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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGTEUCH! LENIN WERKE

Lenin - Werke 9

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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VE RE INI GT EU CH !

LENINW E R K E

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HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS

DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES

II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR

DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINT

AUF BESdHLUSS DES'ZENTRÄLKOMITEES

DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI

DEUTSCHLANDS

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I N S T I T U T F Ü R M A R X I S M U S - L E N I N I S M U S B E I M ZK D E R K P d S U

WI.LENINWERKE

I NS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN

NACH DER VI ERTEN RU SSI SC HEN AUSGABE

DIE DEUTSCHE AUSGABE

W I R D V O M I N S T I T U T F Ü R M A R X I S M U S - L E N I N I S M U S

BEIM ZENTRALKOM ITEE DER SED BESORGT

DIETZ VERLAG BERLIN

1957

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WI.LENINBAND9

JUNI-NOVEMBER1905

DIETZ VERLAG BERLIN

1957

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Rassischer Originaltitel:

B. H.JIEHHH • COlHHEHHa

Dietz Verlag GmbH, Berlin • 1. Auflage 1957 • Printed in Germany • Alle Rechte

vorbehalten • Gestaltung und Typographie: Dietz Entwarf • Papierformat: 61X86 cra

Verlagsbogen: 31 • Druckbogen: 32 • Lizenznammer 1

Satz und Druck: VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig 111/18/38

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V I I

V O R W O R T

Die in Band 9 enthaltenen Arbeiten schrieb W. I. Lenin in der zweitenHälfte (Juni-November) 1905.

Den Band eröffnet das historisch gewordene Buch „Zwei Taktiken derSozialdemokratie in der demokratischen Revolution", in welchem Leninan der Taktik der Menschewiki eine vollendete Kritik übte, die bolsche-wistische Taktik meisterhaft begründete und den Marxismus durch eineneue Theorie der Revolution bereicherte. Das zweite Kapitel des Nach-worts zu diesem Werk wird hier zum erstenmal vollständig nach dem

Manuskript veröffentlicht, von dem ein Teil 1940 aufgefunden wurde.In den Artikeln „Das Proletariat kämpft, die Bourgeoisie erschleicht

sich die Macht", „Der Boykott der Bulyginschen Duma und der Auf-stand", „Im Nachtrab der monarchistischen Bourgeoisie oder an der Spitzeder revolutionären Arbeiterklasse und Bauernschaft?", „Parlamentsspie-lerei" , „Von der Verteidigung zum Angriff" und anderen erläutert Lenindie revolutionäre Taktik der Arbeiterklasse, gibt Hinweise für die Vor-bereitung des bewaffneten Aufstands und entlarvt den heuchlerischen„Dem okratismus" der liberalen Bourgeoisie sowie die versöhnlerische Tak-

tik der Menschewiki,In den Artikeln „Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewe-

gung", „Sozialismus und Bauernschaft" und „Kleinbürgerlicher und prole-tarischer Sozialismus" begründet und erläu tert Lenin den bolschewistischenstrategischen Plan des Kampfes für die Überleitung der bürgerlich-demo-kratischen Revolution in die sozialistische Revolution.

Die Artikel „Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau", „DieLehren der Moskauer Ereignisse", „Der politische Generalstreik in Ruß-

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VIII

land" und „Der erste Sieg der Revolution" sind dem politischen G eneral-

streik im Oktober gewidmet.Lenins Schriften „Vorwort zur Broschüre ^Arbeiter über die Spaltung

der Partei'", „Zur Vereinigung der Partei" und andere richten sich gegendie Spaltungstätigkeit der Menschewiki.

Zum erstenmal in den Werken W. I. Lenins werden im vorliegendenBand folgende Arbeiten veröffentlicht: „Schlußteil zum Artikel ,Die Pari-ser Kommune und die Aufgaben der demokratischen Diktatur'", „Ur-sprüngliche Variante des Vorworts zur Broschüre ,Arbeiter üb er die Spal-tung der Partei'", „Bemerkung zur Resolution der Konferenz der Aus-

landsorganisationen der SDA PR", „N achwort der Redaktion zu dem Arti-kel ,Der dritte Parteitag vor dem Tribunal der kaukasischen Mensche-wiki'", „Bemerkung zu P. Nikolajews Broschüre ,Die Revolution in Ruß-land'", „Zur gegenwärtigen Lage", „Über die sogenannte Armenischesozialdemokratische Arbeiterorganisation", „,Borba Proletariata'", „DieJugend im Ausland und die russische Revolution", „Bemerkungen zumArtikel ,Die britische Arbeiterbewegung und der Kongreß der Trade-Unions'", „Einfügung in W.Kalinins Artikel ,Der Bauernkongreß'" und„Zwischen zwei Schlachten". In dem letztgenannten Artikel zieht Lenin

die Bilanz des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 und ruft dasrussische Proletariat auf, seine Kräfte zusammenzuschließen zum Sturzder zaristischen Selbstherrschaft durch einen bewaffneten Volksaufstand.

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ZWEI TAKTIKEN DER SOZIALDEMOKRATIE

IN DER DEMOKRATISCHEN REVOLUTION 1

Qesdbrieben Juni—Juli i905.

Zuerst veröffentlicht als Tiaäi dem 7ext der TSrosdbüre,Brosdm re in Qenf im Juli 1905. verglichen mit dem Man uskript.

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N. Lenin. Deux tactiques.

P ri x : 1 f r . 2 5 c t s . — 1 m k . — 1 8 C h . — 2 5 c e n t

PocciHcuan CouiambAeMOKpaTHsecRas PaGoMM flspi-to.

[ E TA F 1 H R C TX - b C TP A Ht C O« HHHÄ TE C b!

H . J 1 E H H H T ) .

T 8 K T H K H

COUIA^bflElVlOKPATIMBT>

Ü C Z H E B A

Trniorpatfi« üapriH. 3, rue de la Colline 31 9 0 5 .

Umschlag von W. I. Lenins Broschüre„Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution"

1905

VerkUintrt

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V O R W O R T

In einem revolutionären Augenblick ist es sehr schwer, mit den Ereig-nissen Schritt zu halten, die erstaunlich viel neues Material für die Beur-teilung der taktischen Losungen der revolutionären Parteien liefern. DieseBroschüre ist vor den Odessaer Ereignissen geschrieben worden.* Wirhaben im „Prole ta r i " 2 (N r. 9, „Die Revolution leh rt" )* * schon daraufhingewiesen, daß sogar jene Sozialdemokraten, die die Theorie vom Auf-stand als Prozeß geschaffen und die Propaganda für eine provisorischerevolutionäre Regierung verworfen hatten, durch diese Ereignisse gezwun-

gen wurden, faktisch auf die Seite ihrer Opponenten überzugehen odermit dem Übergang zu beginnen. Die Revolution lehrt zweifellos mit einerSchnelligkeit und Gründlichkeit, die in Zeiten der friedlichen politischenEntwicklung unwahrscheinlich erscheinen. Und sie lehrt, was besonderswichtig ist , nicht nur die Führer, sondern auch die Massen.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Revolution den Arbeitermassenin Rußland den Sozialdemokratismus beibringen wird. Die Revolutionwird in der Praxis das Programm und die Taktik der Sozialdemokratie da-durch bestätigen, daß sie die w ahre N atu r d er verschiedenen Gesellschafts-

klassen enthüllt , daß sie den bürgerlichen Charakter unserer Demokratieund die wirklichen Bestrebungen der Bauernschaft offenbart, die im bü rger-lich-demokratischen Sinne revolutionär ist, aber nicht die Idee der „Sozia-lisierung", sondern den neuen Klassenkampf zwischen der bäuerlichenBourgeoisie und dem ländlichen Proletariat in ihrem Schöße birgt. Die

* Gemeint ist der Aufstand auf dem Panzerkreuzer „Fürst Potjomkin".(Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

** Siehe den vorliegenden Band, S. 139. Die Red.

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4 W . 1 Lenin

alten Illusionen der alten Volkstümlerrichtung, die zum Beispiel im Pro-

grammentwurf der „Partei der Sozialrevolutionäre" so deutlich durch-schimmern, sowohl was die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland undden Demokratismus unserer „Gesellschaft" betrifft als auch hinsichtlichder Bedeutung des vollen Sieges des Bauernaufstands — alle diese Illusio-nen werden von der Revolution erbarmungslos und endgültig zerstreutwerden. D ie verschiedenen Klassen werden in der Revolution zum ersten-mal eine wirkliche politische Feuertaufe erhalten. Diese Klassen werdenaus der Revolution mit einer bestimmten politischen Physiognomie her-vorgehen, nachdem sie sich nicht nur in den Programmen und taktischen

Losungen ihrer Ideologen, sondern auch in der offenen politischen Aktionder Massen gezeigt haben werden.

Kein Zweifel, daß die Revolution uns belehren und daß sie die Volks-massen belehren w ird. Doch für die kämpfende politische Partei steht jetztdie Frage so: W erden wir die Revolution etwas lehren können? Werdenwir von der Richtigkeit unserer sozialdemokratischen Lehre und von unse-rer Verbindung mit der einzigen bis zu Ende revolutionären Klasse, demProletariat, so Gebrauch machen können, daß wir der Revolution den pro-letarischen Stempel aufdrücken, die Revolution in der Tat und nicht in

W orten zum wirklich entscheidenden Siege führen und die Wankelmütig-keit, die Halbschlächtigkeit und den Verrat der demokratischen Bourgeoi-sie paralysieren?

Auf dieses Ziel müssen wir alle unsere Anstrengungen richten. Ob wires erreichen, hängt einerseits von der Richtigkeit unserer Einschätzung derpolitischen Lage, von der Richtigkeit unserer taktischen Losungen ab,anderseits von der Unterstützung dieser Losungen durch die reale Kampf-kraft der Arbeitermassen. Auf die Festigung und Ausdehnung der Ver-bindung mit der Masse ist die gesamte übliche, reguläre, laufende Arbe it

aller Organisationen und Gruppen unserer Partei gerichtet: die Propa-ganda-, Agitations- und Organisationsarbeit. Diese Arbeit ist stets not-wendig, aber in einem revolutionären Augenblick kann sie weniger dennje als ausreichend erachtet werden. In einem solchen Augenblick drängt dieArbeiterklasse instinktiv zu r offenen revolutionären Aktion, und wir müs-sen es verstehen, die Aufgaben dieser Aktion richtig zu stellen, um danndie Kenntnis dieser Aufgaben und das Verständnis für sie möglichst weitzu verbreiten. Man darf nicht vergessen, daß sich hinter dem landläufigen

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Zwei 7ak.tik.en der Sozialdemokratie in der demdkratisöaen Revolution 5

Pessimismus betreffs unserer Verbindung mit der Masse jetzt besonders

häufig bürgerliche Ideen über die Rolle, des Proletariats in der Revolutionverbergen. W ir müssen zweifellos noch viel, sehr viel tun , um die Arbeiter-klasse zu erziehen und zu organisieren, aber die ganze Frage dreht sichheute darum, wo der politische Schwerpunkt dieser Erziehung und dieserOrganisation hauptsächlich liegen soll. In den Gewerkschaften und denlegalen Vereinen oder im bewaffneten Aufstand, in der Schaffung einerrevolutionären Armee und einer revolutionären Regierung? Durch daseine wie durch das andere wird die Arbeiterklasse erzogen und organisiert.Und das eine wie das andere ist natürlich notwendig. H eute, in der gegen-

wärtigen Revolution, läuft jedoch die ganze Frage darauf hinaus, wo derSchwerpunkt der Erziehung und der Organisation der Arbeiterklasse lie-gen wird, im ersten oder im zweiten?

Der Ausgang der Revolution hängt davon ab , ob die Arbeiterklasse alsHandlanger der Bourgeoisie, der in seiner Stoßkraft gegen die Selbstherr-schaft zwar mächtig, politisch aber ohnmächtig ist, oder als Führer derVolksrevolution auftreten wird. Die bewußten Vertreter der Bourgeoisiespüren das sehr wohl. Eben deshalb preist ja die Zeitschrift „Oswobosh-denije"3 das Akimowianertum in der Sozialdemokratie, den „Ökonomis-mus", der heute die Gewerkschaften und die legalen Vereine in den Vor-dergrund rückt. Eben deshalb begrüßt ja Herr Struve („Oswoboshdenije"Nr. 72) die prinzipiellen Tendenzen des Akimowianertums in der neuen„Iskra" 4. Und eben deshalb fällt er über die verhaßte revolutionäre Eng-herzigkeit der Beschlüsse her, die der III. Parteitag der Sozialdemokrati-schen Arbeiterpartei Rußlands gefaßt hat.

Richtige taktische Losungen der Sozialdemokratie haben jetzt für dieFührung der Massen besonders große Bedeutung. Nichts ist gefährlicher,als die Bedeutung prinzipienfester taktischer Losungen in revolutionärenZeiten herabzusetzen. Die „Iskra" zum Beispiel geht in Nr. 104 faktischauf die Seite ihrer Opponenten in der Sozialdemokratie über, äußert sichaber zugleich geringschätzig über die Bedeutung der Losungen und takti-schen Beschlüsse, die dem Leben vorangehen und den Weg zeigen, dendie Bewegung, begleitet von manchen Mißerfolgen, Irrtümern usw., ein-schlägt. Im Gegenteil, die Ausarbeitung richtiger taktischer Beschlüsse hatgewaltige Bedeutung für eine Partei, die das Proletariat im Geiste konse-quent marxistischer Prinzipien führen und nicht bloß hinter den Ereignis-

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TV.1. Centn

sen einhertrotten will. In den Resolutionen des III. Parteitags der Sozial-

demokratischen Arbeiterpartei Rußlands und der Konferenz des abgespal-tenen Teils der Partei* haben wir die präzisesten, bestdurchdachten undvollständigsten Darlegungen der taktischen Auffassungen, nicht wie siezufällig von einzelnen Literaten geäußert, sondern wie sie von den verant-wortlichen Vertretern des sozialdemokratischen Proletariats angenommenworden sind. Unsere Partei ha t allen anderen Parteien voraus, da ß sie einpräzises, von allen angenommenes Programm besitzt. Sie muß für dieanderen Parteien auch darin ein Vorbild sein, daß sie sich zu ihren tak-tischen Resolutionen streng verhält, im Gegensatz zum Opportunismus der

demokratischen Bourgeoisie, wie er sich im „Oswoboshdenije" äußert, undzu den revolutionären Phrasen der Sozialrevolutionäre, die erst währendder Revolution auf den Gedanken kamen, mit dem „Entwurf" eines Pro -gramms hervorzutreten und sich zum erstenmal mit der Frage zu befassen,ob das, was sich vor ihren Augen abspielt, eine bürgerliche Revolution ist.

Deshalb halten wir es für die dringlichste Aufgabe der revolutionärenSozialdemokratie, die taktischen Resolutionen des III. Parteitags der So-zialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands und der Konferenz aufmerk-sam zu studieren, die in ihnen enthaltenen Abweichungen von den Prin-

zipien des Marxismus festzustellen und sich über die konkreten Aufgabendes sozialdemokratischen Proletariats in der demokratischen Revolutionklarzuwerden. Dieser Arbeit ist auch die vorliegende Schrift gewidmet.Die Überprüfung unserer Taktik vom Gesichtspunkt der marxistischenPrinzipien und der Lehren der Revolution ist auch für denjenigen notwen-dig, der die Einheitlichkeit der Taktik als Grundlage für die künftige volleEinigung der ganzen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands realvorbereiten und sich nicht nur auf W orte der Ermahnung beschränken will.

Juli 1905 W. Cenin* Am III. Par teitag d er SQA PR (London, M ai 1905) nahmen n ur die Bol-

schewiki teil. An der „Konferenz" (Genf, zur selben Zeit) beteiligten sich nurdie Menschewiki, die in der vorliegenden Schrift oft als „Neuiskristen" be-zeichnet werden, denn sie gaben zwar die „Iskra" weiter heraus, ließen aberdurch den Mund ihres damaligen Gesinnungsgenossen Trotzki erklären, daßzwischen der alten und der neuen „Iskra" ein Abgrund klafft. (Fußnote desVerfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

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1. DIE AKTUELLE POLITISCHE FRAGE

In dem revolutionären Augenblick, den wir durchleben, steht die Ein-berufung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versamm-lung auf der Tagesordnung. Wie diese Frage zu lösen ist, darüber gehendie Meinungen auseinander. Drei politische Richtungen treten hervor. Diezaristische Regierung findet sich mit der Notwendigkeit ab, Volksvertretereinzuberufen, will aber auf keinen Fall zulassen, daß deren Versammlungeine vom ganzen Volk gewählte und eine konstituierende Versammlungist. Sie scheint, wenn man den Zeitungsmeldungen über die Arbeiten der

Bulyginschen Kommission5

glauben darf, mit einer beratenden Versamm-lung einverstanden zu sein, die ohne Freiheit der Agitation und auf Grundeines beschränkten Zensus- oder eines beschränkten ständischen Wahl-rechts gewählt wird. Das revolutionäre Proletariat, soweit es unter derFührung der Sozialdemokratie steht, fordert den vollständigen Übergangder Macht an eine konstituierende Versammlung und erstrebt zu diesemZweck nicht nur das allgemeine Wahlrecht und nicht nur die volle Agita-tionsfreiheit, sondern außerdem den unverzüglichen Sturz der zaristischenRegierung und ihre Ersetzung durch eine provisorische revolutionäre Re-

gierung. Die liberale Bourgeoisie schließlich, die ihre Wünsche durch denMund der Führer der sogenannten „Konstitutionell-Demokratischen Par-tei" 6 zum Ausdruck bringt, fordert nicht den Sturz der zaristischen Regie-rung, stellt nicht die Losung einer provisorischen Regierung auf und be-steht nicht auf realen Garantien dafür, daß die Wahlen vollkommen freiund korrekt durchgeführt werden und daß die Vertreterversammlung zueiner tatsächlich vom ganzen Volk gewählten und zu einer tatsächlich kon-stituierenden Versammlung wird. Im Grunde erstrebt die liberale Bour-

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W.l£enin

geoisie, diese einzige ernsthafte soziale Stütze d er „Osw oboshde nije"-

Richtung, einen möglichst friedlichen Ausgleich zwischen dem Zaren unddem revolutionären Volk, und zwar einen solchen Ausgleich, bei dem ihr,der Bourgeoisie, am meisten, dem revolutionären Volk dagegen, dem Pro-letariat und der Bauernschaft, am wenigsten Macht zuteil würde.

So ist die politische Lage im gegebenen Augenblick. Das sind die dreipolitischen Hauptrichtungen, die den drei sozialen Hauptkräften des heu-tigen Rußlands entsprechen. Darüber, wie die „Oswoboshdenzen" ihreHalbschlächtigkeit, d. h. direkter und einfacher gesagt, ihre der Revolutiongegenüber abtrünnige, verräterische Politik mit demokratisch klingenden

Phrasen bemänteln, haben wir im „Proletari" schon des öfteren gespro-chen (Nr. 3, 4 und 5)*. Betrachten wir nunmehr, wie die Sozialdemokra-ten den Aufgaben des Augenblicks Rechnung tragen. Ausgezeichnetes M a-terial bilden in dieser Hinsicht die beiden Resolutionen, die erst unlängstvom III. Parteitag derSDAPR und von der „Konferenz" des abgespaltenenTeils der Partei angenommen wurden. Die Frage, welche dieser beidenResolutionen den politischen Augenblick richtiger beurteilt und die Taktikdes revolutionären Proletariats richtiger bestimmt, hat größte Bedeutung,und jeder Sozialdemokrat, der seine Pflichten als Propagandist, Agitator

und Organisator verantwortungsbewußt erfüllen will, muß sich unter völ-liger Beiseitelassung von Erwägungen, die nicht zur Sache gehören, mitallem Ernst über diese Frage Klarheit verschaffen.

Unter der Taktik einer Partei versteht man ihr politisches Verhaltenoder den Charakter, die Richtung, die Methoden ihrer politischen Tätig-keit. Taktische Resolutionen werden auf einem Parteitag ange nom men , umdas politische Verhalten der Partei als Ganzes im Hinblick auf neue Auf-gaben oder angesichts einer neuen politischen Situation genau festzulegen.Eine solche neue Situation ist durch die in Rußland begonnene Revolution,

das heißt den vollständigen, entschiedenen und offenen Bruch zwischen dergigantischen Me hrhe it des Volkes un d de r zaristischen Regierung geschaf-

fen worde n. Die neue Frage besteht darin, welches die praktischen M eth o-den sind, eine wirklich vom g anze n Volk gew ählte, wirklich kon stituieren deVersammlung einzuberufen. (Theoretisch ist die Frage einer solchen Ver-sammlung schon längst und vor allen anderen Parteien von der Sozial-demokratie in ihrem Parteiprogramm offiziell gelöst worden.) Hat das

* Siehe W erk e, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 452—460, 477—190, russ. Die Red.

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratisdien Revolution 9

Volk mit der Regierung gebrochen und sind sich die Massen der Not-

wendigkeit, eine neue Ordnung zu errichten, bewußt geworden, so muß diePartei, die sich das Ziel gesetzt hat, die Regierung zu stürzen, notwen-digerweise da rüber nachdenken, was für eine Regierung an die Stelle deralten, der zu stürzenden Regierung treten soll. Es taucht die neue Frageder provisorischen revolutionären Regierung auf. Um diese Frage erschöp-fend zu beantworten, muß die Partei des klassenbewußten Proletariatsklarstellen: erstens die Bedeutung der provisorischen revolutionären Re-gierung in der vor sich gehenden Revolution und im gesamten Kampf desProletariats übe rhau pt; zweitens ihr eigenes Verhältnis zur provisorischen

revolutionären Regierung; drittens die genauen Bedingungen für eine 7eil-nahme der Sozialdemokratie an dieser Regierung; viertens die Bedingun-gen für einen Druck auf diese Regierung von unten, falls die Sozialdemo-kratie sich an ihr nicht beteiligt. Nur wenn alle diese Fragen geklärt sind,wird die politische Haltung der Partei in dieser Beziehung eine prinzipielle,klare und feste sein.

Betrachten wir nun, wie diese Fragen in der Resolution des III. Par-teitags der SDAPR gelöst werden. Hier der volle Wortlaut dieser Resolu-tion:

„Resolution über die provisorische revolutionäre Regierung.In der Erwägung,1. daß sowohl die unmittelbaren Interessen des Proletariats als auch

seine Interessen im Kampf für die sozialistischen Endziele die möglichstvolle politische Freiheit und folglich die Ersetzung der absolutistischen Re-gierungsform durch die demokratische Republik erfordern,-

2. daß die Errichtung der demokratischen Republik in Rußland nur alsErgebnis eines siegreichen Volksaufstands möglich ist, dessen Organ eineprovisorische revolutionäre Regierung sein wird, die allein fähig ist, die

volle Freiheit de r Wahlagitation zu gewährleisten und auf Grund des all-gemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts eine konstituie-rende Versammlung einzuberufen, die wirklich den Willen des Volkes zumAusdruck bringt,-

3. daß diese demokratische Umwälzung in Rußland bei der gegebenenökonomischen Struktur der Gesellschaft die Herrschaft der Bourgeoisienicht schwächen, sondern stärken wird, und daß diese in einem bestimm-ten Augenblick unweigerlich mit allen Mitteln versuchen wird, dem Pro-

2 Lenin, We rke, Bd. 9

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10 W J. Centn

letariat Rußlands möglichst viele Errungenschaften der revolutionären

Periode zu entreißen —beschließt der III. Parteitag der SDAPR:a) man muß in der Arbeiterklasse eine konkrete Vorstellung verbreiten

über den wahrscheinlichsten Verlauf der Revolution und über die Not-wendigkeit, daß in einem bestimmten Augenblick eine provisorische revo-lutionäre Regierung entsteht, von der das Proletariat die Verwirklichungaller nächsten politischen und ökonomischen Forderungen unseres Pro-gramms (Minimalprogramm) verlangen wird ;

b) je nach dem Kräfteverhältnis und den anderen Faktoren, die im vor-

aus nicht genau bestimmt werden können, ist die Teilnahme von Bevoll-mächtigten unserer Partei an der provisorischen revolutionären Regierungzu dem Zweck zulässig, alle konterrevolutionären Anschläge schonungsloszu bekämpfen und die selbständigen Interessen der Arbeiterklasse zuwahren;

c) die unerläßliche Vorbedingung für eine solche Teilnahme ist diestrenge Kontrolle der Partei über ihre Bevollmächtigten und die unent-wegte Wahrung der Unabhängigkeit der Sozialdemokratie, die die voll-ständige sozialistische Umwälzung anstrebt und insofern allen bürger-

lichen Parteien unversöhnlich feindlich gegenübersteht;d) unabhängig davon, ob eine Teilnahme der Sozialdemokratie an der

provisorischen revolutionären Regierung möglich sein wird, ist in den brei- •

testen Schichten des Proletariats der G edanke zu propagieren, daß das be-waffnete und von der Sozialdemokratie geführte Proletariat einen ständi-gen Druck auf die provisorische Regierung ausüben muß, um die revolutio-nären Errungenschaften zu verteidigen, zu festigen und zu erweitern."

2. WA S SA G T D IE RESO LU TIO N D ES I I I .PA RTEITA G SDER SDAPR ÜBER DIE

• PRO V ISO RISCH E REV O LU TIO N Ä RE REG IERU N G ?

Die Resolution des III. Parteitags der SDAPR ist, wie man aus ihrerÜberschrift sieht, voll und ganz der Frage der provisorischen revolutionä-ren Regierung gewidmet. Das bedeutet, daß die Teilnahme der Sozial-demokratie an der provisorischen revolutionären Regierung als eine Teil-

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 11

frage mit inbegriffen ist. Anderseits ist nur von der provisorischen revo-

lutionären Regierung und von nichts anderem die Rede,- die Frage etwa„der Eroberung der Macht" schlechthin u. dgl. wird hier also gar nichtangeschnitten. Hat der Parteitag richtig gehandelt, als er diese und ähnlicheFragen ausschloß? Zw eifellos hat er richtig gehandelt, denn solche Fragenwerden von der politischen Lage in Rußland keineswegs auf die Tagesord-nung gesetzt. Im G egenteil, das ganze Volk hat den Sturz der Selbstherr-schaft und die Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf dieTagesordnung gesetzt. Auf Parteitagen sind nicht jene Fragen zur Ent-scheidung zu stellen, die der eine oder andere Literat zu gelegener oder

ungelegener Zeit zur Sprache bringt, sondern jene, die kraft der Bedingun-gen der gegebenen Lage und infolge des objektiven Ganges der gesell-schaftlichen Entwicklung ernste politische Bedeutung haben.

Welche Bedeutung ha t eine provisorische revolutionäre Regierung in derjetzigen Revolution und im allgemeinen Kampf des Proletariats? Die Par-teitagsresolution erläutert das, indem sie gleich eingangs auf die Notwen-digkeit der „möglichst vollen politischen Freiheit" sowohl vom Gesichts-punk t der unm ittelbaren Interessen des Proletariats als auch vom Gesichts-punkt der „sozialistischen Endziele" hinweist. Volle politische Freiheit er-

fordert aber, daß die zaristische Selbstherrschaft durch die demokratischeRepublik ersetzt wird, wie das schon in unserem Parteiprogramm dar-gelegt ist. Es ist logisch und prinzipiell notwendig, in der Parteitagsresolu-tion die Losung der demokratischen Republik zu betonen, denn das Prole-tariat als Vorkämpfer der Demokratie erstrebt eben die volle Freiheit;außerdem ist es im gegebenen Augenblick um so zweckmäßiger, sie zu be-tonen, als bei uns gerade jetzt unter der Flagge des „Demokratismus"Monarchisten auftreten, nämlich die sog. konstitutionell-„demokratische"oder „Befreiungs" -Partei. U m die Republik zu errichten, ist zweifellos

eine Versammlung der Volksvertreter notwendig, und zwar unbedingteine (auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl-rechts) vom ganzen Volk gewählte und konstituierende Versammlung. Daswird denn auch weiter in der Resolution des Parteitags gesagt. Doch dieResolution beschränkt sich nicht darauf. Um eine neue Ordnung zu er-richten, die „wirklich den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt", ge-nügt es nicht, die Vertreterversammlung als konstituierende zu bezeichnen.Diese Versammlung m uß auch die Macht und die Kraft haben, „zu konsti-

2*

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12 IV.1. Lenin

tuieren". Aus dieser Erkenntnis heraus beschränkt sich die Parteitagsreso-

lution nicht auf die formale Losung der „konstituierenden Versammlung",sondern fügt auch die materiellen Bedingungen hinzu, die es dieser Ver-sammlung einzig und allein ermöglichen, ihre Aufgabe wirklich zu erfül-len. Ein solcher Hinweis auf die Bedingungen, unter denen diese den W or-ten nach konstituierende Versammlung in der Tat eine konstituierendewerden kann, ist dringend erforderlich, denn die liberale Bourgeoisie inGestalt der konstitutionell-monarchistischen Partei verdreht, wie wir schonmehrmals nachgewiesen haben, wissentlich die Losung der vom ganzenVolk gewählten konstituierenden Versammlung und würdigt sie zur leeren

Phrase herab.Die Resolution des Parteitags besagt, daß einzig und aWein eine provi-

sorische revolutionäre Regierung, und zwar eine solche, die das Organeines siegreichen Volksaufstands sein wird, die volle Freiheit der Wahl-agitation gewährleisten und eine Versammlung einberufen kann, die wirk-lich den Willen des Volkes zum Ausdruck bring t. Ist diese These richtig?W er das bestreiten wollte, der m üßte behaupten, die zaristische Regierungbrächte es fertig, der Reaktion nicht die Hand zu bieten, sie sei imstande,bei den Wahlen neu tral zu bleiben, sie könne dafür sorgen, daß der W ille

des Volkes wirklich zum Ausdruck kommt. Derartige Behauptungen sindso unsinnig, daß niemand daran denkt, sie offen zu vertreten, aber ins-geheim werden sie, unter liberaler Flagge, gerade von unseren Oswobosh-denzen eingeschmuggelt. Irgend jemand muß die konstituierende Ver-sammlung einberufen; irgend jemand muß die Freiheit und die korrekteDurchführung der Wahlen sichern; irgend jemand muß auf diese Ver-sammlung sämtliche Machtbefugnisse übertragen: Nur eine revolutionäreRegierung, die das Organ des Aufstands ist, kann den völlig aufrichtigenWillen und die Kraft haben, alles zu tun, um das zu verwirklichen. Die

zaristische Regierung wird dem unvermeidlich entgegenwirken. Eine libe-rale Regierung, die mit dem Zaren ein Kompromiß eingegangen ist undsich nicht voll und ganz auf den Volksaufstand stützt, wäre weder fähig,das aufrichtig zu wollen, noch könnte sie es verwirklichen, selbst wenn siees noch so aufrichtig wünschte. Die Parteitagsresolution gibt folglich dieeinzig richtige und durchaus konsequente demokratische Losung.

Aber die Bedeutung der provisorischen revolutionären Regierung würdeunvollständig und unrichtig eingeschätzt, wenn man den Klassencharakter

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der demokratischen Umwälzung außer acht ließe. Darum fügt die Resolu-

tion hinzu, daß die Umwälzung die Herrschaft der Bourgeoisie stärkenwird. Das ist bei der gegebenen, d. h. kapitalistischen, ökonomischenStruktur der Gesellschaft unvermeidlich. Wird aber die Herrschaft derBourgeoisie über ein politisch einigermaßen freies Proletariat gestärkt, soführt das unweigerlich zu einem erb itterten Kampf um die Macht zwischenihnen, zu verzweifelten Versuchen der Bourgeoisie, „dem Proletariat dieErrungenschaften der revolutionären Periode zu entreißen". Das Prole-tariat darf deshalb, während es allen voran und an der Spitze aller für dieDemokratie kämpft, keinen Augenblick lang die im Schöße der bürger-

lichen Demokratie verborgenen neuen W idersprüche und den neuen Kampfvergessen.

Die Bedeutung der provisorischen revolutionären Regierung ist mithinin dem von uns untersuchten Teil der Resolution vollauf gewürdigt: so-wohl in ihrem Verhältnis zum Kampf um die Freiheit und die Republikals auch in ihrem Verhältnis zur konstituierenden Versammlung und zurdemokratischen Umwälzung, die den Boden für den neuen Klassenkampfvorbereitet.

Es fragt sich weiter, welche Stellung soll das Proletariat überhaupt

gegenüber der provisorischen revolutionären Regierung einnehmen? DieResolution des Parteitags antwortet darauf vor allem mit dem direkten Ratan die Partei, in der Arbeiterklasse die Überzeugung zu verbreiten, daßeine provisorische revolutionäre Regierung notwendig ist. Die Arbeiter-klasse muß sich dieser Notwendigkeit bewußt werden. Während die„demokratische" Bourgeoisie die Frage des Sturzes der zaristischen Regie-rung im dunkeln läß t, müssen wir diese Frage in den V ordergrund rückenund auf der Notwendigkeit einer provisorischen revolutionären Regierungbestehen. N icht genug damit, müssen wir ein Aktionsprogramm dieser Re-

gierung aufstellen, das den objektiven Bedingungen des gegebenen histo-rischen Augenblicks und den Aufgaben der proletarischen Demokratie ent-spricht. Dieses Programm ist das ganze Minimalprogramm unserer Partei,das Programm der nächsten politischen und ökonomischen Umgestaltun-gen, die einerseits auf dem Boden der jetzigen gesellschaftlich-ökonomi-schen Verhältnisse vollauf durchführbar und anderseits für den weiterenSchritt vorwärts, für die Verwirklichung des Sozialismus notwendigsind.

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Die Resolution schafft somit volle Klarheit über den Charakter und dasZiel der provisorischen revolutionären Regierung. Ihrer Entstehung undihrem grundlegenden Charakter nach muß diese Regierung das Organ desVolksaufstands sein. Ihrer formellen Bestimmung nach muß sie das W erk-zeug zur Einberufung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierendenVersammlung sein. Dem Inhalt ihrer Tätigkeit nach m uß sie das Minimal-programm der proletarischen Demokratie verwirklichen, das allein geeig-net ist, die Interessen des Volkes, das sich gegen die Selbstherrschaft er-hoben hat, zu sichern.

Man könnte einwenden, daß die provisorische Regierung, eben weil sie

provisorisch ist, kein positives Programm durchführen kann, das nochnicht vom ganzen Volk gebilligt ist. Ein solcher Einwand wäre bloß einSophismus von Reaktionären und „Selbstherrschaftlern". Von der Durch-führung eines positiven Programms Abstand nehmen hieße die aus denZeiten der Leibeigenschaft stammenden Zustände der verrotteten Selbst-herrschaft dulden. Solche Zustände dulden könnte nur eine Regierung vonVerrätern an der Revolution, nicht aber eine Regierung, die das Organ desVolksaufstands ist. Es wäre doch ein H ohn, wenn jemand unter dem Vor-wand, es sei noch fraglich, ob die konstituierende Versammlung die Ver-

sammlungsfreiheit anerkenne, vorschlagen würde, so lange auf die prak-tisch e Verwirklichung der Versammlungsfreiheit zu verzichten, bis die An-erkennung dieser Freiheit durdi die konstituierende Versammlung erfolgtist! Ein ebensolcher Hohn ist der Einwand gegen die unverzügliche Ver-wirklichung des Minimalprogramms durch die provisorische revolutionäreRegierung.

Es sei schließlich noch bem erkt, d aß die Resolution, indem sie der provi-sorischen revolutionären Regierung die Verwirklichung des Minimalpro-gramms zur Aufgabe macht, eben dadurch die unsinnigen, halbanarchisti-

schen Ideen von der unm ittelbaren Verwirklichung des Maximalprogramms,von der Eroberung der Macht zum Zweck der sozialistischen Umwälzungausschaltet. Der Grad der ökonomischen Entwicklung Rußlands (die ob-jektive Bedingung) und der Grad des Klassenbewußtseins und der Organi-siertheit der breiten Massen des Proletariats (die subjektive Bedingung,die mit der objektiven unlöslich verbunden ist) machen eine sofortige voll-ständige Befreiung der Arbeiterklasse unmöglich. Nur ganz unwissendeLeute können den bürgerlichen Charakter der vor sich gehenden demokra-

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tischen Umwälzung ignorieren; nur ganz naive Optimisten können ver-

gessen, wie wenig die Masse der Arbeiter bisher von den Zielen des Sozia-lismus und den Mitteln zu seiner Verwirklichung weiß. Und wir sind dochalle überzeugt, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiterselbst sein kann. Ohne Klassenbewußtsein und ohne Organisiertheit derMassen, ohne ihre Schulung und Erziehung durch den offenen Klassen-kampf gegen die gesamte Bourgeoisie kann von der sozialistischen Revolu-tion keine Rede sein. Und als Antwort auf die anarchistischen Einwände,daß wir angeblich die sozialistische Umwälzung hinausschieben, werdenwir sagen: W ir schieben sie nicht hinaus, sondern machenden ersten Schritt

zu ihr auf die einzig mögliche Weise und auf dem einzig richtigen Wege,nämlich auf dem Wege der demokratischen Republik. Wer auf einemanderen Weg als dem des politischen Demokratismus zum Sozialismuskomm en will, der gelangt unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohlim ökonomischen als auch im politischen Sinne absurd und reaktionär sind.Sollten uns manche Arbeiter im entsprechenden Augenblick fragen, wes-halb w ir denn nicht das Maximalprogramm verwirklichen, so werden wirihnen mit dem Hinweis darauf antworten, wie fremd die demokratischgestimmten Volksmassen dem Sozialismus noch gegenüberstehen, wie un-

entwickelt die Klassengegensätze, wie unorganisiert die Proletarier nochsind. Organisiert erst einmal Hunderttausende Arbeiter in ganz Rußland,weckt unter den Millionen die Sympathie für euer Programm! Versuchtdas zu tun, beschränkt euch nicht auf tönende, aber hohle anarchistischePhrasen — und ihr werdet sofort sehen, daß die Verwirklichung dieserOrganisation, daß die Verbreitung dieser sozialistischen Aufklärung vonder möglichst vollständigen Verwirklichung der demokratischen Um gestal-tungen abhängig ist.

Gehen wir weiter. Ist einmal die Bedeutung der provisorischen revolu-

tionären Regierung und das Verhältnis des Proletariats zu ihr klargestellt,so taucht folgende Frage auf: Ist unsere Teilnahme an dieser Regierung(die Aktion von oben) zulässig und unter welchen Bedingungen? Wiemuß unsere Aktion von unten beschaffen sein? Die Resolution gibt prä-zise Antworten auf diese beiden Fragen. Sie erklärt entschieden, daß dieTeilnahme der Sozialdemokratie an einer provisorischen revolutionärenRegierung (in der Epoche der demokratischen Umwälzung, in der Epochedes Kampfes für die Republik) prinzipiell zulässig ist. Mit dieser Erklä-

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rung grenzen wir uns unwiderruflich sowohl von den Anarchisten ab, diediese Frage prinzipiell negativ beantworten, als auch von den Nachtrab-politikern der Sozialdemokratie (vom Schlage Martynows und der Neu-iskristen), die uns m it der Perspektive einer Lage sdbredken wollten, in dersich diese Teilnahme für uns als notwendig erweisen könnte. Mit dieserErklärung hat der III. Parteitag der SDAPR unwiderruflich den Gedan-ken der neuen „Iskra" verworfen, daß die Teilnahme der Sozialdemokra-ten an einer provisorischen revolutionären Regierung eine Spielart desMillerandismus7 und prinzipiell unzulässig sei, weil sie eine Sanktionie-rung der bürgerlichen Ordnung bedeute usw.

Es versteht sich jedoch von selbst, daß die Frage der prinzipiellen Zu-lässigkeit noch nicht die Frage der praktischen Zweckmäßigkeit entscheidet.Unter welchen Bedingungen ist diese vom Parteitag anerkannte neueForm des Kampfes, des Kampfes „von oben", zweckmäßig? Selbstver-ständlich besteht jetzt keine Möglichkeit, über die konkreten Bedingungenwie das Kräfteverhältnis usw. zu sprechen, und die Resolution lehnt esnatürlich ab, diese Bedingungen im voraus zu bestimmen. Kein vernünf-tiger Mensch wird es auf sich nehmen, im gegenwärtigen Augenblick überdie uns interessierende Frage irgend etwas vorauszusagen. Charakter und

Ziel unserer Teilnahme können und müssen festgelegt werden. Die Reso-lution tut das auch, indem sie auf zwei Ziele der Teilnahme hinweist:1. auf die schonungslose Bekämpfung konterrevolutionärer Anschläge und2. auf die Wahrung der selbständigen Interessen der Arbeiterklasse. Ineiner Zeit, da die liberalen Bourgeois eifrig von der Mentalität der Reak-tion zu reden beginnen (siehe den äußerst aufschlußreichen „OffenenBrief" des He rrn Struve in N r. 71 des „Oswoboshdenije") und das revo-lutionäre Volk einzuschüchtern und zur Nachgiebigkeit gegenüber derSelbstherrschaft zu bewegen suchen — in einer solchen Zeit ist es für die

Partei des Proletariats besonders angebracht, an die Aufgabe des wirk-lichen Krieges gegen die Konterrevolution zu erinnern. Die großen Fragender politischen Freiheit und des Klassenkampfes werden letzten Endes nu rdurch Gewalt entschieden, und wir müssen für die Vorbereitung, für dieOrganisierung dieser Gewalt und für ihre aktive, nicht nur defensive, son-dern auch offensive Anwendung Sorge tragen. Die lange Epoche der poli-tischen Reaktion, die seit der Pariser Kommune in Europa fast ununter-brochen herrscht, hat uns zu sehr mit dem Gedanken der Aktion nur „von

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unten" vertraut gemacht, hat uns zu sehr an den Anblick nur defensiver

Kämpfe gewöhnt. Wir sind jetzt zweifellos in eine neue Epoche eingetre-ten; die Periode der politischen Erschütterungen und Revolutionen hat be-gonnen. In einer solchen Periode, wie Rußland sie jetzt durchlebt, ist esnicht statthaft, sich auf die alte Schablone zu beschränken. Man muß dieIdee der Aktion von oben propagieren, man mu ß sich auf die energischstenAngriffsaktionen vorbereiten, man muß die Bedingungen und Formen sol-cher Aktionen studieren. Die Parteitagsresolution stellt zwei dieser Be-dingungen in den Vordergrund: Die eine bezieht sich auf die formale Seiteder Teilnahme der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären

Regierung (strenge Kontrolle der Partei über ihre Bevollmächtigten), dieandere betrifft unmittelbar den Charakter dieser Teilnahme (keinen Augen-blick lang die Ziele der vollständigen sozialistischen Umwälzung aus demAuge verlieren).

Nachdem die Resolution die Politik der Partei bei der Aktion „vonoben" — diesem neuen, bislang fast unbekannten Kampfmittel — somit all-seitig klargestellt hat, sieht sie auch den Fall vor, daß es uns nicht gelingt,von oben zu handeln. Auf die provisorische revolutionäre Regierung vonunten her einzuwirken, sind wir unter allen Umständen verpflichtet. Um

einen solchen Drude von unten ausüben zu können, muß das Proletariatbewaffnet sein — denn im revolutionären Augenblick treiben die Dingebesonders schnell zum offenen Bürgerkrieg — und unter der Führung derSozialdemokratie stehen. Das Ziel seines bewaffneten Drucks ist, „dierevolutionären Errungenschaften zu verteidigen, zu festigen und zu er-weitern", d. h. jene Errungenschaften, die vom Standpunkt der proletari-schen Interessen in der Verwirklichung unseres ganzen M inimalprogrammsbestehen müssen.

Damit wollen wir die kurze Analyse der Resolution des III. Parteitags

über die provisorische revolutionäre Regierung abschließen. Wie der Lesersieht, schafft diese Resolution Klarheit über die Bedeutung der neuen Frage,über die Stellung der Partei des Proletariats zu dieser Frage und über diePolitik der Partei sowohl innerhalb als auch außerhalb der provisorischenrevolutionären Regierung.

Sehen wir uns jetzt die entsprechende Resolution der „Konferenz" an.

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3. WAS IST„DER EN TSC HE IDE ND E SIEG DER REVOLUTIONÜBER DEN ZARISMUS"?

Die Resolution der „Konferenz" behandelt „die Eroberung der TAacbtund die Teilnahme an der provisorischen Regierung".* Schon hinter dieserFragestellung verbirgt sich Konfusion, wie wir gezeigt haben. Einerseitswird die Frage eingeengt: Es ist nur die Rede von unserer Teilnahme ander provisorischen Regierung und nicht überhaupt von den Aufgaben derPartei in bezug auf die provisorische revolutionäre Regierung. Anderseitswerden zwei völlig verschiedenartige Dinge durcheinandergeworfen: Die

Frage unserer Teilnahm e in einem bestimmten Stadium der demokratischenUm wälzun g und die Frage der sozialistischen Um wälzung. In W irklichkeitist die „Eroberung der Macht" durch die Sozialdemokratie eben die sozia-listische Umwälzung und kann nichts anderes sein, wenn man diese Wortein ihrem direkten und landläufigen Sinne gebraucht. Sollen sie jedoch imSinne der E roberu ng d er Ma cht nicht für die sozialistische, sondern für diedemokratische Umwälzung verstanden werden, welchen Sinn hat es dann,nicht nur von der Teilnahme an der provisorisdien revolutionären Regie-rung, sondern auch von der „Eroberung der Macht" schlechthin zu reden?

Offenbar wußten unsere „Konferenzler" selbst nicht recht, wovon sieeigentlich reden sollen: von der demokratischen oder von der sozialisti-schen Umwälzung. Wer die Literatur über diese Frage verfolgt hat, derweiß, daß den Anfang mit dieser Konfusion Gen. Martynow in seinen be-rühmten „Zwei Diktaturen" gemacht hat. Die Neuiskristen erinnern sich,nicht gern d aran , wie die Frage (bereits vor dem 9. Jan uar ) in diesemMusterelaborat der Nachtrabpolitik gestellt worden ist , aber sein ideolo-gischer Einfluß auf die Konferenz unterliegt keinem Zweifel.

Doch lassen wir die Überschrift der Resolution beiseite. Ihr Inhalt zeigt

uns Fehler, die unvergleichlich tiefer und ernster sind. Hier der erste Teil:„Der entscheidende Sieg der Revolution über den Zarismus kann ge-

kennzeichnet sein entweder durch die Errichtung einer aus einem sieg-reichen Volksaufstand hervorgegangenen provisorischen Regierung oder

* Den vollen Wortlaut dieser Resolution kann der Leser aus den Zitatenrekonstruieren, die auf S. 400, 403, 407, 431 und 433 dieses Sam melbandsangeführt sind. (Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Siehe den vor-liegenden Band, S. 18/19, 25, 31 , 67 und 71. T>ie Jled.)

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durch die revolutionäre Initiative dieser oder jener Vertretungskörper-

schaft, die unter dem unmittelbaren revolutionären Druck des Volkes be-schließt, eine vom ganzen Volk gewählte konstituierende Versammlung zuorganisieren."

M an sagt uns also, der entscheidende Sieg der Revolution über den Za-rismus könne sowohl ein siegreicher Aufstand sein als auch... der Be-schluß einer Vertretungskörperschaft, eine konstituierende Versammlungzu organ isieren! W as? W ie? Der entscheidende Sieg könnte gekennzeich-net sein durch den „Beschluß", eine konstituierende Versammlung zu or-ganisieren?? Und ein solcher „Sieg" wird der Errichtung einer provisori-

schen Regierung gleichgestellt, die „aus einem siegreichen Volksaufstandhervorgegangen" ist!! Die Konferenz hat nicht gemerkt, daß der siegreicheVolksaufstand und die Errichtung einer provisorischen Regierung in derTat den Sieg der Revolution bedeuten, während der „Beschluß", eine kon-stituierende Versammlung zu organisieren, nur in Worten den Sieg derRevolution bedeutet.

