuvor.

Mit einer Ausnahme: ich weiß, daß Anti-ES nun ebenfalls auf der Basis des Ersten Zählers weilt, wenn auch nicht mit seinem gesamten Potential.

Etwas folgt uns, bemerkt Leitgeist. Ich verfalle in einen raschen Laufschritt,

den ich notfalls stundenlang durchhalten kann, ohne zu ermüden. Linker Hand liegt die Quelle der hellen Lichterscheinungen, doch das Gelände wirkt in dieser Richtung nahezu undurchdringlich.

Es kommt näher! Vereinzelte Buschgruppen behindern mich.

Ich bin gezwungen, Haken zu schlagen. Dann sehe ich meinen Verfolger. Auf den

ersten Blick ähnelt er einer übergroßen Spin-ne, doch besitzt er lediglich vier stelzenförmi-ge Beine. Der völlig glatte Körper, gut zwei Meter lang, ist von ovaler Form. Möglicher-weise vorhandene Sinnesorgane bleiben ver-borgen. Für dieses Wesen, oder was immer es sein mag, existieren keine Hindernisse, die es

43

Page 44: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

nicht überspringen könnte. Deutlich wird mir die Sinnlosigkeit einer weiteren Flucht offen-bar.

Die Spinne wirkt so unfertig, daß es sich nur um ein von Anti-ES erzeugtes Pseudowe-sen handeln kann. Sie greift im selben Mo-ment an, in dem ich Leitgeists Warnung er-halte. Im Nu ist sie über mir, ein harter Schlag mit einem ihrer Beine treibt mir die Luft aus den Lungen. Ächzend lasse ich mich vornüber sinken, weil ich darin meine einzige Chance erkenne. Der ovale Körper bildet zwei sechs-fingrige Greifarme aus. Ich entgehe ihnen nur durch eine blitzschnelle Drehung zur Seite. Zugleich schlage ich mit der Handkante nach einem der Stelzenbeine.

Meine Gegenwehr scheint die Spinne zu überraschen. Sie zögert den Bruchteil eines Augenblicks zu lange – vielleicht fehlen ihr auch die genauen Anweisungen, wie sie in diesem Fall vorzugehen hat. Jedenfalls genügt mir diese Spanne, um mit Wucht zuzutreten. Das Monstrum knickt ein, und Leitgeist senkt sich herab. Ich achte nicht auf das, was ge-schieht, sondern hetze weiter.

Minuten später hat der Miniaturisierer mich erneut eingeholt und läßt mich wissen, daß die Spinne kaum noch die Größe einer Faust besitzt. Das verschafft mir zwar vorüberge-hend Luft, befreit mich aber sicherlich nicht von Anti-ES’ Nachstellungen.

Ich empfange fremdartige Gedanken, mel-det Leitgeist kurz darauf. Anti-ES hat zwei neue Jäger geschaffen, die sich auf deine Spur heften. Es ist wütend, weil Born sich seinem Zugriff entzieht. Es weiß, daß der helle Kern auf der Basis des Ersten Zählers weilt, doch es kann ihn nicht aufspüren.

Eine Felsformation, die wie ein riesiger, schräg liegender Kristall aussieht, erhebt sich vor mir. Ich wende mich nach rechts.

Täusche ich mich, oder flimmert dort die Luft?

Mit dem Handrücken wische ich über mei-ne Augen, aber die Erscheinung bleibt.

Ich glaube, ich habe gefunden, wonach ich suche.

Es muß ein Luftschacht sein, der hier mün-det. Eine Röhre von wenig mehr als einem Meter Durchmesser ragt knapp fünfzig Zen-timeter aus dem Erdreich hervor. Starker O-

zongeruch macht sich bemerkbar. Ein Gitter deckt die Öffnung ab. Es ist fest

verankert und läßt sich nicht bewegen. Warte! meint Leitgeist. Im nächsten Mo-

ment poltert die Abdeckung in die Tiefe. Ohne zu zögern, schwinge ich mich in die

Röhre hinein, die glatt ist und nirgendwo Halt bietet. Die Füße fest an die gegenüberliegende Wand gestemmt, lasse ich mich in die Tiefe rutschen, wobei ich die Handflächen hinter mir auf das Metall presse, um nicht allzu schnell zu werden.