Die Konferenz der Menschewiki, der Neuiskristen, ist in denselbenFehler verfallen, in den die Liberalen, die Oswoboshdenzen, ständig ver-fallen. Die Oswoboshdenzen dreschen Phrasen über die „konstituierende"

Versammlung, schließen verschämt die Augen vor der Tatsache, daß dieMacht in den Händen des Zaren bleibt, und vergessen dabei, daß man zur„Konstituierung" die Kraft haben muß, zu konstituieren. Die Konferenzhat auch vergessen, daß von dem „Beschluß" gleichviel welcher Vertreterbis zur Verwirklichung dieses Beschlusses ein weiter Weg ist. Die Kon-ferenz hat auch vergessen, daß, solange die Macht in den Händen desZaren bleibt, alle beliebigen Beschlüsse gleichviel welcher Vertreter einebenso leeres und erbärmliches Geschwätz bleiben werden, wie es die „Be-schlüsse" des in der Geschichte der deutschen Revolution von 1848 so be-rühmten Frankfurter Parlaments geblieben sind. Karl Marx, der Vertreterdes revolutionären Proletariats, hat in seiner „Neuen Rheinischen Zei-tung" 8 die Frankfurter liberalen „Oswoboshdenzen" eben deshalb mit soschonungslosem Sarkasmus gegeißelt, weil sie schöne Worte redeten, aller-lei demokratische „Beschlüsse" faßten, allerlei Freiheiten „konstituierten",in Wirklichkeit aber die Macht in den Händen des Königs ließen und kei-nen bewaffneten Kampf gegen die Streitkräfte organisierten, die demKönig zur Verfügung standen. Und während die Frankfurter Oswobosh-

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denzen schwatzten, gewann der König Zeit , seine militärischen Kräfte

zu stärken, und die Konterrevolution schlug, gestützt auf die reale Macht,die Demokraten mitsamt ihren herrlichen „Beschlüssen" aufs Haupt.

Die Konferenz hat dem entscheidenden Sieg etwas gleichgesetzt, wofürgerade die entscheidende Voraussetzung des Sieges fehlt . Wie konntenSozialdemokraten, die das republikanische Programm unserer Partei an-erkennen, in diesen Fehler verfallen? Um diese seltsame Erscheinung zuverstehen, muß man sich der Resolution des III. Parteitags über den ab-gespaltenen Teil der Partei zuwenden.* In dieser Resolution wird darauf

* Hier der volle Wortlaut dieser Resolution: „Der Parteitag stellt fest, daßsich in der SD APR seit ihrem Kampf gegen den Ökonomismus bis auf den heu-tigen Tag Schattierungen erhalten haben, die dem Ökonomismus in verschie-denem Grade und in verschiedener Beziehung verwandt und durch die all-gemeine Tenden z gekennzeichnet sind, die Bedeutung der Elemente der Bewußt-heit im proletarischen Kampf herabzusetzen und sie den Elementen der Spon-taneität unterzuordnen. Die Repräsentanten dieser Schattierungen vertretenin der Organisationsfrage theoretisch das der planmäßigen Ausgestaltung derParteiarbeit widersprechende Prinzip der Organisation als Prozeß, während siein der Praxis in sehr vielen Fällen ein System der Abweichungen von der Par-

teidisziplin durchführen und in anderen Fällen die gegenwärtig einzig mög-lichen Grundlagen der Parteibindung dadurch zu untergraben suchen, daß sieohne Rücksicht auf die objektiven Bedingungen der russischen Wirklichkeiteine weitgehende Anwendung des Prinzips der Wählbarkeit predigen, wobeisie sich an den am wenigsten bewußten Teil der Partei wenden. In taktischenFragen zeigen sie das Bestreben, das Ausmaß der P arteiarbeit einzuengen, in-dem sie sich dagegen aussprechen, daß die Taktik der Partei gegenüber denbürgerlich-liberalen Parteien völlig unabhängig ist, daß die Übernahme derorganisierenden Rolle im Volksaufstand durch unsere Partei möglich und wün-schenswert ist und daß unsere Partei unter bestimmten Bedingungen an einer

provisorischen demokratisch-revolutionären Regierung teilnimmt.Der Parteitag fordert alle Parteimitglieder auf, gegen derartige teilweiseAbweichungen von den Prinzipien der revolutionären Sozialdemokratie allent-halben einen energischen ideologischen Kampf zu führen, vertritt aber gleich-zeitig die Meinung, daß die Zugehörigkeit von Personen, die sich solchen Auf-fassungen mehr oder weniger anschließen, zu den Parteiorganisationen statt-haft ist, vorausgesetzt, daß sie die Parteitage und das Parteistatut anerkennenund sich voll und ganz der Parteidisziplin fügen." (Fußnote des Verfassers zurAusgabe von 1907. Die Red.)

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hingewiesen, daß in unserer Partei verschiedene, „dem Ökonomismus

verwandte" Strömungen weiterleben. Unsere Konferenzler (fürwahr,nicht umsonst stehen sie unter der ideologischen Führung Martynows)urteilen über die Revolution ganz in demselben Geiste, wie die Ökono-misten über den politischen Kampf oder den Achtstundentag geurteilthaben. Die Ökonomisten setzten immer gleich die „Theorie der Stadien"in Bewegung: 1. Kampf um Rechte; 2. politische Agitation; 3. politischerKampf — oder : 1. Zehnstundentag; 2. Neunstundentag; 3. Achtstunden-tag. Welche Ergebnisse diese „Taktik als Prozeß" zeitigte, ist allen zurGenüge bekannt. Jetzt kommt man uns mit dem Vorschlag, auch die

Revolution im voraus fein säuberlich in Stadien einzuteilen: 1. der Zarberuft eine Vertretungskörperschaft ein; 2. diese Vertretungskörperschaft„beschließt" unter dem Druck des „Volkes", eine konstituierende Ver-sammlung zu organisieren; 3. ...über das dritte Stadium sind sich dieMenschewiki noch nicht einig geworden; sie haben vergessen, daß derrevolutionäre Druck des Volkes auf den konterrevolutionären Druck desZarismus stößt und daß infolgedessen entweder der „Beschluß" unver-wirklicht bleibt oder die Sache wiederum durch den Sieg oder die Nieder-lage des Volksaufstands entschieden wird. Die Resolution der Konferenzähnelt aufs Haar folgendem Gedankengang der Ökonomisten: Der ent-scheidende Sieg der Arbeiter kann entweder durch die revolutionäre Ver-wirklichung des Achtstundentags oder durch die Gewährung des Zehn-stundentags und durch den „Beschluß", zum Neunstundentag überzu-gehen, gekennzeichnet sein... Haargenau dasselbe!

Man kann uns vielleicht entgegnen, daß die Verfasser der Resolutionnicht die Absicht hatten, den Sieg des Aufstands dem „Beschluß" einervom Zaren einberufenen Vertretungskörperschaft gleichzusetzen, unddaß sie lediglich die Taktik der Partei für den einen und den anderen Fallvorausbestimmen wollten. Darauf antworten wir: 1. Der Wortlaut derResolution bezeichnet klar und eindeutig den Beschluß einer Vertretungs-körperschaft als „entscheidenden Sieg der Revolution über den Zarismus".Vielleicht ist das die Folge einer nachlässigen Redigierung, die man aufGrund der Protokolle korrigieren könnte, solange sie aber nicht korrigiertist, kann diese Fassung nur einen Sinn haben, und der ist ganz im Qeistdes „Oswobosbdenije". 2. Der den Oswoboshdenzen entsprechende Ge-dankengang, in den die Verfasser der Resolution verfallen sind, tritt in

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anderen Publikationen der Neuiskristen noch unvergleichlich plastischer

zutage. Zum Beispiel im Organ des Tifliser Komitees, dem „Sozialdemo-k r a t " 9 (in georgischer Sprache; von der „Iskra" in Nr. 100 über dengrünen Klee gelob t), versteigt sich der Verfasser d es Artikels „Der SemskiSobor und unsere Taktik" schlankweg zu der Behauptung, daß die „Tak-tik", „die den Semski Sobor" (von dessen Einberufung wir, das wollenwir hinzufügen, noch nichts Genaues wissen!) „zum Mittelpunkt unsererAktion macht" , „für uns vorteilhafter" sei als die „Taktik" des bewaff-

neten Aufstands und der Errichtung einer provisorischen revolutionärenRegierung. Wir werden später noch auf diesen Artikel zurückkommen.

3. Man kann nichts dagegen haben, wenn die Taktik der Partei im vor-hinein erörtert wird sowohl für den Fall des Sieges der Revolution alsauch für den Fall ihrer Niederlage, sowohl für den Fall des erfolgreichenAufstands als auch für den Fall, daß der Aufstand nicht zu einem ernst-haften Faktor werden kann. Es ist möglich, daß es der zaristischen Regie-rung gelingen wird, eine Vertretungskörperschaft einzuberufen, um mitder l iberalen Bourgeoisie handelseins zu werden. Die Resolution desIII. Parteitag s, die das berücksichtigt, spricht direkt vo n „Heuch elpolitik",von „Pseudodemokratismus" und von „karikaturistischen Formen einer

Volksvertretung in der Art des sogenannten Semski Sobor".* Aber die

* Hier der Wortlaut dieser Resolution über das Verhalten zur Taktik derRegierung am Vorabend des Umsturzes:

„In der Erwägung, daß die Regierung zum Zweck der Selbsterhaltung in dergegenwärtigen revolutionären Periode die üblichen Repressalien, die vorwie-gend gegen die klassenbewußten Elemente des Proletariats gerichtet sind, ver-schärft und zugleich 1. versucht, durch Zugeständnisse und Reformverspre-chungen d ie Arbeiterklasse politisch zu demoralisieren und sie dam it vom revolu-tionären Kampf abzulenken; 2. zu dem gleichen Zweck ihre Heuchelpolitik derZugeständnisse in pseudodemokratische Formen kleidet, angefangen mit derAufforderung an die Arbeiter, ihre Vertreter in Komm issionen und Beratungenzu entsenden, und bis zur Schaffung von karikaturistischen Formen einer Volks-vertretung in der Art des sogenannten Semski Sobor; 3. sogenannte Schwarz-hundertschaften organisiert und überhaupt alle reaktionären, unaufgeklärtenoder durch Religions- und Rassenhaß verblendeten Elemente des Volkes gegendie Revolution aufhetzt —

beschließt der III. Par teitag der SDA PR, alle Parteiorganisationen aufzu-fordern:

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Sache ist eben die, daß das nicht in der Resolution über die provisorische

revolutionäre Regierung gesagt wird, denn mit der provisorischen revo-lutionären Regierung hat das nichts zu tun. In diesem Fall wird das Pro-blem des Aufstands und der Errichtung einer provisorischen revolutio-nären Regierung zurückgestellt, modifiziert usw. Doch es handelt sichjetzt nicht darum, daß allerlei Kombinationen möglich sind, daß ebensoSieg wie Niederlage, ebenso direkte Wege wie Umwege möglich sind —

es handelt sich darum, daß es für einen Sozialdemokraten unstatthaft ist,in die Vorstellungen der Arbeiter über den wirklich revolutionären WegVerwirrung hineinzutragen, daß es unstatthaft ist , im Geiste des „Oswo-

boshdenije" als entscheidenden Sieg etwas zu bezeichnen, wofür die grund-legende Voraussetzung des Sieges fehlt. Es ist möglich, daß wir auch denAchtstundentag nicht sofort, sondern nur auf einem langen Umweg er-halten werden, aber was soll man von einem Menschen sagen, der einesolche Ohnmacht, eine solche Schwäche des Proletariats, bei der es nidbtimstande sein wird, die Verschleppung, den Aufschub, den Kuhhandel,den Verrat und die Reaktion zu verhindern, als einen Sieg der Arbeiterbezeichnet? Es ist möglich, daß die russische Revolution mit einer „kon-stitutionellen Fehlgeburt" endet, wie der „Wperjod" * einmal sagte, aberkann das etwa als Rechtfertigung für einen Sozialdemokraten dienen, der

a) die reaktionären Ziele der Regierungszugeständnisse zu entlarven, inder Propaganda nnd Agitation einerseits hervorzuheben, daß sie erzwungenwurden, und anderseits zu betonen, daß es der Selbstherrschaft absolut un-möglich ist, Reformen zu gewähren, die das Proletariat zufriedenstellen;

b) die Wahlagitation auszunutzen, um den Arbeitern den wahren Sinn sol-cher Maßnahmen der Regierung klarzumachen und sie davon zu überzeugen,daß es für das Proletariat notwendig ist, daß auf revolutionärem Wege einekonstituierende Versammlung auf Grund des allgemeinen, gleichen, direktenund geheimen Wahlrechts einberufen wird;

c) das Proletariat zur sofortigen, auf revolutionärem Wege erfolgenden Ver-wirklichung des Achtstundentags und anderer auf der Tagesordnung stehenderForderungen der Arbeiterklasse zu organisieren,-

d) den bewaffneten Widerstand gegen die Aktionen der Schwarzhunderterund überhaupt aller von der Regierung angeleiteten reaktionären Elemente zuorganisieren." (Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

* Die Genfer Zeitung „Wperjod" [Vorwärts] erschien ab Januar 1905 alsOrgan des bolschewistischen Teils der Partei. Von Januar bis Mai kamen

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24 'W. 1 Centn

am Vorabend des entscheidenden Kampfes diese Fehlgeburt als einen

„entscheidenden Sieg über den Za rism us" bezeichnen wü rde? Im schlimm-sten Falle ist es möglich, d a ß wir nicht nu r keine Rep ublik erkäm pfenwerden, sondern daß auch die Verfassung eine illusorische, eine „Schi-powsc he "1 0 sein wird, aber wäre deshalb etwa die Vertuschung unsererrepublikanischen Lo sung durch einen Sozialdemokraten verzeihlich?

Bis zur Vertuschung dieser Losung haben sich die Neuiskristen freilichnoch nicht verstiegen. Aber bis zu welchem Grad bei ihnen der revolutio-näre Geist verflogen ist, bis zu welchem Grad die lebensfremde Räso-niererei ihrem Blick die augenblicklichen Kam pfaufgab en entzog en hat,

ersieht man beso nders anschaulich darau s, daß sie in ihrer Resolution aus-gerechnet vergessen haben, von der Republik zu sprechen! Unglaublich,aber wah r. Alle Losungen der Sozialdemok ratie sind in den verschiedenenResolutionen der Konferenz bestätigt, wiederholt , erläutert und detail-liert, es wurde nicht einmal vergessen, daß die Arbeiter in den BetriebenObleute und Delegierte wählen sollen — nur in der Resolution über dieprovisorische revolutionäre Regierung fand sich keine Gelegenheit , dieRepublik zu erwähnen. Vom „Sieg" des Volksaufstands, von der Errich-tung einer provisorischen Regierung sprechen und nicht auf den Zusam-

menhang dieser „Schri t te" und Akte mit der Erkämpfung der Republikhinweisen — das heißt eine Resolution schreiben, nicht um den Kampf desProletariats zu leiten, sondern um hinter der proletarischen Bewegungeinherzutrotten.

Fazit: Der erste Teil der Resolution hat 1. absolut keine Klarheit dar-über geschaffen, welche Bedeutung der provisorischen revolutionären Re-gierung im Kampf um die Republik und für die Gewährleistung einerwirklich vom ganzen Volk gewählten und wirklich konstituierenden Ver-sammlung zukommt, und hat 2. direkte Verwirrung in das demokratische

Bewußtsein des Proletariats hineingetragen, weil er eine Sachlage, bei dergerade die grun dlegende Voraussetzun g für einen wirklichen Sieg noch fehlt ,dem entscheidenden Sieg der R evolution üb er den Z arism us gleichsetzt.

18 Nummern heraus. Vom Mai an erschien als Zentralorgan der SDAPR aufBeschluß des III. Parteitag s der SDAPR sta tt des „Wperjod" der „Proletar i".(Der III. Parteitag fand im Mai in London statt; die Menschewiki hielten sichdavon fern und veranstalteten ihre eigene „Konferenz" in Genf.) (Fußnote desVerfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demohratisdoen Revolution 25

4. D IE L I Q U I D I E R U N G D ER M O N A R C H I S C H E N

S T A A T S O R D N U N G U N D D I E R E P U B L I K

Gehen wir zum nächsten Teil der Resolution über:„ .. . Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall wird ein solcher

Sieg als Ausgangspunkt für eine neue Phase der revolutionären Epochedienen.

Die Aufgabe, die dieser neuen Phase durch die objektiven Bedingungender gesellschaftlichen Entwicklung mit elementarer Gewalt gestellt wird,ist die endgültige Liquidierung des ganzen ständisch-monarchischen Re-gimes im Pro zeß des beiderseitigen Kampfes zwischen den Elementen derpolitisch befreiten bürgerlichen Gesellschaft um die Verwirklichung ihrersozialen Interessen und um den unmittelbaren Besitz der Macht.

Eine provisorische Regierung, die es übernähme, die Aufgaben dieserihrem historischen Charakter nach bürgerlichen Revolution zu verwirk-lichen, müßte daher den beiderseitigen Kampf zwischen den gegensätz-lichen Klassen der sich befreienden Nation regulieren und nicht nur dierevolutionäre Entwicklung vorwärtstreiben, sondern auch gegen jene ihrerFaktoren kämpfen, welche die Grundlagen der kapitalistischen Ordnungbedrohen."

Verweilen wir bei diesem Teil, der einen selbständigen Abschnitt derResolution bildet. D er Grundgedanke der von uns zitierten Betrachtungenfällt mit demjenigen zusammen, der in Punkt 3 der Parteitagsresolutiondargelegt ist. Vergleicht man indes diesen Abschnitt der beiden Resolutio-nen , so springt sofort folgender fundamentale Unterschied zwischen ihnenins Auge. Die Parteitagsresolution charakterisiert mit wenigen W orten diegesellschaftlich-ökonomische Grundlage der Revolution, verlegt dann dieganze Aufmerksamkeit auf den scharf umrissenen Kampf der Klassen umbestimmte Errungenschaften und rückt die Kampfaufgaben des Proleta-

riats in den Vordergrund. Die Konferenzresolution bringt eine lang-atmige, nebelhafte und verworrene Beschreibung der gesellschaftlich-öko-nomischen Grundlagen der Revolution, spricht sehr unklar vom Kampffür bestimmte Errungenschaften und läß t die Kampfaufgaben des Prole-tariats völlig außer acht. Die Konferenzresolution spricht von der Liqui-dierung der alten Ordnung im Prozeß des beiderseitigen Kampfes zwi-schen den Elementen der Gesellschaft. Die Parteitagsresolution sagt, daß

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wir, die Partei des Proletariats, diese Liquidierung vornehmen müssen,

daß eine wirkliche Liquidierung nur durch die Errichtung der demokra-tischen Republik erfolgen kann, daß wir diese Republik erkämpfen müs-sen, daß wir für sie und für die volle Freiheit nicht nur gegen die Selbst-herrschaft, sondern auch gegen die Bourgeoisie kämpfen werden, sobaldsie versuchen wird (und sie wird es unbedingt versuchen), uns unsereErrungenschaften zu entreißen. Die Parteitagsresolution ruft eine be-stimmte Klasse zum Kampf auf für ein genau bestimmtes nächstes Ziel.Die Konferenzresolution stellt Betrachtungen an über den beiderseitigenKampf verschiedener Kräfte. Die eine Resolution spiegelt die Mentalität

des aktiven Kampfes, die andere die des passiven Zuschauens wider; dieeine ist durchdrungen von dem Ruf zu lebendiger Tätigkeit , die anderevon unlebendiger Räsoniererei. Beide Resolutionen erklären, daß die1 vorsich gehende Umwälzung für uns nur der erste Schritt ist , dem der zweitefolgen wird. Aber die eine Resolution zieht daraus den Schluß, daß wirdiesen ersten Schritt um so schneller zurücklegen müssen, ihn um sorascher beenden, die Republik erkämpfen, die Konterrevolution scho-nungslos zertreten und die Basis für den zweiten Schritt schaffen müssen.Die andere Resolution hingegen erschöpft sich sozusagen in weitschwei-figen Schilderungen dieses ersten Schrittes und (man verzeihe den' vul-gären Ausdruck) verzapft endlos Weisheiten darüber. Die Parteitags-resolution nimmt die alten, ewig neuen Gedanken des Marxismus (überden bürgerlichen Charakter der demokratischen Umwälzung) als Ein-leitung oder Prämisse für die Schlußfolgerungen über die fortschrittlichenAufgaben der fortschrittlichen Klasse, die sowohl für die demokratischeals auch für die sozialistische Umwälzung kämpft. Die Konferenzresölu-tion kommt über die Einleitung nicht hinaus, zerkaut sie und klügelt dar-über.

Dieser Unterschied ist ganz genau derselbe Unterschied, der die rus-sischen Marxisten von jeher in zwei Flügel trennt: einen räsonierendenund einen kämpfenden Flügel in den vergangenen Zeiten des legalenMarxismus, einen ökonomistischen und einen politischen Flügel in derEpoche der beginnenden Massenbewegung. Aus der richtigen marxisti-schen Prämisse von den tiefen ökonomischen Wurzeln des Klassenkamp-fes im allgemeinen und des politischen Kampfes im besonderen zogen dieÖkonomisten den originellen Schluß, daß man dem politischen Kampf

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den Rücken kehren, seine Entwicklung hintanhalten, sein Ausmaß ein-

engen und seine Aufgaben herabsetzen müsse. Der polit ische Flügel da-gegen zog aus denselben Prämissen einen anderen Schluß, nämlich: Jetiefer jetzt die Wurzeln unseres Kampfes reichen, um so umfassender,kühner, entschlossener und mit um so mehr Initiative müssen wir diesenKampf führen. In einer anderen Situation, in einer modifizierten Formhaben wir jetzt denselben Streit vor uns. Aus den Prämissen, daß einedemokratische Umwälzung noch keineswegs eine sozialistische ist, daß siebei weitem nicht nur die Besitzlosen allein „interessiert" und daß ihretiefsten Wurzeln in den unabwendbaren Erfordernissen und Bedürfnissen

der gesamten bürg erlichen Gesellschaft als Ga nze s liegen — aus diesenPrämissen ziehen wir den Schluß, daß die fortgeschrittenste Klasse ihredemokratischen Aufgaben desto kühner stellen und desto schärfer bis zuEnde aussprechen m uß , da ß- sie die unm ittelbare L osung der Republikaufstellen und die Idee von der Notwendigkeit einer provisorischen revo-lutionären Regierung, von der Notwendigkeit , die Konterrevolution scho-nungslos zu zertreten, propagieren muß. Unsere Opponenten aber, dieNeuiskristen, ziehen aus denselben Prämissen den Schluß, daß man diedemokratischen Schlußfolgerungen nicht bis zu Ende aussprechen solle;daß man unter den praktischen Losungen die Losung der Republik nichtaufzustellen brauche, daß es stätthaft sei, die Idee von der Notwendig-keit einer provisorischen revolutionären Regierung nicht zu propagie-ren, daß man auch einen Beschluß über die Einberufung einer konsti-tuierenden Versammlung als entscheidenden Sieg bezeichnen könne unddaß man die Aufgabe des Kampfes gegen die Konterrevolution nichtals unsere aktive Aufgabe zu stellen brauche, sondern in dem nebel-haften (und, wie wir gleich sehen werden, falsch formulierten) Hinweisauf den „Prozeß des beiderseitigen Kampfes" untergehen lassen dürfe.Das ist nicht die Sprache von Politikern, das ist eher die Sprache von

Archivräten!

Und je aufmerksamer man sich die einzelnen Formulierungen der neu-iskristischen Resolution ansieht, um so anschaulicher treten ihre hier er-wähnten Haupteigentümlichkeiten hervor. Da redet man uns z. B. vom„Prozeß des beiderseitigen Kämpfes zwischen den Elementen der poli-tisch befreiten bürgerlichen Gesellschaft". Eingedenk des Themas, überdas diese Resolution geschrieben wurde (die provisorische revolutionäre

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Regierung), müssen wir verwundert fragen: Wenn schon vom Prozeß des

beiderseitigen Kampfes gesprochen wird, wie kann man dann von denElementen schweigen, die die bürgerliche Gesellschaft politisch unter-jochen? Glauben etwa die Konferensler, nachdem sie den Sieg der Revo-lution vorausgesetzt haben, wären diese Elemente schon verschwunden?Ein derartiger Gedanke wäre überhaupt absurd und in diesem Fall vonäußerster politischer Naivität und politischer Kurzsichtigkeit. Nadi demSieg der Revolution über die Konterrevolution wird die Konterrevolutionnicht verschwinden, sondern im Gegenteil unweigerlich einen neuen undnoch erbitterteren Kampf beginnen. Widmen wir unsere Resolution der

Untersuchung, welche Aufgaben aus dem Sieg der Revolution erwachsen,so müssen wir den Aufgaben der Abwehr des konterrevolut ionären An-sturms größte Beachtung schenken (wie das in der Parteitagsresolutionauch geschehen ist) und dürfen diese nächsten, dringenden, aktuellen poli-tischen Aufgaben einer kämpfenden Partei nicht untergehen lassen in all-gemeinen Betrachtungen darüber, was nach der jetzigen revolutionärenEpoche geschehen wird, was dann geschehen wird, wenn die „politischbefreite Gesellschaft" schon eine vollendete Tatsache ist. Ebenso wie dieÖkonomisten mit Hinweisen auf allgemeine Wahrheiten über die Unter-ordnung der Politik unter die Ökonomik ihre Verständnislosigkeit fürdie aktuellen politischen Au fgaben verdeckt haben, so verdecken die N eu-iskristen mit ihren Hinweisen auf allgemeine Wahrheiten über den Kampfinnerhalb der politisch befreiten Gesellschaft ihre Verständnislosigkeit fürdie aktuellen revolutionären Aufgaben der politischen Befreiung dieserGesellschaft.

Nehmt den Ausdruck „die endgültige Liquidierung des ganzen stän-disch-monarchischen Regimes". Auf russisch heißt die endgültige Liqui-dierung der monarchischen Staatsordnung die Errichtung der demokrati-

schen Republik. Doch unserem wackeren Martynow und seinen Ver-ehrern scheint ein solcher Ausdruck allzu einfach und klar zu sein. Siewollen unbedingt „vertiefen" und „recht klug" schnacken. Heraus kom-men dabei einerseits lächerliche Anstrengungen, tiefsinnig zu sein. Undand erseits ergibt sich statt einer Losung eine Beschreibung, statt eines m uti-gen R ufes zum Vo rwärtssch reiten eine A rt melancholischen Rückblicks. Alshätten wir nicht lebendige Mensdien vor uns, die jetzt gleich, sofort fürdie Republik kämpfen wollen, sondern vertrocknete Mumien, die diese

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Frage sub specie aeternitatis* unter dem Gesichtspunkt des Plusquam-

perfektums** betrachten.Geh en wir we iter: „ . . . Eine provisorische Regierung, die es übern ähm e,

die Aufgaben dieser. . . bürgerl ichen Revolut ion zu verwirkl ichen. . . "Hier zeigt sich sofort, daß unsere Konferenzler die konkrete Frage über-sehen haben, die sich vor den politischen Führern des Proletariats erhob.Die konkrete Frage nach der provisorischen revolutionären Regierung istaus ihrem Gesichtsfeld entschwunden und durch die Frage nach einerReihe von künftigen Regierungen verdeckt worden, die die Aufgaben derbürgerlichen Revolution schlechthin verwirklichen werden. Wenn ihr die

Frage „historisch" betrachten wollt, so wird euch das Beispiel eines be-liebigen europäischen Landes zeigen, daß eben eine Reihe von Regierun-gen, und durchaus nicht „provisorischen", die historischen Aufgaben derbürgerlichen Revolution verwirklichte, daß sogar Regierungen, die überdie Revolution gesiegt hatte n, dennoch gezwun gen war en, die historischenAufgaben dieser besiegten Revolution zu verwirklichen. Aber als „pro-visorische revolutionäre Regierung" bezeichnet man gar nicht das, wovonihr redet. So bezeichnet man eine Regierung der revolutionären Epoche,die unmittelbar die gestürzte Regierung ablöst und sich auf den Volks-

aufstand, nicht aber auf irgendwelche aus dem Volk hervorgegangene Ver-tretungskörperschaften stützt. Die provisorische revolutionäre Regierungist ein Organ des Kampfes für den sofortigen Sieg der Revolution, fürdie sofortige Abwehr konterrevolutionärer Anschläge und keineswegsein Organ zur Verwirklichung der historischen Aufgaben der bürger-lichen Revolution schlechthin. M eine H err en , überlassen w ir es den künf-

t igen Historikern in einer künftigen „Russkaja Starina" 1 1 , zu bestimmen,welche Aufgaben der bürgerlichen Revolution wir alle zusammen undwelche Aufgaben die eine oder andere Regierung verwirklicht haben. Daszu tun, wird auch nach dreißig Jahren noch Zeit sein, jetzt aber müssen

wir Losungen und praktische Weisungen geben für den Kampf um dieRepublik und für die energischste Teilnahme des Proletariats an diesemKampf.

Aus den erwähnten Gründen sind auch die letzten Sätze des von unszitierten Teils der Resolution unbefriedigend. Äußerst unglücklich oder

* vom Standpunkt der Ewigkeit. Die TLed.

** Vorvergangenheit. Die Red.

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zumindest ungeschickt ist der Ausdruck, daß die provisorische Regierungden beiderseitigen Kampf zwischen den gegensätzlichen Klassen zu „re-gulieren" hätte: Marxisten sollten sich nicht einer solchen liberalen For-mulierung im Stil der Oswoboshdenzen bedienen, die zu dem Gedankenverleitet, es wären Regierungen möglich, die nicht als Organ des Klassen-kampfes, sondern als dessen „Regulator" dienen... Die Regierung müßte„nicht nur die revolutionäre Entwicklung vorwärtstreiben, sondern auchgegen jene ihrer Faktoren kämpfen, welche die Grundlagen der kapita-listischen O rdnu ng b edroh en". D ieser „F aktor" ist gerade das Proletariat,in dessen Namen die Resolution spricht! Statt zu zeigen, wie das Prole-

tariat im gegebenen Augenblick „die revolutionäre Entwicklung vorwärts-treiben" soll (weiter vorantreiben, als die konstitutionalisrische Bour-geoisie gehen möchte), statt ihm zu raten,, sich auf eine bestimmte Artund Weise zum Kampf gegen die Bourgeoisie vorzubereiten, wenn diesesidi gegen die Errungenschaften der Revolution wenden wird — statt des-sen setzt man uns die allgemeine Beschreibung eines Prozesses vor, in derüber die konkreten Aufgaben unserer Tätigkeit nichts gesagt wird. DieArt, wie die Neuiskristen ihre Gedanken darlegen, erinnert an den Aus-spruch von Marx (in seinen berühmten „Thesen" über Feuerbach) über

den alten Materialismus, dem die Idee der Dialektik fremd war. DiePhilosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, sagte Marx,es kommt aber darauf an, sie zu verändern.12 So können auch die Neu-iskristen den Prozeß des sich vor ihren Augen abspielenden Kampfesleidlich beschreiben und erklären, sie sind jedoch völlig außerstande, fürdiesen Kampf die richtige Losung zu geben. Eifrige Marschierer, aberschlechte Füh rer, würdigen sie die materialistische Geschichtsauffassungdadurch herab, daß sie außer acht lassen, welche wirksame, führende undleitende Rolle in der Geschichte die Parteien spielen können und müssen,

die die materiellen Bedingungen der Umwälzung erkannt und sich an dieSpitze der fortgeschrittenen Klassen gestellt haben.

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5. WIE SOLL MAN „ DIE REVOLUTIONVORWÄRTSTREIBEN"?

Wir bringen einen weiteren Abschnitt der Resolution:. „Unter diesen Umständen muß die Sozialdemokratie danach streben,

•während des ganzen Verlaufs der Revolution eine solche Stellung zu be-haupten, die ihr am besten die Möglichkeit sichert, die Revolution vor-wärtszutreiben, ihr im Kampfe gegen die inkonsequente und eigennützigePolitik der bürgerlichen Parteien nicht die Hände bindet und sie davorbewahrt, in der bürgerlichen Demokratie aufzugehen.

Deshalb darf sich die Sozialdemokratie nicht das Ziel setzen, durchBildung einer provisorischen Regierung die Macht zu ergreifen oder dieMacht in einer solchen zu teilen, sie muß vielmehr die Partei der äußer-sten revolutionären Opposition bleiben."

Der Rat, eine Stellung zu beziehen, die am besten die Möglichkeitsichert, die Revolution vorwärtszutreiben, gefällt uns ganz außerordent-lich. Wir hätten nur gewünscht, daß außer diesem guten Rat auch eindirekter H inweis vorhanden w äre, wie die Sozialdemokratie gerade jetzt,in der gegebenen politischen Situation, in den Zeiten der Gerüchte, Mut-

mäßungen, Redereien und Projekte über die Einberufung von Volksver-tretern, die Revolution vorwärtstreiben soll. Kann jetzt jemand die Revo-lution vorwärtstreiben, der nicht begreift, welche Gefahr die Theorie derOswoboshdenzen von einer „Vereinbarung" des Volkes mit dem Zarenin sich birgt, der den bloßen „Beschluß", eine konstituierende Versamm-lung einzuberufen, schon als Sieg bezeichnet, der nicht die Aufgabe stellt,die Idee von der Notwendigkeit einer provisorischen revolutionären Re-gierung aktiv zu propagieren? der die Losung der demokratischen Repu-blik außer acht läßt? Solche Leute treiben in Wirklichkeit die Revolutionzurück, weil sie in präktisdo-politisdyer Beziehung auf dem Niveau dervon den Oswobosbdenzen bezogenen Stellung stehengeblieben sind. Wasnützt es, daß sie sich zu einem Programm bekennen, das die Ersetzung derSelbstherrschaft durch die Republik fordert, wenn in ihrer taktischen Re-solution, welche die gegenwärtigen und die nächsten Aufgaben der Parteiim revolutionären Augenblick festlegt, die Losung des Kampfes für dieRepublik fehlt? Gerade die Stellung der Oswoboshdenzen, die Stellungder konstitutionellen Bourgeoisie wird doch jetzt faktisch dadurch charak-

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terisierf, daß der Beschluß, eine vom ganzen Volk gewählte konstituierendeVersammlung einzuberufen, als ein entscheidender Sieg angesehen wird,während man sich über die provisorische revolutionäre Regierung undüber die Republik wohlweislich ausschweigt! Um die Revolution vor-wä'rfszutreiben, d. h. über jene Grenze hinaus, bis zu der die monarchi-stische Bourgeoisie sie treib t, muß m an aktiv Losungen aufstellen, betonenund in den Vordergrund rücken, die die „Inkonsequenz" der bürgerlichenDemokratie ausschließen. Solche Losungen gibt es im gegenwärtigenZeitpunkt nur zwei-. 1. die provisorische revolutionäre Regierung und2. die Republik; denn die Losung einer vom ganzen Volk gewählten

konstituierenden Versammlung ist von der monarchistischen Bourgeoisieübernommen worden (siehe das Programm des „Bundes der Befreiung"),und sie ist übernommen worden eben im Interesse der Eskamotierungder Revolution, im Interesse der Verhinderung ihres vollen Sieges undim Interesse des Kuhhandels der Großbourgeoisie mit dem Zarismus.Und da sehen wir nun, daß die Konferenz von diesen beiden Losungen,die einzig und allein geeignet sind, die Revolution vorwärtszutreiben, dieLosung der Republik gänzlich vergessen und die Losung der provisori-schen revolutionären Regierung der Oswoboshdenzen-Losung einer vom

ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlung kurzerhand gleich-gesetzt hat, indem sie das eine wie das andere einen „entscheidenden Siegder Revolution" nannte!!

Jawohl, das ist eine unzweifelhafte Tatsache, und sie wird, das stehtfür uns fest, dem künftigen Geschichtsschreiber der russischen Sozial-demokratie als Markstein dienen. Eine Konferenz von Sozialdemokratennimmt im Mai 1905 eine Resolution an, die schöne Worte enthält überdie Notwendigkeit, die demokratische Revolution vorwärtszutreiben,die sie jedoch in Wirklichkeit zurücktreibt, die in Wirklichkeit nicht

weiter geht als die demokratischen Losungen der monarchistischen Bour-geoisie.

Die Neuiskristen machen uns gern den Vorwurf, daß wir die Gefahreines Aufgehens des Proletariats in der bürgerlichen Demokratie igno-rieren. Wir möchten den sehen, der es unternähme, diesen Vorwurf anHand des Wortlauts der vom III. Parteitag der SDAPR angenommenenResolutionen zu beweisen. Wir werden unseren Opponenten erwidern:Die Sozialdemokratie, die auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft

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tätig ist , ka nn an de r Politik nicht teilnehmen, ohn e in diesem ode r jenem

Einzelfall mit der bürgerlichen Demokratie in einer Reibe zu gehen. DerUnterschied zwischen uns und euch ist dabei der, daß wir mit der revo-lutionären und republikanischen Bourgeoisie in einer Reihe gehen, ohneuns mit ihr zu verschmelzen, wäh rend ihr mit der liberalen und monarchi-stischen Bourgeoisie in einer Reihe geht, ebenfalls ohne euch mit ihr zuverschmelzen. So siebt die Sache aus.

Eure taktischen Losungen, die im Namen der Konferenz ausgegebenworden sind, stimmen überein mit den Losungen der „konstitutionell-demokratischen" Partei, d. h. der Partei der monardhistisdoen "Bourgeoisie,

und dabei habt ihr diese Übereinstimmung nicht bemerkt, seid euch ihrernicht bewußt geworden und befindet euch somit faktisch im Sdblepptauder Oswobosbdenzen.

U nser e taktischen L osungen, die im N am en d es III. Parteitags derSDAPR ausgegeben worden sind, stimmen überein mit den Losungen derdemokratisch-revolutionären und republikanischen Bourgeoisie. DieseBourgeoisie und Kleinbourgeoisie hat in Ru ßland noch keine groß e Volks-partei gebildet.* Aber da ß es Elemente einer solchen Partei gibt, kan n nu rder bezweifeln, der keine Ahnung davon hat, was jetzt in Rußland vor-

geht. Wir beabsichtigen (im Falle eines erfolgreichen Verlaufs der großenrussischen Revolution), nicht nur das von der Sozialdemokratischen Par-tei organisierte Proletariat zu führen, sondern auch diese Kleinbourgeoisie,die sehr woh l mit uns in einer Reihe gehen k ann .

Die Konferenz ist in ihrer Resolution unbewußt auf das Niveau derliberalen und monarchistischen Bourgeoisie binabgesunken. Der Parte i-tag hat durch seine Resolution die Elemente der revolutionären Demo-kratie, die zu kämpfen vermögen, nicht aber Kuhhandel treiben wollen,bewußt zu sich emporgehoben.

Solche Elemente gibt es zumeist unter der Bauernschaft. Ohne einenernsten Fehler zu machen, können wir bei der Einteilung der großen Ge-sellschaftsgruppen nach ihren polit ischen Tendenzen die revolutionäreund republikanische Demokratie mit der Masse der Bauernschaft gleich-

* Die „Sozialrevolutionäre" sind eher eine terroristische Intellektuellen-gruppe als die Keimform einer solchen Partei, obwohl die objektive Bedeutungder Tätigkeit dieser Gruppe gerade in der Verwirklichung der Aufgaben derrevolutionären und republikanischen Bourgeoisie besteht.

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setzen — selbstverständlich in demselben Sinne, mit denselben Vorbe-

halten und unter denselben stillschweigenden Voraussetzungen, wie mandie Arbeiterklasse mit der Sozialdemokratie gleichsetzen kann. W ir kön-nen, anders ausgedrückt, unsere Schlußfolgerungen auch so formulieren:Die Konferenz ist mit ihren gesamtnationalen* poUtisdhen Losungen imrevolutionären Augenblick unbewußt auf das Niveau der Masse der Quts-Vesitzer hinabgesunken. D er Parteitag hat mit seinen gesamtnationalenpolitischen Losungen die T/lasse der Bauern auf ein revolutionäres Tiiveauemporgehoben. Wer uns wegen dieser Schlußfolgerung beschuldigt, daßwir zu Paradoxen neigen, an den richten wir die Aufforderung, die fol-

gende These zu widerlegen: Wenn wir nicht imstande sein werden, dieRevolution zu Ende zu führen, wenn die Revolution mit einem im Sinneder Oswoboshdenzen „entscheidenden Sieg" lediglich in der Form einervom.Zaren einberufenen Vertreterversammlung enden wird, die nur zumHo hn eine konstituierende V ersammlung genannt werden könnte — dannwird das eine Revolution sein, in der das gutsherrlidhe und großbürger-liche Element überwiegt. Umgekehrt, wenn uns beschieden ist, eine wirk-liche große Revolution zu erleben^ wenn die Geschichte diesmal keine„Fehlgeburt" zuläßt, wenn wir die Kraft haben werden , die Revolution zu

Ende zu führen, b is zum entscheidenden Sieg nicht im Sinne der Osw obosh-denzen und der Neuiskristen, dann wird das eine Revolution sein, in derdas bäuerliche und proletarische Element überwiegt.

Vielleicht werden manche in der Zulassung des Gedankens an ein sol-ches überwiegen einen Beweis dafür erblicken, daß wir die Überzeugungvom bürgerlichen Charakter der bevorstehenden Revolution aufgegebenhaben? Bei dem Mißbrauch, der in der „Iskra" mit diesem Begriff getrie-ben wird, ist das wohl möglich. Deshalb ist es durchaus nicht überflüssig,bei dieser Frage zu verweilen.

* Wir sprechen nicht von den speziellen Losungen für die Bauernschaft,denen besondere Resolutionen gewidmet sind.

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6. W OH ER DR OH T DEM PROLETARIAT DIE GEFA HR,I M K A M P E G E G E N D I E I N K O N S E Q U E N T E B O U R G E O I S I E

M I T G E B U N D E N E N H Ä N D E N D A Z U S T E H E N ?

Die Marxisten sind vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolu-tion unbedingt überzeugt. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß jene de-mokratischen Umgestaltungen der politischen Ordnung und jene sozial-ökonomischen Umgestaltungen, die für Rußland notwendig geworden sind,an und für sich nicht nur keine Untergrabung des Kapitalismus, keine

Untergrabung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeuten, sondern daß sieumgekehrt zum erstenmal gründlich den Boden für eine breite und rasche,europäische und nicht asiatische Entwicklung des Kapitalismus säubern,daß sie zum erstenmal die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse ermög-lichen werden. Die Sozialrevolutionäre können diese Idee nicht begreifen,weil sie das Abc der Entwicklungsgesetze der Warenproduktion und derkapitalistischen Produktion nicht kennen. Sie sehen nicht, daß sogar einvoller Erfolg des Bauernaufstands, sogar eine Neuaufteilung des ganzenGrund und Bodens im Interesse der Bauernschaft und gemäß ihren W ün-

schen (eine „schwarze Umteilung" oder etwas in dieser Art) den Kapita-lismus keineswegs vernichten, sondern im Gegenteil seiner Entwicklungeinen A nstoß geben und die Klassenscheidung der Bauernschaft selbst be-schleunigen wird. Weil die Sozialrevolutionäre diese Wahrheit nicht be-greifen, werden sie zu unbewußten Ideologen des Kleinbürgertums. DasFesthalten an dieser Wahrheit ist für die Sozialdemokratie von größter,nicht nur theoretischer, sondern auch praktisch-politischer Bedeutung,denn hieraus ergibt sich für die Partei des Proletariats die Pflicht, in dergegenwärtigen „allgemein-demokratischen" Bewegung ihre volle Selbstän-digkeit als Klassenpartei zu wahren.

Aber daraus folgt keineswegs, daß die demokratisdbe (ihrem gesell-schaftlich-ökonomischen Inhalt nach bürgerliche) Umwälzung für das Pro-letariat nicht von größtem Interesse wäre. Daraus folgt keineswegs, daßsich die demokratische Umwälzung nicht sowohl in einer Form vollziehenkönnte, die vorwiegend für den Großkapitalisten, den Finanzmagnatenund den „aufgeklärten" Gutsbesitzer vorteilhaft ist, als auch in einerForm, die für den Bauern und den Arbeiter vorteilhaft ist.

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Die N euiskristen mißverstehen von Grund aus Sinn und Bedeutung derKategorie: bürgerliche Revolution. Durch ihre Betrachtungen zieht sichständig der Gedanke, die bürgerliche Revolution sei eine Revolution, dienur das bringen könne, was für die Bourgeoisie vorteilhaft ist. Nichts istindes irriger als dieser Gedanke. Die bürgerliche Revolution ist eine Revo-lution, die nicht über den Rahmen der bürgerlichen, d. h. der kapitalisti-schen, ökonomischen Struktur der Gesellschaft hinausgeht. Die bürger-liche Revolution bringt die Bedürfnisse der Entwicklung des Kapitalismuszum Ausdruck und zerstört keineswegs die Grundlagen dieser Entwick-lung, sondern verbreitert und vertieft sie im Gegenteil. Diese Revolution

bringt daher die Interessen nicht nur der A rbeiterklasse, sondern auch dergesamten Bourgeoisie zum Ausdruck. Da unter dem Kapitalismus dieHerrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat unvermeidlich ist, kannman mit vollem Recht sagen, daß die bürgerliche Revolution die Interessennicht so sehr des Proletariats als vielmehr der Bourgeoisie zum Ausdruckbringt. A ber völlig absurd ist der Gedanke, daß die bürgerliche Revolutiondie Interessen des Proletariats überhaupt nicht zum Ausdruck bringt. Die-ser absurde Gedanke läuft entweder auf die althergebrachte Volkstümler-theorie hinaus, daß die bürgerliche Revolution den Interessen des Prole-

tariats widerspridit und daß wir daher keine bürgerlidie politische Freiheitbrauchen. Oder dieser Gedanke läuft auf den Anarchismus hinaus, derjede Beteiligung des Proletariats an der bürgerlichen Politik, an der bür-gerlichen Revolution, am bürgerlichen Parlamentarismus verneint. Theo-retisch bedeutet dieser Gedanke, daß man die elementarsten Grundsätzedes Marxismus vergißt, wonach die Entwicklung des Kapitalismus auf derGrundlage der Warenproduktion unvermeidlich ist. Der M arxismus lehrt,daß eine Gesellschaft, die sich auf die Warenproduktion gründet und mitden zivilisierten kapitalistischen Nationen im Austausch steht, auf einerbestimmten Entwicklungsstufe unvermeidlich auch selbst den Weg desKapitalismus beschreitet. Der Marxismus hat unwiderruflich mit den Phan-tasien der Volkstümler und der Anarchisten gebrochen, als ob beispiels-weise Rußland die kapitalistische Entwicklung vermeiden, dem Kapitalis-mus ausweichen oder ihn überspringen und einen anderen Weg einschla-gen könne als den Weg des Klassenkampfes auf dem Boden und imRahmen eben dieses Kapitalismus.