Sechs oder sieben Meter lege ich auf diese Weise rasch zurück, bevor die Röhre dicht über einem galerieartigen Rundgang endet. Eine umlaufende Brüstung hindert mich dar-an, in die Tiefe zu blicken. Aber auch so sehe ich genug, um feststellen zu können, daß ich in einer Klimaanlage herausgekommen bin. Die Luftumwälzung erfolgt über mächtige Turbinen.

Ich weiß nicht, ob du hier sicher bist, warnt Leitgeist.

Irgendwo muß es einen Weg geben, um weiter abzusteigen. Meine hastigen Schritte sind lauter als die herrschende Geräuschkulis-se. Die Halle vor mir durchmißt gut hundert Meter, wenn ich die Biegung des Ganges richtig beurteile.

Unvermittelt greift etwas nach meinen Bei-nen. Ich stürze, kann aber dennoch nicht er-kennen, was da ist. Vermutlich ein energeti-sches Fesselfeld als Sicherungseinrichtung gegen ungebetene Besucher. Der Druck legt sich auch um meinen Oberkörper, ich vermag die Arme nicht mehr zu bewegen.

Leitgeist greift ein. Einzelne Wandsegmen-te verlieren ihren Halt und brechen polternd auseinander. Flammen züngeln auf, es kommt zu kleineren Explosionen.

Ich bin zwar wieder frei, doch muß ich mir sagen, daß die Zerstörungen zweifellos meine Verfolger auf den Plan rufen. Ohne mich um-zuschauen, haste ich weiter, bis ich endlich einen Seitengang erreiche. Da das Schott ver-schlossen ist, weiß ich nicht, was mich dahin-ter erwartet.

Du mußt es riskieren, bestätigt der Logik-sektor. Auf der Galerie bist du nicht sicher.

Der Öffnungsmechanismus ist blockiert. Aber wieder hilft Leitgeist, und schon nach

44

Page 45: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

wenigen Sekunden gleitet das Schott wenigs-tens so weit zur Seite, daß ich hindurch-schlüpfen kann. An Stelle der elektronischen Verriegelung befinden sich jetzt Löcher im Rahmen.

Ein schmaler Gang nimmt mich auf, weitet sich jedoch nach wenig mehr als fünfzig Me-tern zu einer neuen Halle. Dies muß ein La-gerraum sein, denn in endlos scheinenden Regalreihen stapeln sich die verschiedenar-tigsten Maschinenteile. An der Peripherie lagern ein gutes Dutzend stählerne Behälter, deren Verwendungszweck mir zumindest auf Anhieb unklar bleibt.

Sie haben Hohlräume, die groß genug für dich sind, behauptet Leitgeist. Ich spüre, daß die Verfolger nahe sind; du mußt dich verber-gen, wie Born es getan hat.

»Und du?« frage ich, weil der Miniaturisie-rer nur von mir spricht.

Ich weiß, was ich zu tun habe. Mach schon, Atlan, oder es ist zu spät.

Die kugelförmigen Behälter durchmessen gut fünf Meter, und sie verfügen über etliche Klappen, die offenbar für Wartungsarbeiten angelegt wurden. Eine davon öffne ich. Sofort wird ein schwaches Antigravfeld aktiviert, das mich in einen engen Schacht emporhebt. Um mich her ist ein Wust von Kabelsträngen, aber da sind auch einige kleine Luken, durch die ich nach draußen blicken kann. Die Klap-pe hinter mir hat sich bereits wieder geschlos-sen.

Unvermittelt erklingt eine fremdartige Stimme. Im ersten Moment zucke ich zu-sammen und will herumfahren, doch der Schacht ist zu eng, als daß mir viel Bewe-gungsfreiheit bliebe.

Ich kann nicht erkennen, von wo die Stim-me kommt, aber sie wiederholt das eben Ge-sagte. Die Sprache ist mir unbekannt.

Du wirst deinen Kampf gegen das Böse fortsetzen, Atlan, vernehme ich Leitgeists Gedanken. Ich wünsche dir viel Glück dazu.