Alle diese Leitsätze des Marxismus sind mit aller Ausführlichkeit be-

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wiesen und durchgekaut w orden, sowohl im allgemeinen als auch im be-

sonderen hinsichtlich Rußlands. Und aus diesen Leitsätzen folgt, daß esein reaktionärer Gedanke ist, die Erlösung der Arbeiterklasse in irgendetwas anderem zu suchen als in der weiteren Entwicklung des Kapitalis-mus. In solchen Ländern wie Rußland leidet die Arbeiterklasse nicht sosehr unter dem Kapitalismus als vielmehr unter der ungenügenden Ent-wicklung des Kapitalismus. Die Arbeiterklasse ist daher an der breitesten,freiesten und raschesten Entwicklung des Kapitalismus unbedingt inter-essiert. Für die Arbeiterklasse ist die Beseitigung aller Überreste der altenZeit, die der breiten, freien und raschen Entwicklung des Kapitalismus

hinderlich sind, unbedingt vonVortei\. Die bürgerliche Revolution ist ebeneine solche Umwälzung, die am entschiedensten die Überreste der altenZeit, die Überreste der Leibeigenschaft (zu diesen Überresten gehört nichtnur die Selbstherrschaft, sondern auch die Monarchie) hinwegfegt, dieam vollständigsten die breiteste, freieste und rascheste Entwicklung desKapitalismus gewährleistet.

Deshalb ist die bürgerliche Revolution für das Proletariat im höchstenQrade vorteilhaft. Die bürgerliche Revolution ist im Interesse des Proleta-riats unbedingt notwendig. Je vollständiger und entschiedener, je konse-

quenter die bürgerliche Revolution sein wird, desto gesicherter wird derKampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie für den Sozialismus sein.N ur Leuten, die das Abc des wissenschaftlichen Sozialismus nicht kennen,kann diese Schlußfolgerung neu oder seltsam, ja paradox erscheinen. Ausdieser Schlußfolgerung ergibt sich übrigens auch die These, daß in einemgewissen Sinne die bürgerliche Revolution für das Proletariat vorteilhafterist als für die Bourgeoisie. Und zwar unterliegt diese These gerade infolgendem Sinne keinem Zweifel: Für die Bourgeoisie ist es vorteilhaft,sich gegen das Proletariat auf einige Überreste der alten Zeit zu stützen,zum Beispiel auf die Monarchie, auf das stehende Heer u. dgl. m. Für dieBourgeoisie ist es vorteilhaft, daß die bürgerliche Revolution nicht gar zuentschieden alle Überreste der alten Zeit hinwegfegt, sondern einige vonihnen bestehen läßt, daß also diese Revolution nicht völlig konsequent ist,nicht bis zu Ende geht, nicht entschieden und schonungslos ist. Diesen Ge-danken drücken die Sozialdemokraten oft etwas anders aus, wenn siesagen, die Bourgeoisie werde sich selbst untreu, die Bourgeoisie verratedie Sache der Freiheit, die Bourgeoisie sei unfähig zu einem konsequenten

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38 W. J. Lenin

Demokratismus. Für die Bourgeoisie ist es vorteilhafter, daß sich die not-

wendigen Umgestaltungen in bürgerlich-demokratischer Richtung lang-samer, allmählicher, vorsichtiger, unentschiedener, auf dem Wege von Re-formen und nicht auf dem Wege der Revolution vollziehen; daß dieseUmgestaltungen die „ehrwürdigen" Einrichtungen aus der Zeit der Leib-eigenschaft (wie die Monarchie) möglichst schonen,- daß diese Umgestal-tungen die revolutionäre Aktivität, Initiative und Energie des einfachenVolkes, d. h. der Bauernschaft und insbesondere der Arbeiter, möglichstwenig entwickeln, denn sonst wird es den Arbeitern um so leichter fallen,„das Gewehr von einer Schulter auf die andere zu legen", wie die Fran-

zosen sagen, d. h. die Waffen, mit denen die bürgerliche Revolution sieausrüstet, die Freiheit, die sie ihnen gibt, und die demokratischen Ein-• richtungen, die auf dem von der Leibeigenschaft gesäuberten Boden ent-

stehen, gegen die Bourgeoisie selbst zu kehren.

Umgekehrt ist es für die Arbeiterklasse vorteilhafter, daß sich die not-wendigen Umgestaltungen in bürgerlich-demokratischer Richtung geradenicht auf dem Wege von Reformen, sondern auf revolutionärem Wegevollziehen, denn der Weg der Reformen ist ein Weg der Verschleppung,der Amtsschimmelei, des qualvoll langsamen Absterben« der faulenden

Teile des Volksorganismus. Unter dieser Fäulnis leiden zuerst und zumeistdas Proletariat und die Bauernschaft. Der revolutionäre W eg ist der W egder raschen, für das Proletariat am wenigsten schmerzhaften Opera tion ;er ist der Weg der direkten Entfernung der faulenden Teile, der Weg dergeringsten Nachgiebigkeit und Nachsicht gegenüber der Monarchie undden ihr entsprechenden abscheulichen und widerlichen, verfaulten und mitihrer Fäulnis die Luft verpestenden Einrichtungen.

Eben deshalb und keineswegs nur aus Zensurrücksichten, nicht nur ausAngst vor der hohen Obrigkeit vergießt unsere bürgerlich-liberale Presse

Tränen über die Möglichkeit des revolutionären Weges, fürchtet sie dieRevolution, schreckt sie den Zaren mit der Revolution, bemüht sie sich, dieRevolution zu vermeiden, bettelt sie knechtisch und kriecherisch um kläg-liche Reformen, um den Weg der Reformen zu ebnen. Auf diesem Stand-punkt stehen nicht nur die „Russkije Wedom osti" [Russische Nachrichten],„Syn Otetschestwa" [Sohn des Vaterlandes], „Nascha Shisn" [UnserLeben] und „Naschi Dni" [Unsere Tage], sondern auch das illegale, freie„Oswoboshdenije". Eben die Lage der Bourgeoisie als Klasse in der kapi-

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Zwei 7ak.tik.en der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 39

talistischen Gesellschaft erzeugt unvermeidlich ihre Inkonsequenz in der

demokratischen Umwälzung. Eben die Lage des Proletariats als Klassezwingt es, konsequent demokratisch zu sein. Die Bourgeoisie blickt nachrückw ärts, sie fürchtet den demok ratischen Fortschritt , der mit der Ge fahreiner Erstarkung des Proletariats droht. Das Proletariat hat nichts zu ver-lieren als seine Ketten, wird aber mit Hilfe des Demokratismus die ganzeW elt gewinnen. Je konsequ enter daher die bürgerliche Revolution in ihrendem okratischen Um gestaltungen ist, desto w eniger beschränkt sie sich aufdas, was ausschließlich für die Bourgeoisie von V orteil ist. Je ko nseq uente rdie bürgerliche Revolution ist, desto mehr Vorteile sichert sie in der demo-

kratischen Umwälzung dem Proletariat und der Bauernschaft.Der Marxismus lehrt den Proletarier nicht, sich von der bürgerlichenRevolution fernzuhalten, auf die Teilnahm e an ihr zu verzichten, die Fü h-rung in ihr der Bourgeoisie zu überlassen, sondern im Gegenteil, er lehrtdie energischste Teilnahme, den entschlossensten Kampf für den konse-quenten proletarischen Demokratismus, für die Durchführung der Revo-lution bis zu Ende. Wir können den bürgerlich-demokratischen Rahmender russischen Revolution nicht sprengen, wir können aber diesen Rahmengewaltig erweitern, wir können u nd müssen inn erhalb dieses Rahmens für

die Interessen des Proletariats, für seine unmittelbaren Bedürfnisse undfür solche Bedingungen kämpfen, die es ermöglichen, seine Kräfte für denkünftigen vollen Sieg vorzubereiten. Es gibt bürgerliche Demokratie undbürgerliche De mo kratie. Auch der monarchistische Sem stwom ann, der A n-hänger eines Oberhauses, der das allgemeine Wahlrecht „fordert", aberinsgeheim, in aller Stille, mit dem Zarismus über eine gestutzte Verfas-sung handelseins wird, ist ein bürgerlicher Demokrat. Und der Bauer, dermit der Waffe in der Hand gegen die Gutsbesitzer und Beamten zieht und„naiv-republikanisch" vorschlägt, „den Zaren davonzujagen"*, ist eben-falls ein bürgerlicher Demokrat. Es gibt solche bürgerlich-demokratischenVerhältnisse wie in Deutschland und solche wie in England; solche wie inÖsterreich und solche wie in Amerika oder in der Schweiz. Der wäre einschöner Ma rxis t, der in der Epoche der demok ratischen Um wä lzung diesenUnterschied zwischen den Abstufungen des Demokratismus und zwischendem verschiedenartigen Charakter der einen oder anderen seiner Formen

Siehe „Oswoboshdenije" Nr. 71 , S. 337, Anm. 2.

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40 W. 1. Lenin

übersähe u nd sich auf das „Klügeln" darüb er beschränken wollte, da ß das

ja alles „bürgerliche Revolution" sei und Früchte der „bürgerlichen Revo-lution" seien.

Zu dieser Sorte Klügler, die mit ihrer Kurzsichtigkeit wichtig tun, ge-hören aber gerade unsere N euiskristen. Sie beschränken sich darauf, überden bürgerlichen Charakter der Revolution ausgerechnet dann und dortBetrachtungen anzustellen, wo man es verstehen muß, einen Unterschiedzwischen der republikanisch-revolutionären und der monarchistisch-libera-len bürgerlichen Demokratie zu machen, ganz zu schweigen von demUnterschied zwischen dem inkonsequenten bürgerlichen und dem konse-

quenten proletarischen Demokratismus. Sie begnügen sich, als wären siewirklich zu „Menschen im Futteral"* geworden, mit melancholischenRedensarten über den „Prozeß des beiderseitigen Kampfes zwischen dengegensätzlichen Klassen", wenn es darum geht, der gegenwärtigen Revo-lution eine demokratische Tührung zu geben, die fortschrittlichen demo-kratischen Losungen zum Unterschied von den verräterischen Losungender Herren Strttve und Konsorten hervorzuheben und die nächsten Auf-gaben des wirklich revolutionären Kampfes des Proletariats und derBauernschaft im Untersdiied zum liberalen Maklertum der Gutsbesitzer

und Fab rikanten klipp und klar aufzuzeigen. Der Kern der Frage, den Sie,meine Herren, übersehen haben, ist jetzt eben der, ob unsere Revolutionmit einem wirklich grandiosen Sieg oder nur mit einem erbärmlichenKompromiß abschließen wird, ob sie bis zur revolutionären demokrati-schen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft gelangen oder ob ihrschon bei einer liberalen Schipowschen Verfassung „der Atem ausgehen"wi r d !

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als wichen wir dadurch, daßwir diese Frage stellen, von unserem Thema völlig ab. Aber so scheint es

nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit liegt gerade in dieser Frage dieWurzel der prinzipiellen Differenz, die schon jetzt zwischen der sozial-demok ratischen Tak tik des III. Parteitags der Sozialdem okratischen A r-beiterpartei Rußlands und der Taktik, die auf der Konferenz der Neu-iskristen festgelegt wurde, klar hervorgetreten ist. Die letzteren habenschon heute nicht zwei, sondern drei Schritte zurück gemacht, denn sie

* „De r M ann im Futteral"— Titelheld einer Erzählung von A.P.Tschechow.Der Tibers.

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratisdaen Revolution 41

haben bei der Lösung der für die Arbeiterpartei unvergleichlich kompli-

zierteren, schwerwiegenderen und lebenswichtigeren Fragen ihrer Taktikim Augenblick der Revolution die Fehler des Ökonomismus zu neuemLeben erweckt. Und eben deshalb müssen wir bei der Untersuchung dergestellten Frage mit aller Aufmerksamkeit zu Werke gehen.

In dem von uns zitierten Teil der neuiskristischen Resolution ist einHinweis auf die Gefahr enthalten, daß sich die Sozialdemokratie imKampf gegen die inkonsequente Politik der Bourgeoisie die Hände binden,daß sie in der bürgerlichen D emokratie aufgehen könne. Der Gedanke andiese Gefahr zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze spezifisch

neuiskristische Literatur, dieser Gedanke ist der wahre Kern der ganzenprinzipiellen Stellung in unserer Parteispaltung (seitdem das Element desGezänks in dieser Spaltung vor dem Element der Wendung zum Ökono-mismus völlig in den Hintergrund getreten ist). Und wir erkennen ohnealle Umschweife an, daß diese Gefahr wirklich besteht, daß diese Gefahrgerade jetzt , da sich die russische Revolution stürmisch entfaltet, besondersernst geworden ist. Uns allen, den Theoretikern oder — wie ich von mirlieber sagen würde — den Publizisten der Sozialdemokratie, obliegt dieunaufschiebbare und außerordentlich verantwortliche Aufgabe, zu unter-

suchen, von welcher Seite diese Gefahr in Wirklichkeit droht. Denn dieQuelle unserer Meinungsverschiedenheit liegt nicht in dem Streit darüber,ob eine solche Gefahr vorhanden ist, sondern in dem Streit darüber, ob siedurch die sogenannte Nachtrabpolitik der „Minderheit" oder durch densogenannten Revolutionarismus der „Mehrheit" hervorgerufen wird.

Um Mißdeutungen und M ißverständnisse zu beseitigen, wollen wir vorallem bemerken, daß die Gefahr, von der wir sprechen, nicht in der sub-jektiven, sondern in der objektiven Seite der Sache liegt, nicht in der for-mellen Stellung, welche die Sozialdemokratie im Kampfe beziehen wird,

sondern im materiellen Ausgang des ganzen gegenwärtigen revolutionärenKampfes. N icht das ist die Frage, ob diese oder jene sozialdemokratischenGruppen in der bürgerlichen Demokratie aufgehen wollen, ob sie sich des-sen bewußt sind, daß sie in ihr aufgehen — davon ist gar nicht die Rede.Wir verdächtigen keinen Sozialdemokraten, einen solchen Wünsch zuhaben, und nicht auf den Wunsch kommt es hier an. Die Frage ist auchnicht, ob diese oder jene sozialdemokratischen Gruppen ihre formelleSelbständigkeit, Sonderstellung und Unabhängigkeit gegenüber der bür-

4 Lenin, We rke, Bd. 9

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42 W.J. Lenin

gerlichen Demokratie während des ganzen Verlaufs der Revolution be-

wahren werden. Sie können diese ihre „Selbständigkeit" nicht nur ver-künden, sondern sie sogar formell bewahren, und nichtsdestowenigerkann die Sache so ausgeben, daß sie im Kampf gegen die Inkonsequenz derBourgeoisie mit gebundenen Händen dastehen werden. Als politischeSchlußbilanz der Revolution kann sich herausstellen, daß die Sozialdemo-kratie trotz ihrer formellen „Selbständigkeit", trotz ihrer vollen organisa-torischen Sonderstellung als Partei sich in Wirklichkeit nicht als selbstän-dig erweist, sich nicht als fähig erweist, dem Gang der Ereignisse denStempel ihrer proletarischen Selbständigkeit aufzudrücken, sondern sich

als so schwach erweist, daß im großen und ganzen, im Endergebnis, alsSchlußbilanz, ihr „Aufgehen" in der bürgerlichen Demokratie dennochzur historischen Tatsache wird.

Eben darin besteht die wirkliche Gefahr. Und nun wollen wir sehen,von welcher Seite sie droht: Von dem Abweichen der Sozialdemokratienach rechts in Gestalt der neuen „Iskra", wie wir glauben, oder von ihremAbweichen nach links in Gestalt der „Mehrheit", des „Wperjod" usw.,wie die Neuiskristen glauben.

Die Lösung dieser Frage wird, wie wir schon gezeigt haben, durch das

objektive Zusammenwirken der verschiedenen gesellschaftlichen Kräftebestimmt. Der Charakter dieser Kräfte ist theoretisch durch die marxi-stische Analyse der russischen Wirklichkeit bestimmt worden und wirdjetzt praktisch durch das offene Auftreten der Gruppen und Klassen imVerlauf der Revolution bestimmt. Die ganze theoretische Analyse, dieschon lange vor der jetzigen Epoche von den Marxisten vorgenommenworden ist, wie auch alle praktischen Beobachtungen hinsichtlich der Ent-wicklung der revolutionären Ereignisse zeigen uns nun , daß die Revolutionin Rußland vom Standpunkt der objektiven Bedingungen auf zweierlei Art

verlaufen und ausgehen kann. Die Umgestaltung der ökonomischen undpolitischen Ordnung Rußlands in bürgerlich-demokratischer Richtung istunvermeidlich und unabwendbar. Es gibt keine Kraft auf Erden, die einesolche Umgestaltung verhindern könnte. Aber aus dem Zusammenwirkender vorhandenen Kräfte, die diese Umgestaltung hervorbringen, könnensich zweierlei Resultate oder zweierlei Formen dieser Umgestaltung er-geben. Eines von beiden: 1. entweder endet das Ganze mit einem „ent-scheidenden Sieg der Revolution über den Zarismus" oder 2. die Kräfte

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemokratie in der demokratisdhen Revolution 43

reichen für einen entscheidenden Sieg nicht aus, und das Ganze endet mit

einem Pakt zwischen dem Zarismus und den „inkonsequentesten" und„eigennützigsten" Elementen der Bourgeoisie. All die unendliche Mannig-faltigkeit der Details und Kombinationen; die vorauszusehen niemand im-stande ist, reduziert sich im großen und ganzen gerade auf die eine oderdie andere dieser zwei Möglichkeiten..

Betrachten wir nun diese Möglichkeiten, erstens vom Gesichtspunktihrer sozialen Bedeutung und zweitens vom Gesichtspunkt der Lage derSozialdemokratie (ihres „Aufgehens" oder ihrer „gebundenen Hände")bei dem einen und dem anderen Ausgang.

W as ist „ein entscheidender Sieg der Revolution über den Zarism us" ?Wir haben schon gesehen, daß die Neuiskristen diesen Ausdruck gebrau-chen, ohne dabei auch nur seine nächstliegende politische Bedeutung zuverstehen. Noch weniger ist bei ihnen davon etwas zu merken, daß sieden Klasseninhalt dieses Begriffs verstehen. Wir Marxisten dürfen unsjedoch in keinem Falle von Worten wie „Revolution" oder „große rus-sische Revolution" blenden lassen, so wie sich jetzt viele revolutionäre De-mokraten (vom Schlage Gapons) von ihnen blenden lassen. Wir müssenuns genau Rechenschaft darüber ablegen, welche realen gesellschaftlichen

Kräfte sich dem „Zarismus" (das ist eine durchaus reale, für alle durch-aus verständliche Kraft) entgegenstellen und fähig sind, einen „entschei-denden Sieg" über ihn zu erringen. Die Großbourgeoisie, die Gutsbesitzer,die Fabrikanten, die „gute Gesellschaft", die hinter den Oswoboshdenzensteht, können diese Kraft nicht sein. W ir sehen, daß sie einen entscheiden-den Sieg auch gar nicht wollen. Wir wissen, daß sie infolge ihrer Klassen-lage zu einem entschlossenen Kampf gegen den Zarismus nicht fähig sind:das Privateigentum, das Kapital, der Grund und Boden sind ein viel zuschweres Bleigewicht an ihren Füßen, als daß sie einen entschlossenenKampf führen könnten. Sie brauchen viel zu sehr den Zarismus, seinepolizeilich-bürokratischen und militärischen Kräfte, gegen das Proletariatund die Bauernschaft, als daß sie die Vernichtung des Zarismus anstrebenkönnten. Nein, die Kraft, die fähig ist, einen „entscheidenden Sieg überden Zarismus" zu erringen, kann nur das Volk sein, d. h. das Proletariatund die Bauernschaft, wenn man die grundlegenden, ausschlaggebendenKräfte nimmt und die ländliche und städtische Kleinbourgeoisie (die auchzum „Volk" gehört) zwischen ihnen aufteilt. Ein „entscheidender Sieg der

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Revolution über den Zarismus" ist die revolutionär-demokratische Dikta-

tu r des Proletariats und der Bauernschaft. Dieser Schlußfolgerung, auf dievom „Wperjod" schon längst hingewiesen worden ist, können sich unsereNeuiskristen nicht entziehen. Es gibt sonst niemanden, der einen entschei-denden Sieg über den Zarismus erringen könnte.

Und ein solcher Sieg wird eben eine Diktatur sein, d. h., er wird sichunvermeidlich auf militärische Gewalt, auf die Bewaffnung der Massen,auf den Aufstand stützen müssen, nicht aber auf diese oder jene, auf „le-galem", „friedlichem W ege" geschaffene Einrichtungen. Das kann nur eineDiktatur sein, denn die Verwirklichung der für das Proletariat und die

Bauernschaft unverzüglich und unabweislich notwendigen Umgestaltun-gen wird den erbitterten Widerstand sowohl der Gutsbesitzer als auch derGroßbourgeoisie und des Zarismus hervorrufen. Ohne Diktatur ist es un-möglich, diesen Widerstand zu brechen, die konterrevolutionären An-schläge abzuw ehren. Doch selbstverständlich w ird das keine sozialistische,sondern eine demokratische Diktatur sein. Sie wird (ohne eine ganzeReihe Zwischenstufen der revolutionären Entwicklung) nicht imstande sein,die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten. Sie wird im besten Fall im-stande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten

der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokra-tismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischenWesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dor-fes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesse-rung der Lage der Arbeiter, für die Hebung ihrer Lebenshaltung denGrund zu legen und schließlich, last but not least*, den revolutionärenBrand nach Europa zu tragen. Ein solcher Sieg wird aus unserer bürger-lichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen; die demo-kratische Umwälzung wird über den Rahmen der bürgerlichen gesell-

schaftlich-ökonomischen Verhältnisse nicht unmittelbar hinausgehen; abernichtsdestoweniger w ird die Bedeutung eines solchen Sieges für die künf-tige Entwicklung sowohl Rußlands als auch der ganzen Welt gigantischsein. Nichts wird die revolutionäre Energie des Weltproletariats so sehrsteigern, nichts wird den Weg, der zu seinem vollen Siege führt, so sehrabkürzen wie dieser entscheidende Sieg der in Rußland begonnenenRevolution.

* als Letztes, aber nicht Geringstes.

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Inwieweit ein solcher Sieg wahrscheinlich ist, das ist eine andere Frage.

Wir neigen diesbezüglich keineswegs zu unbesonnenem Optimismus, wirvergessen durchaus nicht die ungeheuren Schwierigkeiten dieser Aufgabe,aber wenn wir in den Kampf ziehen, müssen wir den Sieg wollen und denrichtigen W eg zu ihm zeigen können. Die Tendenzen , die diesen Sieg her-beizuführen vermögen, sind unbestreitbar vorhanden. Freilich, unsersozialdemokratischer Einfluß auf die Masse des Proletariats ist nochäußerst ungenügend; die revolutionäre Einwirkung auf die Masse derBauern ist verschwindend gering; die Zersplitterung, die Rückständigkeit,die Unwissenheit des Proletariats und besonders der Bauernschaft sind

noch furchtbar groß. Aber die Revolution schweißt rasch zusammen undklärt rasch auf. Jeder Schritt ihrer Entwicklung rüttelt die Massen auf undzieht sie mit unwiderstehlicher Kraft gerade auf die Seite des revolutionä-ren Programms, das allein ihre wirklichen, ureigenen Interessen konse-quent und vollständig zum Ausdruck bringt.

Ein Gesetz der M echanik laute t: Die Wirkung ist gleich der Gegenwir-kung. In der Geschichte hängt die zerstörende Kraft der Revolution innicht geringem M aße auch davon ab, wie stark und andauernd die U nter-drückung der Freiheitsbestrebungen war und wie tief der Widerspruch

zwischen dem vorsintflutlichen „überbau" und den lebendigen Kräftender gegenwärtigen Epoche ist. Auch die internationale politische Situationgestaltet sich in vieler Hinsicht für die russische Revolution so günstig wienur möglich. Der Aufstand der Arbeiter und der Bauern hat schon begon-nen ; er ist zersplittert, spontan und schwach, aber er beweist unbestreitbarund unbedingt das Vorhandensein von Kräften, die zu einem entschlosse-nen Kampf fähig sind und einem entscheidenden Sieg entgegengehen.

Reichen diese Kräfte nicht aus, so wird es dem Zarismus gelingen, einenPakt zu schließen, der denn auch schon von zwei Seiten vorbereitet wird,

sowohl von den Herren Bulygin als auch von den Herren Struve. Dannwird die Sache mit einer gestutzten Verfassung oder sogar — im aller-schlimmsten Fall — mit einer Parodie auf eine Verfassung enden. Das wirdauch eine „bürgerliche Revolution" sein, freilich eine Fehlgeburt, ein Z err-bild, eine Mißgestalt. Die Sozialdemokratie macht sich keine Illusionen,sie kennt die verräterische Na tur der Bourgeoisie, sie wird den M ut nichtsinken lassen und ihre beharrliche, geduldige, unentwegte Arbeit an derKlassenerziehung des Proletariats selbst im allergrauesten Alltag der

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46 "W. 3. Centn

bürgerlich-konstitutionellen „Schipowschen" Glückseligkeit nicht aufgeben.Ein solcher Ausgang gliche mehr oder weniger dem Ausgang fast allerdemokratischen Revolutionen in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts,und unsere Parteientwicklung beschritte dann einen mühsamen, schweren,langen, aber bekannten und ausgetretenen Pfad.

Es fragt sich nun, in welchem dieser beiden möglichen Fälle wird dieSozialdemokratie gegenüber der inkonsequenten und eigennützigen Bour-geoisie faktisch mit gebundenen Händen dastehen? in der bürgerlichenDemokratie faktisch „aufgegangen" oder fast aufgegangen sein?

Es genügt, diese Frage klar zu stellen, damit man sie, ohne auch nureinen Augenblick zu schwanken, beantworten kann.

Gelingt es der Bourgeoisie, die russische Revolution durch einen Paktmit dem Zarismus zum Scheitern zu bringen, dann werden der Sozial-demokratie faktisch eben die Hände gegenüber der inkonsequenten Bour-geoisie gebunden sein, dann wird die Sozialdemokratie in der bürgerlichenDemokratie in dem Sinne „aufgegangen" sein, daß es dem Proletariatnicht gelingen wird, der Revolution seinen klaren Stempel aufzudrückenund mit dem Zarismus auf proletarische oder, wie Marx einst sagte,„plebejische Manier" fertig zu werden.

Gelingt der entscheidende Sieg der Revolution, dann werden wir mitdem Zarismus auf jakobinische oder, wenn ihr wollt, plebejische Manierfertig w erden. „Der ganze französische Terrorismus", schrieb Marx 1848in der berühmten „Neuen Rheinischen Zeitung", „war nichts als eineplebejische Manier, mit den Jeinden der 'Bourgeoisie, dem Absolutismus,dem Feudalismus und dem Spießbürgertum fertig zu werden" (sieheMarx' Nachlaß, herausgegeben1 von Mehring, Bd. III, S.211)13 . Habendie Leute, die die sozialdemokratischen russischen Arbeiter mit dem Po-panz des „Jakobinertums" in der Epoche der demokratischen Revolutionschrecken, jemals über die Bedeutung dieser W orte von Marx nachgedacht?

Die Girondisten der heutigen russischen Sozialdemokratie-, die Neu-iskristen, verschmelzen sich nicht mit den Oswoboshdenzen, erweisen sichaber kraft des Charakters ihrer Losungen faktisch in deren Nachtrab. DieOswoboshdenzen aber, d. h . die Vertreter der liberalen Bourgeoisie, möch-ten mit der Selbstherrschaft auf sanfte, reformerische Art fertig werden;nachgiebig, ohne der Aristokratie, dem Adel, dem Hof weh zu tun; vor-sichtig, ohne etwas zu zerbrechen; liebenswürdig und höflich, vornehm

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Zwei 7a ktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 47

und in Glacehandschuhen (wie H err Petrunkewitsch sie sich beim Empfangder „Volksvertreter" (?) durch Nikolaus den Blutigen von einem Polizei-schergen ausborgte; siehe „Proletari" Nr. 5*).

Die Jakobiner der heutigen Sozialdemokratie — die Bolschewiki, dieAnhänger des „Wperjod", des Parteitags oder des „Proletari", ich weißwirklich nicht, wie ich sagen soll — wollen mit ihren Losungen das revolu-tionäre und republikanische Kleinbürgertum und besonders die Bauern-schaft auf das Niveau des konsequenten Demokratismus des Proletariatsheben, das seine Sonderstellung als Klasse dabei voll bewahrt. Sie wollen,daß das Volk, d. h. das Proletariat und die Bauernschaft, mit der Monar-

chie und der Aristokratie auf „plebejische Manier" fertig wird, indem esdie Feinde der Freiheit schonungslos vernichtet, ihren W iderstand mit G e-walt bricht und dem verfluchten Erbe der Leibeigenschaft, des Asiatentumsund der Schändung des Menschen keinerlei Konzession macht.

Das bedeutet natürlich nicht, daß wir unbedingt die Jakobiner von Anno1793 nachahmen, ihre Ansichten, ihr Programm, ihre Losungen undAktionsmethoden übernehmen wollen. Nidits dergleichen. W ir haben nichtdas alte, sondern ein neues Programm — das Minimalprogramm der So-zialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands. W ir haben eine neue Losung:

die revolutionäre demokratische Dik tatur des Proletariats und der Bauern-schaft. Und wir werden, falls wir den wirklichen Sieg der Revolutionnoch erleben, auch neue Aktionsmethoden haben , die dem Charak ter undden Zielen der zur vollen sozialistischen Umwälzung strebenden Par-tei der Arbeiterklasse entsprechen. Mit unserem Vergleich wollen wirbloß klarmachen, daß sich die Vertreter der fortgeschrittensten Klasse des20 . Jahrhunderts, des Proletariats, d. h. die Sozialdemokraten, ebenso inzwei Flügel teilen (einen opportunistischen und einen revolutionären),wie sich die Vertre ter der fortgeschrittensten Klasse des 18. Jahrhunderts,

der Bourgeoisie, in Girondisten und Jakobiner geteilt haben.Nur im Falle eines vollen Sieges der demokratischen Revolution wird

das Proletariat im Kampf gegen die inkonsequente Bourgeoisie nicht mitgebundenen Händen dastehen. Nur in diesem Falle wird es in der bürger-lichen Demokratie nicht „aufgehen", sondern der ganzen Revolution sei-nen proletarischen, richtiger gesagt, proletarisch-bäuerlichen Stempel auf-drücken.

*~Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 491-495, niss. Die Red.

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48 W. 1 Cenin

Mit einem Wort: Um im Kampf gegen die inkonsequente bürgerlicheDemokrat ie nicht mit gebundenen Händen dazustehen, muß das Prole ta-riat genügend klassenbewußt und stark sein, um die Bauernschaft zumrevolutionären Bewußtsein emporzuheben, ihren Ansturm zu leiten undauf diese W eise den konsequ ent proletarischen Dem okratism us selbständigdurchzuführen.

So steht es mit der von den Neuiskristen so unglücklich gelösten Frageder Gefahr, im Kampf gegen die inkonsequente Bourgeoisie mit gebunde-nen Händen dazustehen. Die Bourgeoisie wird stets inkonsequent sein.Nichts ist naiver und fruchtloser als die Versuche, Bedingungen oderPunkte aufzustellen*, bei deren Erfüllung es möglich wäre, die bürgerlicheDemokratie für einen nicht heuchlerischen Freund des Volkes zu halten.Ein konsequenter Kämpfer für die Demokratie kann nur das Proletariatsein. Ein siegreicher Kämpfer für den Dem okratismu s k ann das Proletariatnur unter der Bedingung werden, daß sich die Masse der Bauernschaftseinem revolutionären Kampf anschließt. Reicht die Kraft des Proletariatsdaz u nicht aus, dann wird sich die Bourgeoisie an der Spitze der dem okra-tischen Revolution erweisen und ihr einen inkonseq uenten un d eigennützi-gen Charakter verleihen. Um das zu verhindern, gibt es kein anderes Mit-

tel als die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und derBauernschaft.

Somit kom men w ir zu der unzweifelhaften Schlußfolgerung, da ß gerad edie neuiskristische Taktik ihrer objektiven Bedeutung nach der bürger-lichen Dem okratie in die "Bänd e arbeitet. Die Propaganda der organisa-torischen Verschwommenheit, die bis zu Plebisziten, zum Prinzip desPaktierens und zum Losgelöstsein der Parteili teratur von der Partei geht,die Herabsetzung der Aufgaben des bewaffneten Aufstands, die Vermen-gung der das ganze Volk betreifenden politischen Losungen des revolu-

tionären Proletariats mit denen der monarchistischen Bourgeoisie, die Ent-stellung der Bedingungen des „entscheidenden Sieges der Revolution überden Zar i smus" — all dies zusammen ergibt im revolutionären Augenblickgerade jene Nachtrabpolitik, die das Proletariat irreführt und desorgani-siert , sein Bewußtsein trübt und die Taktik der Sozialdemokratie herab-

* Wie das Starower in seiner vom III. Parteitag aufgehobenen Resolution 14

zu tun versucht hat und wie es die Konferenz in der nicht minder mißglücktenResolution zu tun versucht.

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokra tisiert Revolution 49

würdigt, anstatt den einzigen Weg zum Siege zu zeigen und alle revolu-

tionären und republikanischen Elemente des Volkes um die Losung desProletariats zusammenzuschließen.

Um diese Schlußfolgerung, zu der wir auf Grund der Analyse der

Resolution gelangt sind, zu erhärten, wollen wir an dieselbe Frage unter

anderen Gesichtspunkten herangehen. Betrachten wir erstens, wie der

etwas einfältige und offenherzige Menschewik im georgischen „Sozial-demokrat" die neuiskristische Taktik il lustriert . Betrachten wir zweitens,

wer sich in der gegebenen politischen Situation tatsächlich der Losungen

der neuen „Iskra" bedient.

7. D I E T A K T I K D E R „ A U S S C H A L T U N G

D E R K O N S E R V A T I V E N A U S D E R R E G I E R U N G "

Der von uns oben erwähnte Artikel im Organ des menschewistischenTifliser „Komitees" („Sozialdemokrat" Nr. 1) ist betitelt „Der SemskiSobor und unsere Takt ik" . Der Verfasser hat unser Programm noch nicht

ganz vergessen, er stellt die Losung der Republik auf, läßt sich aber überdie Taktik wie folgt aus:

„Zur Erreichung dieses Zieles" (der Republik) „kann man zwei Wege zei-gen : Entweder man läßt den Semski Sobor, der von der Regierung einberufenwird, völlig außer acht, stürz t mit der Waffe in der H an d die Regierung, bildeteine revolutionäre Regierung und beruft eine konstituierende Versammlung ein.Oder man erklärt den Semski Sobor zum Mittelpunkt unserer Aktion, wirktmit der Waffe in der Hand auf seine Zusammensetzung, auf seine Tätigkeitein und zwingt ihn mit Gewalt, sich zur konstituierenden Versammlung zu er-

klären, oder beruft durch ihn eine konstituierende Versammlung ein. Diesezwei Taktiken unterscheiden sich sehr schroff voneinander. Betrachten wir,welche von ihnen für uns vorteilhafter ist."

So also legen die Neuiskristen in Rußland die Ideen dar, die späterhinin der von uns analysierten R esolution ihren Niederschlag gefunden hab en.Das wurde, wohlgemerkt, vor Tsushima geschrieben, als das Bulyginsche„Projekt" noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatte. Sogar dieLiberalen verloren die Geduld und äußerten ihr Mißtrauen in den Spalten

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50 •W.I.Lenin

der legalen Presse; der neniskristische Sozialdemokrat aber zeigte sichvertrauensseliger als die Liberalen. Er erklärt, daß der Semski Sobor „ein-berufen wird", und vertraut dem Zaren so sehr, daß er vorschlägt, dennoch nicht existierenden Semski Sobor (vielleicht sogar eine „Reichsduma"oder e inen „gesetzberatenden Sobor"?) zum Mit te lpunkt unserer Aktionzu machen. Unser Tifliser, offenherziger und gradliniger als die Verfasserder von der Konferenz angenommenen Resolution, setzt diese beiden„Taktiken" (die er mit unnachahmlicher Naivität darlegt) nicht einandergleich, sondern erklärt , daß die zweite „vorteilhafter" sei. Man höre:

„Die erste Taktik. Wie bekannt, ist die bevorstehende Revolution eine bür-gerliche Revolution, d. h., sie ist auf eine solche Änderung der gegenwärtigenOrdnung gerichtet, an der (nämlidi der Änderung) nicht nur das Proletariat,sondern auch die ganze bürgerliche Gesellschaft interessiert ist. In Oppositionzur Regierung stehen alle Klassen, selbst die Kapitalisten. Das kämpfende Pro-letariat und die kämpfende Bourgeoisie gehen in einem gewissen Sinne zusam-men und greifen die Selbstherrschaft von verschiedenen Seiten gemeinsam an.Die Regierung ist hier ganz isoliert und genießt keine Sympathie der Gesell-schaft. Darum ist es sehr leicht, sie zu vernichten. Das gesamte russische Pro-letariat ist noch nicht so klassenbewußt und organisiert, daß es die Revolution

ganz allein durchführen könnte. Ja, wenn es das tun könnte, würde es keinebürgerliche, sondern eine proletarische (sozialistische) Revolution durchführen.Folglich liegt es in unserem Interesse, daß die Regierung ohne Verbündetebleibt, daß sie nicht imstande ist, die Opposition zu entzweien, daß sie dieBourgeoisie nicht für sich gewinnen und das Proletariat nicht isolieren kann..."

Es liegt also im Interesse des Proletariats, daß die zaristische Regierungnicht imstande ist , die Bourgeoisie und das P roletariat zu entzw eien! H eißtdas georgische Organ etwa irrtümlicherweise „Sozialdemokrat", sollte esnicht eher „Oswoboshdenije" heißen? Und man beachte, welch unnach-ahmliche Philosophie der demokratischen Revolution! Sehen wir hiernicht gan z deutlich, wie der arm e Tifliser durch die räson ierend- nach trab-politische Auslegung des Begriffs „bürgerliche Revolution" endgültig ausdem Konzept gebracht worden ist? Er erörtert die Frage der möglichenIsoliertheit des Proletariats in der demokratischen Umwälzung und ver-gißt... vergißt.eine Kleinigkeit . . . die Bauernschaft! Von den möglichenVerbündeten des Proletariats kennt er die Gutsbesitzer der Semstwos undfindet an ihnen Ge fallen, aber er weiß nichts von den Bauern. U n d d as im

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 51

Ka ukasu s! N un , hatten wir nicht recht, als wir sagten, daß die neue „Iskra"

durch ihre Gedankengänge zur monarchistischen Bourgeoisie hinabsinkt,anstatt die revolutionäre Bauernschaft als Verbündeten zu sich empor-zuheben?

„...Andernfalls ist die Niederlage des Proletariats und der Sieg der Regie-rung unvermeidlich. Und gerade das erstrebt die Selbstherrschaft. Sie wird inihrem Seraski Sobor zweifellos die Vertreter des Adels, der Semstwos, derStädte, der Universitäten und ähnlicher bürgerlicher Institutionen auf ihre Seiteziehen. Sie wird sich bemühen, sie durch kleine Konzessionen zu beschwich-tigen und auf diese Weise mit sich auszusöhnen. Solcherart gefestigt, wird sie

alle ihre Schläge gegen das isoliert gebliebene arbeitende Volk richten. UnserePflicht ist es, einen solchen unglücklichen Ausgang zu verhüten. Aber kannman das etwa auf dem ersten Wege tun? Angenommen, wir hätten den SemskiSobor gar nicht beachtet, sondern selbständig mit der Vorbereitung des Auf-stands begonnen, und wären eines schönen Tages bewaffnet zum Kampf aufdie Straße gegangen. Und nun haben wir nicht einen Feind, sondern zweiFeinde vor uns: die Regierung und den Semski Sobor. Während wir uns vor-bereiteten, gelang es ihnen, handelseinig zu werden, ein Abkommen zu treffen,eine für sie vorteilhafte Verfassung auszuarbeiten und die Macht unter sich zuteilen. Das ist eine für die Regierung geradezu vorteilhafte Taktik, und wir

müssen sie aufs energischste ab leh ne n.. ."D as ist wirklich offenherzig! M an m uß die „Tak tik" d er Vo rbereitung d es

Aufstands entschieden ablehnen, weil die Regierung „währenddessen" einAb kom men mit der Bourgeoisie treffen w ird ! Ka nn m an in der alten Lite-ratur des eingefleischtesten „Ökonomismus" wohl irgend etwas finden, dasdieser Schändung der revolutionären Sozialdemo kratie auch, nur annäh erndgleichkäme? Die bald hier, bald dort ausbrechenden Aufstände und Er-hebungen der Arbeiter und Bauern sind eine Tatsache. Der Semski Soborist eine Bulyginsche Versprechung. Und der „Sozialdemokrat" aus Tiflis

beschließt, die Taktik der Vorbereitung des Aufstands abzulehnen undauf den „Mit te lpunkt der Einwirkung", den Semski Sobor zu warten. . .

„.. .Die zweite Taktik besteht umgekehrt darin, daß wir den Semski Soborunter unsere Aufsicht stellen und ihm keine Möglichkeit geben, nach seinemWillen zu handeln und mit der Regierung, ein Abkommen zu treffen.*

* Welches ist denn das Mittel, um den Semski-Sobor-Leuten ihren Willenzu raub en? Etwa ein besonderes Lackmuspapier?

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52 IV . J. Lenin

Wir unterstützen den Semski Sobor, insofern er gegen die Selbstherrschaftkämpft, und bekämpfen ihn dann, wenn er sich mit der Selbstherrschaft aus-söhnt. Durch energische Einmischung und Gewalt entzweien wir die Deputier-ten untereinander*, die Radikalen gewinnen wir für uns, die Konservativenschalten wir aus der Regierung aus, und auf diese Weise bringen wir den gan-zen Semski Sobor auf den revolutionären Weg. Dank einer solchen Taktikwird die Regierung stets isoliert, die Opposition aber stark bleiben, und damiterleichtern wir die Errichtung der demokratischen Ordnung."

Ja, ja! Jetzt sol l noch jemand sagen, daß wir die Wendung der Neu-

iskristen zum vulgärsten Ebenbild des Ökonomismus übertreiben. Das ist

schon direkt so etwas wie das berühmte Pulver gegen die Fliegen: Manfange die Fliege, bestreue sie mit dem Pulver, und sie krepiert . Die De pu-

tierten des Semski Sobor mit Qewalt entzweien, „die Konservativen ausder R egierung ausschalten" — und der ganze Semski Sobor wird den revo-

lutionären Weg beschreiten.. . Ohne jeden „jakobinischen" bewaffneten

Aufstand, von leichter Hand, auf vornehme Art, beinahe parlamentarisch,durch „Einwirkung" auf die Mitglieder des Semski Sobor.

Arm es Rußla nd! M an pflegte von ihm z u sagen, da ß es stets al tmodische,von Europa abgelegte Hüte trage. Wir haben noch kein Parlament, selbst

Bulygin hat noch keines versprochen, aber parlamentarischen Kretinis-m u s 1 5 haben wir schon übergenug.

„ .. .W ie soll diese Einmischung erfolgen? Vor allem w erden wir fordern,daß der Semski Sobor auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und ge-heimen Wahlrechts einberufen wird. Zusammen mit der Ankündigung** einersolchen Wahlordnung muß die volle Freiheit der Wahlagitation gesetzlich fest-gelegt werden***, d.h. die Versammlungs-, Rede-und Pressefreiheit, die Unan-tastbarkeit der Wähler und der zu Wählenden und die Freilassung aller poli-tischen Häftlinge. Die Wahlen selbst müssen möglichst spät angesetzt werden,

damit wir genug Zeit haben, um das Volk aufzuklären und vorzubereiten. U ndda die Ausarbeitung der Regeln für die Einberufung des Sobor einer Kommis-

* Heiliger Himmel! Da habt ihr sie, die „vertiefte" Taktik! Um auf derStraße zu kämpfen, reicht die Kraft nicht aus, aber „die Deputierten ent-zweien" kann man mit „Gewalt". Na hören Sie, werter Tifliser Genosse, Un-sinn kann man ja reden, aber alles mit Maßen. „.

** In der „Iskra"? "*** Von Nikolaus?

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemokratie in der demokratisiert Revolution 53

sion unter dem Vorsitz des Innenministers Bulygin übertragen worden ist,

müssen wir auch auf diese Kommission und ihre Mitglieder einwirken.* Solltesich die Bulyginsche Kommission weigern, unseren Forderungen stattzuge-ben**, und nur den Besitzenden das Recht zugestehen, Deputierte zu wählen,so müssen wir in diese Wahlen eingreifen und die Wähler auf revolutionäremWege dazu bringen, fortschrittliche Kandidaten zu wählen und im Semski So-bor eine konstituierende Versammlung zu verlangen. Schließlich müssen wirmit allen erdenklichen Mitteln — Demonstrationen, Streiks und notfalls durcheinen Aufstand — den Semski Sobor dazu bringen, eine konstituierende Ver-sammlung einzuberufen oder sich als solche zu erklären. Der Verteidiger derkonstituierenden Versammlung muß das bewaffnete Proletariat sein, und

beide*** zusammen werden zur demokratischen Republik vorwärtsschreiten.Das ist die sozialdemokratische Taktik, und nur sie wird uns den Sieg ver-

bürgen."

Der Leser glaube ja nicht, daß dieser ganze ungeheuerliche Blödsinndie belanglose Schreibübung irgendeines unverantwortlichen und einfluß-

losen Neuiskristen ist . Nein, das wird im Organ eines ganzen Komiteesder Neuiskristen, des Tifliser Komitees, gesagt. Nicht genug damit, ist die-

ser Blödsinn von der „Jskra" direkt gebilligt worden, in deren Nr. 100wir über diesen „Sozialdemokrat" lesen:

„Die erste N umm er ist lebendig und talentvoll redigiert. Ma n merkt

die erfahrene, geschickte Hand eines Redakteurs und Schriftstellers...

Man kann mit Sicherheit sagen, daß die Zeitung die Aufgäbe, die sie sich

gestellt hat, glänzend lösen wird."

Allerdings! Wenn diese Aufgabe darin besteht, jedermann anschaulich

die völlige ideologische Zersetzung des Neuiskrismus vor Augen zu füh-ren, dann ist sie wirklich „glänzend" gelöst. Das Hinabsinken der Neu-

iskristen zum bürgerlich-liberalen Opportunismus hätte niemand „leben-diger, talentvoller und geschickter" zum Ausdruck bringen können.

* Das also bedeutet die Taktik der „Ausschaltung der Konservativen ausder Regierung"!

** Aber das kann doch gar nicht sein bei einer so richtigen und scharfsin-nigen T aktik unserseits!

*** Das bewaffnete Proletariat und die „aus der Regierung ausgeschalteten"Konservativen?

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54 TV. 1 Lenin

8. D A S O S W O B O S H D E . N Z E N T U MU N D D E R N E U I S K R I S M U S

Wenden wir uns nun einer anderen anschaulichen Bestätigung der poli-tischen Bedeutung des Neuiskrism us zu.

In dem bemerkenswerten, vortrefflichen, äußerst lehrreichen Artikel„W ie findet man sich selbst" („Os wo bosh denije" N r. 71) zieht H er rStruve gegen den „programmatischen Revolutionarismus" unserer extre-men Parteien zu Felde. Mit mir persönlich ist Herr Struve besonders un-

zufrieden.* Was mich anbelangt, so bin ich mit Herrn Struve überaus

* „Im Vergleich mit dem Revolutionarismus der Herre n Lenin und Genossenerscheint der Revolutionarismus der westeuropäischen Sozialdemokratie Bebeisund sogar Kautskys als Opportunismus, doch selbst diesem schon gemildertenRevolutionarismus hat die Geschichte den Boden unterspült und weggespült."Ein sehr zorniger Ausfall. Herr Struve ist jedoch im Irrtum, wenn er meint,man könne mir, wie einem Verstorbenen, alles in die Schuhe schieben. Es ge-nügt, wenn ich an Herrn Struve eine Herausforderung richte, die anzunehmener nie und nimmer imstande sein wird. Wo und wann habe ich den „Revolutio-

narismus Bebeis und Kautskys" als Opportunismus bezeichnet? Wo und wannhabe ich versucht, in der intern ationalen Sozialdemokratie eine besondere Rich-tung ins Leben z u rufen, die mit der Richtung Bebeis und Kautskys nidot iden-tisdj wäre? W o un d wann sind zwischen mir einerseits und Bebel und Kautskyanderseits M einungsverschiedenheiten zutage getreten, die auch nur annä herndso ernst w ären w ie beispielsweise die M einungsverschiedenheiten zwischen Be-bel und Kautsky in der Agrarfrage in Breslau? 115 Soll Herr Struve versuchen,auf diese drei Fragen zu antworten.

Den Lesern aber sagen wir: Die liberale Bourgeoisie wendet stets un d über-all den Kunstgriff an, ihren Anhängern in dem betreffenden Lande zu ver-

sichern, daß die Sozialdemokraten dieses Landes die unvernünftigsten Leute,ihre Genossen im benachbarten Staat aber „Musterknaben" seien. Die deut-sche Bourgeoisie hat den Bebel und Kau tsky die französischen SozialistenHunderte Male als „Musterknaben" vorgehalten. Die französische Bourgeoisiehat erst unlängst den französischen Sozialisten den „Musterknaben" Bebel vor-gehalten. Ein alter Trick, Her r Struv e! N ur Kinder un d Ignoranten werden aufdiesen Leim kriechen. Die volle Solidarität der internationalen revolutionärenSozialdemokratie in allen wichtigen Fragen des Programms und der Taktik isteine absolut unbestreitbare Tatsache.

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 55

zufrieden: einen besseren Verbündeten im Kampf gegen den wiederauf-

erstehenden Ökonomismus der Neuiskristen und gegen die völlige Prin-zipienlosigkeit der „Sozialrevolutionäre" könnte ich mir gar nicht wün-schen. Auf welche A rt und W eise Herr Struve un d das „Oswob oshdeni je"praktisch bewiesen haben, daß die im Programmentwurf der Sozialrevo-lut ionäre vorgenomm enen „Ko rrekturen " des M arxismu s durch und durchreaktionär sind, darüber werden wir uns gelegentlich ein andermal unter-hal ten. Wie Herr Struve mir jedesmal , wenn er den Neuiskris ten prin-zipiell zustimmte, einen wahren, ehrlichen und treuen Dienst leistete,darüber haben wir schon wiederholt gesprochen* und wollen es hier noch

einmal sagen.Der Artikel des Herrn Struve enthält eine ganze Reihe hochinter-

essanter Äußerungen, die wir hier nur nebenbei berühren können. Erschickt sich an, „gestützt nicht auf den Kampf, sondern auf die Zusam-menarbeit der Klassen, eine russische Demokratie zu scharfen", wobei die„sozial privilegierte Intelligenz" (vom Schlage des „kulturell hochstehen-den Adels" , vor dem Herr Struve mit der Grazie e ines echt wel tmänni-schen.. . Lakaien seine Reverenzen macht) „das Gewicht ihrer sozialenStellung" (das Gewicht des Geldsacks) in diese „klassenlose" Partei mit-

bringen wird. Herr Struve äußert den Wunsch, die Jugend bekannt zumachen mit der Untauglichkeit der „radikalen Schablone, daß die Bour-

* Erinnern wir den Leser daran, daß der Artikel „Was man nicht tun darf"(„Iskra" Nr. 52) vom „Oswoboshdenije "mit Pauken und Trompeten als eine„bedeutungsvolle Wendung" zur Nachgiebigkeit gegenüber den Opportunistenbegrüßt wurde. Die prinzipiellen Tendenzen des Neuiskrismus billigte das„Oswoboshdenije" ausdrücklich in einer Notiz über die Spaltung unter denrussischen Sozialdemokraten. Anläßlich der Broschüre Trotzkis „Unsere politi-schen Aufgaben " wies das „Oswoboshdenije" auf die Gleichartigkeit der Gedan -ken dieses Verfassers mit dem hin, was einst die „Rabotsdieje-Delo"-Leute Kri-tschewski, Martynow und Akimow gesagt und geschrieben hatten (siehe denSonderdruck „Der diensteifrige Liberale", Ausgabe des „Wperjod"). Marty-nows Broschüre über die zwei Diktaturen wurde vom „Oswoboshdenije" be-grü ßt (siehe die Notiz im „Wperjod" N r. 9). Schließlich trafen die verspä-teten Klagen Starowers. über die alte Losung der alten „Isk ra": „Sich zuerstvoneinander abgrenzen, um sich dann zu vereinigen" auf die besondere Sym-pathie des „Oswoboshdenije".

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geoisie Angst bekommen und das Proletariat mitsamt der Sache der Frei-

heit verkauft habe". (Von ganzem Herzen begrüßen wir diesen Wunsch.Nichts könnte diese marxistische „Schablone" besser bestätigen als derKampf, den Herr Struve dagegen führt. Bitte sehr, Herr Struve, schiebenSie Ihren großartigen Plan nicht auf die lange Bank!)

Für unser Thema ist wichtig, daß wir feststellen, gegen welche prak-tischen Losungen heutzutage ein politisch so hellhöriger und auf den ge-ringsten Wetterumschlag reagierender Vertreter der russischen Bour-geoisie kämpft. Erstens gegen die Losung des Republikanismus. HerrStruve ist fest überzeugt, daß diese Losung „der Volksmasse unverständ-

lich und fremd" ist (er vergißt hinzuzufügen: verständlich, aber nach-teilig für die Bourgeoisie!). Wir möchten gern hören, welche AntwortHerr Struve darauf von den Arbeitern in unseren Zirkeln und Versamm-lungen erhalten würde! Oder gehören die Arbeiter nicht zum Volk? Unddie Bauern? Sie huldigen bisweilen, wie sich Herr Struve ausdrückt, einem„naiven Republikanismus" („den Zaren davonjagen"), doch die liberaleBourgeoisie gibt sich dem Glauben hin, daß den naiven Republikanismusnicht der bewußte Republikanismus, sondern der bewußte Monarchismusablösen wird! Ca depend, Herr Struve, das hängt noch von den Umstän-

den ab . Sowohl der Zarismus als auch die Bourgeoisie können nicht andersals einer grundlegenden Verbesserung der Lage der Bauern auf Kostendes großen Grundeigentums entgegenwirken; die Arbeiterklasse dagegenkann nicht anders als in dieser Sache mit der Bauernschaft zusammen-wirken.

Zweitens versichert Herr Struve: „Im Bürgerkrieg wird der Angreiferstets im Llnrecht sein." Dieser Gedanke kommt den oben gekennzeich-neten Tendenzen der Neuiskristen sehr nahe. Wir wollen natürlich nichtsagen, daß es im Bürgerkrieg stets vorteilhaft wäre, anzugreifen; nein,

manchmal ist die D efensivtaktik für eine gewisse Zeit geboten. Aber einesolche These in Anwendung auf das Rußland von 1905 aufzustellen, wieHerr Struve es getan hat, bedeutet eben, mit einem Stückchen „radikalerSchablone" aufzuwarten („die Bourgeoisie bekommt Angst und verkauftdie Sache der Freiheit"). Wer jetzt die Selbstherrschaft, die Reaktionnicht angreifen will, wer sich auf diesen Angriff nicht vorbereitet, wer ihnnicht propagiert, der bezeichnet sich zu Unrecht als Anhänger der Revo-lution.

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Zwei T aktiken der Sozialdemokratie in der demokratisdhen Revolution 57

Herr Struve verurteilt die Losungen „Konspiration" und „Rebellion"

(das sei ein „Aufstand in Miniatur"). Herr Struve verachtet das eine wiedas andere, und zwar vom Standpunkt des „Herankommens an die Mas-sen" ! W ir möchten Herrn Struve fragen, ob er z. B. in einer solchen Schriftwie „Was tun?", die von einem seiner Ansicht nach maßlosen Revolu-tionaristen stammt, eine Propagierung der Rebellion nachweisen kann.Und was die „Konspiration" anbelangt, besteht da wirklich ein so großerUnterschied z. B. zwischen Herrn Struve und uns? Arbeiten wir nichtbeide an „illegalen" Zeitungen, die „konspirativ" nach Rußland befördertwerden und den „geheimen" Gruppen des „Bundes der Befreiung" bzw.

der SDAPR dienen? Unsere Arbeiterversammlungen sind oft „konspira-tiv", wir leugnen das nicht. Und die Versammlungen der Herren Oswo-boshdenzen? Was berechtigt Sie, Herr Struve, über die verächtlichen An-hänger der verächtlichen Konspiration die Nase zu rümpfen?

Allerdings, bei der Belieferung der Arbeiter mit Waffen bedarf es dop-pelt strenger Konspiration. U nd hier tritt He rr Struve schon offener auf.Man höre: „Was den bewaffneten Aufstand oder die Revolution im tech-nischen Sinne betrifft, so kann nur die Massenpropaganda des demokra-tischen Programms die sozial-psychologischen Voraussetzungen für einen

allgemeinen bewaffneten Aufstand schaffen. Mithin ist sogar von jenemStandpunkt aus, der den bewaffneten Aufstand als die unvermeidlicheKrönung des gegenwärtigen Befreiungskampfes betrachtet — ein Stand-punkt, den ich nicht teile —, die Durchdringung der Massen mit den Ideender demokratischen Umgestaltung die grundlegende, die notwendigsteAufgabe."

Herr Struve möchte der Frage ausweichen. Er spricht von der Unver-meidlichkeit des Aufstands, anstatt von seiner Notwendigkeit für denSieg der Revolution zu sprechen. Der Aufstand, und zwar ein unvorbe-

reiteter, spontaner und zersplitterter Aufstand, hat schon begonnen. Nie-mand kann sich unbedingt verbürgen, daß er bis zum umfassenden undeinheitlichen bewaffneten Volksaufstand voranschreiten wird, denn dashängt sowohl vom Zustand der revolutionären Kräfte ab (die man nurim Kampfe selbst ganz ermessen kann) als auch von der H altung der Re-gierung und der Bourgeoisie sowie von einer Reihe anderer Umstände,die nicht genau errechnet werden können, über die Unvermeidlichkeitim Sinne jener absoluten Gewißheit, daß das konkrete Ereignis eintritt,

5 Lenin, W erke , Bd. 9

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auf die Herr Struve das Thema abbiegt, hat es keinen Sinn zu sprechen.

Wenn man Anhänger der Revolution sein will, so muß man darübersprechen, ob der Aufstand für den Sieg der Revolution notwendig ist,ob es notwendig ist, aktiv für ihn einzutreten, ihn zu propagieren, ihnunverzüglich und energisch vorzubereiten. Herr Struve müßte diesen Un-terschied eigentlich verstehen; er verdeckt ja z. B. audi nicht die für einenDemokraten unstreitige Frage, ob das allgemeine Wahlrecht notwendigist, durch die für einen Politiker streitige und nicht aktuelle Frage, obseine Erringung im Verlauf dieser Revolution unvermeidlich ist . Dadurch,daß Herr Struve der Frage ausweicht, ob der Aufstand notwendig ist, ent-

hüllt er das innerste Wesen der politischen Position der liberalen Bour-geoisie. Die Bourgeoisie zieht es erstens vor, mit der Selbstherrschaft han-delseinig zu w erden, statt sie zu vernichten; auf jeden Fall wälzt die Bour-geoisie den Kampf mit der Waffe in der Hand auf die Arbeiter ab (daszweitens). Das ist die reale Bedeutung, die dem Ausweichen des HerrnStruve zukommt. Das ist der Grund, warum er sich von der Frage derNotwendigkeit des Aufstands auf die Fragen seiner „sozial-psychologi-schen" Voraussetzungen und der vorherigen „Propaganda" zurückzieht.Ganz genauso, wie sich die bürgerlichen Schwätzer im Frankfurter Parla-

ment von 1848 mit der Abfassung von Resolutionen, Deklarationen, Be-schlüssen, mit „Massenpropaganda" und Vorbereitung der „sozial-psycho-logischen Voraussetzungen" zu einer Zeit beschäftigten, als es darumging, der bewaffneten Macht der Regierung Widerstand zu leisten, als dieBewegung „bis zur Notwendigkeit gediehen war", den bewaffneten Kampfzu führen, als die bloße Einwirkung durch das Wort (die in der Vorberei-tungsperiode hundertfach notwendig ist) zu öder bürgerlicher Tatenlosig-keit und Feigheit geworden war — genauso drückt sich auch Herr Struvevor der Frage des Aufstands und versteckt sich hinter Phrasen. Herr Struvezeigt uns anschaulich das, was viele Sozialdemokraten hartnäckig nichtsehen wollen, nämlich daß sich der revolutionäre Augenblick von den ge-wöhnlichen, alltäglichen, vorbereitenden historischen Zeitabschnitten ebendadurch unterscheidet, daß die Stimmung, die Erregung, die Oberzeugungder Massen in der Aktion in Erscheinung treten müssen und tatsächlich inErscheinung treten.

Der vulgäre Revolutionarismus versteht nicht, daß auch das Wort eineTat ist; dieser Grundsatz ist unbestreitbar in seiner Anwendung auf die

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemokratie in der demokratisdben Revolution 59

Geschichte überhaupt oder auf jene Epochen der Geschichte, wenn es keine

offene politische Aktion der Massen gibt, die ja durch keinerlei Putschersetzt oder künstlich hervorgerufen werden kann. Die Revolutionäre derNachtrabpolitik verstehen nicht, daß zu einer Zeit, da der revolutionäreAugenblick angebrochen ist, da der alte „überbau" in allen Fugen kracht,da die offene politische Aktion der Klassen und Massen, die sich einenneuen überbau schaffen, zur Tatsache geworden ist, da der Bürgerkriegbegonnen hat — daß es dann Lebensfremdheit, Todesstarre, Räsonierereioder aber Verrat an der Revolution und Fahnenflucht ist, wenn man sichwie in alter Zeit auf das „Wort" beschränkt, ohne die direkte Losung des

Übergangs zur „Tat" auszugeben, wenn man um die Tat herumredetunter Hinweis auf „psychologische Voraussetzungen" und „Propaganda"schlechthin. Die Frankfurter Schwätzer der demokratischen Bourgeoisiesind das unvergeßliche historische Musterbeispiel eines solchen Verratsoder eines solchen räsonierenden Stumpfsinns.

Wollt ihr eine Erläuterung dieses Unterschieds zwischen dem vulgärenRevolutionarismus und der Nachtrabpolitik der Revolutionäre an Handder Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung in Rußland? Wir kön-nen sie euch geben. Denkt an die Jahre 1901 bis 1902, die noch nicht lange

zurückliegen und uns doch schon wie graue Vergangenheit anmuten. De-monstrationen hatten eingesetzt. Der vulgäre Revolutionarismus begannvom „Sturm" zu schreien („Rabotscheje Delo" l r), „blutrünstige Flug-blätter" wurden herausgegeben (Berliner Herkunft, wenn mich das Ge-dächtnis nicht trügt), und man attackierte die Idee einer gesamtrussischenAgitation durch eine Zeitung als einen „Einfall von Literaten", der amgrünen Tisch ausgeheckt worden sei (Nadeshdin)1S . Die Nachtrabpolitikder Revolutionäre äußerte sich damals umgekehrt in der Predigt, daß der„ökonomische Kampf das beste Mittel für die politische Agitation" sei.

W ie verhielt sich die revolutionäre Sozialdemokratie? Sie griff beide Strö-mungen an. Sie verurteilte das terroristische Blendwerk und das Geschreivom Sturm, weil alle klar sahen oder sehen mußten, daß die offene Aktionder Massen eine Sache der Zukunft war. Sie verurteilte die Nachtrab-politik und stellte sogar direkt die Losung des allgemeinen bewaffnetenVolksaufstands auf, nicht im Sinne einer unmittelbaren Aufforderung(eine Aufforderung zur „Rebellion" hätte Herr Struve zu jener Zeit beiuns nicht gefunden), sondern im Sinne einer notwendigen Schlußfolge-

5*

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60 W. 1 Centn

rung, im Sinne der „Propaganda" (an die sich Herr Struve erst jetzt er-

innerte — er kommt immer um einige Jahre zu spät, unser verehrter HerrStruve), im Sinne der Schaffung eben jener „sozial-psychologischen Vor-aussetzungen", über die jetzt die Vertreter der kopflos gewordenen, krä-merhaften Bourgeoisie „mit finsterer Miene und zu unrechter Zeit" ora-keln. Damals wurden Propaganda und Agitation, Agitation und Propa-ganda durch die objektive Lage wirklich in den Vordergrund gerückt.Damals konnte als Eckstein der Arbeit zur Vorbereitung des Aufstands dieForderung der Arbeit an einer gesamtrussischen politischen Zeitung er-hoben werden (und wurde in „Was tun?" auch erhoben), deren wöchent-

liche H era usg abe als ein Ideal erschien. Damals waren die Losungen M as-senagitation anstatt unmittelbarer bewaffneter Aktionen und Schaffungder sozial-psychologischen Voraussetzungen des Aufstands anstatt terro-ristischen Blendwerks die einzig richtigen Losungen der revolutionärenSozialdemokratie. Jetzt sind diese Losungen von den Ereignissen über-holt, die Bewegung ist vorangeeilt, die Losungen sind zu Plunder gewor-den, zu Trödelkra m, der nur dazu taugt, die Heuchelei der O swob oshden-zen und die Nachtrabpolitik der Neuiskristen zu verdecken!

Oder irre ich mich vielleicht? Hat die Revolution vielleicht noch nicht

begonnen? Ist der Augenblick für das offene politische Auftreten derKlassen noch nicht gekom men ? Gib t es noch keinen Bürgerkrieg, und m ußdie Kritik der Waffen jetzt noch nicht notwendig und unbedingt die Nach-folgerin, Erbin, Testamentsvollstreckerin und Vollenderin der Waffe derKritik sein?

Blickt um euch, schaut aus dem Studierzimmer auf die Straße, um aufdiese Fragen zu a ntworten. H at die Regierung mit der Massenerschießungvon friedlichen und unbewaffneten Bürgern etwa nicht selbst schon überallden Bürgerkrieg bego nnen ? Trete n etwa nicht bewaffnete Schw arzhun-

dertschaften als „Argument" der Selbstherrschaft auf? Hat die Bourgeoisie— sogar d ie Bourgeoisie — etwa nicht die Notw end igke it einer B ürger-miliz erkannt? Redet etwa nicht derselbe Herr Struve, dieser ideal ge-mäßigte und akkurate Herr Struve (leider redet er nur, um sich heraus-zureden!) davon, daß der „offene Charakter der revolutionären Aktionen(so weit sind wir heute!) gegenwärtig eine der wichtigsten Bedingungenfür den erzieherischen Einfluß auf die Volksmassen" sei?

Wer Augen hat zu sehen, der kann nicht daran zweifeln, wie heute von

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 61

den Anhängern der Revolution die Frage des bewaffneten Aufstands ge-

ste l l t werden muß. Und nun seht euch die drei Fragestellungen in jenenOrganen der freien Presse an, die einigermaßen imstande sind, die Mas-se n zu beeinflussen.

Erste Fragestellung. Die Resolution des III. Parteitag s de r Soziald emo -kratischen Arbeiterpartei Rußlands.* Hier ist anerkannt und laut vernehm-lich erklärt, daß die allgemein-demokratische revolutionäre Bewegung be -reits zur Notwendigkeit des bewaffneten Aufstands geführt hat. D ieOrganisierung des Proletariats für den Aufstand ist als eine der wesent-

* Hier der volle Wortlaut:„In der Erwägung,1. daß das Proletariat, das seiner Lage nach die fortgeschrittenste und ein-

zige konsequent-revolutionäre Klasse darstellt, eben dadurch berufen ist, dieFührung in der allgemein-demokratischen revolutionären Bewegung Rußlandszu verwirklichen;

2. daß diese Bewegung gegenwärtig bereits zur Notwendigkeit des bewaff-neten Aufstands geführt hat;

3. daß sich das Proletariat unvermeidlich auf das tatkräftigste an diesemAufstand beteiligen und daß diese Beteiligung das Schicksal der Revolution inRußland entscheiden wird;

4. daß das Proletariat die Führung in dieser Revolution nur verwirklichenkann, wenn es zu einer einheitlichen und selbständigen politischen Kraft unterdem Banner der sozialdemokratischen Arbeiterpartei zusammengeschlossen ist,die seinen Kampf nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch leitet;

5. daß nur die Verwirklichung dieser Führung dem Proletariat die günstig-sten Bedingungen für den Kampf um den Sozialismus gegen die besitzendenKlassen des bürgerlich-demokratischen Rußlands sichern kann —

erkennt der III. Parteitag der SDAPR an, daß die Aufgabe, das Proletariatzum unmittelbaren Kampf gegen die Selbstherrschaft auf dem Wege des be-waffneten Aufstands zu organisieren, eine der wichtigsten und unaufschieb-baren Aufgaben der Partei im gegenwärtigen revolutionären Zeitpunkt ist.

Der Parteitag beauftragt daher alle Parteiorganisationen:a) dem Proletariat durch Propaganda und Agitation nicht nur die politische

Bedeutung, sondern auch die praktisch-organisatorische Seite des bevorstehen-den bewaffneten Aufstands klarzumachen,--

b) bei dieser Propaganda und Agitation die Rolle der politischen Massen-streiks zu erläutern, die bei Beginn und im Verlauf des Aufstands große Be-deutung haben können,-

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62 W. 3. Centn

liehen, hauptsächlichen und notwendigen Aufgaben der Partei auf die

Tagesordnung gesetzt. Es ist der Auftrag erteilt , die energischsten M a ß -nahmen zu treffen, damit das Proletariat bewaffnet und die Möglichkeiteiner unmittelbaren Leitung des Aufstands gesichert wird.

Zweite Fragestellung. Der prinzipielle Artikel des „Führers der russi-schen Konstitutionalisten" (so wurde unlängst Herr Struve von einem soeinflußreichen O rgan der europä ischen Bourgeoisie wie de r „Fra nkfu rterZe itun g" g enannt) oder des Führers der russischen fortschrittl ichen Bour-geoisie im „O swo boshd enije". D ie Ansicht von der Unverm eidlichkeit desAufstands teilt er nicht. Konspiration und Rebellion sind spezifische Me-

thoden des unvernünftigen Revolutionarismus. Der Republikanismus isteine Methode der Betäubung. Der bewaffnete Aufstand ist eigentlich nureine technische Frage, während „das grundlegende, das notwendigste"die Massenpropaganda und die Schaffung der sozial-psychologischen Vor-aussetzungen ist .

Dritte Fragestellung. Die Resolution der neuiskristischen Konferenz.Unsere Aufgabe ist es, den Aufstand vorzubereiten. Die Möglichkeiteines planmäßigen Aufstands ist ausgeschlossen. Günstige Bedingungenfür den Aufstand werden durch die Desorganisation der Regierung, durch

unsere Agitation und unsere Organisation geschaffen. Erst dann „könnentechnische Kampfvorbereitungen mehr oder weniger ernste Bedeutung er-langen".

Weiter nichts? Weiter nichts! Ob der Aufstand notwendig gewordenist, das wissen die neuiskristischen Führer des Proletariats noch nicht. Obdie Aufg abe, das Proletariat für den unm ittelbaren K ampf zu organisieren,unaufschiebbar ist , das ist ihnen noch nicht klar. M an brau cht nicht zu denenergischsten Maßnahmen aufzurufen, es ist viel wichtiger (im Jahre 1905und nicht im Jahre 1902), in allgemeinen Zügen zu erläutern, unter wel-

chen Bedingungen diese Maßnahmen eine „mehr oder weniger ernste"Bedeutung e r langen „können" . . .

Seht ihr nun, Genossen Neuiskristen, wohin ihr durch eure Schwenkung

c) die energischsten Maßnahmen zur Bewaffnung des Proletariats sowie zurAusarbeitung eines Plans des bewaffneten Aufstands und der unmittelbarenLeitung des Aufstands zu ergreifen und, soweit erforderlich, zu diesem Zweckbesondere Gruppen aus Parteifunktionären zu bilden." (Fußnote des Verfas-sers zur Ausgabe von 1907. Die Red.~)

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Zwei Tak tiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 63

zum Martynowismus geraten seid? Begreift ihr, daß sich eure politische

Philosophie als ein Nachbeten der Oswoboshdenzen-Philosophie erwiesenhat? daß ihr euch (gegen euren Willen und ohne euer Wissen) im Schlepp-tau der monarchistischen Bourgeoisie befindet? Ist euch jetzt k lar, daß ihr,während ihr damit beschäftigt wart, die alte Leier zu wiederholen undeuch im Räsonieren zu vervollkommnen, den Umstand aus dem Auge ver-loren habt, daß — um mit den unvergeßlichen Worten des unvergeßlichenArtikels Peter Struves zu sprechen — „der offene Charakter der revolu-tionären Aktionen gegenwärtig eine der wichtigsten Bedingungen für denerzieherischen Einfluß auf die Volksmassen ist"?

9. WAS BEDEUTET ES, W ÄHR END DER REVOL UTIONDIE PARTEI DER ÄUSSERSTEN OPPOSITION ZU SEIN?

Kehren wir zur Resolution über die provisorische Regierung zurück.Wir haben gezeigt, daß die Taktik der Neuiskristen die Revolution nichtvorwärts-, diese Möglichkeit wollten sie durch ihre Resolution gewähr-leisten, sondern rückwärtstreibt. Wir haben gezeigt, daß gerade dieseTaktik der Sozialdemokratie im Kampf gegen die inkonsequente Bour-geoisie die  "Bände bindet und sie nicht davor bewahrt, in der bürgerlichenDem okratie aufzugehen. Es ist begreiflich, daß sich aus den falschen Prä-missen der Resolution auch falsche Schlußfolgerungen ergeben: „Deshalbdarf sich die Sozialdemokratie nicht das Ziel setzen, durch Bildung einerprovisorischen Regierung die Macht zu ergreifen oder die Macht in einersolchen zu teilen, sie muß vielmehr die Partei der äußersten revolutionärenOpposition bleiben." Sehen wir uns die erste Hälfte dieser Schlußfolge-rung an, die sich auf die Zielsetzung bezieht. Stellen die Neuiskristen alsZiel der sozialdemokratischen Tätigkeit den entscheidenden Sieg der Re-

volution über den Zarismus auf? Das tun sie. Sie verstehen nicht, dieBedingungen des entscheidenden Sieges richtig zu formulieren, und formu-lieren daher ähnlich wie das „Oswoboshdenije", aber sie stellen das er-wähnte Ziel auf. Femer: Verbinden sie die provisorische Regierung mitdem Aufstand? Ja, sie verbinden sie direkt damit, indem sie sagen, daßdie provisorische Regierung „aus einem siegreichen Volksaufstand hervor-geht". Setzen sie sich schließlich das Ziel, den Aufstand zu leiten? Ja, sie

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64 W.J. Lenin

drücken sich zwar ebenso wie Herr Struve davor, den Aufstand als not-

wendig und unaufschiebbar anzuerkennen, aber gleichzeitig sagen sie,zum Unterschied von Herrn Struve, daß „die Sozialdemokratie bestrebtist, ihn (den Aufstand) unter ihren Einfluß und unter ihre Zeitung zubringen und ihn im Interesse der Arbeiterklasse auszunutzen".

Wie bündig das herauskommt, nicht wahr? Wir setzen uns das Ziel,den Aufstand sowohl der proletarischen als auch der nidhtproletarisdbenMassen unter unseren Einfluß, unsere Leitung zu bringen und ihn in un-serem Interesse auszunu tzen. Folglich setzen wir uns das Z iel, beim Auf-stand sowohl das Proletariat als auch die revolutionäre Bourgeoisie und

das Kleinbürgertum (die „nichtproletarischen Gruppen") zu leiten, d. h.die Leitung des Aufstands zwischen der Sozialdemokratie und der revo-lutionären Bourgeoisie „zu teilen". Unser Ziel ist der Sieg des Aufstands,der zur Errichtung einer („aus dem siegreichen Volksaufstand hervor-gegangenen") provisorischen Regierung führen soll. Deshalb... deshalbdürfen wir uns nicht das Ziel setzen, durch Bildung einer provisorischenrevolutionären Regierung die Macht zu ergreifen oder die Macht in einersolchen zu teilen!!

Unsere Freunde können um keinen Preis auf einen Nenner kommen.

Sie schwanken zwischen dem Standpunkt des Herrn Struve, der um denAufstand herumredet, und dem Standpunkt der revolutionären Sozial-demokratie, die dazu auffordert, diese unaufschiebbare Aufgabe in An-griff zu nehmen. Sie schwanken zwischen dem Anarchismus, der jedeTeilnahme an der provisorischen revolutionären Regierung als einen Ver-rat am Proletariat prinzipiell verurteilt, und dem Marxismus, der einesolche Teilnahme unter der Bedingung verlangt, daß die Sozialdemokratieden führenden Einfluß auf den Aufstand hat.* Sie haben keinerlei selb-ständige Position; weder die Position des Herrn Struve, der mit demZarismus handelseinig werden möchte und deshalb der Frage des Auf-stands ausweichen, sich vor ihr drücken muß, noch die Position der An-archisten, die jede Aktion „von oben" und jede Teilnahme an der bürger-lichen Revolution verurteilen. Die Neuiskristen werfen den Pakt m it demZarismus und den Sieg über den Zarismus in einen Topf. Sie wollen sichan der bürgerlichen Revolution beteiligen. Sie gehen schon etwas weiter

* Siehe „Proletari" Nr. 3, „Ober die provisorische revolutionäreRegierung",Zweiter Artikel. (Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 440-447, russ. Die Red.)

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 65

als Martynow in den „'Zwei Diktaturen". Sie sind sogar damit einver-

standen, den Volksaufstand zu leiten, aber nur , um sofort nach dem Sieg(oder vielleicht unmittelbar vor dem Sieg?) auf diese Leitung zu verzich-ten, das heißt um die Trüdbte des Sieges nicht zu nutzen, sondern sie vollund ganz der Bourgeoisie zu überlassen. Das nennen sie „den Aufstandim Interesse der Arbeiterklasse ausnutzen" ...

Es erübrigt sich, bei dieser Konfusion länger zu verweilen. Nützlicherist es, die Quelle dieser Konfusion in jener Formulierung aufzuspüren, dieda lautet: „. .. die Partei der äußersten revolutionären Opposition bleiben".

Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen

revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grund-satz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oderOpportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürger-recht als rechtmäßige und notwendige Zurückweisung des „parlamenta-rischen Kretinismus", des Millerandismus, des Bernsteinianertums und desitalienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neuiskristenhaben diesen guten Grundsatz auswendig gelernt und wenden ihn eifrigdort an, wo er... völlig unangebracht ist. Kategorien des parlamentari-schen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhält-nisse geschrieben sind, unter denen es gar kein Parlament gibt. Der Begriffder „Opposition", der Widerspiegelung und Ausdruck einer politischenSituation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganzsinnlos auf eine Situation übertragen, da der Aufstand begonnen hat undalle Anhänger der Revolution über die Leitung des Aufstands nachdenkenund sprechen. Der Wunsch, bei dem „zu bleiben", was vorher war, d. h.bei der Aktion nur „von unten", wird mit Pauken und Trompeten geradedann verkündet, wenn die Revolution gezeigt hat, daß es notwendig ist,im Falle eines siegreichen Aufstands von oben zu handeln.

Nein, unsere Neuiskristen haben entschieden Pech! Sogar dann, wennsie einen ichtigen sozialdemokratischen Grundsatz formulieren, verstehensie es nicht, ihn richtig anzuwenden. Sie haben nicht überlegt, wie sich dieBegriffe und Ausdrücke des parlamentarischen Kampfes in der Epoche derbegonnenen Revolution, wenn es kein Parlament gibt, wenn der Bürger-krieg Tatsache geworden ist und Aufstände ausbrechen, wandeln und inihr Gegenteil verkehren. Sie haben nicht überlegt, daß unter den Verhält-nissen, von denen jetzt die Rede ist, Abänderungsanträge durch Straßen-

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demonstrationen und Interpellationen durch Angriffsaktionen der bewaff-

neten Bürger eingebracht werden, daß die Opposition gegen die Regierungdurch den gewaltsamen Sturz der Regierung verwirklicht wird.

W ie der bekannte Held unseres Volksmärchens gute Ratschläge geradedann wiederholte, wenn sie nicht am Platze waren, so wiederholen auchdie Verehrer Martynows die Lehren des friedlichen Parlamentarismus ge-rade dann, wenn sie selbst den Beginn direkter K ampfhandlungen fest-stellen. Nichts ist drolliger, als wenn in einer Resolution, die mit demHinweis auf den „entscheidenden Sieg der Revolution" und auf den„Volksaufstand" beginnt, mit wichtiger Miene die Losung der „äußersten

Opposition" aufgestellt wird! überlegt doch, Herrschaften, was es be-deutet, in der Epoche des Aufstands als „äußerste Opposition" aufzutre-ten! Bedeutet das, die Regierung zu entlarven oder sie zu stürzen? Be-deutet das, gegen die Regierung zu stimmen oder ihren Streitkräften imoffenen Kampf eine Niederlage beizubringen? Bedeutet das, der Regie-rung die Auffüllung der Staatskasse zu verweigern, oder bedeutet das dierevolutionäre Beschlagnahme dieser Staatskasse, um sie für die Bedürf-nisse des Aufstands, für die Bewaffnung der Arbeiter und Bauern, für dieEinberufung der konstituierenden Versammlung zu verwenden? Begreiftihr nicht endlich, Herrschaften, daß der Begriff „äußerste O pposition"nur negative Handlungen zum Ausdruck bringt: entlarven, dagegen stim-men, verweigern? Und warum? Weil dieser Begriff sich nur auf den par-lamentarischen Kampf bezieht, und zwar in einer Epoche, in de r niemandden „entscheidenden Sieg" als unmittelbares Kampfziel aufstellt. Begreiftihr nicht endlich, daß sich in dieser Hinsicht die Sache kardinal ändert,sobald auf der ganzen Linie der entschlossene Ansturm des politisch unter-drückten Volkes zum erbitterten Kampf um den Sieg beginnt?

Die Arbeiter fragen uns, ob man die unaufschiebbare Sache des Auf-

stands energisch in die Hand nehmen soll. Wie es zu bewerkstelligen ist,daß der begonnene Aufstand siegreich endet.W ie der Sieg ausgenutzt wer-den soll. Welches Programm dann verwirklicht werden kann und muß. DieNeuiskristen, die den Marxismus vertiefen, antworten darauf: Die Parteider äußersten revolutionären Opposition b le iben ... N un, hatten wir etwanicht recht, als wir diese Helden Virtuosen des Philistertums nannten?

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10. D I E „ RE V O L U TIO N Ä R E N K O M M U N E N "

U N D D I E R E V O L U T I O N Ä R - D E M O K R A T I S C H E D I K T A T U RDES PROLETARIATS UND DER BAUERNSCHAFT

Die Konferenz der Neuiskristeri beharrte nicht auf dem anarchistischenStandpunkt, zu dem sich die neue „Iskra" verstiegen hatte (nur „vonunten" anstatt „von unten und von oben"). Der Widersinn der Behaup-tung, der Aufstand sei möglich, aber der Sieg sei unmöglich un d die Teil-nahme an einer provisorischen revolutionären Regierung unzulässig, sprangzu sehr ins Auge. Die Resolution hat deshalb die von Martynow und Mar-

tow gegebene Lösung der Frage mit Vorbehalten und Einschränkungenversehen. Betrachten wir uns einmal diese Vorbehalte, die im nächstenTeil der Resolution dargelegt sind:

„Diese Taktik" („die Partei der äußersten revolutionären Oppositionbleiben") „schließt natürlich nicht im geringsten die Zweckm äßigkeit derteilweisen, episodischen Machtergreifung und der Bildung revolutionärerKommunen in der einen oder anderen Stadt und in dem einen oder an-deren Bezirk aus, wobei ausschließlich das Interesse maßgebend ist, dieAusbreitung des Aufstands und die Desorganisierung der Regierung zu

fördern."Ist dem so, so bedeutet das, daß im Prinzip die Aktion nicht nur vonunten , sondern auch von oben zulässig ist. Folglich wird der im bekanntenFeuilleton L. Martows in der „Iskra" (N r. 93) aufgestellte G rundsatz ver-worfen und die Taktik der Zeitung „Wperjod": nicht nur „von unten",sondern auch „von oben", als richtig anerkannt.

Ferner setzt die Machtergreifung (wenn auch eine teilweise, episodischeusw.) offensichtlich die Teilnahme nicht allein der Sozialdemokratie undnicht allein des Proletariats voraus. Das folgt daraus, daß an einer demo-kratischen Revolution nicht allein das Proletariat interessiert und aktivbeteiligt ist. Das folgt daraus, daß der Aufstand, wie es einleitend in dervon uns behandelten Resolution heißt, ein „Volksaufstand" ist, daß anihm auch „nichtproletarische Gruppen" (der Ausdruck stammt aus derResolution der Konferenzler über den Aufstand) teilnehmen, d. h. auchdie Bourgeoisie. Also ist das Prinz ip, d aß jede Teilnahme der Sozialistenzusammen mit dem Kleinbürgertum an einer provisorischen revolutionä-ren Regierung ein Verrat an der Arbeiterklasse sei, von der Konferenz

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über Bord geworfen worden, wie das der „Wperjod" gefordert hat. Ein

„Verrat" hört nicht auf, ein Verrat zu sein, weil sein Tatbestand ein teil-weiser, episodischer, regionaler usw. ist. Also ist die Gleichsetzung derTeilnahme an einer provisorischen revolutionären Regierung mit einemvulgären Jauresismus von der Konferenz über Bord geworfen worden,wie das der „Wperjod" gefordert hat.1" Eine Regierung hört nicht auf,eine Regierung zu sein, weil sich ihre Macht nicht auf viele Städ te erstreckt,sondern nur auf eine Stadt, nicht auf viele Bezirke, sondern nur auf einenBezirk, und auch nicht, weil diese Regierung so oder anders genannt wird.Somit ist also die prinzipielle Fragestellung, welche die neue „Iskra" zu

geben versucht hat, von der Konferenz fallengelassen worden.Betrachten wir, ob die von der Konferenz gemachten Einschränkungen

für die nunmehr prinzipiell zugelassene Bildung revolutionärer Regierun-gen und für die Teilnahme an ihnen vernünftig sind. Wodurch sich derBegriff „episodisch" vom Begriff „provisorisch" unterscheidet, wissen wirnicht. Wir befürchten, daß hier lediglich die mangelnde Klarheit des Ge-dankens mit einem „neuen" Fremdwort verdeckt wird. Das söoeint „tie-fer" zu sein, ist aber in Wirklichkeit nur dunkler und verworrener. Wo-durch unterscheidet sich „die Zweckmäßigkeit" der teilweisen „Macht-

ergreifung" in einer Stadt oder in einem Bezirk von der Teilnahme aneiner provisorischen revolutionären Regierung des ganzen Staates? Zähltdenn zu den „Städten" nicht eine solche Stadt wie Petersburg, wo sichder 9. Januar abgespielt hat? Gehört denn zu den Bezirken nicht auch derKaukasus, der größer ist als viele Staaten? Erwachsen uns denn die Auf-gaben (die der neuen „Iskra" einst Kopfschmerzen verursacht haben),sich mit den Gefängnissen, der Polizei, den Finanzämtern usw. usf. zubefassen, nicht auch bei der „Machtergreifung" in einer Stad t, geschweigedenn in einem Bezirk? Niemand wird natürlich bestreiten, daß bei un-

zulänglichen Kräften, wenn der Aufstand zu keinem vollen Erfolg, zukeinem entscheidenden Sieg führt, teilweise provisorische revolutionäreRegierungen in einzelnen Städten und anderwärts möglich sind. Aber ge-hört denn das hierher, meine H erre n? Sprecht ihr nicht selbst am Anfangder Resolution vom „entscheidenden Sieg der Revolution", vom „sieg-reichen Volksaufstand"?? Seit wann besorgen die Sozialdemokraten dieGeschäfte der Anarchisten: die Aufmerksamkeit und die Ziele des Prole-tariats zu zersplittern? es auf das „Teilweise" und nicht auf das All-

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gemeine, Einheitliche, Umfassende und Vollständige hinzulenken? Indem

ihr die „Machtergreifung" in einer Stadt voraussetzt, sprecht ihr selbstvon der „Ausdehnung des Aufstands" auf eine andere Stadt — dürfenwir wohl annehmen? auf alle Städte, hoffentlich? Eure Schlußfolgerun-gen, meine Herren, sind ebenso brüchig und zufällig, widerspruchsvollund verworren wie eure Prämissen. Der dritte Parteitag der SDAPR hateine klare und erschöpfende Antwort gegeben auf die Frage der provi-sorischen revolutionären Regierung überhaupt. Diese Antwort umfaßtauch alle teilweisen provisorischen Regierungen. Die Antwort der Kon-ferenz dagegen greift künstlich und willkürlich einen leil der Frage her-aus, wodurch sie (allerdings erfolglos) der Frage als Ganzes ausweichtund Konfusion erzeugt.

Was heißt „revolutionäre Kommunen"? Unterscheidet sich dieser Be-griff von dem der „provisorischen revolutionären Regierung" ? und wennja, worin? Das wissen die Herren Konferenzler selber nicht. Die Ver-worrenheit des revolutionären Denkens führt bei ihnen, wie das durchwegder Fall zu sein pflegt, zur revolutionären Phrase. Jawohl, das Wort „revo-lutionäre Kommune", gebraucht in einer Resolution von Vertretern derSozialdemokratie, ist eine revolutionäre Phrase und weiter nichts. Marxhat derartige Phrasen wiederholt verurteilt, wenn durch den „bestricken-den" Ausdruck aus einer Überlebten Vergangenheit die Aufgaben der Zu -kunft verdeckt werden. Das Bestrickende des Ausdrucks, der seine Rollein der Geschichte ausgespielt hat, verwandelt sich in solchen Fällen in un-nützes und schädliches Flitterwerk, in Wortgeklingel. Wir müssen denArbeitern und dem ganzen Volk eine klare und eindeutige Vorstellungdavon geben, wozu wir eine provisorische revolutionäre Regierung bildenwollen, welche konkreten Umgestaltungen wir verwirklichen werden,wenn wir beim siegreichen Ausgang des bereits begonnenen Volksauf-stands schon morgen einen entscheidenden Einfluß auf die Staatsmacht

ausüben. Das sind die Fragen, vor denen die politischen Führer stehen.Der III. Parteitag der SDAPR antwortet auf diese Fragen mit voller

Klarheit, indem er das ganze Programm dieser Umgestaltungen vorlegt:das Minimalprogramm unserer Partei. Das Wort „Kommune" aber gibtgar keine Antwort, es verwirrt nur die Köpfe mit irgendeinem fernenKlang... oder mit leerem Geklingel. Je teurer uns, sagen wir, die PariserKommune von 1871 ist, um so weniger dürfen wir uns auf sie berufen,

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ohne ihre Fehler und ihre besonderen Bedingungen zu analysieren. Das

tun hieße das abgeschmackte Beispiel der von Engels verspotteten Blan-quisten nachahmen, die sich (1874 in ihrem „Manifest") vor jedem Aktder Kommune in Ehrfurcht verneigten.20 Was wird der Konferenzler demArbeiter sagen, wenn dieser ihn nach jener „revolutionären Kommune"fragt, die in der Resolution erwähnt ist? Er wird nur das eine sagen kön-nen, daß in der Geschichte unter diesem Namen eine Arbeiterregierungbekannt ist, die damals nicht verstand und nicht vermochte, die Elementeder demokratischen und der sozialistischen Umwälzung auseinanderzu-halten, die die Aufgaben des Kampfes für die Republik und die Aufgaben

des Kampfes für den Sozialismus verwechselte, die nicht imstande war,die Aufgaben einer energischen militärischen Offensive gegen Versailleszu lösen, die den Fehler beging, sich nicht der Bank von Frankreich zubemächtigen usw. Kurzum — ob ihr euch auf die Pariser oder auf irgend-eine andere Kommune beruft — eure Antwort wird sein: Das war einesolche Regierung, wie es unsere nidht sein darf. Eine schöne Antwort, dasmuß man sagen! Zeugt das nicht von Räsoniererei eines Buchstaben-gelehrten, von Hilflosigkeit eines Revolutionärs, wenn man das praktischeProgramm der Partei mit Schweigen übergeht und in der Resolution ganzunangebrachten Geschichtsunterricht zu erteilen beginnt? Zeigt sich darinnicht gerade der Fehler, dessen man uns vergeblich zu überführen suchte:die Verwechslung der demokratischen und der sozialistischen Umwäl-zung, die von keiner einzigen „Kommune" auseinandergehalten wordensind?

Als Ziel der provisorischen Regierung (die man so unpassend als Kom-mune bezeichnet) wird „ausschließlich" die Ausbreitung des Aufstandsund die Desorganisierung der Regierung aufgestellt. Das Wort „aus-schließlich", buchstäblich verstanden, schaltet alle anderen Aufgaben aus

und ist ein Nachklang der unsinnigen Theorie des „nur von unten". Einsolches Ausschalten der anderen Aufgaben ist wiederum nichts als Kurz-sichtigkeit und Unüberlegtheit. Die „revolutionäre Kommune", d. h. dierevolutionäre Staatsmacht, wenn auch nur in einsr Stadt, wird unvermeid-lich (wenn auch nu r provisorisch, „teilweise, episodisch") alle Staatsfunk-tionen ausüben müssen, und es wäre der Gipfel der Unvernunft, hier denKopf in den Sand zu stecken. Diese Staatsmacht wird sowohl den Acht-stundentag zum Gesetz erheben und die Arbeiterinspektion in den Fabri-

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 71

ken einrichten als auch die unentgeltliche allgemeine Schulbildung und die

Wählbarkeit der Richter einführen, Bauernkomitees gründen müssenusw. — kurzum, sie wird unbedingt eine Reihe von Reformen durchfüh-ren müssen. Diese Reformen unter den Begriff „die Ausbreitung des Auf-stands fördern" einordnen zu wollen hieße mit Worten spielen und ab-sichtlich die Unklarheit dort vergrößern, wo volle Klarheit notwendig ist.

Der Schlußteil der neuiskristischen Resolution liefert kein neues Mate-rial für die Kritik an den prinzipiellen Tendenzen des in unserer Parteiwiederauferstandenen „Ökonomismus", aber er illustriert das oben Ge-

sagte von einer etwas anderen Seite.Hier ist dieser Teil:„Nur in einem Fall müßte die Sozialdemokratie aus eigener Initiative

ihre Anstrengungen darauf richten, die Macht zu ergreifen und sie mög-lichst lange zu behaupten, nämlich wenn die Revolution auf die fortge-schrittenen Länder Westeuropas übergriffe, wo die Bedingungen für dieVerwirklichung des Sozialismus schon eine gewisse (?) Reife erreichthaben . In diesem Falle können sich die beschränkten historischen Grenzender russischen Revolution beträchtlich ausweiten, und es wird die Mög-lichkeit entstellen, den Weg sozialistischer Umgestaltungen zu beschreiten.