Das klingt beinahe, als wolle er Abschied nehmen. Was hat er vor?

Nichts, was dich beunruhigen müßte. Und jetzt verhalte dich ruhig.

Zum viertenmal wiederholt sich inzwischen die fremde Stimme. Da mir von ihr offen-sichtlich keine Gefahr droht, beschließe ich,

sie einfach zu ignorieren. Das sind Arbeitsanweisungen, behauptet

der Logiksektor. Ich finde keine Zeit, darauf zu antworten,

weil mit Leitgeist eine erschreckende Verän-derung vor sich geht. Seine drei materiellen Bestandteile scheinen miteinander zu ver-schmelzen, während sein Glitzern rasch verblaßt und sich zusammenzieht. Die Umris-se einer humanoiden Gestalt formen sich, die ungefähr meine Größe besitzt. Der Miniaturi-sierer bildet tatsächlich einen Menschen nach.

»Nein!« schreie ich, weil ich seine Absicht durchschaue. »Tu das nicht!«

Aber er weist mich schroff zurecht: »Sei still, Atlan, oder willst du uns beide

preisgeben?« Er ist nun ich. So jedenfalls bietet sich mir

seine Erscheinung dar. Er trägt dieselbe Kombination, die gleichen Stiefel, sogar sein Haar ist nicht minder verfilzt als meines. In seinen roten Augen liegt ein Lächeln.

Im nächsten Augenblick sind zwei der spinnenähnlichen Pseudowesen heran. Dem ersten weicht Leitgeist durch einen blitz-schnellen Sprung zur Seite aus, dem zweiten kann er nicht entgehen. Das so unfertig wir-kende Geschöpf ist über ihm, ehe er auch nur abwehrend die Arme hochreißen kann. Inein-ander verkrallt wälzen sie sich über den Bo-den aus meinem Sichtfeld.

Keine Angst, teilt er mir telepathisch mit. Ich werde es Anti-ES nicht zu leicht machen.

Wie gern würde ich ihm beistehen. Aber die Vernunft rät mir, in meinem Versteck zu bleiben. Manchmal ist es wirklich verdammt schwer, vernünftig zu bleiben. Ich weiß, daß ich mit Leitgeist einen wirklichen Freund ver-lieren werde. Es ist hart, ihm nicht beistehen zu können.

Endlich geraten sie wieder in mein Blick-feld. Leitgeist hat einem der Pseudowesen schwer zugesetzt, denn es hält sich kaum noch auf seinen langen Beinen. Trotzdem ist es ein aussichtsloser Kampf für ihn.

So hat mein Tod wenigstens einen Sinn. Geh an die Oberfläche zurück, Atlan, denn hier unten kann Anti-ES dich aufspüren. Ich ...

Unvermittelt brechen die Gedanken ab. Auch ohne in die Halle hinauszuschauen,

45

Page 46: Leitgeist

ATLAN 107 – Die Abenteuer der SOL

weiß ich, was geschehen ist. Leitgeist hat sich für mich geopfert. Sein Tod geht mir nahe – viel näher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die folgende Stille ist fürchterlich, doch wird sie sehr schnell unterbrochen.

Ich werde euch vernichten, wie ich euch geschaffen habe, dröhnt es in meinem Schä-del. Warum habt ihr Atlan getötet und mich damit um meine Geisel gebracht? Das war nicht mein Befehl.

Wut, Haß und Zorn drücken sich darin aus, und ich kann Anti-ES sogar verstehen. Wie soll es nun seine Freiheit wiedererlangen?

Die Spinnenähnlichen vergehen; nur einige

Plasmaklumpen bleiben zurück. Meine Lage hat sich damit ein wenig ver-

bessert. Zumindest vorerst konnte ich dank Leitgeists Hilfe Anti-ES entkommen. Und ich werde alles daransetzen, daß dies so bleibt.

Ich muß versuchen, Kik, Born oder den Ersten Zähler, wer immer sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt, zu finden. Aber ir-gendwann muß ich auch schlafen. Meine größte Frage ist: werde ich dann wieder ver-gessen?

ENDE

Weiter geht es in Band 108 der Abenteuer der SOL mit:

Manifest B von Arndt Ellmer

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

46