Indem die Sozialdemokratie ihre Taktik auf der Absicht aufbaut, dersozialdemokratischen Partei während der ganzen revolutionären Periodedie Stellung der äußersten revolutionären Opposition gegenüber allen Re-gierungen, die sich im Laufe der Revolution ablösen, zu bewahren, kannsie sich auch am besten darauf vorbereiten, die Regierungsmacht auszu-nutzen , wenn sie ihr zufallen (?? ) so llte."

Der Grundgedanke ist hier derselbe, den der „Wperjod" mehrfach for-muliert ha t, als er davon sprach, daß wir einen vollen Sieg der Sozialdemo-kratie in der demokratischen Revolution, d. h. die revolutionäre demo-kratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft nicht fürchtendürften (wie Martynow es tu t), denn ein solcher Sieg werde uns die Mög-lichkeit geben, Europa zur Erhebung zu bringen, und das sozialistischeProletariat Europas werde uns, nachdem es das Joch der Bourgeoisie ab-geschüttelt habe, seinerseits helfen, die sozialistische Umwälzung zu voll-bringen. M an sehe sich jedoch an, wie dieser Gedanke in der Fassung derNeuiskristen verpfuscht worden ist.W ir wollen nicht auf Einzelheiten ein-

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72 "W. 7. Lenin

gehen wie auf den Unsinn, daß einer zielbewußten Partei, die die Taktik

der Machtergreifung für schädlich hält, die Macht „zufallen" könne; oderdarauf, daß in Europa die Bedingungen für den Sozialismus nicht einegewisse Reife erreicht haben, sondern überhaupt reif dafür sind; oder dar-auf, daß unser Parteiprogramm keine sozialistischen Umgestaltungen, son-dern nu r die sozialistische Umwälzung kennt. Nehmen wir den hauptsäch-lichen und grundlegenden Unterschied zwischen dem Gedankengang des„Wperjod" und der Resolution. Der „Wperjod" zeigte dem revolutio-nären Proletariat Rußlands eine aktive Aufgabe: im Kampf für die Demo-kratie siegen und diesen Sieg ausnutzen, um die Revolution nach Europa

hinüberzutragen. Die Resolution versteht nicht diesen Zusammenhangzwischen unserem „entscheidenden Sieg" (nicht im neuiskristischen Sinne)und der Revolution in Europa und spricht deshalb nicht von den Aufgabendes Proletariats, nicht von den Perspektiven seines Sieges, sondern voneiner der Möglichkeiten schlechthin: „wenn die Revolution übergriffe" ...Der „Wperjod" zeigte klipp und klar — und diese Hinweise sind in dieResolution des III. Parteitags der SDAPR eingegangen —, wie eben imInteresse des Proletariats „die Regierungsmacht ausgenutzt" werden kannund muß, unter Berücksichtigung dessen, was auf der gegebenen Stufeder gesellschaftlichen Entwicklung sofort verwirklicht werden kann undwas zuerst, als demokratische Voraussetzung des Kampfes für den Sozia-lismus, verwirklicht werden muß. Die Resolution hinkt auch hier hoff-nungslos nach, wenn sie sagt: „...kann sich darauf vorbereiten, die Re-gierungsmacht auszunutzen", aber nicht zu sagen vermag, wie man daskann, wie man sich vorbereiten und wie man die Regierungsmacht aus-nutzen soll. Wir zweifeln zum Beispiel nicht daran, daß die Neuiskristen„sich darauf vorbereiten können", die führende Stellung in der Partei„auszunutzen", der Haken ist aber der, daß ihre Erfahrung bei dieserAusnutzung und ihre Vorbereitung bis jetzt nicht zu der Hoffnung be-

rechtigen, daß sie die Möglichkeit zur W irklichkeit m ac he n.. .

Der „Wperjod" sagte genau, worin gerade die reale „Möglichkeit" be-steht, „die Macht zu behaupten": in der revolutionären demokratischenDiktatur des Proletariats und der Bauernschaft, in ihrer gemeinsamenMassenkraft, die imstande ist, über alle Kräfte der Konterrevolution dasÜbergewicht zu erlangen, und in der unvermeidlichen Übereinstimmungihrer Interessen, was die demokratischen Umgestaltungen anbelangt. Die

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Zwei 7ak.tik.en der Sozialdemokratie in der demokratisdben Revolution 73

Konferenzresolution bietet auch hier nichts Positives, sie redet bloß um

die Frage herum. Die Möglichkeit, in Rußland die Macht zu behaupten,muß doch abhängig gemacht werden von der Zusammensetzung der sozia-len Kräfte in Rußland selbst, von den Bedingungen der demokratischenUmwälzung, die jetzt bei uns vor sich geht. Der Sieg des Proletariats inEuropa (zwischen dem Hinübertragen der Revolution nach Europa unddem Sieg des Proletariats liegt aber noch eine gewisse Wegstrecke) wirddoch einen verzweifelten konterrevolutionären Kampf der russischen Bour-geoisie hervorrufen. Die Resolution der Neuiskristen sagt kein Wort überdiese konterrevolutionäre Kraft, deren Bedeutung in der Resolution des

III. Parteitags der SDAPR bewertet wird. Könnten wir uns im Kampfefür die Republik und die Demokratie außer auf das P roletariat nicht auchauf die Bauernschaft stützen, so wäre, die „Behauptung der Macht" eineaussichtslose Sache. Ist sie aber nicht aussichtslos, eröffnet der „entschei-dende Sieg der Revolution über den Zarismus" eine solche Möglichkeit,so müssen wir darauf hinweisen, aktiv dazu aufrufen, die Möglichkeit zu rWirklichkeit zu machen, praktische Losungen geben nicht nur für den7atl, daß die Revolution nach Europa hinübergetragen wird, sondern auchzu dem Zweck, sie hinüberzutragen. Bei den Nachtrabpolitikern der So-

zialdemokratie bemäntelt die Berufung auf den „beschränkten historischenRahmen der russischen Revolution" nur das beschränkte Verständnis fürdie Aufgaben dieser demokratischen Revolution und für die führendeRolle des Proletariats in dieser Revolution!

Einer der Einwände gegen die Losung „revolutionär-demokratischeDiktatur des Proletariats und der Bauernschaft" besteht darin, daß dieDiktatur einen „einheitlichen Willen" voraussetze („Iskra" Nr. 95), dasProletariat und das Kleinbürgertum aber keinen einheitlichen Willenhaben könnten . Dieser Einwand ist nicht stichhaltig, denn er fußt auf einer

abstrakten, „metaphysischen" Auslegung des Begriffs „einheitlicher W ille" .Der Wille kann ja in einer Beziehung einheitlich, in einer anderen nichteinheitlich sein. Daß der Wille in den Fragen des Sozialismus und imKampf für den Sozialismus nicht einheitlich ist, schließt nicht aus, daß erin den Fragen des Demokratismus und im Kampf für die Republik ein-heitlich ist. Das vergessen hieße den logischen und historischen Unter-schied zwischen der demokratischen und der sozialistischen Umwälzungvergessen. Das vergessen hieße vergessen, daß die demokratische Umwäl-

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zung ihrem Charakter nach das ganze Volk umfaßt : Wenn sie aber das

„ganze Volk" umfaßt , so gibt es also einen „einheitlichen Willen", undzwar insofern, als diese Umwälzung die Bedürfnisse und Erfordernisse

des ganzen Volkes befriedigt. Über den Rahmen des Demokratismus hin-aus kann von einem einheitl ichen Willen des Proletariats und der bäuer-

lichen Bourgeoisie keine Rede sein. Der Klassenkampf zwischen ihnen ist

unvermeidlich, aber auf dem Boden der demokratischen Republik wird

dieser Kampf eben der t iefgehendste und umfassendste Volkskampf für

den Soziaiismus sein. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Pro-letariats und der Bauernschaft hat, wie alles auf der Welt, eine Vergangen-

heit und eine Zukunft. Ihre Vergangenheit sind die Selbstherrschaft, dieLeibeigenschaft, die Monarchie, die Privilegien. Im Kampf gegen diese

Vergangenheit , im Kampf gegen die Konterrevolution kann es einen „ein-

heitlichen Willen" des Proletariats und der Bauernschaft geben, weil ein-heitl iche Interessen vo rhande n sind.

Ihre Zukunft ist der Kampf gegen das Privateigentum, der Kampf des

Lohnarbeiters gegen den Unternehmer, der Kampf für den Sozialismus.

Hier ist ein einheitlicher Wille unmöglich.* Hier liegt vor uns nicht der

Weg von der Selbstherrschaft zur Republik, sondern der Weg von der

kleinbürgerlichen demokratischen Republik zum Sozialismus.In der konkreten historischen Situation verflechten sich freilich die Ele-

mente der Vergangenhei t und der Zukunft , der e ine Weg geht in den

anderen über. Die Lohnarbeit und ihren Kampf gegen das Privateigentum

gibt es auch unter der Selbstherrschaft, sie entsteht in ihrer Keimform so-gar unter der Leibeigenschaft. Das hindert uns jedoch keineswegs, die

groß en En twicklungsperioden logisch un d historisch voneina nder zu schei-

de n. Wi r alle stellen ja die bürgerliche Revolution der sozialistischen gegen-

über, wir alle bestehen unbedingt auf der Notwendigkeit , strengstens zwi-

schen ihnen zu unterscheiden, aber kann m an de nn leugn en, da ß sich in de rGeschichte einzelne Teilelemente der einen und der anderen Umwälzung

miteinander verflechten? Kennt denn die Epoche der demokratischen Re-

volutionen in Europa nicht eine Reihe sozialistischer Bewegungen und

* Die Entwicklung des Kapitalismus, die unter freiheitlichen Verhältnissennoch timfassender und schneller vor sich geht, wird dem einheitlichen Willenunvermeidlich ein rasches Ende setzen, ein um so rascheres, je rascher die K on-terrevolution und Reaktion zerschlagen wird.

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 75

sozialistischer Versuche? Und ist denn der künftigen sozialistischen Revo-

lution in Europa nicht noch vieles, sehr vieles im Sinne des Detnokratismusnachzuholen geblieben?

Ein Sozialdemokrat darf den unvermeidlichen Klassenkampf des Prole-tariats für den Sozialismus gegen die Bourgeoisie und die Kleinbourgeoisie,mögen sie noch so demokratisch und republikanisch sein, nie und nimmervergessen. Das steht außer allem Zweifel. Daraus folgt, daß eine beson-dere, selbständige, streng auf dem Klassenprinzip aufgebaute Partei derSozialdemokratie unbedingt notwendig ist. Daraus folgt, daß unser „ver-eint schlagen" mit der Bourgeoisie zeitweiligen Charakter trägt, daß wir

die Pflicht haben, „auf den Verbündeten wie auf den Feind" scharf aufzu-passen usw. Das alles unterliegt ebenfalls nicht dem geringsten Zweifel.Aber es wäre lächerlich und reaktionär, daraus zu folgern, daß man diezwar vorübergehenden und zeitweiligen, aber in der Gegenwart aktuellenAufgaben vergessen, ignorieren oder vernachlässigen dürfte. Der Kampfgegen die Selbstherrschaft ist eine zeitweilige und vorübergehende Auf-gabe der Sozialisten, doch jedes Ignorieren oder Vernachlässigen dieserAufgabe bedeutet nichts anderes, als den Sozialismus zu verraten und derReaktion einen Dienst zu erweisen. Die revolutionär-demokratische Dikta-

tur des Proletariats und der Bauernschaft ist zweifellos nur eine vorüber-gehende, zeitweilige Aufgabe der Sozialisten, aber es ist geradezu reaktio-när, diese Aufgabe in der Epoche der demokratischen Revolution zu igno-rieren.

Konkrete politische Aufgaben muß man in einer konkreten Situationstellen. Alles ist relativ, alles fließt, alles ändert sich. Die deutsche Sozial-demokratie stellt in ihrem Programm nicht die Forderung der Republikauf. Dort ist die Situation so, daß diese Frage praktisch kaum von derFrage des Sozialismus zu trennen ist (obwohl Engels in den Bemerkungen

zum Entwurf des Erfurter Programms 1891 auch hinsichtlich Deutschlandsdavor gewarnt hat, die Bedeutung der Republik und des Kampfes für dieRepublik zu unterschätzen!21). In der russischen Sozialdemokratie tauchtenicht einmal die Frage auf, ob man die Forderung der Republik aus demProgramm und aus der Agitation streichen solle, denn bei uns kann voneinem untrennbaren Zusammenhang zwischen den Fragen der Republikund des Sozialismus gar keine Rede sein. Der deutsche Sozialdemokratvon 1898, der nicht speziell die Frage der Republik in den Vordergrund

6*

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76 TV. J. Lenin

rückt, ist eine natürliche Erscheinung, die weder Verwunderung noch Ver-

urteilung hervorruft. Der deutsche Sozialdemokrat, der 1848 die Frageder Republik im unklaren gelassen hätte, wäre ein direkter Verräter ander Revolution gewesen. Es gibt keine abstrakte Wahrheit. Die W ahrheitist immer konkret.

Die Zeit wird kommen, da der Kampf gegen die russische Selbstherr-schaft zu Ende und die Epoche der demokratischen Revolution für Ruß-land vorbei sein wird; dann wird es lächerlich anmuten, vom „einheit-lichen Willen" des Proletariats und der Bauernschaft, von der demokrati-schen Diktatur usw. auch nur zu sprechen. Dann werden wir unmittelbar

an die sozialistische Diktatur des Proletariats denken und eingehenderdarüber sprechen. Heute aber muß die Partei der fortgeschrittenstenKlasse den entscheidenden Sieg der demokratischen Revolution über denZarismus auf das tatkräftigste anstreben. Und der entscheidende Sieg isteben nichts anderes als die revolutionär-demokratische Diktatur des Pro-letariats und der Bauernschaft.

Anmerkung 22

1. Wir erinnern den Leser daran, daß in der Polemik zwischen der

„Iskra" und dem „Wperjod" erstere sich unter anderem auf einen Briefvon Engels an Turati berief, in dem Engels den (späteren) Führer der italie-nischen Reformisten davor warnte, die demokratische Revolution mit dersozialistischen zu verwechseln.23 Die bevorstehende Revolution in Italien,schrieb Engels zur politischen Lage in Italien 1894, wird eine kleinbürger-liche, demokratische, und nicht eine sozialistische sein. Die „Iskra" machtedem „Wperjod" den Vorwurf, er weiche von dem Prinzip ab, das Engelsaufgestellt habe. Dieser Vorwurf war unberechtigt, denn der „Wperjod"(Nr. 14)* erkannte die Richtigkeit der Marxschen Theorie vom Unter-

schied der drei Hauptkräfte in den Revolutionen des 19. Jahrhunderts imgroßen und ganzen durchaus an. Nach dieser Theorie treten der alten G e-sellschaftsordnung, der Selbstherrschaft, dem Feudalismus, der Leibeigen-schaft, entgegen: 1. die liberale Großbourgeoisie; 2. das radikale Klein-bürgertum; 3. das Proletariat. Die erste kämpft lediglich für die konstitu-tionelle Monarchie, das zweite für die demokratische Republik, das drittefür die sozialistische U mw älzung. D ie Verwechslung des kleinbürgerlichen

* Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 247-263, russ. Die Hed.

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Zwe i Taktiken der Sozialdemok ratie in der demokratisdoen Revolution 77

Kampfes für die vollständige demokratische Umwälzung mit dem proleta-

rischen Kampf für die sozialistische Revolution droht dem Sozialisten mitpolitischem Bankrott. Diese Warnung von M arx ist durchaus richtig. Abergerade aus diesem Grunde ist eben die Losung der „revolutionären Kom-munen" falsch, denn die in der Geschichte bekannten Kommunen habenja gerade die demokratische Umwälzung mit der sozialistischen verwech-selt. Unsere Losung: revolutionäre demokratische Diktatur des Proleta-riats und der Bauernschaft hingegen bietet die volle Garantie, daß dieserFehler vermieden wird. Denn unsere Losung erkennt vorbehaltlos denbürgerlichen C harakter der Revolution an , die unfähig ist, über den Rah-

men einer nur demokratischen Umwälzung unmittelbar hinauszugehen,treibt aber zugleich diese Umwälzung vorwärts, ist bestrebt, dieser Um-wälzung die für das Proletariat vorteilhaftesten Formen zu geben, und istfolglich bestrebt, die demokratische Um wälzung für die Zwecke des weite-ren erfolgreichen Kampfes des Proletariats für den Sozialismus in denk-bar bester Weise auszunutzen.

I I . F L Ü C H T I G E R V E R G L E I C H E I N I G E R R E S O L U T I O N E N

DES II I . PARTEITAGS DER SDAPR U N D DER „KO NFE RE NZ "

Die Frage der provisorischen revolutionären Regierung bildet für dieSozialdemokratie gegenwärtig den Schwerpunkt der taktischen Fragen.Auf die übrigen Resolutionen der Konferenz ebenso ausführlich einzu-gehen ist weder möglich noch nötig. W ir w erden uns nur mit einem kurzenHinweis auf einige Punkte begnügen, die den von uns oben analysiertenprinzipiellen Unterschied der taktischen Linie zwischen den Resolutionendes III. Parteitags der SDAPR und den Resolutionen der Konferenz be-

stätigen.Nehmen wir die Frage der Stellung zur Taktik der Regierung am Vor-abend der Umwälzung. Wiederum wird man in der Resolution desIII. Parteitags der SDAPR eine vollständige Antwort finden. Diese Reso-lution berücksichtigt all die mannigfachen Bedingungen und Aufgaben desbesonderen Augenblicks: sowohl die Entlarvung der heuchlerischen Zu-geständnisse der Regierung als auch die Ausnutzung der „karikaturisti-schen Formen einer Volksvertretung", sowohl die revolutionäre Verwirk-

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78 IV.1. Lenin

lidiung der dringenden Forderungen der Arbeiterklasse (vor allem des

Achtstundentags) als schließlich auch die Abwehr der Schwarzhundert-schaften. In den K onferenzresolutionen ist die Frage in verschiedenen Ab-schnitten verstreut: Die „Abwehr der finsteren Kräfte der Reaktion" istnu r in den M otivierungen der Resolution über die Stellung zu den anderenParteien erwähnt. Die Beteiligung an den Wahlen zu den Vertretungs-körperschaften wird getrennt von den „Kompromissen" des Zarismus mitder Bourgeoisie behandelt. Anstatt der Aufforderung, den Achtstundentagauf revolutionärem Wege zu verwirklichen, wird in einer besonderen Re-solution mit dem pompösen Titel „ü be r den ökonomischen Kampf" (nach

den tönenden und sehr törichten Worten von dem „zentralen Platz, dendie Arbeiterfrage im öffentlichen Leben Rußlands eingenommen hat") nurdie alte Losung von der Agitation für die „gesetzliche Festlegung des Acht-stundentags" wiederholt. D aß diese Losung im gegenwärtigen Augenblickungenügend und zurückgeblieben ist, ist viel zu klar, als daß es eines wei-teren Beweises bedürfte.

Nun zur Frage des offenen politischen Auftretens. Der III. Parteitagzieht die bevorstehende grundlegende Änderung unserer Tätigkeit in Be-tracht. Die konspirative Tätigkeit und der Ausbau des konspirativen

Apparats dürfen in keiner Weise vernachlässigt werden; das käme derPolizei sehr gelegen und wäre für die Regierung äußerst vorteilhaft. Manmuß aber schon jetzt auch an das offene Auftreten denken. Man muß un-verzüglich zweckmäßige Formen eines solchen Auftretens und folglicheinen besonderen, weniger konspirativen Apparat für diesen Zweck vor-bereiten. Man muß die legalen und halblegalen Verbände ausnutzen, umsie nach Möglichkeit in Stützpunkte für die künftige legale Sozialdemo-kratische Arbeiterpartei in Rußland zu verwandeln.

Die Konferenz zerstückelt auch diese Frage, ohne irgendwelche voll-

ständigen Losungen zu geben. Besonders fällt der lächerliche Auftrag andie Organisationskommission auf, für die „Unterbringung" der legalenLiteraten zu sorgen. Ganz absurd ist der Beschluß, daß wir „jene demokra-tischen Zeitungen unter unseren Einfluß bringen müssen, die sich das Zielsetzen, die Arbeiterbewegung zu fördern". Dieses Ziel setzen sich alleunsere legalen liberalen Zeitungen, die ja fast durchweg der Richtung des„Oswoboshdenije" angehören. W arum sollte die „Iskra"-Redaktion nichtselbst damit beginnen, ihren Rat in die Tat umzusetzen, und uns ein Bei-

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 79

spiel geben, wie man das „Oswoboshdenije" unter sozialdemokratischen

Einfluß bringt? Anstatt der Losung, die legalen Verbände zur Schaffungvon Stützpunkten für die Partei auszunutzen, gibt man uns erstens einenRat, der nur eine Teilfrage, nämlich die „Gew erkschafts"verbände betrifft(obligatorische Mitgliedschaft für Parteimitglieder), und zweitens denRat,die „revolutionären Organisationen der Arbeiter" = „losen Organisatio-nen" = „revolutionären Arbeiterklubs" zu leiten. W ie die „Klubs" unterdie losen Organisationen geraten sind, was das für „Klubs" sind, das weißAllah allein. Anstatt präziser, klarer Direktiven der höchsten Parteikörper-schaft sehen wir hingeworfene Gedankensplitter und flüchtige Notizen vonLiteraten. Ein vollständiges Bild davon, wie die Partei beginnen soll, ihregesamte Arbeit auf eine völlig neue Basis umzustellen, erhält man nicht.

Die „Bauernfrage" ist vom Parteitag und von der Konferenz ganz ver-schieden gestellt worden. Der Parteitag hat eine Resolution über „die Stel-lung zur Bauernbewegung", die Konferenz eine Resolution über „die Ar-beit unter den Bauern" ausgearbeitet. In dem einen Fall werden die Auf-gaben der Leitung der ganzen breiten revolutionär-demokratischen Be-wegung im gesamtnationalen Interesse des Kampfes gegen den Zarismusin den Vordergrund gerückt. In dem anderen Fall reduziert sich das Ganzeauf die „Arbeit" unter einer besonderen Schicht. In dem einen Fall wirdeine zen trale praktische Agitationslosung ausgegeben — die sofortigeBildung von revolutionären Bauernkomitees zur Durchführung aller demo-kratischen Um gestaltungen. In dem anderen Fall heißt es, daß „die Forde-rung , Komitees zu bilden", der konstituierenden Versammlung unte rbrei-tet werden solle. W arum müssen wir unbedingt diese konstituierende Ver-sammlung abwarten? wird sie in Wirklichkeit zu einer konstituierendenwerden? wird sie ohne vorhergehende und gleichzeitige Schaffung vonrevolutionären Bauernkomitees von Bestand sein? Alle diese Fragen sindvon der Konferenz außer acht gelassen worden. In allen ihren Beschlüssen

spiegelt sich mithin der von uns aufgezeigte allgemeine Gedanke wider,daß wir in der bürgerlichen Revolution nur unsere besondere Arbeit zuleisten hätten, ohne uns das Ziel zu se tzen, die gesamte demokratische Be-wegung zu leiten und sie selbständig durchzuführen. Wie die Ökono-misten ständig in den Irrtum verfielen, die Sozialdemokraten hätten sichum den ökonomischen Kampf, die Liberalen aber um den politischenKampf zu kümmern, so verfallen auch die Neuiskristen im ganzen Verlauf

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ihrer Betrachtungen in den Irrtum, uns gebühre ein bescheidener Winkel

abseits von der bürgerlichen Revolution, Sache der Bourgeoisie dagegensei es, die Revolution aktiv durchzuführen.

Schließlich darf auch die Resolution über die Stellung zu den anderenParteien nicht unerw ähnt b leiben. Die Resolution des III. Parteitags derSDAPR spricht von der Entlarvung jeder Beschränktheit und Unzuläng-lichkeit der bürgerlichen Freiheitsbewegung, ohne sich dem naiven Gedan-ken hinzugeben, man müsse von Parteitag zu Parteitag alle möglichenFälle dieser Beschränktheit aufzählen und eine Linie ziehen, welche dieschlechten von den guten Bourgeois scheidet. Die Konferenz sucht, den

Fehler Starowers wiederholend, beharrlich nach einer solchen Scheidelinieund entwickelt dabei die berühmte Theorie des „Lackmuspapiers". Sta-rower ging von der sehr guten Idee aus, der Bourgeoisie recht strenge Be-dingungen zu stellen. Er vergaß nur, daß jeder Versuch, die bürgerlichenDemokraten von vornherein zu scheiden in solche, die verdienen, daßman ihnen Anerkennung zollt , mit ihnen Abkommen schließt usw., undin solche, die das nicht verdienen, zu einer „Formel" führt, die von derEntwicklung der Ereignisse sofort wieder über Bord geworfen wird unddie in das proletarische Klassenbewußtsein Verwirrung hineinträgt. Denndas Schwergewicht wird damit von der realen Einheit im Kampf auf Er-klärungen, Versprechungen und Losungen verlegt. Starower betrachteteals eine solche grundlegende Losung das „allgemeine, gleiche, direkte undgeheime W ahlr ech t". Es vergingen keine zwei Jahre — und das „Lackmus-papier" erwies sich als untauglich, die Losung des allgemeinen Wahlrechtswurde von den Oswoboshdenzen übernommen, und diese s ind dadurchder Sozialdemokratie keineswegs nähergekommen, sondern versuchen imGegenteil , eben mittels dieser Losung die Arbeiter irrezuführen und sievom Sozialismus abzulenken.

Jetzt stellen die Neuiskristen noch „strengere Bedingungen", sie „for-dern" von den Feinden des Zarismus die „energische und unzwei-deutige (!?) Unterstützung jeder entschlossenen Aktion des organisiertenProletariats" usw., einschließlich der „aktiven Beteiligung an der Selbst-bewaffnung des Volkes". Die Scheidelinie erstreckt sich auf viel weitereGebiete — und nichtsdestoweniger ist diese Linie sdbon wieder veraltet, ha tsie sich sofort als untauglich erwiesen. Warum fehlt z. B. die Losung derRepublik? Wie kommt es, daß die Sozialdemokraten von den bürgerlichen

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 81

Demokraten im Interesse des „rücksichtslosen revolutionären Krieges

gegen alle Grundlagen der ständisch-monarchischen Ordnung" alles mög-liche „fordern", nur nicht den Kampf für die Republik?

Daß diese Frage keine Nörgelei, daß der Fehler der Neuiskristen vonlebendigster politischer Bedeutung ist, beweist der „Russische Befreiungs-bund" (siehe „Proletari" Nr. 4)*. Diese „Feinde des Zarismus" dürftenallen „Forderungen" der Neuiskristen vollkommen entsprechen. Indessenhab en wir gezeigt, da ß im Program m (oder in der Programm losigkeit) die-ses „Russischen Befreiungsbundes" der Geist des „Oswoboshdenije"herrscht und daß die Oswoboshdenzen ihn leicht ins Schlepptau nehmenkönne n. Die Kon ferenz jedoch erklärt am Schluß der Resolution, da ß „dieSozialdemokratie allen jenen politischen Parteien, die zwar das liberaleund demokratische Banner entrollen, aber sich weigern, den revolutionärenKampf des Proletariats wirklich zu unterstützen, nach wie vor als heudb-

lerisdhen Treund en des Volkes entgegentreten wird". Der „Russische Be-freiungsbund" ist weit davon entfernt, sich zu weigern, er bietet dieseUnterstützung im Gegenteil eifrig an. Ist das eine Bürgschaft dafür, daßseine Führer keine „heuchlerischen Freunde des Volkes" sind, wenngleichsie zu den Oswoboshdenzen gehören?

Man sieht: Dadurch, daß die Neuiskristen im voraus „Bedingungen"verfassen und grimmige „Forderungen" aufstellen, die in ihrer Ohnmachtkomisch wirken, bringen sie sich sofort in eine lächerliche Lage. Ihre Be-dingungen und Forderungen erweisen sich sofort als unzulänglich, wennes gilt, der lebendigen Wirklichkeit Rechnung zu tragen. Ihr Jagen nachFormeln ist aussichtslos, denn es gibt keine Formel, in der man alle dieÄußerungen von Heuchelei, Inkonsequenz und Beschränktheit der bürger-lichen Demokratie einfangen könnte. Nicht auf „Lackmuspapier", nicht

* In Nr. 4 des „Proletari" vom 4. Juni 1905 erschien ein umfangreicher Ar-

tikel „Ein neuer revolutionärer Arbeiterbund" (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8,S. 465—476, russ. Die Red.~). In dem Artikel wird der Inhalt der Aufrufe diesesBundes wiedergegeben, der sich „Russischer Befreiungsbund" nannte und sichdie Einberufung einer konstituierenden Versammlung mit Hilfe des bewaffne-ten A ufstands zum Ziele setzte. W eiterhin wird in dem Artikel die Stellung derSozialdemokratie z u d erartigen parteilosen Verbä nden festgelegt. Inwieweit die-ser Bund real und welches sein Schicksal in der Revolution war, entzieht sich völ-lig unserer Kenntnis. (Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red,")

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8'2 W. J. Lenin

auf Formeln, nicht auf niedergeschriebene und abgedruckte Forderungen,

nicht auf eine von vornherein gezogene Grenzlinie zwischen heuchle-rischen und nichtheuchlerischen „Freunden des Volkes" kommt es an, son-dern auf die reale Einheit im Kampf, auf die unablässige Kritik seitens derSozialdemokratie an jedem „unentschlossenen" Schritt der bürgerlichenDemokratie. Für den „wirklichen Zusammenschluß aller am demokrati-schen Umbau interessierten gesellschaftlichen Kräfte" bedarf es nicht der„Punkte", mit denen sich die Konferenz so eifrig und so vergeblich ab-mühte, sondern der Fähigkeit, wirklich revolutionäre Losungen aufzustel-len. Dazu braucht man Losungen, welche die revolutionäre und republika-

nische Bourgeoisie auf das N iveau des Proletariats emporheben, nicht aberdie Aufgaben des Proletariats auf das Niveau der monarchistischen Bour-geoisie hinabdrücken. Dazu ist die energischste Beteiligung am Aufstandnotwendig, nicht aber räsonierende Ausflüchte vor der unaufschiebbarenAufgabe des bewaffneten Aufstands.

12. W I R D D E R S C H W U N GD ER D E M O K R A T I S C H E N R E V O L U T I O N G E S CH W Ä C H T ,

W E N N D I E B O U R G E O I SI E VO N I H R A B S C H W E N K T ?

Die obigen Zeilen waren schon geschrieben, als wir die von der „Iskra"herausgegebenen Resolutionen der kaukasischen Konferenz der Neuiskri-sten erhielten. Pour la bonne bouche (als letzten Leckerbissen) hä tten wiruns kein besseres Material wünschen können.

Die Redaktion der „Iskra" bemerkt mit Recht: „In der Grundfrage derTaktik ist die kaukasische Konferenz ebenfalls zu einem Beschluß gekom-men, der dem auf der gesamtrussischen (d. h. neuiskristischen) Konferenzangenommenen analog ist. (Das ist wahr!) Die Frage der Stellung der So-zialdemokratie zur provisorischen revolutionären Regierung ist von denkaukasischen Genossen im Sinne der schärfsten Ablehnung jener neuenMethode entschieden worden, die von der Gruppe ,Wperjod' und denDelegierten des sogenannten Parteitags, die sich ihr angeschlossen haben,propagiert wird." „Die von der Konferenz gegebene Formulierung derTaktik der proletarischen Partei in der bürgerlichen Revolution muß alssehr gelungen bezeichnet werden."

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Zwei T aktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 83

Was wahr ist, ist wahr. Eine „gelungenere" Formulierung des Grund-

fehlers der Neuiskristen hätte niemand geben können. Wir wollen dieseFormulierung ungekürzt bringen und vorerst in Klammern auf die Blüten,dann aber auch auf die zum Schluß servierten Früchte aufmerksam machen.

Hier die Resolution der kaukasischen Konferenz der Neuiskristen überdie provisorische Regierung:

„Da die Konferenz es als ihre Aufgabe betrachtet, den revolutionärenAugenblick zur Vertiefung" (nun natürlich! Man müßte hinzufügen: zurMartynowschen Vertiefung!) „des sozialdemokratischen Bewußtseins desProletariats auszunutzen", (nur zur Vertiefung des Bewußtseins und nicht

zur Erkämpfung der Republik? Welch „tiefe" Auffassung von der Revo-lution !) „spricht sie sich, um der Partei die vollste Freiheit der Kritik andem entstehenden bürgerlich-staatlichen Regime zu sichern", (die Repu-blik zu sichern, ist nicht unsere Sache! Unsere Sache ist nur , die Freiheitder Kritik zu sichern. Anarchistische Ideen erzeugen auch eine anarchi-stische Sprache: „bürgerlich-staatliches" Regime!) „gegen die Bildung einersozialdemokratischen provisorischen Regierung und gegen den Eintritt ineine solche Regierung aus" (man erinnere sich an die von Engelszitierte Resolution der Bakunisten zehn Monate vor der spanischen Revo-lution,- siehe „Proletari" Nr. 324 ) „und hält es für das zweckmäßigste,auf die bürgerliche provisorische Regierung zwecks angemessener (?!)Demokratisierung des staatlichen Regimes einen Druck von außen aus-zuüben" (von unten, aber nicht von oben). „Die Konferenz ist derMeinung, daß die Bildung einer provisorischen Regierung durch dieSozialdemokraten oder der Eintritt in eine solche einerseits zum Abfallbreiter Massen des Proletariats von der sozialdemokratischen Parteiführen würde, die von ihr enttäuscht wären, weil die Sozialdemokratie,ungeachtet der Machtergreifung, die dringenden Bedürfnisse der Arbeiter-klasse einschließlich der Verwirklichung des Sozialismus nicht befriedigen

könnte", (die Republik ist kein dringendes Bedürfnis! Die Verfassermerken in ihrer Unschuld gar nicht, daß sie eine rein anarchistischeSprache führen, als ob sie die Teilnahme an bürgerlichen Revolutio-nen ablehnten!) „anderseits aber die bürgerlichen Klassenveranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken,

wodurch der Schwung der Revolution geschwächt würde."

Hier also liegt der Hund begraben. Hier ist es, wo sich die anarchisti-

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84 W. 7. Lenin

sehen Ideen mit dem Opportunismus reinsten W assers verflechten (wie das

auch bei den westeuropäischen Bernsteinianern ständig der Fall ist). Mandenke bloß: In die provisorische Regierung nicht eintreten, weil das dieBourgeoisie veranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken, wo-durch der Schwung der Revolution geschwächt würde! Da haben w ir ja inReinkultur, in vollständiger und konsequenter Form, die neuiskristischePhilosophie vor uns, wonach wir, weil die Revolution eine bürgerliche ist,der bürgerlichen Banalität unsere Reverenz erweisen und ihr den Vor-rang lassen müssen. Denn lassen wir uns, wenn auch nur teilweise, auchnur einen Augenblick lang, von der Erwägung leiten, daß unsere Teil-

nahme die Bourgeoisie veranlassen könnte, abzuschwenken, so treten wirdamit die führende Rolle in der Revolution ganz und gar an die bürger-lichen Klassen a b. W ir stellen damit das Proletariat vollkommen u nter dieVormundschaft der Bourgeoisie (und behalten uns die volle „Freiheit derKritik" vor!!), wir zwingen das Proletariat, gemäßigt und zahm zu sein,damit die Bourgeoisie nicht abschwenke. Wir beschneiden die dringendstenBedürfnisse des Proletariats , nämlich seine politischen Bedürfnisse, welchedie Ökonomisten und ihre Epigonen nie richtig verstanden haben, be-schneiden sie, damit die Bourgeoisie nicht abschwenke. Wir verlassenvöllig den Boden des revolutionären Kampfes für die Verwirklichung desDemokratismus in den Grenzen, deren das Proletariat bedarf, und betre-ten den Boden des Kuhhandels mit der Bourgeoisie, wobei wir mit unse-rem Verrat an den Prinzipien, dem Verrat an der Revolution die freiwil-lige Zustimmung der Bourgeoisie erkaufen („damit sie nicht abschwenke").

Die kaukasischen Neuiskristen haben es fertiggebracht, in zwei kurzenZeilen das ganze Wesen der Taktik des Verrats an der Revolution, derVerwandlung des Proletariats in ein klägliches Anhängsel der bürgerlichenKlassen auszudrücken. Was wir oben aus den Fehlern des Neuiskrismusals Tendenz ableiteten, das ist jetzt vor unseren Augen zum klaren und be-

stimmten Prinzip erhoben worden: im Nachtrab der monarchistischenBourgeoisie einhertrotten. Weil die Verwirklichung der Republik die Bour-geoisie veranlassen würde (und bereits veranlaßt — siehe das Beispiel desHerrn Struve!), abzuschwenken, deshalb nieder mit dem Kampf für dieRepublik. Weil jede energische und bis zu Ende gehende demokratischeForderung des Proletariats die Bourgeoisie stets und in der ganzen Weltveranlaßt, abzuschwenken, deshalb: Verkriecht euch in die Mauselöcher,

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 85

Genossen Arbeiter, wirkt nur von außen, laßt euch nicht einfallen, die

W erkzeuge und M ittel des „bürgerlich-staatlichen" Regimes für die Revo-lution auszunutzen, und bewahrt euch die „Freiheit der Kritik".Hier tr itt klar zutage, wie grundfalsch schon allein der Terminus „bür-

gerliche Revolution" aufgefaßt wird. Diese Martynowsche oder neuiskri-stische „Auffassung" führt schnurstracks zum Verrat der proletarischenSache an die Bourgeoisie.

Wer den alten Ökonomismus vergessen hat, wer ihn nicht studiert, anihn nicht zurückdenkt, der wird auch die heutige Neuauflage des Ökono-mismus schwerlich begreifen. Man erinnere sich des bernsteinianischen

„Credos"

25

. Aus „rein proletarischen" Anschauungen und Programmenfolgerten die Leute: Uns, den Sozialdemokraten, die Ökonomik, diewahre Sache der Arbeiterschaft, die freie Kritik an jedem Politikastertum,die wahre Vertiefung der sozialdemokratischen Arbeit. Ihnen, den Libera-len, die Politik. Gott bewahre uns davor, in „Revolutionarismus" zu ver-fallen: Das würde die Bourgeoisie veranlassen, abzuschwenken. Wer das„Credo" oder die Sonderbeilage zu Nr. 9 der „Rabotschaja Mysl" 26 (Sep-tember 1899) vollständig durchliest, der wird alle diese Gedankengängefinden.

Jetzt ist es dasselbe, nur in großem Maßstab, in Anwendung auf dieEinschätzung der ganzen „großen" russischen Revolution, die leider vonden Theoretikern des orthodoxen Philistertums schon im voraus banali-siert und zur Karika tur herabgewürdigt wird!Uns, den Sozialdemokraten,die Freiheit der Kritik, die Vertiefung des Bewußtseins, die Einwirkungvon außen. Ihnen, den bürgerlichen Klassen, die Freiheit des Handelns,den freien Spielraum für die revolutionäre (lies: liberale) Führung, dieFreiheit der Durchführung von „Reformen" von oben.

Diese Vulgarisatoren des Marxismus haben sich niemals Gedanken ge-macht über Marx' Worte von der Notwendigkeit, die Waffe der Kritikdurch die Kritik der Waffen zu ersetzen27 . Sie führen den Namen Marxim Munde, fassen aber in Wirklichkeit taktische Resolutionen ganz imGeiste der Frankfurter bürgerlichen Schwätzer, die den Absolutismus freikritisierten, das demokratische Bewußtsein vertieften und nicht begriffen,daß die Zeit der Revolution eine Zeit des Handelns, der Aktion sowohlvon oben als auch von unten ist. Indem sie den M arxismus in Räsonierereiverwandelten, machten sie aus der Ideologie der fortgeschrittensten, ent-

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86 W. 1 Lenin

schlossensten und tatkräftigsten revolutionären Klasse eine Ideologie ihrer

unentwickeltsten Schichten, die sich vor den schwierigen revolutionär-demokratischen Aufgaben drücken und diese demokratischen Aufgabenden Herren Struve überlassen.

W enn die bürgerlichen Klassen von der Revolution abschwenken, weildie Sozialdemokratie in die revolutionäre Regierung eintritt, so wird da-durch „der Schwung der Revolution geschwächt".

Hör t, russische Arbeiter: D er Schwung der Revolution w ird größer sein,wenn die durch die Sozialdemokraten nicht abgeschreckten Herren Struvesie durchführen, die keinen Sieg über den Zarismus, sondern einen Pakt

mit dem Zarismus wollen. Der Schwung der Revolution wird größer sein,wenn von den beiden Ausgangsmöglichkeiten, die wir oben umrissenhaben, die erste zur Wirklichkeit wird, d. h. wenn sich die monarchistischeBourgeoisie mit der Selbstherrschaft auf eine „Verfassung" nach Art derSchipowschen einigt!

Sozialdemokraten, die in Resolutionen als Anleitung für die ganze Par-tei derart schändliche Dinge schreiben oder die derart „gelungene" Reso-lutionen billigen, sind durch das R äsonieren, das aus dem M arxismus allenlebendigen Geist ausgetrieben h at, so sehr verblendet, daß sie nicht merken,

wie diese Resolutionen alle ihre sonstigen trefflichen Worte zur Phrasemachen. Man nehme einen beliebigen ihrer Artikel aus der „Iskra", nehmesogar die berüchtigte Broschüre unseres berühmten Martynow, und manwird Reden hören über den Volksauistand, über die Durchführung derRevolution bis zu Ende und über das Bestreben, sich im Kampf gegen dieinkonsequente Bourgeoisie auf die unterenVolkssdhidhten zu stützen. Aberalle diese trefflichen Dinge verwandeln sich doch in eine erbärmlichePhrase, sobald man den Gedanken akzeptiert oder billigt, daß der„Schwung der Revolution" durch das Abrücken der Bourgeoisie „ge-schwächt" werde. Eines von beiden, meine Herren: Entweder müssen wirmit dem Volk danach streben, die Revolution durchzuführen, und ent-gegen dem Willen der inkonsequenten, eigennützigen und feigen Bour-geoisie einen völligen Sieg über den Zarismus erringen. Oder wir lassendieses „entgegen dem Willen" nicht zu, wir fürchten, die Bourgeoisiekönne „abschwenken", und dann verraten wir das Proletariat und dasVolk an die Bourgeoisie, an die inkonsequente, eigennützige und feigeBourgeoisie.

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 87

Laßt euch nicht einfallen, meine Worte zu mißdeuten. Schreit nicht,

daß man euch bewußten Verrat vorwerfe. Nein, ihr seid die ganze Zeitgenauso unbewußt in den Sumpf geglitten und jetzt darin versunken, wiedie alten Ökonomisten, die auf der schiefen Ebene der „Vertiefung" desMarxismus unaufhaltsam und unwiderruflich bis zum antirevolutionären,seelenlosen und leblosen „Klügeln" abgeglitten w aren.

Von welchen realen gesellschaftlichen Kräften hängt der „Schwung derRevolution" ab? Habt ihr darüber nachgedacht, meine Herren? Lassenwir die Kräfte der Außenpolitik, der internationalen Kombinationen bei-seite, die sich für uns jetzt sehr vorteilhaft gestaltet haben, die wir aber

alle, und zwar mit Recht, von der Betrachtung ausschließen, da von deninneren Kräften Rußlands die Rede ist. Seht euch diese inneren gesell-schaftlichen Kräfte an. Gegen die Revolution steht die Selbstherrschaft,der Hof, die Polizei, die Beamtenschaft, das Heer und das Häuflein desHochadels. Je tiefer die Empörung im Volke ist, desto unzuverlässigerwird das Heer, desto größer werden die Schwankungen in der Beamten-schaft. Fem er, die Bourgeoisie ist jetzt im großen und ganzen für die Re-volution, sie ereifert sich in Reden über die Freiheit und ergreift immeröfter im Namen des Volkes und sogar im Namen der Revolution dasWort.* Aber wir Marxisten wissen doch alle aus der Theorie und beob-achten täglich und stündlich am Beispiel unserer Liberalen, Semstwoleuteund Oswoboshdenzen, daß die Bourgeoisie für die Revolution inkonse-quent, eigennützig und feige eintritt. Die Bourgeoisie wird in ihrer M asseunweigerlich zur Konterrevolution, zur Selbstherrschaft übergehen undsich gegen die Revolution, gegen das Volk kehren, sobald ihre engen,eigennützigen Interessen befriedigt sein werden, sobald sie vom konse-quenten Demokratismus „abgeschwenkt" sein wird (und sie söiwenktsdhon jetzt davon ab!). Es bleibt das „Volk", das heißt das Proletariat unddie Bauernschaft: Allein das Proletariat ist fähig, konsequent bis zu Ende

zu gehen, denn es geht weit über die demokratische Umwälzung hinaus.Deshalb eben kämpft das Proletariat in den vordersten Reihen für dieRepublik und weist mit Verachtung die törichten und seiner unwürdigenRatschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehm en, daß die Bourgeoisie mög-

* Interessant ist in dieser Hinsicht der offene Brief des Herrn Struve anJaures, der neulich von Jaures in der Zeitung „l'Humanite"'28 und von HerrnStruve in N r. 72 des „Oswoboshdenije" veröffentlicht worden ist.

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W. 1 £enin

licherweise abschwenkt. Die Bauernschaft umfaßt eine Masse halbproleta-

rischer Elemente neben kleinbürgerlichen Elementen. Dieser Umstandmacht auch die Bauernschaft unbeständig, so daß das Proletariat genötigtist, sich zu einer streng klassenmäßigen Partei zusammenzuschließen. Aberdie Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der Unbeständigkeit derBourgeoisie grundverschieden, denn die Bauernschaft ist gegenwärtig nichtso sehr an dem unbedingten Schutz des Privateigentums als vielmehr ander Enteignung des Gutsbesitzerlandes, einer der H auptformen des Privat-eigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne auf-zuhören, kleinbürgerlich zu sein, ist die Bauernschaft fähig, zum völligen

und radikalsten Anhänger der demokratischen Revolution zu werden. DieBauernschaft wird unweigerlich ein solcher Anhänger der Revolutionwerden, wenn nur der sie aufklärende Gang der revolutionären Ereignissenicht durch den Verrat der Bourgeoisie und die Niederlage des Proletariatsallzufrüh unterbrochen wird. Die Bauernschaft wird unter der erwähntenBedingung unweigerlich zur Stütze der Revolution und der Republik wer-den, denn einzig die zum vollen Sieg gelangte Revolution wird der Bauern-schaft auf dem Gebiet der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: allesdas, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich für sienotwendig ist, (nicht um den Kapitalismus zu vernichten, wie sich das die„Sozialrevolutionäre" einbilden, sondern) um aus dem Schlamm der hal-ben Leibeigenschaft, aus dem Dunkel der Geducktheit und der Knecht-schaft emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbes-sern, wie das im Rahmen der Warenwirtschaft überhaupt zu erreichen ist.

Mehr noch: Nicht nur eine radikale Umgestaltung der Agrarverhält-nisse, sondern auch alle ihre allgemeinen und ständigen Interessen bindendie Bauernschaft an die Revolution. Sogar im Kampf mit dem Proletariatbedarf die Bauernschaft der Dem okratie, denn nur das dem okratische Re-gime vermag ihre Interessen genau zum Ausdruck zu bringen und ihr,

weil sie die Masse, die Mehrheit ist, das Übergewicht zu geben. Je auf-geklärter die Bauernschaft sein wird (und seit dem japanischen Krieg er-folgt diese Aufklärung mit einer Schnelligkeit, von der sich viele, die ge-wohnt sind, die Aufklärung nur mit dem Schulmaßstab zu messen, nichtsträumen lassen), desto konsequenter und entschlossener wird sie für dievollständige demokratische Umwälzung eintreten, denn die Herrschaftdes Volkes schreckt sie nicht, wie sie die Bourgeoisie schreckt, sondern ist

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für sie von Vorteil. Die demokratische Republik wird zu ihrem Ideal wer-

den, sobald sie beginnt, sich vom naiven Monarchismus frei zu machen;denn der bew ußte Monarchismus der schachernden Bourgeoisie (mit einemOberhaus usw.) bedeutet für die Bauernschaft genau dieselbe Rechtlosig-keit, dieselbe Geducktheit und Unwissenheit, nur ganz leicht mit euro-päisch-konstitutionellem Firnis überstrichen.

Das ist der Grund, warum die Bourgeoisie als Klasse naturgemäß undunvermeidlich unter die Fittiche der liberal-monarchistischen Partei strebt,die Bauernschaft als Masse aber unter die Führung einer revolutionärenund republikanischen Partei. Das ist der Grund, warum die Bourgeoisieunfähig ist, die demokratische Revolution zu Ende zu führen, die Bauern-schaft aber fähig ist, die Revolution zu Ende zu führen, und wir müssenihr mit allen Kräften dabei helfen.

Man wird mir entgegnen: Das braucht man nicht zu beweisen, das ge-hört zum Abc, das begreifen alle Sozialdemokraten ausgezeichnet. Nein,das begreifen diejenigen nicht, die es fertigbringen, davon zu sprechen,daß „der Schwung" der Revolution „geschwächt wird", wenn die Bour-geoisie abfällt. Solche Leute wiederholen die auswendig gelernten Sätzeunseres Agrarprogramms, verstehen aber ihre Bedeutung nicht, denn sonstwürden sie den Begriff der revolutionär-demokratischen Diktatur des Pro-letariats und der Bauernschaft, der sich aus der ganzen marxistischenWeltanschauung und aus unserem Programm unvermeidlich ergibt, nichtfürchten, sonst würden sie den Schwung der großen russischen Revolutionnicht auf den Schwung der Bourgeoisie beschränken. Solche Leute wider-legen ihre abstrakten marxistischen, revolutionären Phrasen schlagenddurch ihre konkreten antimarxistischen und antirevolutionären Resolu-tionen.

W er die Rolle der Bauernschaft in der siegreichen russischen Revolutionwirklich versteht, der könnte unmöglich davon reden, daß der Schwungder Revolution geschwächt wird, wenn die Bourgeoisie abschwenkt. Dennin Wirklichkeit wird erst dann der wahre Schwung der russischen Revolu-tion einsetzen, wird das erst dann der wirklich höchste revolutionäreSchwung sein, der in der Epoche der bürgerlich-demokratischen Umwäl-zung möglich ist, wenn die Bourgeoisie abschwenken und die Masse derBauernschaft an der Seite des Proletariats als aktiver Revolutionär auf-treten wird. Damit unsere demokratische Revolution konsequent zu Ende

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90 3V. 3. Lenin

geführt wird, muß sie sich auf solche Kräfte stützen, die fähig sind, die

unvermeidliche Inkonsequenz der Bourgeoisie zu paralysieren (d. h. fähigsind, sie gerade zum „Abschwenken zu veranlassen", wovor die kaukasi-schen Anhänger der „Iskra" infolge ihres Unverstands eine solche Angsthaben) .

D a s Proletariat muß die demokratische "Um wälzung zu Ende führen,indem es die TAasse der Bauernsch aft an sich heranzieht, um den Wider-stand der Selbstherrschaft mit Qewalt zu brechen und die schwankendeHaltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muß die soziali-stische Xlmw älzung vollbringen, indem es die Ma sse der ha lbproletarischen

Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand derBourgeoisie mit Qewalt zu brechen und die schwankende Haltung derBauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren. Das sind die Auf-gaben des Proletariats, die sich die Neuiskristen in allen ihren Betrachtun-gen und Resolutionen ü ber den Schwung der Revolution so beschränkt vor-stellen.

Man darf nur einen Umstand nicht vergessen, der bei den Betrachtun-gen über diesen „Schwung" oft außer acht gelassen wird. Man darf nichtvergessen, daß nicht von den Schwierigkeiten der Aufgabe die Rede ist,

sondern davon, auf welchem W ege die Lösung der Aufgabe zu suchen un dzu erstreben ist. Nicht darum handelt es sich, ob es leicht oder schwer ist,den Schwung der Revolution m ächtig und unbesiegbar zu machen, son derndarum, was zu tun ist , um diesen Schwung zu verstärken. Die Differenzbetrifft gerade den Grundcharakter, eben die Richtung unserer Tätigkeit .Wir heben das hervor, weil unaufmerksame und oberflächliche Leute diezwei verschiedenen Fragen nur allzuoft verwechseln: die Frage nach derRichtung des Weges, d. h. nach der Wahl eines der beiden verschiedenenWege, und die Frage, ob auf dem gegebenen Weg das Ziel leicht zu er-reichen oder bald zu erreichen ist.

Die letzte Frage habe n w ir in der vorherg ehenden Betrachtung gar nichtberührt, denn diese Frage hat in unserer Partei keine Meinungsverschie-denheiten und Differenzen hervorgerufen. Aber selbstverständlich ist dieseFrage an und für sich äußerst wichtig und verdient die ernsteste Beach-tung aller Sozialdemokraten. Es wäre unverzeihlicher Optimismus, dieSchwierigkeiten zu vergessen, die damit zusammenhängen, daß die Mas-sen nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch der Bauernschaft in die Be-

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Zwei JakU ken d er Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 91

wegung hineingezogen werden müssen. Gerade an diesen Schwierigkeiten

scheiterten mehrfach die Bemühungen, die demokratische Revolution zuEnde zu führen, wobei den größten Gewinn die inkonsequente und eigen-nützige Bourgeoisie davontrug, die sowohl aus der monarchistischen Ver-teidigung gegen das Volk „Kapital schlug" als auch „die Unschuld" desLiberalismus... oder des „Oswoboshdenzentums" „bewahrte". AberSchwierigkeit bedeutet noch nicht Undurchführbarkeit. Wichtig ist dieGewißheit, daß man den ichtigen Weg gewählt hat, und diese Gewißheitverstärkt hundertfach die revolutionäre Energie und den revolutionärenEnthusiasmus, die Wunder zu wirken vermögen.

Wie tiefgehend heute die Differenzen zwischen den Sozialdemokratenin der Frage sind, welchen Weg man wählen soll, ersieht man ohne wei-teres aus einer Gegenüberstellung der kaukasischen Resolution der Neu-iskristen und der Resolution des III. Parteitags der SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands. Die Resolution des Parteitags sagt: Die Bour-geoisie ist inkonsequent, sie wird unbedingt danach trachten, uns die Er-rungenschaften der Revolution zu entreißen. Deshalb bereitet euch energi-scher zum Kampf vor, Genossen Arbeiter, bewaffnet euch, zieht dieBauernschaft auf eure Seite. Wir werden unsere revolutionären Errungen-schaften der eigennützigen Bourgeoisie nicht ohne Kampf abtreten. Die

Resolution der kaukasischen Neuiskristen sagt: Die Bourgeoisie ist inkon-sequent, sie kann von der Revolution abschwenken. Deshalb, GenossenArbeiter, denkt bitte nicht an eine Teilnahme an der provisorischen Re-gierung, denn dann w ird die Bourgeoisie bestimm t abschwenken, und derSchwung der Revolution wird dadurch geschwächt!

Die einen sagen: Treibt die Revolution vorwärts, bis zu Ende, entgegendem W iderstand oder der Passivität der inkonsequenten Bourgeoisie.

Die anderen sagen: Denkt nicht daran, die Revolution bis zu Ende selb-ständig durchzuführen, denn dann wird die inkonsequente Bourgeoisie

von ihr abschwenken.Haben wir etwa nicht zwei diametral entgegengesetzte Wege vor uns?

Liegt es etwa nicht auf der Hand, daß die eine Taktik unbedingt dieandere ausschließt? daß die erste Taktik die einzig richtige Taktik derrevolutionären Sozialdemokratie, die zweite aber im Grunde eine reineOswoboshdenzen-Taktik ist?

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92 W.J. Centn

13. S C H L U S S . D Ü R F E N W I R S I E G E N ?

Leute, die mit der Lage der Dinge in der russischen Sozialdemokratienur oberflächlich bekannt sind oder von außen her urteilen, ohne die Ge-schichte unseres ganzen innerparteilichen Kampfes seit den Zeiten desÖkonomismus zu kennen, pflegen auch die taktischen Differenzen, die sichjetzt, besonders nach dem III. Parteitag, herausgebildet haben, sehr häufigeinfach mit dem Hinweis abzutun, daß es sich um zwei natürliche, unver-meidliche und durchaus zu vereinbarende Tendenzen handle, die in jedersozialdemokratischen Bewegung anzutreffen seien. Auf der einen Seite

nämlich um eine stärkere Betonung der üblichen, laufenden, alltäglichenArbeit, der Notwendigkeit, die Propaganda und Agitation zu entfalten,die Kräfte vorzubereiten, die Bewegung zu vertiefen usw. Auf der anderenSeite um die Betonung der allgemein-politischen, revolutionären Kampf-aufgaben der Bewegung, um den Hinweis auf die Notwendigkeit des be-waffneten Aufstands, um die Aufstellung der Losungen: revolutionär-demokratische Dikta tur, provisorische revo lutionäre Regierung. Weder dieeine noch die andere Seite dürfe übertrieben werden, weder hier noch dort(wie überhaupt nirgends in der Welt) seien Extreme von Nutzen usw. usf.

Hinter den billigen Wahrheiten der Lebens- (und der „politischen", inAnführungsstrichen) Weisheit, die in solchen Betrachtungen unzweifel-haft enthalten sind, verbirgt sich jedoch nur allzuoft das Unverständnisfür die aktuellen, brennenden Erfordernisse der Partei. Nehmen wir diegegenwärtigen taktischen Meinungsverschiedenheiten unter den russischenSozialdemokraten. Selbstverständlich brauchte die verstärk te Betonung d erlaufenden Tagesarbeit, die wir in den Betrachtungen der Neuiskristen überdie Taktik finden, an und für sich noch keinerlei Gefahr zu bedeuten undauch keinerlei Differenz in den taktischen Losungen hervorzurufen. Es ge-nügt aber, die Resolutionen des III. Parteitags der SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands mit denen der Konferenz zu vergleichen, damitdiese Differenz sofort ins Auge springt.

Worum handelt es sich? Erstens darum, daß es nicht genügt, nur ganzallgemein und abstrakt auf zwei Strömungen in der Bewegung und aufdie Schädlichkeit von Extremen hinzuweisen. Man muß konkret wissen,woran die gegebene Bewegung im gegebenen Augenblick krankt und wor-in jetzt die reale politische Gefahr für die Partei besteht. Zweitens muß

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* 5 * 7

Seite 157 von W . I. Lenins M anuskript„Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution"

1905

Verkleinert

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Zwei 7aktik.cn der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 95

man wissen, welchen realen politischen Kräften diese oder jene taktischen

Losungen — vielleicht auch das Fehlen dieser oder jener Losungen — Was-ser auf die Mühle leiten. Hört man die Neuiskristen, so kommt man zudem Schluß, daß die Sozialdemokratische Partei Gefahr läuft, die Propa-ganda und Agitation, die wirtschaftlichen Kämpfe und die Kritik an derbürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen und sich von militärischenVorbereitungen und bewaffneten Überfällen, von der Machtergreifungusw. übermäßig hinreißen zu lassen. In Wirklichkeit aber droht der Parteidie reale Gefahr von einer ganz anderen Seite. Wer den Stand der Be-wegung auch nur einigermaßen näher kennt, wer die Bewegung aufmerk-

sam und verständig verfolgt, der kann nicht umhin zu sehen, wie lächer-lich die Befürchtungen der Neuiskristen sind. Die ganze Tätigkeit derSozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands hat sich schon völlig ineinen festen, unveränderlichen Rahmen eingefügt, der unbedingt gewähr-leistet, daß der Schwerpunkt in der Agitation und Propaganda, in fliegen-den Versammlungen und Massenkundgebungen, in der Verbreitung vonFlugblättern und Broschüren, in der Förderung der Wirtschaftskämpfeund dem Aufgreifen ihrer Losungen liegt. Es gibt kein einziges Partei-komitee, kein einziges Bezirkskomitee, keine einzige zentrale Zusammen-

kunft und keine einzige Betriebsgruppe, wo nicht neunundneunzig Prozentder Aufmerksamkeit, der Kraft und der Zeit stets und ständig allen diesenFunktionen gewidmet wären, die schon seit der zweiten Hälfte der neun-ziger Jahre fest verankert sind. Das wissen nur solche Leute nicht, die mitder Bewegung überhaupt nicht vertraut sind. Nur sehr naive oder nichtunterrichtete Leute können die neuiskristischen Wiederholungen längstbekannter Dinge, weil sie mit besonders wichtiger Miene vorgetragen wer-den, noch für bare Münze nehmen.

Tatsache ist, daß man sich bei uns von den Aufgaben des Aufstands,

von den allgemein-politischen Losungen und von der Pflicht, die gesamteVolksrevolution zu führen, keineswegs übermäßig hinreißen läßt, sonderndaß im Gegenteil die Rüdkständigkeit gerade in dieser Beziehung ins Augespringt, daß sie der wundeste Punkt und eine reale Gefahr für die Bewe-gung ist, die aus einer Bewegung der revolutionären Tat zu einer Bewe-gung der revolutionären Worte entarten kann und hie und da auch schonentartet. Unter den Hunderten und aber Hunderten von Organisationen,Gruppen und Zirkeln, die Parteiarbeit leisten, wird man keine einzige

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96 W.lCenin

Organisation finden, in der nicht vom ersten Tag ihres Bestehens an jene

Alltagsarbeit geleistet würde, von der die Neunmalweisen aus der neuen„Iskra" mit der Miene von Leuten reden, die neue Wahrheiten entdeckthaben. U nd um gekehrt wird man nur einen verschwindend geringen Pro-zentsatz von Gruppen und Zirkeln finden, die sich der Aufgaben des be-waffneten Aufstands bewußt geworden sind, die darangegangen sind, siezu erfüllen, die sich darüber Rechenschaft abgelegt haben, daß es not-wendig ist, die gesamte Volksrevolution gegen den Zarismus zu führen,daß es notwendig ist, gerade diese fortschrittlichen Losungen und nichtandere aufzustellen.

Wir sind hinter den fortschrittlichen und wirklich revolutionären Auf-gaben unglaublich zurückgeblieben, wir haben sie in einer Unzahl vonFällen noch nicht erkannt, wir haben bald hier, bald dort die wegen unse-rer Zurückgebliebenheit in dieser Beziehung erfolgte Erstarkung der revo-lutionären bürgerlichen Demokratie verschlafen. Die Schriftsteller von derneuen „Iskra" jedoch kehren dem Gang der Ereignisse und den Erforder-nissen der Zeit den Rücken zu und wiederholen hartnäckig: Vergeßt nichtdas Alte! Laßt euch nicht hinreißen von dem Neuen! Das ist das stetsgleichbleibende Grundmotiv aller wesentlichen Resolutionen der Konfe-

renz, während man in den Resolutionen des Parteitags ebenso gleich-bleibend lesen kann: W ir erkennen das Alte an (und halten uns nicht da-mit auf, es wiederzukäuen, weil es eben das in der Literatur, durchResolutionen und durch die Erfahrung schon entschiedene und verankerteAlte ist), stellen aber zugleich eine neue Aufgabe, lenken die Aufmerk-samkeit auf sie, geben eine neue Losung aus und fordern von den wirklichrevolutionären Sozialdemokraten, daß sie unverzüglich an die Arbeitgehen, um sie in die Tat umzusetzen.

So steht in Wirklichkeit die Frage der zwei Strömungen in der Taktik

der Sozialdemokratie. Die revolutionäre Epoche hat neue Aufgaben ge-stellt, die nur gänzlich Blinde nicht sehen. Die einen Sozialdemokratenbekennen sich entschieden zu diesen Aufgaben und setzen sie auf dieTagesordnung: Der bewaffnete Aufstand ist unaufschiebbar, bereitet euchunverzüglich und energisch darauf vor; seid dessen eingedenk, daß er fürden entscheidenden Sieg unerläßlich ist,- stellt die Losungen der Republik,der provisorischen Regierung, der revolutionär-demokratischen Diktaturdes Proletariats und der Bauernschaft auf! Die anderen aber weichen

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zurück, treten auf der S telle, statt Losungen b ieten sie Vorreden, statt des

Hinweises auf das Neue neben der Bekräftigung des Alten wiederkäuen siedieses Alte weitschweifig und langweilig, erfinden Ausflüchte vor demNeuen, sind unfähig, die Bedingungen des entscheidenden Sieges zu be-stimmen, sind unfähig, Losungen aufzustellen, die einzig und allein demStreben nach Erringung des vollen Sieges entsprechen.

Das Ergebnis dieser Nachtrabpolitik liegt bei uns auf der Hand. DieFabel von der Annäherung der „Mehrheit" der SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands an die revolutionäre bürgerliche Demokratiebleibt eine Fabel, die durch keine einzige politische Tatsache, durch keine

einzige maßgebende Resolution der „Bolschewiki", durch keine einzigeHandlung des III. Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ruß-lands bestätigt wird. Indessen begrüßt aber die opportunistische, mon-archistische Bourgeoisie in Gestalt des „Oswoboshdenije" seit langem die„prinzipiellen" Tendenzen des Neuiskrismus und treibt jetzt mit seinemWasser schon direkt ihre eigene Mühle. Sie übernimmt alle neuiskristi-schen Sprüchlein und „Ideechen" gegen die „Konspiration" und die „Re-bellion", gegen die Übertreibung der „technischen" Seite der Revolution,gegen die direkte Aufstellung der Losung des bewaffneten Aufstands,gegen den „Revolutionarismus" der extremen Forderungen usw. usf. DieResolution einer ganzen Konferenz von „menschewistischen" Sozialdemo-kraten im Kaukasus und die Billigung dieser Resolution durch die Redak-tion der neuen „Iskra" ziehen das unzweideutige politische Fazit aus alle-dem: daß die Bourgeoisie bloß nicht abschwenkt, falls das Proletariat ander revolutionär-demokratischen Diktatur teilnimmt! Damit ist alles ge-sagt. Damit ist die Verwandlung des Proletariats in ein Anhängsel dermonarchistischen Bourgeoisie endgültig besiegelt. Damit ist die politische"Bedeutung der neuiskristischen N achtrabideologie faktisch, nicht durch diezufällige Erklärung einer einzelnen Person, sondern durch eine von der

ganzen Richtung ausdrücklich gebilligte Resolution bewiesen.

Wer sich in diese Tatsachen hineindenkt, der wird die wirkliche Be-deutung des landläufigen Hinweises auf zwei Flügel und zwei Tendenzenin der sozialdemokratischen Bewegung verstehen. Nehmt das Bersteini-anertum, um diese Tendenzen im großen Maßstab zu studieren. DieBernsteinianer behaupteten und behaupten doch ganz genauso, daß sie undnur sie die wahren Nö te des Proletariats.kennen und sich darauf verstehen,

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das Wachstum seiner Kräfte zu fördern, die gesamte Arbeit zu vertiefen,

die Elemente der neuen Gesellschaft vorzubereiten, Propaganda und Agi-tation zu treiben. Wir verlangen die offene Anerkennung dessen, wasist! — sagt Bernstein und sanktioniert damit die „Bewegung" ohne „End-ziel", sanktioniert allein die Taktik der Abwehr und predigt die Taktikder Angst, „daß die Bourgeoisie bloß nicht abschwenkt". Auch die Bern-steinianer zeterten über das „Jakobinertum" der revolutionären Sozial-demokraten, über die „Literaten", die für die „proletarische Selbsttätig-keit" kein Verständnis hätten usw. usf. In Wirklichkeit dachten, wie all-gemein bekannt, die revolutionären Sozialdemokraten nicht im Traum

daran, die alltägliche Kleinarbeit, die Vorbereitung der Kräfte u. dgl. m.zu vernachlässigen. Sie forderten nur die klare Erkenntnis des Endziels,die klare Formulierung der revolutionären Aufgaben; sie wollten die halb-proletarischen und halbkleinbürgerlichen Schichten zum revolutionärenNiveau des Proletariats emporheben, nicht aber dieses Niveau zu oppor-tunistischen Erwägungen hinabzerren, „daß die Bourgeoisie bloß nichtabschwenkt". Seinen prägnantesten Ausdruck fand dieser Gegensatz zwi-schen dem intellektuell-opportunistischen und dem proletarisch-revolutio-nären Flügel der Partei wohl in der F rage: Dürfen wir siegen?* ist es uns

erlaubt, zu siegen? ist es nicht gefährlich für uns, zu siegen? sollen wirsiegen? So merkwürdig diese Frage auf den ersten Blick anmutet, wurdesie doch gestellt und mußte gestellt werden, denn die Opportunisten fürch-teten den Sieg, schreckten das Proletariat mit ihm, prophezeiten Unheilvon ihm und verspotteten die Losungen, die offen zum Sieg aufriefen.

Dieselbe grundlegende Teilung in eine intellektuell-opportunistischeund eine proletarisch-revolutionäre Tendenz ist auch bei uns vorhanden,nur mit dem sehr wesentlichen Unterschied, daß es sich hier nicht um diesozialistische, sondern um die demokratische Umwälzung handelt. Auch

bei uns ist die auf den ersten Blick widersinnige Frage gestellt worden:„Dürfen wir siegen?" Sie wird von Martynow in seinen „Zwei Dikta-turen" gestellt, wo er Unheil prophezeite für den Fall, daß wir den Auf-stand sehr gut vorbereiten und völlig erfolgreich durchführen. Sie wirdin der gesamten Literatur der Neuiskristen bei der Frage der proviso-rischen revolutionären Regierung gestellt, wobei man die ganze Zeit eifrig,aber erfolglos versucht, die Beteiligung Millerands an einer bürgerlich-

* „Dürfen wir siegen?" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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opportunistischen Regierung mit der Beteiligung Varlins29 an einer klein-

bürgerlichen Revolutionsregierung in einen Topf zu werfen. Sie ist ineiner Resolution festgehalten: „daß dieBourgeoisie b loß nicht abschwenkt".Und wenngleich Kautsky zum Beispiel jetzt ironisch meint, unser Streitüber die provisorische revolutionäre Regierung erinnere an die Teilungdes Fells eines noch nicht erlegten Bären, so zeigt diese Ironie nur, daßsogar kluge und revolutionäre Sozialdemokraten danebenhauen, wenn sieüber etwas reden, was sie nur vom Hörensagen kennen. Die deutscheSozialdemokratie ist noch nicht so weit, den Bären zu erlegen (die sozia-listische Umwälzung zu vollbringen), aber die Polemik darüber, ob wir

ihn erlegen „dürfen", war von größter prinzipieller und praktisch-poli-tischer Bedeutung. Die russischen Sozialdemokraten sind noch nicht soweit, daß sie „ihren Bären erlegen" (die demokratische Umwälzung voll-bringen) könnten, aber die Frage, ob wir ihn erlegen „dürfen", ist für dieganze Zukunft Rußlands und für die Zukunft der russischen Sozialdemo-kratie von höchst ernster Bedeutung. Ohne die Überzeugung, daß wirsiegen „dürfen", kann von einer energischen, erfolgreichen Sammlung undFührung der Armee keine Rede sein.

Nehmt unsere alten Ökonomisten! Sie schrien auch, daß ihre GegnerVerschwörer, Jakobiner seien (siehe das „Rabotscheje Delo", besondersNr. 10, und Martynows Rede in der Programmdiskussion auf dem II. Par-teitag) , daß sie sich von den Massen loslösen, wenn sie sich in die Politikstürzen, daß sie die Grundlagen der Arbeiterbewegung vergessen, nichtmit der proletarischen Selbsttätigkeit rechnen usw. usf. In Wirklichkeitaber waren diese Anhänger der „proletarischen Selbsttätigkeit" oppor-tunistische Intellektuelle, die den Arbeitern ihre enge, philisterhafte Auf-fassung von den Aufgaben des Proletariats aufnötigten. In Wirklichkeithaben die Gegner des Ökonomismus, wie jeder aus der alten „Iskra" er-sehen kann, keine einzige Seite der sozialdemokratischen Arbeit vernach-

lässigt oder in den Hintergrund geschoben und den ökonomischen Kampfnicht im geringsten vergessen. Zugleich aber haben sie es verstanden, dieaktuellen und nächsten politischen Fragen in ihrem ganzen Umfang auf-zurollen, und haben der Verwandlung der Arbeiterpartei in ein „ökono-misches" Anhängsel der liberalen Bourgeoisie entgegengewirkt.

Die Ökonomisten hatten auswendig gelernt, daß der Politik die Öko-nomik zugrunde liegt, und das so „verstanden", daß man den politischen

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Kampf zum ökonomischen herabwürdigen müsse. Die Neuiskristen haben

auswendig gelernt, daß die ökonomische Grundlage der demokratischenUmwälzung die bürgerliche Revolution ist, und das so „verstanden", daßman die demokratischen Aufgaben des Proletariats auf das Niveau derbürgerlichen Mäßigung herabwürdigen und innerhalb jener Grenzen hal-ten müsse, jenseits derer die „Bourgeoisie abschwenken" würde. DieÖkonomisten lieferten unter dem Vorwand der Vertiefung der Arbeit,unter dem Vorwand der proletarischen Selbsttätigkeit und der reinenKlassenpolitik in Wirklichkeit die Arbeiterklasse an die bürgerlich-libe-ralen Politiker aus, d. h., sie führten die Parte i auf einen W eg, dessen

objektive Bedeutung eben darin bestand. Die Neuiskristen verraten unterdenselben Vorwänden in Wirklichkeit die Interessen des Proletariats inder demokratischen Revolution an die Bourgeoisie, d. h., sie führen diePartei auf einen Weg, dessen objektive Bedeutung eben darin besteht.Den Ökonomisten schien die Hegemonie im politischen Kampf nicht Sacheder Sozialdemokraten, sondern eigentlich Sache der Liberalen zu sein.Den Neuiskristen scheint die aktive Durchführung der demokratischenRevolution nicht Sache der Sozialdemokraten, sondern eigentlich Sacheder demokratischen Bourgeoisie zu sein, weil durch die Führung und die

überragende Beteiligung des Proletariats der „Schwung" der Revolution„geschwächt" würde.

Kurzum, die Neuiskristen sind die Epigonen des Ökonomismus, nichtnur nach der Art, wie ihre Richtung auf dem II. Parteitag entstand, son-dern auch nach der Art, wie sie heute die taktischen Aufgaben des Prole-tariats in der demokratischen Revolution stellen. Das ist ebenfalls der in-tellektuell-opportunistische Flügel der Partei. In der Organisationsfragedebütierte er mit dem anarchistischen Individualismus der Intellektuellen,und er endete mit der „Desorganisation als Prozeß", da er in dem von der

Konferenz angenommenen „Statut"so

die Trennung der Literatur von derParteiorganisation, indirekte, wenn nicht gar vierstufige Wahlen und einSystem bonapartistischer Plebiszite an Stelle des demokratischen Vertre-tungssystems und schließlich das Prinzip der „Vereinbarung" zwischeneinem Teil und dem Ganzen verankerte. In der Taktik der Partei gerietendiese Leute auf eine ebenso schiefe Ebene. Im „Plan der Semstwokam-pagn e" erklärten sie das Auftreten vor den Semstwopolitikem zum „höch-sten Typus der Demonstration", da sie (am Vorabend des 9. Januar!)

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Zwei 7a ktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 101

auf der politischen Bühne nur zwei aktive Kräfte sahen — die Regierung

und die bürgerliche Demokratie. Die aktuelle Aufgabe der Bewaffnung„vertieften" sie, indem sie die direkte, praktische Losung durch die Auf-forderung ersetzten, sich mit dem brennenden Verlangen nach Selbst-bewaffnung auszurüsten. Die Aufgaben des bewaffneten Aufstands, derprovisorischen Regierung, der revolutionär-demokratischen Diktatur ha-ben sie jetzt in ihren offiziellen Resolutionen entstellt und gestutzt. „Daßdie Bourgeoisie bloß nicht abschwenkt" — dieser Schlußakkord ihrer letz-ten Resolution wirft ein helles Licht auf die Frage, wohin ihr Weg diePartei führt.

Die demokratische Umwälzung in Rußland ist ihrem gesellschaftlich-ökonomischen Wesen nach eine bürgerliche Revolution. Es genügt abernicht, diese richtige marxistische These einfach zu wiederholen. Man mußes verstehen, in sie einzudringen und sie bei der Aufstellung politischerLosungen anzuwenden. Auf dem Boden der heutigen, d. h. der kapita-listischen Produktionsverhältnisse ist alle politische Freiheit schlechthinbürgerliche Freiheit. Die Forderung nach Freiheit bringt vor allem dieInteressen der Bourgeoisie zum Ausdruck. Ihre Vertreter haben als erstediese Forderung aufgestellt. Ihre Anhänger haben von der erhaltenenFreiheit überall als Herren Gebrauch gemacht, sie auf ein bescheidenesund genaues bürgerliches M aß reduziert und sie in friedlichen Zeiten miteiner äußerst raffinierten, in stürmischen Zeiten mit einer tierisch-grau-samen Unterdrückung des revolutionären Proletariats verbunden.

Aber daraus eine Ablehnung oder Herabsetzung des Kampfes für dieFreiheit ableiten konnten n ur die Rebellen vom Schlage der Volkstümler,die Anarchisten und „Ökonomisten". Dem Proletariat diese intellektuell-philisterhafte Lehre aufzuzwingen gelang immer nur vorübergehend, nurgegen seinen Widerstand. Das Proletariat empfand instinktiv, daß es diepolitische Freiheit braucht, sie am allermeisten braucht, obwohl sie un-mittelbar die Bourgeoisie festigen und organisieren wird. Nicht vom Aus-weichen vor dem Klassenkampf erwartet das Proletariat sein Heil, son-dern davon, daß es den Klassenkampf entfaltet, ihn ausweitet, ihn be-wußter, organisierter und entschlossener führt. Wer die Aufgaben despolitischen Kampfes herabsetzt, der verwandelt den Sozialdemokraten auseinem Volkstribunen in einen Trade-Union-Sekretär. Wer die proleta-rischen Aufgaben in der demokratischen bürgerlichen Revolution herab-

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102 W. 1. Lenin

setzt, der verwandelt den Sozialdemokraten aus dem Führer der Volks-

revolution in den Leiter eines freien Arbeiterverbandes.Ja, der T^o/fesrevolution. Die Sozialdemokratie kämpfte und kämpft

mit vollem Recht gegen den bürgerlich-demokratischen Mißbrauch desWortes Volk. Sie verlangt, daß mit diesem Wort nicht das Unverständnisfür die Klassenantagonismen innerhalb des Volkes bemäntelt wird. Siebesteht kategorisch darauf, daß es für die Partei des Proletariats not-wendig ist, ihre volle Klassenselbständigkeit zu bewahren. Sie teilt aberdas „Volk" nicht in „Klassen" ein, damit die fortgeschrittenste Klasse sichabkapselt, sich auf ein enges Maß beschränkt und ihre Tätigkeit durch'

Erwägungen von der Art beschneidet, daß die ökonomischen Beherrscherder Welt bloß nicht abschwenken — sondern damit die fortgeschrittensteKlasse, unbehindert von der Halbschlächtigkeit , Unbeständigkeit und Un-entschlossenheit der Mittelklassen, mit um so größerer Energie, mit umso größerem Enthusiasmus an der Spitze des ganzen Volkes für die Sachedes ganzen Volkes kämpft.

U nd eben das ist es, was die heutigen Neu iskristen, die die A ufstellungvon aktiven politischen Losungen in der demokratischen Revolution durchdie bloße räsonierende Wiederholung des Wortes „Klassen" in allen

grammatischen Abwandlungen ersetzen, oft nicht verstehen!Die demokratische Umwälzung ist bürgerlich. Die Losung von derschwarzen Umteilung oder von Land und Freiheit — diese meistverbreiteteLosun g der geduckten un d unau fgeklärten, a ber leidenschaftlich nach L iditund Glück strebenden Bauernmassen — ist bürgerlich. Wir Marxisten abermüssen wissen, daß es keinen anderen Weg zur wirklichen Freiheit desProletariats und der Bauernschaft gibt noch geben kann als den Weg derbürgerlichen Freiheit und des bürgerlichen Fortschritts. Wir dürfen nichtvergessen, daß es in der gegenwärtigen Zeit kein anderes Mittel gibt nochgeben kann, um den Sozialismus näher zu bringen, als die volle politischeFreiheit , als die demokratische Republik, als die revolutionär-demokra-tische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Als Vertreter derfortgeschrittensten und einzigen revolutionären Klasse, die keine Vor-behalte macht, keine Zweifel h at und nicht nach rückwärts b lickt, müssenwir die Aufgaben der demokratischen Umwälzung vor dem ganzen Volkeso breit, so kühn und mit soviel Initiative wie nur möglich stellen. DieM ißachtun g dieser Aufgab en ist theoretisch eine Karikatur auf den

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Zwei 7a ktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 103

Marxismus und eine philisterhafte Verzerrung des Marxismus; praktisch-

politisch aber liefert man damit die Sache der Revolution an die Bour-geoisie aus, die vor der konsequenten Durchführung der Revolution un-weigerlich zurückscheuen wird. Die Schwierigkeiten, die dem vollen Siegder Revolution im Wege stehen, sind sehr groß. Niemand wird die Ver-treter des Proletariats verurteilen können, wenn sie alles tun, w as in ihrenKräften steht, auch wenn ihre Bemühungen am W iderstand der Reaktion,am Verrat der Bourgeoisie, an der Unaufgeklärtheit der M assen zerschel-len sollten. Aber jedermann — und vor allem das klassenbewußte Prole-tariat — wird die Sozialdemokratie verurteilen, wenn sie die revolutionäreEnergie der demokratischen Umwälzung eindämmen, den revolutionärenEnthusiasmus dämpfen wird, aus Angst vor dem Sieg und aus der Er-wägung heraus, daß die Bourgeoisie bloß nicht abschwenkt.

Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte, sagte Marx.31

Die Revolutionen sind Festtage der Unterdrückten und Ausgebeuteten.Nie vermag die Volksmasse als ein so aktiver Schöpfer neuer gesellschaft-licher Zustände aufzutreten wie während der Revolution. Gemessen andem engen, kleinbürgerlichen Maßstab des allmählichen Fortschritts istdas Volk in solchen Zeiten fähig, Wunder zu wirken. Es ist aber not-wendig, daß in einer solchen Zeit auch die Führer der revolutionärenParteien ihre Aufgaben breiter und kühner stellen, daß ihre Losungender revolutionären Initiative der Masse stets vorangehen, ihr als Fanaldienen, unser demokratisches und sozialistisches Ideal in seiner ganzenErhabenheit und seiner ganzen Schönheit zeigen und den nächsten, dendirektesten Weg zum vollen, unbedingten und entscheidenden Sieg weisen,überlassen wir es den Opportunisten der um das „Oswoboshdenije"gruppierten Bourgeoisie, aus Angst vor der Revolution und aus Angst vordem direkten Weg Umwege, Schleichwege und Kompromißwege auszu-tüfteln. Sollte man uns mit Gewalt zwingen, uns auf solchen Wegen

dahinzuschleppen, so werden wir auch in der täglichen Kleinarbeit unserePflicht zu tun wissen. Vorerst aber soll rücksichtsloser Kampf über dieWahl des Weges entscheiden. Wir würden uns als Verräter und Ab-trünnige der Revolution erweisen, wollten wir diese festtägliche Energieder Massen und ihren revolutionären Enthusiasmus nicht für den rück-sichtslosen, hingebungsvollen Kampf um den direkten und entscheidendenWeg ausnutzen. Mögen die Opportunisten der Bourgeoisie feige an die

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104 'WS Centn

künftige Reaktion denken. Die Arbeiter wird nichts schrecken, weder der

Gedanke, daß die Reaktion sich anschickt, furchtbar zu sein, noch derGedanke, daß die Bourgeoisie sich anschickt, abzuschwenken. Die Arbei-ter erwarten keine Kompromisse und bitten nicht um Almosen; sie trach-ten danach, die reaktionären Kräfte rücksichtslos zu zerschlagen, d. h. dierevolutionär-demdkratisäoe Diktatur des Proletariats und der Bauern-schaft zu errichten.

Oh ne Frage drohen in einer stürmischen Zeit unserem Parteischiff meh rGefahren als beim stillen „Dahingleiten" des liberalen Fortschritts, derein qualvoll-langsames Auspressen der Lebenssäfte der Arbeiterklasse

durch ihre Ausbeuter bedeutet. Ohne Frage sind die Aufgaben der revo-lutionär-demokratischen Diktatur tausendmal schwieriger und kompli-zierter als die Aufgaben der „äußersten Opposition" und des nur parla-mentarischen Kampfes. Wer es aber im gegenwärtigen revolutionärenZeitpunkt fertigbringt, bewußt das friedliche Dahingleiten und den Wegder gefahrlosen „Opposition" vorzuziehen, der soll sich lieber eine Zeit-lang von der sozialdemokratischen Arbeit fernhalten und abwa rten, bis dieRevolution zu Ende geht, bis der Festtag vorbei ist und der Alltag wiederbeginnt, bis sein beschränktes Alltagsmaß nicht mehr eine so widerwär-

tige Dissonanz, eine so abscheuliche Verzerrung der Aufgaben der fort-geschrittensten Klasse sein wird .

An der Spitze des gesamten Volkes und besonders der Bauernschaft —

für die volle Freiheit, für die konsequente demokratische Umwälzung, fürdie Republik! An der Spitze aller Werktätigen und Ausgebeuteten — fürden Sozialismus! Das muß in der Tat die Politik des revolutionären Pro-letariats sein, so muß die Klassenlosung lauten, die während der Revolu-tion die Lösung jeder taktischen Frage und jeden praktischen Schritt derArbeiterpartei durchdringen un d bestimmen m uß.

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 105

N A C H W O R T

Noch einmal das Oswoboshdenzentum,noch einmal der Neuiskrismus

Die Nummern 71 und 72 des „Oswoboshdeni je" sowie 102 und 103der „Iskra" haben neues, überaus reiches Material zu der von uns inAbschnitt 8 unserer Broschüre behandelten Frage geliefert . Da wir außer-stande sind, hier dieses ganze reichhaltige Material zu verwenden, wollen

wir nur auf das Wichtigste eingehe n: erstens darauf, welchen „Realismus"in der Sozialdemokratie das „Oswoboshdenije" über den grünen Kleelobt und warum es ihn loben muß; zweitens darauf, wie sich die BegriffeRevolut ion und D ikta tur zueinander verhal ten.

I. W O F Ü R L O B E N D I E B Ü R G E R L I C H - L I B E R A L E N R E A L I S T E N

D I E S O Z I A L D E M O K R A T I S C H E N „ R E A L I S T E N " ?

Die Artikel „Die Spaltung in der russischen Sozialdemokratie" und„Der Trium ph des gesunden Menschenverstands" (N r. 72 des „Oswo-boshdenije") sind ein für die klassenbewußten Proletarier außerordent-

lich wertvolles Urteil der Vertreter der liberalen Bourgeoisie über die

Sozialdemokratie. Man kann jedem Sozialdemokraten nicht genug emp-fehlen, sich mit diesen Artikeln in ihrem vollen Wortlaut bekannt zumachen und über jeden Satz darin nachzudenken. Zunächst wollen wirdie wichtigsten Stellen der beiden Artikel wiedergeben:

„Für den außenstehenden Beobachter", sagt das „Oswoboshdenije", „ist esziemlich schwierig, den realen politischen Sinn der Meinungsverschiedenheitenzu erfassen, welche die Sozialdemokratie in zwei Fraktionen gespalten haben.Die Erklärung, daß die Fraktion der ,Mehrheit' die radikalere und konsequen-

8 Lenin, W erke , Bd. 9

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106 'W.J.Lenin

tere sei, zum Unterschied von der .Minderheit', die im Interesse der Sache ge-

wisse Kompromisse zulasse, ist nicht ganz genau und stellt jedenfalls keine er-schöpfende Charakteristik dar. Wenigstens hütet die Fraktion der Minderheitdie traditionellen Dogmen der marxistischen Orthodoxie wohl mit noch größe-rer Eifersucht als die Fraktion Lenins. Genauer scheint uns folgende Charakte-ristik zu sein. Die politische Grundstimmung der .Mehrheit' bildet abstrakterRevolutionarismus, Rebellentum, das Bestreben, mit beliebigen Mitteln einenAufstand der Volksmassen herbeizuführen und in ihrem Namen unverzüglichdie Macht zu ergreifen,-das bringt die .Leninisten'bis zu einem gewissen Gradeden Sozialrevolutionären nahe und verdrängt in ihrem Bewußtsein die Idee desKlassenkampfes durch die Idee der allgemeinen russischen Volksrevolution;

während sich die .Leninisten' in ihrer Praxis von vielen Beschränktheiten dersozialdemokratischen Dok trin lossagen, sind sie anderseits bis ins innerste M arkvon der Beschränktheit des Revolutionarismus durchdrungen, verzichten aufjede praktische Arbeit außer der Vorbereitung des sofortigen Aufstands undignorieren grundsätzlich alle Formen der legalen und halblegalen Agitation undalle Arten praktisch-nützlicher Kompromisse mit anderen oppositionellen Strö-mungen. Die Minderheit dagegen hält sich zwar streng an das marxistischeDogma, bewahrt aber zugleich auch die realistischen Elemente der marxisti-schen Weltanschauung. Die Grundidee dieser Fraktion ist die Gegenüberstel-lung der Interessen des .Proletariats' und der Interessen der Bourgeoisie. Doch

anderseits denkt sie über den Kampf des Proletariats — selbstverständlich inden bestimmten Grenzen, die von den unerschütterlichen Dogmen der Sozial-demokratie diktiert werden — realistisch nüchtern, mit klarer Erkenntnis allerkonkreten Bedingungen und Aufgaben dieses Kampfes. Beide Fraktionen füh-ren ihren grundlegenden Standpunkt nicht ganz folgerichtig durch, da sie inihrem geistig-politischen Schaffen an die starren Formeln des sozialdemokrati-schen Katechismus gebu nden sind, welche die .Leninisten' hind ern, konsequenteRebellen nach dem Muster wenigstens einiger Sozialrevolutionäre zu werden,und die .Iskristen' hindern, praktische Führer der realen politischen Bewegungder Arbeiterklasse zu werden."

Der Artikelschreiber des „Oswqboshdenije" führt dann den Inhalt der wich-tigsten Resolutionen an und erläutert durch einige konkrete Bemerkungen zuihnen seinen allgemeinen „Gedankengang". Verglichen mit dem III. Parteitag,sagt er, „verhält sich die Konferenz der Minderheit völlig anders zum be-waffneten Aufstand". Der Unterschied der Resolutionen über die provisorischeRegierung „hängt mit der Einstellung zum bewaffneten Aufstand zusammen".„Eine ebensolche Meinungsverschiedenheit tritt auch in der Einstellung zu denGewerkschaftsverbänden der Arbeiter zutage. Die .Leninisten' haben in ihren

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 107

Resolutionen diesen wichtigsten Ausgangspunkt für die politische Erziehung

und Organisation der Arbeiterklasse mit keiner Silbe erwähnt. Die Minder-heit dagegen hat eine sehr ernste Resolution ausgearbeitet." In bezug auf dieLiberalen seien sich beide Fraktionen einig, aber der III. Parteitag „wiederholtfast wörtlich die vom II. Pa rteita g angenommene R esolution Plechanows übe rdie Stellung zu den Liberalen und verwirft die auf demselben Parteitag an-genommene, den Liberalen gewogenere Resolution Starowers". Bei sonst all-gemeiner Gleichartigkeit der Resolutionen des Parteitags und der Konferenzüber die Bauernbewegung „unterstreicht die ,Mehrheit' mehr die Idee der revo-lutionären Konfiskation der gutsherrlichen und anderer Ländereien, währenddie .Minderheit' die Forderungen demokratischer Reformen in Staat undVer-

waltung zur Grundlage ihrer Agitation machen will".Schließlich zitiert das „Oswoboshdenije" aus Nr. 100 der „Iskra" eine men-

schewistische Resolution, deren Hauptpunkt lautet: „In der Erwägung, daßgegenwärtig die illegale Arbeit allein der Masse keine genügende Garantie fürihre Beteiligung am Parteileben bietet und teilweise dazu führt, daßdie Masseals solche der Partei als illegaler Organisation entgegengestellt wird, muß diePartei die Leitung des gewerkschaftlichen Kampfes der Arbeiter auf legalemBoden in die Hand nehmen unddiesen Kampf mit den Aufgaben der Sozial-demokratie eng verbinden." Anläßlich dieser Resolution ruft das „Oswobosh-denije" aus: „Wir begrüßen diese Resolution aufs wärmste als einen Triumph

des gesunden Menschenverstands, als taktische Erleuchtung eines bestimmtenTeils der sozialdemokratischen Partei."

Jetzt hat der Leser alle wesentlichen Urteile des „Oswoboshdenije"

vor sich. Selbstverständlich wäre es der größte Fehler, diese Urteile in

dem Sinne für richtig zu halten, daß sie der objektiven Wahrheit ent-

sprächen. Jeder Sozialdemokrat wird in ihnen mit Leichtigkeit auf Schritt

und Tritt Fehler entdecken. Es wäre naiv, zu vergessen, daß alle diese

Urteile dm-eh und durch den Interessen und dem Standpunkt der liberalen

Bourgeoisie entsprechen, daß sie in diesem Sinne durch und durch par-

teiisch und tendenziös sind. Sie widerspiegeln die Auf f assungen der Sozial-demokratie genauso, wie ein konkaver oder konvexer Spiegel die Gegen-

stände widerspiegelt. Ein noch größerer Fehler aber wäre es, zu vergessen,

daß diese bürgerlich verzerrten Urteile letzten Endes die wirklichen Inter-

essen der Bourgeoisie widerspiegeln, die als Klasse zweifellos richtig ver-

steht, welche Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie ihr, der Bour-

geoisie, vorteilhaft, nahe, verwandt, sympathisch und welche ihr schäd-

lich, fern, fremd, unsympathisch sind. Ein bürgerlicher Philosoph oder ein

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108 W.J.Lenin

bürgerlicher Publizist wird die Sozialdemokratie nie richtig verstehen,

weder die menschewistische noch die bolschewistische Sozialdemokratie.Wenn er aber ein auch nur halbwegs kluger Publizist ist, so wird ihn seinKlasseninstinkt nicht täuschen, und er wird die Bedeutung der einen oderanderen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie für die Bourgeoisieimmer im Wesentlichen richtig erfassen, wenn er sie auch verkehrt dar-stellt. Der Klasseninstinkt unseres Feindes und sein Klassenurteil ver-dienen daher stets die ernsteste Aufmerksamkeit jedes klassenbewußtenProletariers.

Was sagt uns nun der Klasseninstinkt der russischen Bourgeoisie durch

den Mund der Oswoboshdenzen?Er bringt völlig eindeutig seine Zufriedenheit mit den Tendenzen des

Neuiskrismus zum Ausdruck, lobt seinen Realismus, seine Nüchternheit,den Triumph des gesunden Menschenverstands, den Ernst der Resolutio-nen, die taktische Erleuchtung, den praktischen Sinn usw. — und er bringtseinen Unw illen übe r die Tendenzen des III. Parteitags zum Ausdruck,tadelt ihn wegen seiner Beschränktheit, seines Revolutionarismus, seinesRebellentums, seiner Ablehnung praktisch-nützlicher Kompromisse usw.De r Klasseninstinkt der Bourgeoisie diktiert ihr gerade da s, was in unserer

Literatur schon wiederholt mit genauen Tatsachen bewiesen worden ist,nämlich d aß die Neuiskristen den opportunistischen, ihre Gegner abe r denrevolutionären Flügel der heutigen russischen Sozialdemokratie bilden.Die Liberalen können nicht umhin, mit den Tendenzen der ersteren zusympathisieren und die Tendenzen der letzteren zu tadeln. Als Ideologender Bourgeoisie verstehen die Liberalen ausgezeichnet, daß „der prak-tische Sinn, die Nüchternheit, der Ernst" der Arbeiterklasse, d. h. diefaktische Beschränkung ihres Tätigkeitsgebiets auf den Rahmen des Kapi-talismus, auf Reformen, auf gewerkschaftlichen Kampf usw. für die Bour-geoisie vorteilhaft ist. Gefährlich und bedrohlich ist für die Bourgeoisiedie „revolutionaristische Beschränktheit" des Proletariats und sein Be-streben, im Namen seiner Klassenaufgaben die führende Rolle in derallgemeinen russischen Volksrevolution zu übernehmen.

Daß die Oswoboshdenzen das Wort „Realismus" tatsächlich in diesemSinn auffassen, ersieht man unter anderem daraus, wie das „Oswobosh-denije" und Herr Struve es früher angewandt haben. Die „Iskra" selbstmußte wohl oder übel zugeben, daß „Realismus" bei den Oswoboshden-

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 109

zen diese Bedeutung hat. Man erinnere sich zum Beispiel des Artikels „Es

ist Zeit!" in der Beilage zu Nr. 73/74 der „Iskra". Der Verfasser diesesArtikels (ein konsequenter Verkünder der Ansichten des „Sumpfes" aufdem II. Parteitag d er Sozialdemokratischen Arbe iterpartei Ruß lands)äußerte unumwunden seine Meinung, daß „Akimow auf dem Parteitageher die Rolle eines Gespenstes des Opportunismus als seines wirklichenVertreters gespielt hat". Und die Redaktion der „Iskra" war sofort ge-nötigt, den Verfasser des Artikels „Es ist Zeit!" dadurch richtigzustellen,da ß sie in e iner Anm erkung erklärte :

„Dieser Me inung können wir nicht zustimmen . Die programmatischen Auf-

fassungen des Gen. Akimow tragen das unverkennbare Gepräge des Opportu-nismus, was auch der Kritiker des ,Oswoboshdenije' in einer der letzten Num-mern anerk enn t, indem er feststellt, d aß G en. Akimow der .realistischen' — lies:revisionistischen — Richtung angehört."

Also weiß die „Iskra" selbst sehr gut, daß der „Realismus" der Oswo-boshd enzen eben Op portu nism us ist und nichts anderes. W en n die „Iskra"jetzt bei ihren Angriffen gegen den „liberalen Realismus" (Nr. 102 der„Iskra") verschweigt, wie sie wegen ihres Realismus von den Liberalengeloht worden ist, so erklärt sich dieses Schweigen daraus, daß ein solchesLob bitterer ist als jeder Tadel. Solches Lob (vom „Oswoboshdenije"nicht zufällig und nicht zum erstenmal gespendet) beweist in der Tat dieVerwandtschaft des liberalen Realismus mit jenen Tendenzen des sozial-demokratischen „Realismus" (lies: Opportunismus), die infolge der Feh-lerhaftigkeit der gan zen taktischen Position der N euiskristen in jeder ih rerResolutionen sichtbar sind.

In der Tat, die russische Bourgeoisie hat ihre Inkonsequenz und ihrenEigenn utz in der „allgemeinen Volks"revo lution schon hinreichend offen-ba rt — offenbart sowohl durch die Betrachtungen des H er rn Struve alsauch durch den ganzen Ton und Inhalt einer Masse liberaler Zeitungen

und durch den Charakter des polit ischen Auftretens einer Menge vonSemstwoleuten, einer Menge von Intellektuellen, überhaupt aller mög-lichen Anhänger der Herren Trubezkoi, Petrunkewitsch, Roditschew undC o. Die Bourgeoisie versteht freilich nicht immer klar, erfaßt aber imgroßen und ganzen mit ihrem Klasseninstinkt ausgezeichnet, daß einer-seits das Proletariat und das „Volk" für ihre Revolution als Kanonen-futter, als Sturmbock gegen die Selbstherrschaft nützlich sind, daß ander-

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110 W.J.Lenin

seits aber das Proletariat und die revolutionäre Bauernschaft für sie furcht-

bar gefährlich sind, falls sie den „entscheidenden Sieg über den Zarismus"erringen und die demokratische Revolution zu Ende führen sollten. Des-halb trachtet die Bourgeoisie mit allen Kräften danach, daß sich das Prole-tariat mit einer „bescheidenen" Rolle in der Revolution begnüge, daß esnüchterner, praktischer, realistischer sei, daß seine Tätigkeit durch dasPrinzip bestimmt werde, „daß die Bourgeoisie bloß nicht abschwenkt".

Die intelligenten Bourgeois wissen ausgezeichnet, daß sie die Arbeiter-bewegung nicht aus der Welt schaffen können. Darum treten sie gar nichtgegen die Arbeiterbewegung, gegen den Klassenkampf des Proletariats

au f — nein, sie erweisen der Streikfreiheit und dem zivilisierten Klassen-kampf sogar jede Reverenz, wobei sie die Arbeiterbewegung und denKlassenkampf im Brentanoschen oder Hirsch-Dunckerschen Sinne auf-fassen. Mit anderen Worten, sie sind durchaus bereit , den Arbeitern die(faktisch von den Arbeitern selbst schon fast errungene) Streik- und Koa-litionsfreiheit „zuzugestehen", nur damit die Arbeiter auf das „Rebellen-tum", auf den „beschränkten Revolutionarismus", auf die Feindschaftgegen die „praktisch-nützlichen Kompromisse", auf die Ansprüche undBestrebungen verzichten, der „allgemeinen russischen Volksrevolution"den Stempel ihres Klassenkampfes, den Stempel der proletarischen Kon-seq uen z, der proletarischen E ntschlossenheit, des „plebejischen Jako biner -tums" aufzudrücken. Die intelligenten Bourgeois ganz Rußlands bemühensich deshalb aus allen Kräften, den Arbeitern durch tausenderlei Mittelund W e ge — Bücher*, Vorlesungen, Reden, Diskussionen usw. usf. — dieIdeen der (bürgerlichen) Nüchternheit , des (liberalen) praktischen Sinns,des (opportunistischen) Realismus, des (Brentanoschen) Klassenkampfes,der (Hirsch-Dunckerschen) Gewerkschaften32 u. dgl. m. einzuflößen. Diebeiden letzten Losungen sind für die Bourgeois der „konstitutionell-demo-kratischen" oder „Befreiungs"-Partei besonders bequem, denn sie stim-

men äußerlich mit den marxistischen überein und können, wenn man hierein wenig verschweigt und dort ein bißchen verdreht, leicht mit den sozial-demokratischen Losungen verwechselt, ja manchmal sogar als sozialdemo-kratische Losungen ausgegeben werden. Da schreibt z. B. die legale libe-ra le Zei tung „Rasswet" [Morgendämmerung] (über die wir uns mit denLesern des „Proletari" ein andermal ausführlicher unterhalten wollen)

* Siehe Trokopowitsdb, „Die Arbeiterfrage in Rußland".

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Zwei Tak tiken der Sozialdemokratie in der demokratischen 'Revolution 111

über den Klassenkampf, über den möglichen Betrug der Bourgeoisie am

Proletariat, über die Arbeiterbewegung, über die Selbsttätigkeit des Pro-letariats usw. usf. nicht selten derart „kühne" Dinge, daß ein unaufmerk-samer Leser oder ein unaufgeklärter Arbeiter ihren „Sozialdemokratis-mus" leicht für bare Münze nehmen können. In Wirklichkeit aber ist daseine bürgerliche Fälschung des Sozialdemokratismus, eine opportunistischeVerdrehung und Entstellung des Begriffs Klassenkampf.

Dieser ganzen gigantischen (hinsichtlich der Beeinflussung der Massen)bürgerlichen Unterschiebung liegt die Tendenz zugrunde, die Arbeiter-bewegung vorwiegend auf die Gewerkschaftsbewegung zu beschränken,sie von einer selbständigen (d. h. revolutionären und auf die demokra-tische Diktatur gerichteten) Politik fernzuhalten, „im Bewußtsein derArbeiter die Idee der allgemeinen russischen Volksrevolution durch dieIdee des Klassenkampfes zu verdrängen".

Wie der Leser sieht, haben wir die Formulierung des „Oswobosh-denije" auf den Kopf gestellt. Es ist eine prachtvolle Formulierung, welchedie zwei Ansichten über die Rolle des Proletariats in der demokratischenRevolution, die bürgerliche und die sozialdemokratische Ansicht, aus-gezeichnet zum Ausdruck bringt. Die Bourgeoisie möchte das Proletariatallein auf die Gewerkschaftsbewegung beschränken und damit „im Be-wußtsein der Arbeiter die Idee der allgemeinen russischen Volksrevolu-tion durch die (Brentanosdbe) Idee des Klassenkampfes verdrängen" —

ganz im Geiste der bernsteinianischen Verfasser des „Credos", die imBewußtsein der Arbeiter die Idee des politischen Kampfes durch die Ideeder „reinen Arbeiterbewegung verdrängten. Die Sozialdemokratie da-gegen möchte den Klassenkampf des Proletariats bis zu dessen führenderTeilnahme an der allgemeinen russischen Volksrevolution ausdehnen, d. h.diese Revolution bis zur demokratischen D iktatur des Proletariats und derBauernschaft führen.

Die Revolution ist bei uns eine allgemeine Volksrevolution, sagt dieBourgeoisie dem Proletariat. — Darum mußt du dich, als besondere K lasse,auf deinen Klassenkampf beschränken, mußt im Namen des „gesundenMenschenverstands" dein Hauptaugenmerk auf die Gewerkschaftsver-bände und ihre Legalisierung richten. Du mußt gerade diese Gewerk-schaftsverbände als den „wichtigsten Ausgangspunkt deiner politischenErziehung und Organisation" betrachten, mußt im revolutionären Augen-

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112 TV. J.Lenin

blick vorwiegend „ernste" Resolutionen im Geiste der Neuiskristen ver-

fassen und mußt die Resolutionen, die „den Liberalen gewogener" sind,mit Sorgfalt behandeln. Du mußt solchen Führern den Vorzug geben, diedie Tendenz haben, „praktische Führer der realen politischen Bewegungder Arbeiterklasse" zu werden, mußt dir „die realistischen Elemente dermarxistischen Weltanschauung bewahren" (falls du bedauerlicherweiseschon von den „starren Formeln" dieses „unwissenschaftlichen" Katechis-mus angesteckt worden bist).

Die Revolution ist bei uns eine allgemeine Volksrevolution, sagt dieSozialdemokratie dem Proletariat. — Darum mußt du, als die fortgeschrit-

tenste und einzige bis zu Ende revolutionäre Klasse, nicht nur die ener-gischste, sondern auch die führende Teilnahme an ihr anstreben. Darumdarfst du dich nicht in einen eng verstandenen Rahmen des Klassenkamp-fes, hauptsächlich im Sinne der Gewerkschaftsbewegung, einfügen, son-dern mußt umgekehrt danach streben, den Rahmen und den Inhalt deinesKlassenkampfes so weit auszudehnen, daß er nicht nur alle Aufgaben dergegenwärtigen, demokratischen, allgemeinen russischen Volksrevolution,sondern auch die Aufgaben der künftigen sozialistischen Revolution um-faßt. Darum mußt du, ohne die Gewerkschaftsbewegung zu ignorierenund ohne auf die Ausnutzung der geringsten legalen Möglichkeit zuverzichten, in der Epoche der Revolution die Aufgaben des bewaffnetenAufstands, der Schaffung einer revolutionären Armee und der Bildungeiner revolutionären Regierung in den Vordergrund rücken, als den ein-zigen Weg zum vollen Sieg des Volkes über den Zarismus, zur Erkämp-fung der demokratischen Republik und wirklicher politischer Freiheit.

Es erübrigt sich, davon zu sprechen, welche halbschlächtige, inkonse-quente und der Bourgeoisie natürlich sympathische Stellung die Resolu-tionen der Neuiskristen infolge ihrer falschen „Linie" in dieser Frage bezo-gen haben.

II. EINE NEUE „VERTIEFUNG" DER FRAGED U R C H G E N O S S E N M A R T Y N O W

Gehen wir zu den Artikeln Martynows in Nr. 102 und 103 der „Iskra"über. Selbstverständlich werden wir auf Martynows Versuche, die Un-richtigkeit unserer und die Richtigkeit seiner Auslegung verschiedener

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 113

Zitate von Engels undMarx zu beweisen, nicht antworten. Diese Ver-

suche sind so unernst, die Ausflüchte Martynows sind so offensichtlich,Und die Frage ist so klar, daß es uninteressant wäre, noch einmal daraufeinzugehen. Jeder denkende Leser wird sich in den unkomplizierten Schli-chen desMartynowschen Rückzugs auf der ganzen Linie leicht selbst zu-rechtfinden, besonders wenn die vollständigen Übersetzungen der Bro-schüre von Engels „Die Bakunisten an der Arbeit" und von Marx' „An-sprache der Zentralbehörde an den Bund" (der Kommunisten) vom März185033 erscheinen, die durch eine Gruppe von Mitarbeitern des „Prole-tari" vorbereitet werden. Es genügt ein einziges Zitat aus dem ArtikelMartynows, um dem Leser seinen Rückzug zu veranschaulichen.

Die „Iskra", sagt Martynow in Nr.103, „erkennt an, daß die Bildungeiner provisorischen Regierung einen möglichen und zweckmäßigen Ent-wicklungsweg der Revolution darstellt, sie bestreitet aber die Zweck-mäßigkeit der Teilnahme der Sozialdemokraten an einer bürgerlichenprovisorischen Regierung, undzwar im Interesse der künftigen vollstän-digen Inbesitznahme der Staatsmaschinerie für die sozialdemokratischeUmwälzung". Mit anderen Worten: Die „Iskra" gibt jetzt zu, wie un-sinnig alle ihre Ängste waren, daß die revolutionäre Regierung die Ver-antwortung für die Staatskasse und die Banken zu tragen habe, daß esgefährlich und unmöglich sei, die „Gefängnisse" in die eigene Hand zunehmen u. dgl. m. Die „Iskra" stiftet nur nach wie vor dadurch Verwir-rung, daß sie die demokratische und die sozialistische Diktatur durchein-anderwirft. Die Verwirrung ist indes unvermeidlich, um den Rückzug zudecken.

Doch unter den Wirrköpfen der neuen „Iskra" ragt Martynow als einWirrkopf ersten Ranges, als ein, wenn man sich so ausdrücken darf,talentierter Wirrkopf hervor. Krampfhaft bemüht, die Frage „zu ver-tiefen", verwirrt er sie nur, und „ersinnt" dabei fast immer neue Formu-lierungen, welche die ganze Falschheit der von ihm eingenommenen Stel-lung unübertrefflich beleuchten. Man erinnere sich, wie er in den Zeitendes „Ökonomismus" Plechanow „vertiefte" und die Formel schuf: „öko-nomischer Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung." Man wirdin der ganzen Literatur der Ökonomisten schwerlich einen treffenderenAusdruck für die ganze Falschheit dieser Richtung finden. So auch jetzt.Martynow dient eifrig der neuen „Iskra", gibt uns aber fast jedesmal,

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114 . W.J.Lenin

wenn er das Wort ergreift, neues und großartiges Material an die Hand

für die Einschätzung der falschen neuiskristischen Position. In Nr. 102erklärt er, Lenin habe „unmerklich die Begriffe Revolution und Diktaturvertauscht" (S. 3, Spalte 2).

Auf diese Beschuldigung laufen im Grunde alle Beschuldigungen derNeuiskristen gegen uns hinaus. Und wie dankbar sind wir Martynow fürdiese Beschuldigung! Welch unschätzbaren Dienst erweist er uns imKampf gegen den Neuiskrismus durch eine solche Formulierung seinerBeschuldigung! Wir sollten die Redaktion der „Iskra" wirklich bitten,Martynow möglichst oft zur „Vertiefung" und zur „wahrhaft prinzi-

piellen" Formulierung der Angriffe gegen den „Proletari" loszulassen.Denn je prinzipieller Martynow zu argumentieren bemüht ist, um soschlimmer verrennt er sich, um so deutlicher zeigt er die Blößen des Neu-iskrismus und mit um so größerem Erfolg vollzieht er an sich selbst undseinen Freunden die nützliche pädagogische Operation: reductio ad ab-surdum (führt er die Prinzipien der neuen „Iskra" ad absurdum).

Der „Wperjod" und der „Proletari" „vertauschen" die Begriffe Revo-lution und Diktatur. Die „Iskra" will eine solche „Vertauschung" nicht.Stimmt haargenau, verehrter Gen. Martynow! Sie haben ungewollt eine

große Wahrheit ausgesprochen. Sie haben durch eine neue Formulierungunsere These bestätigt, daß die „Iskra" im Nachtrab der Revolution ein-hertrottet und ihre Aufgaben fast ebenso formuliert wie das „Oswobosh-denije"r während der „Wperjod" und der „Proletari" Losungen heraus-geben, welche die demokratische Revolution vorwärtsführen.

Das ist Ihnen unverständlich, Gen. Martynow? Im Hinblick auf dieWichtigkeit der Frage werden wir uns bemühen, Ihnen eine ausführlicheErläuterung zu geben.

Der bürgerliche Charakter der demokratischen Revolution äußert sich

unter anderem darin, daß eine ganze Reihe von Klassen, Gruppen undSchichten der Gesellschaft, die durchaus auf dem Boden der Anerkennungdes Privateigentums und der Warenwirtschaft stehen und unfähig sind,über diesen Rahmen hinauszugehen, durch die Macht der Umstände dazukommen, die Untauglichkeit der Selbstherrschaft und überhaupt des gan-zen leibeigenschaftlichen Systems einzusehen, und sich der Forderungnach Freiheit anschließen. Dabei tritt der bürgerliche Charakter dieserFreiheit, die von der „Gesellschaft" gefordert und von den Gutsbesitzern

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 115

und Kapitalisten mit einem Schwall von Worten (und nur von Worten!)

verteidigt wird, immer klarer zutage. Zugleich wird auch der fundamen-tale Unterschied zwischen dem Kampf der Arbeiter und dem Kampf derBourgeoisie für die Freiheit, zwischen dem proletarischen und dem libe-ralen Demokratismus immer augenscheinlicher. Die Arbeiterklasse undihre bewußten V ertreter schreiten vorwärts und treiben diesen Kampf vor-wärts, wobei sie sich keineswegs fürchten, diesen Kampf zu Ende zu füh-ren, ja sogar noch viel weiter streben, als selbst das weitest gesteckte Zielder demokratischen Revolution reicht. Die Bourgeoisie ist inkonsequentand eigennützig, sie akzeptiert die Losungen der Freiheit nur unvoll-ständig und heuchlerisch. Jedweder Versuch, durch eine besondere Linie,durch besonders ausgearbeitete „Punkte" (nach Art der Punkte in derResolution Starowers oder der Konferenzler) die Grenzen festzusetzen,jenseits welcher die Heuchelei der bürgerlichen Freiheitsfreunde oder,wenn man will, der Verrat der Freiheit durch ihre bürgerlichen Freundebeginnt, ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt, denn die Bourgeoisie,die zwischen zwei Feuer (Selbstherrschaft und Proletariat) geraten ist,kann auf tausenderlei Wegen und mit tausenderlei Mitteln ihre Stellungund ihre Losungen wechseln, indem sie sich einen Zoll nach links undeinen Zoll nach rechts anpaßt und ständig schachert und feilscht. Die Auf-

gabe des proletarischen Demokratismus besteht nicht im Ausklügeln sol-cher toten „Punkte", sondern in der unermüdlichen Kritik an der sichentwickelnden politischen Situation, in der Anprangerung aller neuen,immer neuen, vorher gar nicht vorauszusehenden Fälle von Inkonsequenzund Verrat der Bourgeoisie.

Man erinnere sich an die Geschichte des politischen Auftretens desHerrn Struve in der illegalen Literatur, an die Geschichte des. Kampfesder Sozialdemokratie gegen ihn, und man wird anschaulich sehen, wie dieSozialdemokratie, die Vorkämpferin des proletarischen Demokratismus,diese Aufgaben erfüllt hat. Herr Struve begann mit der rein SchipowschenLosung „Rechte und ein machtbefugtes Semstwo" (siehe meinen Artikelin der „Sarja" „Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Libe-ralismus"*). Die Sozialdemokratie entlarvte ihn und stieß ihn vorwärtszu einem ausgesprochen konstitutionalistischen Programm. Als sich diese

* Siehe Werke, Bd. 5, S. 21-73. Die Red.

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„Stöße" dank dem besonders raschen Gang der revolutionären Ereignisse

ausgewirkt hatten, richtete sich der Kampf auf die nächste Frage desDemokratismus: Nicht nur eine Verfassung schlechthin, sondern unbe-dingt das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht. Als wirauch diese neue Stellung des „Feindes" (die Annahme des allgemeinenWahlrechts durch den „Bund der Befreiung") „erobert" hatten, began-nen wir weiter nachzudrängen, indem wir zeigten, daß das Zweikammer-system Heuchelei und Schwindel ist und daß die Oswoboshdenzen dasallgemeine Wahlrecht nur unvollständig anerkennen, indem wir an ihremMonarchismus nachwiesen, daß sie mit ihrem Demokratismus Geschäfte

machen oder, anders ausgedrückt, daß diese „Oswoboshdenije"-Heldendes Geldsacks mit den Interessen der großen russischen Revolution Sdhadhertreiben.

Die verbohrte Hartnäckigkeit der Selbstherrschaft, der gigantische Fort-schritt des Bürgerkriegs und die ausweglose Lage, in welche die Mon-archisten Rußland gebracht hatten, zwang schließlich auch die Begriffs-stutzigsten zur Einsicht. Die Revolution wurde zu r Jatsadhe. Man brauchtenicht mehr ein Revolutionär zu sein, um die Revolution anzuerkennen.Die absolutistische Regierung zersetzte sich faktisch und zersetzt sich vor

aller Augen. Wie ein Liberaler (Herr Gredeskul) in einer legalen Zeitungmit Recht bemerkt hat, kam es zur faktischen Unbotmäßigkeit gegenüberdieser Regierung. Bei all ihrer scheinbaren Macht erwies sich die Selbst-herrschaft als machtlos, die Ereignisse der sich entwickelnden Revolutionbegannen diesen bei lebendigem Leibe verwesenden parasitären Organis-mus einfach beiseite zu schieben. Gezwungen, ihre Tätigkeit (oder rich-tiger gesagt: ihre politischen Geschäfte) auf dem Boden der gegebenen,faktisch entstandenen Verhältnisse aufzubauen, sahen sich die liberalenBourgeois mit der Zeit vor die Notwendigkeit gestellt, die Revolution an-zuerkennen. Sie tun das, nicht weil sie Revolutionäre sind, sondern ob-wohl sie keine Revolutionäre sind. Sie tun das notgedrungen und gegenihren Willen, sehen mit Ingrimm die Erfolge der Revolution und bezich-tigen die Selbstherrschaft, die kein Kompromiß will, sondern Kampf aufLeben und Tod , sie fördere die Revolution. Als geborene Krämer hassensie den Kampf und die Revolution, aber die Umstände zwingen sie, sichauf den Boden der Revolution zu stellen, denn einen anderen Boden habensie nicht unter den Füßen.

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Zwei T aktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 117

Wir wohnen einem höchst lehrreichen und höchst komischen Schau-

spiel bei. Die Prostituierten des bürgerlichen Liberalismus versuchen, sichin die revolutionäre Toga zu hüllen. Die Oswoboshdenzen — risum tene-atis, amicü* — die Oswoboshdenzen beginnen im Namen der Revolutionzu sprechen! Die Oswoboshdenzen beginnen zu versichern, daß sie „dieRevolution nicht fürchten" (Herr S truve in Nr. 72 des „Oswoboshde-nije")!!! Die Oswoboshdenzen erheben den Anspruch, „an die Spitze derRevolution zu treten "!!!

Das ist eine höchst bezeichnende Erscheinung, und sie kennzeichnetnicht nur den Fortschritt des bürgerlichen Liberalismus, sondern nochmehr den Fortschritt der realen Erfolge der revolutionären Bewegung, diesich ihre Anerkennung erzwungen hat. Sogar die Bourgeoisie beginnt zufühlen, daß es vorteilhafter ist, sich auf den Boden der Revolution zustellen — so sehr ist die Selbstherrschaft ins Wanken geraten. Anderseitsaber stellt uns diese Erscheinung, die vom Aufstieg der ganzen Bewegungauf eine neue, eine höhere Stufe zeugt, auch neue und höhere Aufgaben.Die Anerkennung der Revolution durch die Bourgeoisie kann nicht auf-richtig sein, ganz unabhängig von der persönlichen Ehrlichkeit des einenoder anderen bürgerlichen Ideologen. Die Bourgeoisie kann nicht anders,als auch in dieses höhere Stadium der Bewegung ihren Eigennutz und ihre

Inkonsequenz, ihr Krämertum und ihre kleinlichen reaktionären Schlichemitzubringen. Auf Grund unseres Programms und in Weiterentwicklungunseres Programms müssen wir jetzt die nächsten konkreten Aufgabender Revolution anders formulieren. Was gestern genügend war, ist heuteungenügend. Gestern war es vielleicht genügend, als fortschrittliche demo-kratische Losung die Anerkennung der Revolution zu fordern. Jetzt istdas zuwenig. Die Revolution hat sogar Herrn Struve gezwungen, sieanzuerkennen. Je tzt wird von der fortgeschrittensten Klasse verlangt, daßsie den eigentlichen Inhalt der aktuellen und unaufschiebbaren Aufgaben

dieser Revolution genau bestimme. Die Herren Struve erkennen zwar dieRevolution an, aber immer wieder sieht man gleich ihre Eselsohren, aufsneue stimmen sie das alte Liedchen an, daß ein friedlicher Ausgang mög-lich sei, daß Nikolaus die Herren Oswoboshdenzen zur Macht berufenwerde usw. usf. Die Herren Oswoboshdenzen erkennen die Revolutionan, um desto gefahrloser für sich diese Revolution zu eskamotieren, sie

* Haltet das Lachen zurück, Freunde!

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118 'W.O. Lenin

zu verraten. Unsere Sache ist es jetzt, dem Proletariat und dem ganzen

Volk zu sagen, daß die Losung Revolution ungenügend ist, darauf hin-zuweisen, daß es notwendig ist, den eigentlidben Inhalt der Revolutionklar und eindeutig, konsequent und entschieden zu bestimmen. Und einesolche Bestimmung ist eben die Losung, die allein geeignet ist, den „ent-scheidenden Sieg" der Revolution richtig auszudrücken, nämlich die Lo-sung: revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und derBauernschaft34.

Mißbrauch mit Worten ist eine sehr alltägliche Erscheinung in der Poli-tik. Als „Sozialisten" bezeichneten sich beispielsweise oft genug sowohl

die Anhänger des englischen bürgerlichen Liberalismus („wir alle sindjetzt Sozialisten" — „we all are socialists now", sagte Harcourt) als auchdie Anhänger Bismarcks und die Freunde des Papstes Leo XIII. Das W ort„Revolution" eignet sich ebenfalls sehr gut zum Mißbrauch, und in einembestimmten Entwicklungsstadium der Bewegung ist ein solcher Mißbrauchunausbleiblich. Als Herr Struve anfing, im Namen der Revolution zusprechen, erinnerten wir uns unwillkürlich Thiers'. Wenige Tage vor derFebruarrevolution witterte diese Zwergmißgeburt, dieser vollendetste gei-stige Ausdruck der politischen Käuflichkeit der Bourgeoisie, in der Luftdas Herannahen einer Volksbewegung. Und er erklärte in der Deputier-tenkammer, daß er zu r Partei der Revolution gehöre] (Siehe M arx, „DerBürgerkrieg in Frankreich"35.) Die politische Bedeutung des Übergangsder Oswoboshdenzen zur Partei der Revolution ist mit diesem „Über-gang" Thiers' völlig identisd). Beginnen die rassischen Thiers von ihrerZugehörigkeit zur Partei der Revolution zu sprechen, so heißt das, daßdie Losung Revolution ungenügend und nichtssagend geworden ist, daßsie die Aufgaben nicht bestimmt, denn die Revolution ist zur Tatsachegeworden, und auf ihre Seite haben sich die verschiedenartigsten Elementegeschlagen.

In der Tat, was bedeutet Revolution vom marxistischen Standpunktaus? Gewaltsame Zerstörung des überlebten politischen Überbaus, dessenWiderspruch zu den neuen Produktionsverhältnissen in einem bestimm-ten Zeitpunkt zu seinem Zusammenbruch geführt hat. Der Widerspruchder Selbstherrschaft zur ganzen Struktur des kapitalistischen Rußlands,zu allen Erfordernissen seiner bürgerlich-demokratischen Entwicklung, hatjetzt zu einem um so stärkeren Zusammenbruch geführt, je länger dieser

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Zwei Jaktiken der Sozialdemok ratie in der demokratisdhen Revolution 119

Widerspruch künstlich aufrechterhalten worden ist. Der überbau kracht

in allen Fugen, hält dem Ansturm nicht stand, verliert seinen Halt. DasVolk muß sich selbst durch die Vertreter der verschiedensten Klassen undGruppen einen neuen überbau schaffen. In einem bestimmten Zeitpunktder Entwicklung wird die Untauglichkeit des alten Überbaus allen klar.Alle erkennen die Revolution an. Jetzt ist es die Aufgabe, zu bestimmen,weldhe Klassen den neuen überbau errichten und wie sie das tun sollen.Ohne eine solche Bestimmung ist die Losung Revolution im gegenwär-tigen Augenblick leer und inhaltslos, denn die Schwäche der Selbstherr-schaft macht auch Großfürsten und die „Moskowskije Wedomosti" 36 zu„Revolutionären"! Ohne eine solche Bestimmung kann von den fortschritt-lichen demokratischen Aufgaben der fortgeschrittensten Klasse gar keineRede sein. Und diese Bestimmung ist eben die Losung: demokratischeDiktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Diese Losung bestimmtsowohl jene Klassen, auf die sich die neuen „Erbauer" des neuen Über-baus stützen können und müssen, als auch dessen Charakter („demo-kratische" Diktatur zum Unterschied von der sozialistischen) und dieMethode des Aufbaus (Dik tatur, d. h. gewaltsame Unterdrückung des ge-waltsamen Widerstands, Bewaffnung der revolutionären Klassen des Vol-kes). Wer jetzt diese Losung der revolutionär-demokratischen Diktatur,

die Losung der revolutionären Armee, der revolutionären Regierung, derrevolutionären Bauernkomitees nicht anerkennt, der begreift entweder dieAufgaben der Revolution nicht im geringsten, vermag ihre neuen undhöheren, vom gegenwärtigen Augenblick gestellten Aufgaben nicht zubestimmen, oder aber er betrügt das Volk und verrät die Revolution, denner mißbraucht die Losung „Revolution".

Der erste Fall trifft auf Gen. Martynow und seine Freunde zu, derzweite auf Herrn Struve und die ganze „konstitutionell-demokratische"Semstwopartei.

Gen. Martynow war so scharfsinnig und geistreich, die Beschuldigung,daß die Begriffe Revolution und Diktatur „vertauscht" würden, gerade indem Augenblick vorzubringen, als die Entwicklung der Revolution for-derte, ihre Aufgaben durch die Losung Diktatur zu bestimmen! Gen.Martynow hatte tatsächlich wieder einmal das Pech, im Nachtrabjeinher-zutrotten, auf der vorletzten Stufe stehenzubleiben, sidb auf denv'Nweaudes Oswobosbdenzentums zu befinden, denn gerade der politischen Stel-

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lung der Oswoboshdenzen, d. h. den Interessen der liberalen monarchi-

stischen Bourgeoisie, entspricht jetzt die Anerkennung der „Revolution"(in Worten) und die ablehnende Haltung zur demokratischen Diktaturdes Proletariats und der Bauernschaft (d. h. zur Revolution in Taten). Dieliberale Bourgeoisie spricht sich jetzt, durch den Mund des Herrn Struve,für die Revolution aus. Das klassenbewußte P roletariat fordert, durch denMund der revolutionären Sozialdemokraten, die Diktatur des Proletariatsund der Bauernschaft. Und hier mischt sich der Weise aus der neuen„Iskra" in den Streit ein und donnert: Wagt es nicht, die Begriffe Revo-lution und Diktatur zu „vertauschen"! Nun, ist es etwa nicht wahr, daß

die falsche Position der Neuiskristen sie dazu verurteilt, ständig im Nach-trab des Oswoboshdenzentums einherzutrotten?

Wir haben gezeigt, daß die Oswoboshdenzen in der Anerkennung desDemokratismus (nicht unbeeinflußt von den aufmunternden Stößen derSozialdemokratie) von Stufe zu Stufe emporsteigen. Anfangs war dieFrage in unserer Polemik mit ihnen: Schipowsche Politik (Rechte und einmachtbefugtes Semstwo) oder Konstitutionalismus? Dann: beschränkteWahlen oder allgemeines Wahlrecht? Weiter: Anerkennung der Revolu-tion oder Maklergeschäft mit der Selbstherrschaft? Und schließlich jetzt:

Anerkennung der Revolution ohne Diktatur des Proletariats und derBauernschaft oder Anerkennung der Forderung einer Diktatur dieser Klas-sen in der demokratischen Revolution? Es ist möglich und wahrscheinlich,daß die Herren Oswoboshdenzen (einerlei, ob die heutigen oder ihreNachfolger am linken Flügel der bürgerlichen Demokratie) noch eineStufe höher steigen, d. h. mit der Ze it (vielleicht dann , wenn Gen . M arty-now noch eine Stufe höher steigt) auch die Losung der Diktatur an-erkennen werden. Das wird sogar unvermeidlich so kommen, wenn dierussische Revolution mit Erfolg vorwärtsschreitet und den entscheidendenSieg erringt. Welches wird dann die Stellung der Sozialdemokratie sein?M it dem vollen Sieg der jetzigen Revolution wird d ie demokratische Um -wälzung zu Ende sein und der entscheidende Kampf für die sozialistischeUmwälzung beginnen. Mit der Verwirklichung der Forderungen der heu-tigen Bauernschaft, der vollständigen Zerschlagung der Reaktion und derEroberung der demokratischen Republik wird die Bourgeoisie und sogardie Kleinbourgeoisie völlig aufhören, revolutionär zu sein, wird der wirk-liche Kampf des Proletariats für den Sozialismus beginnen. Je vollstän-

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Zwe i Jaktiken der Sozialdemokra tie in der demokratisdben Revolution 121

diger die demokratische Umwälzung sein wird, um so schneller, breiter,

reiner und entschiedener wird sich dieser neue Kampf entfalten. Die Lo-sung der „demokratischen" Diktatur bringt denn auch den historisch be-grenzten Charakter der heutigen Revolution und die Notwendigkeit einesneuen Kampfes auf dem Boden der neuen Zustände für die volle Befreiungder Arbeiterklasse von jedem Joch und jeder Ausbeutung zum Ausdruck.Mit anderen Worten: Wenn die demokratische Bourgeoisie oder Klein-bourgeoisie noch eine Stufe höher gestiegen, wenn nicht nur die Revolu-tion, sondern auch der volle Sieg der Revolution zur Tatsache gewordensein wird, dann werden wir (vielleicht unter furchtbarem Wehgeschreineuer, künftiger Martynows) die Losung der demokratischen D iktatur mitder Losung der sozialistischen Diktatur des Proletariats, d. h. der voll-ständigen sozialistischen Umwälzung, „vertauschen".

III. DIE VULGÄR-BÜRGERLICHE DAR STELLUNGDER DIKTATUR

UND MARX' ANSICHT ÜBER DIE DIKTATUR

Mehring

37

erzählt in seinen einleitenden Bemerkungen zu den von ihmherausgegebenen Marxschen Artikeln aus der „Neuen Rheinischen Zei-tung" vom Jahre 1848, daß die bürgerliche Literatur dieser Zeitung unteranderem den Vorwurf machte, sie habe als einziges „Mittel zur Durch-führung der Demokratie die sofortige Einführung der Diktatur verlangt"(M arx ' Nachlaß, Bd. III, S. 53*) . Vom vulgär-bürgerlichen Standpunktschließen der Begriff Diktatur und der Begriff Demokratie einander aus.Der Bourgeois, der die Theorie des Klassenkampfes nicht begreift und ge-wöhnt ist, in der politischen A rena den kleinlichen Zank der verschiedenenZirke l und Koterien der Bourgeoisie zu sehen, versteht unter Dik tatur dieAbschaffung aller Freiheiten und Garantien der Demokratie, jegliche Will-kür, jeglichen Mißbrauch der Macht im persönlichen Interesse des Dikta-tors. Im Grunde genommen schimmert eben dieser vulgär-bürgerliche Stand-punkt auch bei unserm Martynow durch, der am Schluß seines „neuen

* „Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Fer-dinand Lassalle", 2. Aufl. Der Tibers.

9 Lenin, W erke, Bd. 9

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Feldzugs" in der neuen „Iskra" die Vorliebe des „W perjod" und des „Pro-

letari" für die Losung der Diktatur damit e rklärt, daß Lenin „schrecklichgern sein Glück versuchen m öchte" („Iskra" Nr. 103, Spalte 2). Um Mar-tynow den Begriff der Diktatur der Klasse zum Unterschied von der Dik-tatur einer Person und die Aufgaben der demokratischen Diktatur zumUnterschied von der sozialistischen zu erklären, wird es nicht ohne Nut-zen sein, auf die Ansichten der „Neuen Rheinischen Zeitung" einzugehen.

„Jeder provisorische Staatszustand nach einer Revolution", schrieb die„Neue Rheinische Zeitung" vom 14. September 1848, „erfordert eineDikta tur, und zwar eine energische Diktatur. W ir haben es Cam phausen"

(preußischer Ministerpräsident nach dem 18. März 1848) „von Anfang anvorgeworfen, daß er nicht diktatorisch auftrat, daß er die Überbleibselder alten Institutionen nicht sogleich zerschlug und entfernte. Währendalso Herr Camphausen sich in konstitutionellen Träumereien wiegte, ver-stärkte die geschlagene Partei" (d. h. die Partei der Reaktion) „die Posi-tionen in der Bürokratie und in der Armee, ja, wagte hier und da selbstden offenen Kampf."38

„Die Zeitung faßt hier", sagt mit Recht Mehring, „in wenigen Sätzenzusammen, was sie in ihren langen Abhandlungen über das Ministerium

Camphausen ausführlich begründete." Was sagen uns diese Worte vonMarx? Daß eine provisorische revolutionäre Regierung diktatorisch vor-gehen muß (ein Grundsatz, den die „Iskra", die sich vor der Losung derDiktatur scheute, durchaus nicht verstehen konnte) und daß die Aufgabedieser Diktatur die Vernichtung der Überbleibsel der alten Institutionenist (genau das, was in der Resolution des III. Parteitags der SDAPR überden Kampf gegen die Konterrevolution klar gesagt und in der Resolutionder Konferenz, wie wir oben gezeigt haben, weggelassen ist). Drittensendlich folgt aus diesen W orten , daß Marx die bürgerlichen Demokratenwegen ihrer „konstitutionellen Träumereien" in der Epoche der Revolu-tion und des offenen Bürgerkriegs geißelte. Welchen Sinn diese Wortehaben, ist besonders anschaulich zu ersehen aus dem Artikel der „NeuenRheinischen Zeitung" vom 6. Juni 1848: „Eine konstituierende N ational-versammlung", schrieb Marx, „muß vor allem eine aktive, revolutionär-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamen-tarische Schulübungen und läßt die Regierungen handeln. Gesetzt, es ge-länge diesem gelehrten Konzil nach allerreifster Überlegung, die beste

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demohraiisöoen Revolution 123

Tagesordnung und die beste Verfassung auszuklügeln, was nutzt die beste

Tagesordnung und die beste Verfassung, wenn die Regierungen unterdesdie Bajonette auf die Tagesordnung gesetzt?" 38

Das ist eben der Sinn der Losung: Diktatur. Man kann daraus ersehen,wie sich Marx zu Resolutionen verhalten hätte, die den „Beschluß, einekonstituierende Versammlung zu organisieren", einen entscheidenden Siegnennen oder die dazu auffordern, „die Partei der äußersten revolutionä-ren Opposition zu bleiben".

Große Fragen werden im Leben der Völker nur durch Gew alt entschie-den. Die. reaktionären Klassen greifen gewöhnlich als erste zur Gewalt,

beginnen den Bürgerkrieg und „setzen die Bajonette auf die Tagesord-nung", wie es die russische Selbstherrschaft tat und wie sie es seit dem9. Januar systematisch und unentwegt überall und allenthalben tut. Istaber einmal eine solche Lage geschaffen worden, sind die Bajonette wirk-lich an erster Stelle auf die politische Tagesordnung gesetzt worden, hatsich der Aufstand als notwendig und unaufschiebbar herausgestellt, dannwerden konstitutionelle Träumereien und parlamentarische Schulübungenzum bloßen Deckmantel des bürgerlichen V errats an d er Revolution, zumDeckmantel für das „Abschwenken" der Bourgeoisie von der Revolution.

Und dann m uß die wirklich revolutionäre Klasse eben die Losung der Dik-tatur ausgeben.

über die Aufgaben dieser Diktatur schrieb Marx schon in der „NeuenRheinischen Zeitung": „Sie (die Nationalversammlung) brauchte nurüberall den reaktionären Übergriffen überlebter Regierungen diktatorischentgegenzutreten, und sie eroberte sich eine Macht in der Volksmeinung,an der alle Bajonette und Kolben zersplittert wären... Sie langweilt dasdeutsche Volk, statt es mit sich fortzureißen oder von ihm fortgerissen zuwerden." 40 Die Nationalversammlung hätte nach der Meinung von Marx

alles tun müssen, um „aus dem faktisch bestehenden Zustande Deutsch-lands alles zu entfernen, was dem Prinzip der Volkssouveränität wider-sprach", um dann „den revolutionären Boden, auf dem sie steht, zu be-haupten, um die Errungenschaft der Revolution, die Volkssouveränität,vor allen Angriffen sicherzustellen" 41.

Folglich liefen die Aufgaben, die Marx 1848 der revolutionären Regie-rung oder der Diktatur stellte, ihrem Inhalt nach vor allem auf eine demo-kratisdhe Umwälzung hinaus: Schutz vor der Konterrevolution und

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124 W.J.Cenin

faktische Beseitigung alles dessen, was der Volkssouveränität widerspricht.

U nd das ist nichts anderes als die revolutionär-demok ratische D iktatu r.Nun weiter.- Welche Klassen konnten und mußten nach der Meinung

von Marx diese Aufgaben verwirklichen (das Prinzip der Volkssouveräni-tät wirklich restlos durchführen und die Angriffe der Konterrevolution ab-wehren)? Marx spricht vom „Volk". Wir wissen aber, daß er die klein-bürgerlichen Illusionen von der Einheit des „Volkes" und vom Nichtvor-handensein des Klassenkampfes innerhalb des Volkes stets schonungslosbekämpft hat. Das Wort „Volk" gebrauchte Marx, nicht um die Klassen-unterschiede zu vertuschen, sondern um bestimmte Elemente zusammen-

zufassen, die fähig sind, die Revolution zu Ende zu führen.Na ch dem Sieg des Berliner Proleta riats am 18. M är z, sch rieb die

„N eue Rheinische Zeitu ng ", hätten sich zweierlei Resultate der Revolutiongezeigt: „. . .auf der einen Seite die Volksbewaffnung, das Assoziations-recht, die faktisch errungene Volkssouveränität; auf der andern die Bei-behal tung der Monarchie und das Ministerium Camphausen-Hansemann,d. h. die Regierung der Vertreter der hohen Bourgeoisie.

Die Revolution hatte also zwei Reihen von Resultaten, die notwendigauseinandergeh en m uß ten. D as V olk hatte gesiegt, es hatte sich Freiheiten

entschieden demokratischer Natur erobert; aber die unmittelbare Herr-schaft ging über, nicht in seine Hände, sondern in die der großen Bour-geoisie.

Mit einem Wort, die Revolution war nicht vollendet. Das Volk hattedie Bildung eines M inisteriums von g roßen Bourgeois zugelassen, und diegro ßen Bourgeois bewiesen ihre Tend enzen sogleich dad urch, d aß sie demaltpreußischen Adel und der Bürokratie eine Allianz anboten. Arnim, Ka-nitz, Schwerin traten ins Ministerium.

Die hohe "Bourgeoisie, von jeher antirevolutionär, schloß aus 7urdht vor

dem Volk, d.h. vor den Arbeitern und d er demokratischen Bürgerschaft, einSchutz- und Jruizbündnis mit der Reaktion" (von uns hervorgehoben).4 2

Also nicht nur der „Beschluß, eine konstituierende Versammlung zuorganisieren", sondern selbst ihre wirkliche Einberufung ist für den ent-scheidenden Sieg der Revolution noch ungenügend! Sogar nach einemTeilsieg im bewaffneten Kampf (dem Sieg der Berliner Arbeiter über dieTr up pe n am 18. M är z 1848) ist eine „nicht abgesch lossene", „nicht voll-endete" Revolut ion möglich. Wovon hängt nun ihre Vollendung ab?

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Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 125

Davon , in wessen Hä nd e die unmit telbare Herrschaft überg eht : ob in die

Hände der Petrunkewitsch und Roditschew, also unserer Camphausen undHan sem ann, oder in die Hän de des Volkes , d . h . der A rbei ter und derdemokratischen Bürgerschaft. Im ersten Falle wird die Bourgeoisie dieMacht haben, das Proletar iat aber — „die Freiheit der Krit ik", die Frei-heit , „die Partei der äußersten revolutionären Opposit ion zu bleiben".Die Bourgeoisie wird sogleich nach dem Siege ein Bündnis mit der Reak-tion schließen (das würde unvermeidlich auch in Rußland geschehen, wennzum Beispiel die Petersburger Arbeiter im Straßenkampf gegen das Mili-tär nur einen Teilsieg errängen und den Herren Petrunkewitsch undCo. die Bildung der Regierung überließen). Im zweiten Falle wäre einerevolution är-dem okratisch e D ikta tur, d. h. der volle Sieg der R evolutionmöglich.

Es bleibt noch übrig, genauer zu bestimmen, was Marx eigentlich unterder „demokratischen Bürgerschaft" verstand, die er, zusammen mit denArbeitern, als Volk bezeichnete, im Gegensatz zur Großbourgeoisie.

Eine klare A ntw ort auf diese Frage gibt folgende Stelle aus dem Artikelder „ Ne uen Rheinischen Ze itung " vom 29 . Juli 1848 : „D ie deutsche Revolu-tion von 1848 ist nur die Parodie der französischen Revolution von 17 89 .

Am 4. August 1789, drei Wochen nach dem Basril lensturm, wurde dasfranzösische Volk auf einen Tag mit den Feudallasten fert ig.

A m 11. Jul i 1848, vier Monate nach den Märzbarr ikaden, werden dieFeudallasten mit dem deutschen Volk fert ig, teste Gierke cum Hanse-manno .*

Die französische Bourgeoisie von 1789 ließ ihre Bundesgenossen, dieBauern, keinen Augenblick im Stich. Sie w ußte , die Gru ndlag e ihrer H err -

* „Zeugen-. Gierke zusammen mit Han sem ann." H anseman n war der M ini-ster der Partei der Großbourgeoisie (also der preußische Trubezkoi oder Rodi-

tschew usw.). Gierke war Landwirtschaftsminister im Ministerium Hansemannund arbeitete einen Gesetzentwurf aus, einen „kühnen" Gesetzentwurf zur„Beseitigung aller Feudallasten", angeblich „ohne Entschädigung", in Wirk-lichkeit jedoch zur Beseitigung der kleinen und unwichtigen, aber zur Bei-behaltung oder Ablösung der wesentlichen Lasten. Herr Gierke war so etwaswie die russischen Kablukow, Manuilow, Herzenstein und ihnen verwandtebürgerlich-liberale Bauernfreunde, die eine „Erweiterung des bäuerlichenGrundbesitzes" wünschen, aber die Gutsherren nicht kränken wollen.

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126 W.l£enin

schaft war Zertrümmerung des Feudalismus auf dem Lande, Herstellung

der freien, grundbesitzenden Bauernklasse.Die deutsche Bourgeoisie von 1848 verrät ohne allen Anstand diese

Bauern, die ihre natürUdhsten "Bundesgenossen, die Fleisch von ihremFleisch sind, und ohne die sie machtlos ist gegenüber dem A del.

Die Fortdauer, die Sanktion der Feudalrechte in der Form der (illusori-schen) Ablösung, das ist also das Resultat der deutschen Revolution von1848. Das ist die wenige Wolle von dem vielen Geschrei!" 43

Das ist eine sehr lehrreiche Stelle, die uns vier wichtige Thesen an dieHand'gibt: 1. Die nichtvollendete deutsche Revolution unterscheidet sich

von der vollendeten französischen dadurch, daß die Bourgeoisie nicht nurden Demokratismus im allgemeinen, sondern auch die Bauernschaft imbesonderen verraten hat. 2. Die Grundlage für die völlige Verwirklichungder demokratischen Umwälzung bildet die Herstellung einer freien Bauern-klasse. 3. Die Herstellung einer solchen Klasse bedeutet die Beseitigungder Feudallasten und die Vernichtung des Feudalismus, aber noch keines-wegs eine sozialistische Umwälzung. 4. Die Bauern sind die „natürlich-sten" Bundesgenossen der Bourgeoisie; nämlich der demokratischen Bür-gerschaft, die ohne sie der Reaktion gegenüber „machtlos" ist.

Berücksichtigt man die entsprechenden konkreten nationalen Besonder-heiten und setzt an die Stelle des Feudalismus die Leibeigenschaft, so sindalle diese Thesen auch auf das Rußland von 1905 voll anwendbar. Undzweifellos können wir, wenn wir aus der von Marx beleuchteten Erfah-rung Deutschlands die Lehren ziehen, zu keiner anderen Losung für denentscheidenden Sieg der Revolution gelangen als zu der Losung: revolutio-när-demokratische Dik tatur des Proletariats und der Bauernschaft. Es stehtaußer Zweifel, daß die Hauptbestandteile des „Volkes", das Marx 1848der Widerstand leistenden Reaktion und der Verrat übenden Bourgeoisieentgegengestellt hat, das Proletariat und die Bauernschaft sind. Es stehtaußer Zweifel, daß auch bei uns in Rußland die liberale Bourgeoisie unddie Herren Oswoboshdenzen die Bauernschaft jetzt verraten und künftigverraten werden, d. h. sich durch eine Scheinreform aus der Affäre ziehenund im entscheidenden Kampf zwischen den Gutsb esitzern und der Bauern-schaft auf die Seite der ersteren schlagen werden. Nur das Proletariat istfähig, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen.Schließlich steht außer Zweifel, daß auch bei uns in Rußland der Erfolg

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Zwei Ta ktiken der Sozialdemok ratie in der demokratischen Revolution 127

des Bauernkampfes, d. h. der Übergang des gesamten Grund und Bodens

an die Bauernschaft, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeu-ten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein wird, keines-wegs aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die „Sozialisierung",von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, reden .Der Erfolg des Bauernaufstands, der Sieg der demokratischen Revolutionwird erst den W eg ebnen zum wirklichen und entscheidenden Kampf fürden Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik.Die Bauern-schaft wird als grundbesitzende Klasse in diesem Kampf dieselbe ver-räterische, schwankende Rolle spielen, wie die Bourgeoisie sie jetzt im

Kampf für die Demokratie spielt. Das vergessen heißt den Sozialismusvergessen, heiß t sich und andere über die wahren Interessen und Aufgabendes Proletariats betrügen.

Um die Marxschen Ansichten aus dem Jahre 1848 lückenlos wieder-zugeben, ist es notwendig, auf einen wesentlichen Unterschied zwischender damaligen deutschen Sozialdemokratie (oder der KommunistischenPartei des Proletariats, um in der damaligen Sprache zu reden) und derheutigen russischen Sozialdemokratie hinzuweisen. Geben wir Mehringdas Wort:

„...als ,Organ der Demokratie' hatte sie" (die Neue Rheinische Zei-tung) „die politische Bühne beschriften, und sowenig sich der rote Fadenverkennen ließ, der sich durch ihre Arbeiten zog, so vertrat sie zunächstnoch mehr die Interessen der bürgerlichen Revolution gegenüber dem Ab-solutismus und dem Feudalismus, als daß sie schon die Interessen des Pro-letariats gegen die Bourgeoisie vertreten hätte. Von der besonderen Ar-beiterbewegung der Revolutionsjahre ist in ihren Spalten Wenig zu finden,wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß neben ihr unter derLeitung Molls und Schappers ein besonderes Organ des Kölner Arbeiter-vereins44 zweimal wöchentlich erschien. Immerhin fällt dem heutigenLeser auf, wie geringes Interesse die Neue Rheinische Zeitung der dama-ligen deutschen Arbeiterbewegung geschenkt hat, obgleich deren fähigsterKopf, Stephan Born, in Paris und Brüssel von Marx und Engels gelernthatte und auch jetzt von Berlin aus für ihre Zeitung korrespondierte. Inseinen Denkwürdigkeiten erzählt Born, daß sie ihm nie ein Wort der Miß-billigung über seine Arbeiteragitation gesagt hätten; dennoch machen esspätere Äußerungen von Engels wahrscheinlich, daß sie wenigstens mit der

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128 IV."i. Lenin

Art dieser Agitation unzufrieden gewesen sind, mit Recht, insofern als

Born dem, in dem weitaus größten Teile Deutschlands noch ganz unent-wickelten Klassenbewußtsein des Proletariats manche Zugeständnissemachen mußte, die vor dem Kommunistischen Manifest nicht bestehenkonnten, mit Unrecht, insofern als Born die von ihm geleitete Agitationdoch auf einer verhältnismäßig sehr beträchtlichen Höhe zu haltenwußte... Ohne Zweifel waren sie historisch und politisch auch in ihremRechte, wenn sie das wichtigste Interesse der Arbeiterklasse zunächst indem möglichsten Vorantreiben der bürgerlichen Revolution sa hen .. . T rotzalledem bleibt es ein merkw ürdiger Beweis dafür, w ie der elementare In-

stinkt der Arbeiterbewegung die Konzeptionen der genialsten Denker zuberichtigen weiß, daß sie im April 1849 sich für eine spezifische Arbeiter-organisation entschieden und die Beschickung des Arbeiterkongresses be-schlossen, der besonders von dem ostelbischen Proletariat vorbereitet w or-den war."

Also erst im April 1849, nach fast einjähriger H erausgabe der revolutio-nären Z eitung (die „Neue Rheinische Zeitung" begann am 1. Juni 1848 zuerscheinen), sprachen sich Marx und Engels für eine besondere Organisa-tion der Arbeiter aus! Bis dahin leiteten sie einfach ein „Organ der Demo-

kratie", das durch keinerlei organisatorische Bande mit einer selbständigenArbeiterpartei verbunden war! Diese von unserem heutigen Standpunktungeheuerliche und unglaubliche Tatsache zeigt uns klar, welch großerUnterschied zwischen der damaligen deutschen und der heutigen russi-schen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei besteht. Diese Tatsache zeigtuns, um wieviel weniger in der deutschen demokratischen Revolution (in-folge der Rückständigkeit des Deutschlands von 1848 sowohl in ökonomi-scher als auch in politischer Hinsicht — die staatliche Zersplitterung) dieproletarischen Z üge d er Bewegung, die proletarische Strömung in ihr zu-tage getreten sind. Das darf nicht vergessen werden bei der Beurteilungder wiederholten Erklärungen von M arx aus dieser und der etwas späte-ren Epoche über die Notwendigkeit, eine selbständige Partei des Proleta-riats zu organisieren. Marx hat erst aus der Erfahrung der demokratischenRevolution, fast ein Jahr nachher, praktisch diese Schlußfolgerung gezogen:so spießig, so kleinbürgerlich war damals die ganze Atmosphäre inDeutschland. Für uns ist diese Schlußfolgerung eine seit langem fest-stehende, aus der halbhundertjährigen Erfahrung der internationalen

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Zwei Jaktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 129

Sozialdemokratie gezogene Erkenntnis — eine Erkenntnis, mit der w ir be-

gonnen haben, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands zu orga-nisieren. Bei uns kann z. B. keine Rede davon sein, daß die revolutionärenZeitungen des Proletariats außerhalb der sozialdemokratischen Partei desProletariats stünden, daß sie auch nur für einen Augenblick einfach als„Organe der Demokratie" auftreten könnten.

Aber jener Gegensatz, der sich zwischen M arx und Stephan Born ebenerst zu zeigen begann, besteht bei uns in um so entwickelterer Form, jemächtiger im demokratischen Strom unserer Revolution die proletarischeStrömung hervortritt. Wenn Mehring davon spricht, daß Marx und

Engels mit der Agitation von Stephan Born wahrscheinlich unzufriedenwaren, so drückt er sich allzu mild und ausweichend aus. Man lese, wasEngels 1885 (in der Einleitung zu den „Enthüllungen über den Kommuni-stenprozeß zu Köln", Zürich 1885) über Born schrieb:

Daß der „Bund der Kommunisten" i5 eine vorzügliche Schule der revo-lutionären Tätigkeit gewesen, wurde dadurch bewiesen, daß überall Bun-desmitglieder an der Spitze der extrem-demokratischen Bewegung stan-den. „In Berlin stiftete der Schriftsetzer Stephan Born, der in Brüssel undParis als tätiges Bundesmitglied gewirkt hatte, eine,Arbeiterverbrüderung',

die eine ziemliche Verbreitung erhielt und bis 1850 bestand. Born, einsehr talentvoller junger Mann, der es aber mit seiner Verwandlung in einepolitische Größe etwas zu eilig hatte, ,verbrüderte' sich mit den verschie-denartigsten K rethi und Plethi, um nur einen Haufen zusammenzubekom-men, und war keineswegs der Mann, der Einheit in die widerstrebendenTendenzen, Licht in das Chaos bringen konnte. In den amtlichen Ver-öffentlichungen des Vereins laufen daher auch die im ,KommunistischenManifest' vertretenen Ansichten kunterbunt durcheinander mit Zunft-erinnerungen und Zunftwünschen, Abfällen von Louis Blanc und Prou-

dhon, Schutzzöllnerei usw., kurz, man wollte allen alles sein. Speziellwurden Streiks, Qewerksgenossensdbaften, Vroduktivgenossensdbaftenins Werk gesetzt und vergessen, daß es sidb vor allem darum handelte,durdo politisdhe Siege sidb erst das Qebiet zu erobern, worauf allein solcheDinge auf die Dauer durchführbar waren" (von uns hervorgehoben). „Alsdann die Siege der Reaktion den Leitern der Verbrüderung die Not-wendigkeit fühlbar machten, direkt in den Revolutionskampf einzutreten,wurden sie von der verworrenen Masse, die sie um sidi gruppiert, selbst-

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130 TV. 1 Lenin

redend im Stich gelassen. Born beteiligte sich am Dresdner Maiaufstand

1849 und entkam glücklich. Die ,Arbeiterverbrüderung' aber hatte sich,gegenüber d er gro ßen politischen Bewegung des Pro letariats, als ein reinerSonderbund bewährt, der großenteils nur auf dem Papier bestand und eineso untergeordnete Rolle spielte, daß die Reaktion ihn erst .1850 und seinefortbestehenden Ableger erst mehrere Jahre nachher zu unterdrücken fürnötig fand. Born, de r eigentlich Buttermilch* heißt, w ur de k eine polit ischeGröße, sondern ein kleiner Schweizer Professor, der nicht mehr den Marxins Zünftlerische, sondern den sanften Renan in sein eignes süßlichesDeutsch übersetz t ." 4 6

So beurteilte Engels die zwei Taktiken der Sozialdemokratie in derdemokratischen Revolution!

U nser e Neuiskristen streben ebenfalls mit so unvernünftigem Eifer zum„Ökonomismus", daß sie für ihre „Erleuchtung" das Lob der monarchi-stischen Bourgeoisie verdienen. Sie sammeln ebenfalls ein buntscheckigesPublikum um sich, indem sie den „Ö kon om isten" schmeicheln un d die un-aufgeklärte M asse mit Losungen von „Selbst tät igkeit" , „Dem okrat ismu s",„Autonomie" u. dgl. m. demagogisch anlocken. Ihre Arbeiterverbändeexistieren ebenfalls oft nur in den Spalten der Chlestakowschen** neuen

„Iskra". Ihre Losungen und Resolutionen offenbaren ein ebensolches Un-verständnis für die Aufgaben der „großen polit ischen Bewegung des Pro-le taria ts" .

* Als ich Engels übersetzte, unterlief mir hier in der ersten Auflage einFehler, insofern ich das Wort Buttermilch nicht als Eigennamen, sondern alsGattungsnamen auffaßte. Dieser Fehler machte den Menschewiki natürlich einHeidenvergnügen. Kolzow schrieb, ich hätte „Engels vertieft" (nachgedruckt indem Sammelband „Zwei Jahre"), und Plechanow erinnert noch jetzt im „To-warischtsch" *T daran—mit einem Wort, es fand sich ein ausgezeichneter Vor-

wand, die 7rage nado den zwei Tendenzen in der Arbeiterbewegung des Jah-res 1848 in Deutschland, der Tendenz Borns (der unseren Ökonomisten ver-wandt ist) und der marxistischen Tendenz, zu umgehen. Daß man den Fehlereines Opponenten; betreffe er auch nur den Familiennamen Borns, ausnutzt, istnur allzu verständlich. Aber mittels Korrekturen an der Übersetzung die Fragenach dem Wesen der zwei Taktiken zu umgehen, das heißt in der Kernfragedes Streits kapitulieren. (Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von 1907. DieRed.)

** Chlestakow — Hauptgestalt in Gogols „Revisor". Der Tibers.

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SCHLUSSTEIL ZUM ARTIKEL„DIE PARISER KOMMUNE UND DIE AUFGABEN

DER DEMOKRATISCHEN DIKTATUR"48

Dieses faktische Material lehrt uns vor allem, daß die Teilnahme vonVertretern des sozialistischen Proletariats zusammen mit der Kiembour-geoisie an einer revolutionären Regierung prinzipiell durchaus zulässig, jaunter bestimmten Bedingungen geradezu unerläßlich ist. Dieses Materialzeigt uns weiter, daß die reale Aufgabe, die von der Kommune zu erfül-len war, vor allem darin bestand, die demokratische und nicht die soziali-stische Diktatur zu verwirklichen, also unser „Minimalprogramm" durch-zuführen. Schließlich mahnt uns dieses Material, daß wir, um aus der

Pariser Kommune Lehren für uns zu ziehen, nicht ihre Fehler nachahmendürfen (sie bemächtigte sich nicht der Bank von Frankreich, ging nicht zumAngriff auf Versailles über, hatte kein klares Programm usw.), sondernihren praktischen erfolgreichen Schritten nacheifern müssen, die den rich-tigen Weg weisen. Nicht das Wort „Kommune" sollen wir von den ruhm -reichen Kämpfern des Jahres 1871 übernehm en, nicht jede ihrer Losungenblind wiederholen, sondern klar die programmatischen und praktischenLosungen aufstellen, die der Situation in Rußland entsprechen und in dieW orte gefaßt sind: revolutionäre demokratische Diktatur des P roletariats

und der Bauernschaft.

„Vroletari" ?Jr. 8, ?ia6} dem Text des „J>ro\etari"n. (40 Juli 1905,

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A N D A S S E K R E T A R I A T

D ES I N T E R N A T I O N A L E N S O Z I A L I S T I S C H E N B Ü RO S

I N B R Ü S S E L

Genf, den 24. Juli 1905

Werte Genossen! Vor einigen Tagen erhielten wir Ihren Brief vom28 . Juni und zusammen mit ihm interessante Dokumente (Briefe der Ge-nossen Bebel und Plechanow), aber da wir mit Arbeit überlastet sind, war

es uns nicht möglich, Ihnen sofort zu antworten.I. Was den Brief des Gen. Plechanow anbelangt, so sehen wir uns zu

folgenden Bemerkungen genötigt: 1. Die Behauptung des Gen. Plechanow,daß nach unserem zweiten Parteitag (im August 1903) nur in der organi-satorischen Frage Differenzen zwischen uns bestanden hätten, entsprichtnicht ganz den Tatsachen. Die „Minderheit" des II. Parteitags (an derSpitze die Genossen Axelrod, W . Sassulitsch und Martow) hat die Parteisofort nach dem Parteitag faktisch gespalten, indem sie den vom Parteitaggewählten zentralen Körperschaften den Boykott erklärte und eine ge-

heime Organisation der „Minderheit" gründete, die erst im Herbst 1904aufgelöst wurde. Gen. Plechanow, der auf dem II . Parteitag und auf derKonferenz der Auslandsliga der russischen Sozialdemokratie (Oktober1903) auf unserer Seite stand, dachte über unsere Meinungsverschieden-heiten offenbar selbst etwas anders, als er in Nr. 51 der „Iskra" (Novem-ber 1903) öffentlich erklärte, man müsse den „Revisionisten" (AusdruckPlechanows) geschickt Zugeständnisse machen, um eine Spaltung der Par-tei zu vermeiden.

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An das Sekretariat des Internationalen Sozialistisdben 'Büros 133

2. Auch die Behauptung, der III. Parte itag sei „völlig eigenmächtig"

einberufen worden, entspricht nicht den Tatsachen. Gemäß dem Partei-statut ist der Rat verpflichtet, einen Parteitag einzuberufen, sobald dieHälfte der Komitees es verlangt. Wie Ihnen aus den ins Französischeübersetzten Resolutionen des III. Parteitags bekannt ist, hat der Rat dasParteistatut ignoriert. Die Parteikomitees und das von ihnen gewählte„Büro der Komitees der Mehrheit"49 waren moralisch und formell ver-pflichtet, den Parteitag einzuberufen, sei es auch gegen den Willen desRates, der sich dem entzog.

3. Aus denselben Resolutionen des III. Parteitags wissen Sie, daß auf

diesem Parteitag nicht „so ungefähr die Hälfte der vollberechtigten Orga-nisationen", sondern die überwiegende Mehrheit der größten Komiteesvertreten war. 4 . Es ist ichtig, daß es in unserer Partei Genossen gibt, diescherzweise der „Sumpf" genannt werden. Die Mitglieder dieses „Sump-fes" sind während des innerparteilichen Kampfes ständig von einer Seiteauf die andere übergegangen. Einer der ersten Überläufer war Plechanow,der im November 1903 von der Mehrheit zur Minderheit überging undam 29. Mai 1905 durch seinen Austritt aus der Redaktion der „Iskra"die Minderheit verließ. Wir billigen dieses Hin- und Herpendeln nicht,

sind aber der Meinung, daß man es uns keineswegs als Schuld anrech-nen darf, wenn Genossen vom „Sumpf" nach langem Schwanken dazuneigen, sich uns anzuschließen. 5. In seinem Brief an das Büro (16. Juni1905) vergaß Gen. Plechanow sehr zur Unzeit, seinen Brief vom 29. Mai1905 zu erwähnen, der in der „Iskra" (Nr. 101) veröffentlicht wurde unddessen genaue und vollständige Übersetzung wir Ihnen bereits zugestellthaben. 6. W enn Gen. Plechanow davon spricht, daß sich die andere Frak-tion der Partei um das frühere Zentralorgan der Partei, die „ Iskra", grup-piert, vergißt er wiederum hinzuzufügen, daß die Konferenz der „Min-derheit" (Mai 1905) das auf dem II . Parteitag ausgearbeitete Statut auf-gehoben und kein neues Zentralorgan geschaffen hat. Wir sind derAnsicht, daß das Internationale Sozialistische Büro eine vollständige Über-setzung aller Resolutionen dieser Konferenz haben muß. Und wenn die„Iskra" sie dem Büro nicht zustellen will, so sind wir bereit, das auf unszu nehmen. 7. Gen. Plechanow sagt, für die Einberufung des III. Partei- *tags hätten sich nur die zwei verbliebenen Mitglieder des ZK (die übrigenwaren verhaftet) ausgesprochen. Der Brief des Gen. Plechanow ist vom

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134 W. J.Lenin

16. Juni 1905 datiert; am nächsten Tage, dem 17., erschien in Nr. 4 des.

„Proletari", des vom III. Parteitag gegründeten Zentralorgans der Partei,folgende Erklärung: „Nach Kenntnisnahme des offenen Briefes des ZKan den Vorsitzenden des Rates der Partei, Gen. Plechanow, und in völ-liger Übereinstimmung mit dem ZK halten wir es für nötig — aus Grün-den, die alle Genossen, die über die Entwicklung der Dinge in der Parteiauf dem laufenden sind, verstehen werden —, unsere Solidarität mit demZK öffentlich zu erklären." Gezeichnet: Ma, Bern, Wladimir, Innokenti,Andrej, Woron. Diese Unterschriften sind, wie wir Ihnen vertraulichmitteilen können, die Pseudonyme der verhafteten Mitglieder des ZK.50

Folglich haben sich die Mitglieder des ZK, sobald sie von dem Konfliktzwischen dem ZK und Gen. Plechanow (und somit auch mit dem Rat)wegen der Einberufung des Parteitags erfuhren, in ihrer Mehrheit sofortfür das ZK und gegen Gen. Plechanow ausgesprochen. Wir bitten dasInternationale Sekretariat dringend, uns mitzuteilen, ob es Gen. Plecha-now für nötig gehalten hat, das Büro von dieser wichtigen Erklärung derverhafteten Mitglieder des ZK, welche die Behauptung des Gen. Plecha-now in seinem Brief vom 16. Juni vollständig widerlegt, in Kenntnis zusetzen. 8. Gen. Plechanow irrt sich, wenn er sagt, beide Fraktionen hätten

ihn ersucht, als Vertreter der Partei im Internationalen Büro zu bleiben.Bis jetzt hat das Zentralkomitee unserer Partei in dieser Angelegenheitkeinerlei Ersuchen geäußert. Wie wir Ihnen vor einigen Tagen mitteilten,ist diese Frage zwar auf die Tagesordnung gesetzt, aber noch nicht end-gültig entschieden worden. 9. Gen. Plechanow meint, es falle ihm nichtschwer, hinsichtlich unserer Meinungsverschiedenheiten unparteiisch zusein. Nach allem oben Angeführten glauben wir, daß ihm das ziemlichschwerfallen und zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt fast unmöglichsein dürfte.51

II. Ich gehe nun zu dem Vorschlag des Genossen Bebel über, der unsereAngelegenheiten betrifft.Hier muß ich folgendes bemerken: 1. Ich bin nur eines der Mitglieder

des ZK und verantwortlicher Redakteur des Zentralorgans der Partei,des „Proletari". Im Namen des gesamten ZK kann ich nur Auslands-

1 angelegenheiten und einige andere , mit denen ich speziell betrau t bin , ent-scheiden. In jedem Falle können alle meine Entscheidungen von der Voll-sitzung des ZK aufgehoben werden. Ich kann folglich die Frage der Ein-

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An das Sekretariat des 'internationalen Sozialistisdoen Büros 135

mischung des Büros in die Angelegenheiten unserer Partei nicht entscheiden.

Ich habe jedoch Ihren Brief und auch die Briefe der Genossen Bebel undPlechanow unverzüglich an alle Mitglieder des ZK in Rußland geschickt.2. Um die Antwort des ZK zu beschleunigen, wäre es sehr nützlich, vomBüro einige notwendige Aufklärungen zu erhalten: a) Sind unter demWort „Einmischung" (intervention) nur eine friedenstiftende Vermittlungund ein Ratschlag zu verstehen, die nur moralische und nicht bindendeKraft haben? b) Oder aber hat das Büro einen bindenden Beschluß imAuge, der von einem Schiedsgericht gefaßt wird? c) Schlägt das Exekutiv-komitee des Büros vor, das Recht der endgültigen und unwiderruflichenEntscheidung über unsere Meinungsverschiedenheiten dem Plenum desInternationalen Sozialistischen Büros einzuräumen? 3. Meinerseits halteich mich für verpflichtet, das Büro davon in Kenntnis zu setzen, daß Gen.Bebel kurz vor dem III. Parteitag mir und meinen Gesinnungsgenossenschon einen ähnlichen Vorschlag gemacht hat, indem er uns seine Diensteoder die Dienste des gesamten deutschen Parteivorstands als Schiedsrich-ter im Konflikt zwischen der Mehrheit und der Minderheit unserer Parteiantrug.

Ich antwortete, daß bald ein Parteitag stattfinden werde und daß ich

persönlich für die Partei oder in ihrem Namen keine Entscheidung treffenkönne.Das Büro der Komitees der Mehrheit lehnte Bebeis Vorschlag ab. Der

III. Parteitag faßte über diesen Vorschlag keinerlei Beschluß und brachtedadurch sein stillschweigendes Einverständnis mit der Antwort des Bürosder Komitees der Mehrheit zum Ausdruck. 4. D a das Internationale Büroes für möglich hält, seine Informationen aus „einigen deutschen Zeitun-gen" zu schöpfen, bin ich gezwungen, zu erklären, daß fast alle deutschensozialistischen Zeitungen, besonders aber „Die Neue Zeit" und die „Leip-ziger Volkszeitung"52 , ganz auf der Seite der „Minderheit" stehen undunsere Angelegenheiten sehr einseitig und unrichtig beleuchten. Kautskyz. B. bezeichnet sich ebenfalls als unparteiisch, ist aber in Wirklichkeitso weit gegangen, sich zu weigern, in der „Neuen Ze it" die W iderlegungeines Artikels von Rosa Luxemburg, in dem sie die Desorganisation derPartei verteidigte, zu bringen.53 In der „Leipziger Volkszeitung" hatKautsky sogar geraten, die Broschüre mit der deutschen Übersetzung derResolutionen des III. Parteitags nicht zu verbreiten!! Nach alledem ist

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136 "W. J.Lenin

nicht schwer zu verstehen, warum viele Genossen in Rußland geneigt sind,

die deutsche Sozialdemokratie, was die Spaltung in den Reihen der rus-sischen Sozialdemokratie betrifft, als parteiisch und äußerst voreingenom-men zu betrachten.

Nehmen Sie, werte Genossen, unsern brüderlichen G ruß entgegen.

Wl. Wjanoto (N. Centn]

Zuerst veröffentlicht 1925 'Nad h dem 7ext der Zeitsdbrift,in der Z eitschrift „Xrasnaja verglichen mit dem französischen

Letopis" (Rote Annalen) 3Vr. i. Sdhreibmasdhinentext.

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137

D I E R E V O L U T I O N L E H R T

Meinungsverschiedenheiten innerhalb politischer Parteien und zwischenpolitischen Parteien werden gewöhnlich nicht nur durch prinzipielle Pole-mik, sondern auch durch die Entwicklung des politischen Lebens selbstentschieden. Insbesondere erledigen sich Meinungsverschiedenheiten überdie Taktik einer Parte i, d. h . über ihr politisches Verhalten, häufig durchdas faktische Einschwenken derjenigen, die falsche Ansichten vertretenhaben, auf den richtigen W eg des Kampfes, weil der Gang der Ereignisseselbst die irrigen Auffassungen kurzerhand beiseite schiebt und sie bar

jedes Inhalts macht, so daß sie für niemanden mehr von Interesse sind.Das bedeutet natürlich nicht, daß prinzipielle Meinungsverschiedenheitenin Fragen der Taktik nicht prinzipielle Klärungen erfordern, die alleingeeignet sind, die Partei auf der H öhe ihre r theoretischen Überzeugungenzu halten. Mitnichten. Es bedeutet nur, daß es notwendig ist, die gefaßtentaktischen Beschlüsse möglichst oft auf Grund der neuen politischen Er-eignisse zu überprüfen. Eine solche Überprüfung ist sowohl theoretischals auch praktisch notwendig: theoretisch, am sich an Hand der Tatsachendavon zu überzeugen, ob die gefaßten Beschlüsse richtig sind und wasfür Korrekturen infolge der später eingetretenen politischen Ereignissegeboten erscheinen; praktisch, damit man lernt, sich von diesen Beschlüs-sen entsprechend leiten zu lassen, damit man lernt, in ihnen Direktivenzu sehen, die in der Praxis unm ittelbar angewandt werden müssen.

Eine revolutionäre Epoche bietet dank der ungeheuren Schnelligkeit derpolitischen Entwicklung und der Heftigkeit der politischen Zusammen-stöße für derartige Nachprüfungen mehr M aterial als jede andere Epoche.In einer revolutionären Epoche geht der alte „überbau" in Stücke, der

10 Len in, W erke , Bd. 9

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neue aber wird vor aller Augen durch die aktive Tätigkeit der verschie-

densten sozialen Kräfte geschaffen, deren wahre Natur sich dabei zeigt.So bietet uns auch die russische Revolution fast jede Woche ein er-

staunlich reiches politisches Material, an Hand dessen wir die früher vonuns ausgearbeiteten taktischen Beschlüsse überprüfen und für unsere ge-samte praktische Tätigkeit die eindringlichsten Lehren ziehen können.Man nehm e die Ereignisse in O dessa. Einer der Aufstandsversuche endetemit einem Mißerfolg. Ein bitterer Mißerfolg, eine schwere Niederlage.Doch welch ein Abgrund trennt diesen im Kampf erlittenen Mißerfolgvon jenen Mißerfolgen beim Schachern, die auf die Herren Schipow, Tru-

bezkoi, Petrunkewitsch, Struve und alle diese bürgerlichen Zarenknechteniederhageln! Engels hat einmal gesagt: Geschlagene Armeen lernen gut.Diese trefflichen W orte gelten noch weit mehr für revolutionäre Armeen,die durch Vertreter der fortgeschrittenen Klassen aufgefüllt werden. So-lange der alte, verfaulte, das ganze Volk mit seiner Fäulnis ansteckendeÜberbau nicht hinweggefegt ist, solange wird jede neue Niederlage immerwieder neue Armeen von Kämpfern erstehen lassen. Es gibt natürlich dienoch viel umfassendere kollektive Erfahrung der Menschheit, die in derGeschichte der internationalen Dem okratie und der internationalen Sozial-

demokratie ihren Niederschlag gefunden hat und von den führenden Ver-tretern des revolutionären Denkens fixiert worden ist; Aus dieser Erfah-rung schöpft unsere Partei das Material für die tägliche Propaganda undAgitation. Doch solange die Gesellschaft auf der Unterdrückung und Aus-beutung der Millionen Werktätiger beruht, können nur wenige unmittel-bar aus dieser Erfahrung lernen. Die Massen müssen vielmehr aus ihrereigenen Erfahrung lernen und jede Lektion mit schweren Opfern bezah-len. Hart war die Lektion des 9 . Januar, doch sie revolutionierte die Stim-mung des gesamten Proletariats in ganz Rußland. Hart ist die Lektiondes Odessaer Aufstands, doch auf Grund der bereits revolutionierten Stim-mung wird sie jetzt das revolutionäre Proletariat lehren, nicht nur zukämpfen, sondern auch zu siegen. Zu den Odessaer Ereignissen sagen wir:Die revolutionäre Arm ee ist geschlagen — es lebe die revolutionäre Armee!

In Nr. 7 unserer Zeitung sprachen wir schon davon, wie der OdessaerAufstand auf unsere Losungen: revolutionäre Armee und revolutionäreRegierung * neues Licht geworfen hat. In der vorigen Num mer behandelten

*~STehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 524—532, russ. Die Red.

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Die Revolution lehrt 139

wir (im Artik el des Ge n. W . S.) die militärischen Le hren des A ufsta nds .

In dieser Nummer befassen wir uns abermals mit einigen politischen Leh-ren des Aufstands (im Artikel „Die städtische Revolution"). Nun bleibtuns noch, auch unsere unlängst gefaßten taktischen Beschlüsse zu über-prüfen, und zwar in der doppelten Beziehung ihrer theoretischen Rich-tigkeit und praktischen Zweckmäßigkeit, von der wir oben gesprochenhaben .

Die brennenden politischen Fragen sind im gegenwärtigen Augenblickder Aufstand und die revolutionäre Regierung, über diese Fragen wurdeunter den Sozialdemokraten am meisten geredet und gestritten. Diesen

Fragen sind die wichtigsten Resolutionen des III. Parteitag s de r S D A PRund der Konferenz des von der Partei abgespaltenen Teils gewidmet. Esfragt sich nun: In welchem Licht erscheinen diese Meinungsverschieden-heiten nach dem Odessaer Aufstand? Jeder, der sich die Mühe nimmt,einerseits die Äußerungen und Artikel über diesen Aufstand und ander-seits die vier über den Aufstand und die provisorische Regierung vomParteitag und von der Konferenz der Neuiskristen angenommenen Reso-lutionen jetzt wieder zu lesen, wird sogleich sehen, wie letztere begannen,unter dem Einfluß der Ereignisse faktisch auf die Seite ihrer Opponenten

überzugehen, d. h. nicht gemäß ihren Resolutionen, sondern gemäß denResolutionen des III.Parteitags zu handeln. Es gibt keinen besseren Kri-tiker einer irrigen Doktrin als den Gang der revolutionären Ereignisse.

Unter dem Einfluß dieser Ereignisse gab die Redaktion der „Iskra" einFlugblatt heraus, betitelt „Der erste Sieg der Revolution", das sich an die„Bürger, Arbeiter und Bauern Rußlands" wendet. Hier der wesentlicheTeil dieses Flugblatts:

„Die Zeit ist gekommen, kühn zu handeln und den mutigen Aufstand derSoldaten mit allen Kräften zu unterstützen. Kühnheit führt jetzt zum Sieg!

So beruft denn öffentliche Versammlungen des Volkes ein und bringt ihmdie Kunde vom Zusammenbruch der militärischen Stütze des Zarismus! Be-mächtigt euch, wo es nur möglich ist, der städtischen Behörden und macht siezum Stützpunkt der revolutionären Selbstverwaltung des Volkes! Vertreibt diezaristischen Beamten und schreibt allgemeine "Wahlen zu Körperschaften derrevolutionären Selbstverwaltung aus, denen ihr bis zum endgültigen Sieg überdie zaristische Regierung und bis zur Herstellung einer neuen Staatsordnungdie provisorische Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten übertragt. Be-mächtigt euch der Filialen der Staatsbank und der Waffenlager und bewaffnet

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das ganze Volk! Nehmt Verbindung auf zwischen den Städten und zwischen

Stadt und Land, damit die bewaffneten Bürger einander überall zu Hilfe eilenkönnen, wo Hilfe not tut! Stürmt die Gefängnisse und befreit die in ihnen ein-gekerkerten Kämpfer für unsere Sache: sie werden eure Reihen verstärken!Proklamiert überall den Sturz der Zarenmonarchie und ihre Ersetzung durchdie freie demokratische Republik! Erhebt euch, Bürger! Die Stunde der Be-freiung hat geschlagen! Es lebe die Revolution! Es lebe die demokratische Re-pub lik! Es lebe das revolutionäre H eer ! Niede r mit der Selbstherrschaft!"

W ir haben somit eine entschiedene, offene und klare Aufford erung zumallgemeinen bewaffneten Volksaufstand vor uns. Wir haben eine ebenso

entschiedene, wenn auch leider versteckte und nicht bis zu Ende ausge-sprochene Aufforderung zur Bildung einer provisorischen revolutionärenRegierung vor uns. Betrachten wir zuerst die Frage des Aufstands.

Besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen der Lösung dieser Frageauf dem III. Parteitag und auf d er Kon ferenz? Zweifellos. W ir habendavon bereits in Nr . 6 des „P roletari" gesprochen („Ein dr itter S chrittzurück" *) und wollen uns jetzt noch auf da s lehrreiche Zeugnis des „O s-wob oshdenije" b erufen. In N r. 72 dieser Zeitschrift lesen wir, die „M ehr-heit" verfalle in „abstrakten Revolutionarismus, in Rebellentum, in dasBestreben, mit beliebigen Mitteln einen Aufstand der Volksmassen her-beizuführen und in ihrem Namen unverzüglich die Macht zu ergreifen".„Die M inderhe it dagegen hält sich zwar streng a n das marxistische Dogm a,bewahrt aber zugleich auch die realistischen Elemente der marxistischenWeltanschauung." Dieses Urteil der Liberalen, die durch die Vorschuledes M arxism us un d durch das Bernsteinianertum gegangen sind, ist äuß erstwertvoll . Die liberalen Bourgeois haben dem revolutionären Flügel derSozialdemokratie stets „abstrakten Revolutionarismus und Rebellentum"vorgeworfen und den opportunistischen Flügel stets wegen seiner „reali-stischen" Fragestellung gelobt. Die „Iskra" selbst mußte (siehe in Nr. 73

die Anmerkung über die Billigung des „Realismus" in der Broschüre desGen. Akimow durch Herrn Struve) zugeben, daß „realistisch" in derSprache der Oswoboshdenzen „opportunistisch" bedeutet . Die HerrenOsw oboshd enzen kennen keinen anderen Realismus als den kriecherischen;die revolutionäre Dialektik des marxistischen Realismus, der die Kampf-

aufgaben der fortgeschrittensten Klasse betont und im Bestehenden die

* Siehe We rke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 509—518, russ. Die Red.

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Elemente seines Untergangs entdeckt, ist ihnen vollkommen fremd. Die

Qiarakteristik der zwei Strömungen in der Sozialdemokratie durch das„Oswoboshdenije" bestätigt daher wieder einmal die in unserer Literaturbereits bewiesene Tatsache, daß die „Mehrheit" der revolutionäre, die„Minderheit" der opportunistische Flügel der russischen Sozialdemo-kratie ist.

Das „Oswoboshdenije" erklärt kategorisch, daß „sich die Konferenzder Minderheit" im Vergleich zum Parteitag „völlig anders zum bewaff-neten Aufstand verhält". Und in der Tat, die Resolution der Konferenzschlägt sich erstens selbst ins Gesicht, weil sie die Möglichkeit eines plan-mäßigen Aufstands bald verneint (Punkt 1), bald bejaht (Punkt d), undbeschränkt sich zweitens darauf, die allgemeinen Bedingungen für die„Vorbereitung des Aufstands" aufzuzählen, nämlich a) Verbreiterung derAgitation, b) Stärkung der Verbindung mit der Massenbewegung, c) Ent-wicklung des revolutionären Bewußtseins, d) Herstellung der Verbindungzwischen verschiedenen Orten, e) Heranziehung nichtproletarischer Grup-pen zur Unterstützung des Proletariats. Dagegen stellt die Resolution desParteitags eindeutig positive Losungen auf, erkennt an, d aß die Bewegungbereits zur Notwendigkeit des Aufstands geführt bat, und ruft dazu auf,das Proletariat für den unmittelbaren Kampf zu organisieren, die ener-

gischsten Maßnahmen zu seiner Bewaffnung zu ergreifen und in der Pro-paganda und Agitation „nicht nur die politische Bedeutung" des Aufstands(darauf beschränkt sich im Grunde die Resolution der Konferenz), son-dern auch seine praktisch-organisatorische Seite zu erläutern.

Um den Unterschied zwischen den beiden Lösungen der Frage klarerzu machen, wollen wir uns die Entwicklung der sozialdemokratischen Auf-fassungen über den Aufstand seit der Entstehung der proletarischen Mas-senbewegung ins Gedächtnis rufen. Die erste Stufe. Das Jahr 1897. InLenins Schrift „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" heißt es:„...jetzt die Frage zu entscheiden, zu welchem Mittel die Sozialdemo-kratie greifen wird, um die Selbstherrschaft unmittelbar zu stürzen, obsie den Aufstand, den politischen Massenstreik oder eine andere Angriffs-methode wählen wird, wäre ungefähr dasselbe, wie wenn Generale, ohneeine Armee gesammelt zu haben, einen Kriegsrat veranstalten wollten"(S. 18) *. Wie wir sehen, ist hier nicht einmal die Rede von der Vorberei-

*~STehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 318, russ. Die Red.

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tung des Aufstands, sondern nu r von der Sammlung der Armee, d. h. von

der Propaganda, der Agitation, der Organisation im allgemeinen.Die zweite Stufe. Das Jahr 1902. In Lenins Schrift „Was tun?" lesenwir:

„Man stelle sich... einen Volksaufstand vor. In der heutigen Zeit(Februar 1902) werden wohl alle zugeben, daß wir an ihn denken unduns auf ihn vorbereiten müssen. Aber wie vorbereiten? Das Zentral-komitee kann doch nicht an allen Orten Agenten zur Vorbereitung desAufstands ernennen! Selbst wenn wir ein ZK hätten, so würde es unterden gegenwärtigen russischen Verhältnissen durch solche Ernennungen ab-

solut nichts erreichen. Das Netz von Agenten hingegen, das sich bei derArbeit für die Schaffung und Verbreitung der gemeinsamen Zeitung vonselbst bildet, brauchte nicht ,zu sitzen und zu warten', bis die Losung zumAufstand ausgegeben wird, sondern es würde gerade eine solche regel-mäßige Arbeit leisten, die ihm im Moment des Aufstands mit größterWahrscheinlichkeit den Erfolg sichert. Gerade eine solche Arbeit würdeunbedingt die Verbindung mit den breitesten M assen der Arbeiter und mitallen Schichten, die mit der Selbstherrschaft unzufrieden sind, festigen,was für den Aufstand von so großer Wichtigkeit ist. Gerade in einer sol-chen Arbeit würde sich die Fähigkeit herausbilden, die allgemeine poli-

tische Lage richtig einzuschätzen, und folglich auch die Fähigkeit, den fürden Aufstand passenden Moment zu wählen. Gerade eine solche Arbeitwürde alle lokalen Organisationen daran gewöhnen, gleichzeitig auf die-selben, ganz Rußland bewegenden politischen Fragen, Vorkommnisse undVorfälle zu reagieren, auf diese ,Vorfälle' möglichst energisch, möglichsteinheitlich und zweckmäßig zu antworten — denn der Aufstand ist dochim Grunde genommen die energischste, die einheitlichste und zweck-mäßigste ,Antwort' des gesamten Volkes an die Regierung. Gerade einesolche Arbeit würde endlich alle revolutionären Organisationen an allen

Ecken und Enden Rußlands dazu anhalten, ständige und gleichzeitig strengkonspirative Verbindungen zu unterhalten, die die faktisdhe Einheit derPartei schaffen — ohne diese Verbindungen aber ist es unmöglich, denPlan des Aufstands kollektiv zu beraten und am Vorabend des Aufstandsdie notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen, über die dasstrengste Geheimnis gewahrt werden muß." (S. 136/137*.)

* Siehe Werke, Bd. 5, S. 536/537. Die Red.

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W as für These n werden in dieser Betrachtung über den Aufstand auf-

gestellt? 1. Es ist Unsinn, an eine „Vorbereitung" des Aufstands in demSinne zu denken, daß man besondere Agenten ernennt, die „sitzen" undauf die Losung „warten" würden. 2. Es ist notwendig, eine auf der ge-meinsamen Arbeit aufgebaute Verbindung zwischen den Menschen undden Organisationen, die regelmäßige Arbeit leisten, zu schaffen. 3. Es istnotwendig, durch diese Arbeit die Verbindungen zwischen den proleta-rischen (Arbeiter) und den nichtproletarischen (alle Unzufriedenen)Schichten zu festigen. 4. Es ist notwendig, die Fähigkeit, die politischeLage richtig zu beurteilen und auf die politischen Ereignisse zweckmäßigerzu „reag ieren" , gem einsam herauszub ilden. 5 . Es ist notw endig, daßsich alle lokalen revolutionären Organisationen tatsächlich zusammen-schließen.

Hier sehen wir also die Losung der Vorbereitung des Aufstands schonklar vor uns , doch ist das noch kein direkter Aufruf zum A ufstan d, nochnicht die Feststellung, daß die Bewegung „bereits" zu seiner Notwendig-keit „geführt" habe, daß man sieh sofort bewaffnen, in Kampfgruppenorganisieren müsse usw. Wir haben eine Analyse gerade jener Bedingun-gen für die Vorbereitung des Aufstands vor uns, die in der Konferenz-resolution (im Jahre 1905!!) fast budbstäblid) wiederholt werden.

Die dri t te Stufe. Das Jahr 1905. In der Zei tung „W perjod" un d späterin der Resolution des III. Parteitags w ird ein we iterer Schritt v orw ärtsge tan : Außer der Forderung nach allgemein-politischer Vorbereitung desAufstands wird die direkte Losung aufge stellt, sich sofo rt für de n Auf-stand zu organisieren und zu bewaffnen und besondere (Kampf-)Gruppen zu bilden, denn die Bewegung „hat bereits zur Notwendig-keit des bewaffneten Aufstands geführt" (Pu nkt 2 der Resolution desPartei tags) .

Aus diesem kleinen geschichtlichen Rückblick ergeben sich drei unbe-

streitbare Schlußfolgerungen: 1. Eine direkte Lüge ist die Beh auptung derl iberalen Bourgeois , der ösw obo shde nze n, daß w ir in „abstrakten Revo-lutionarismus, in Rebellentum" verfallen. W ir stellen und stell ten dieseFrage stets gerade nicht „abstrakt", sondern auf Qrund der konkretenLage, und lösten sie in den Jähren 1897,1902 und 1905 verschieden. DieBeschuldigung des Rebellentums ist eine opportunistische Phrase der Her-ren liberalen Bourgeois, die sich anschicken, die Interessen der Revolution

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zu verraten und ihr in der Periode des entscheidenden Kampfes gegen die

Selbstherrschaft in den Rücken zu fallen. 2. Die Konferenz der Neuiskri-sten blieb in der Frage des Aufstands auf der zweiten Entwicklungsstufestehen. Im Jahre 1905 wiederholte sie lediglich das, was nur 1902 aus-reichend war. Sie blieb um etwa drei Jahre hinter der revolutionären Ent-wicklung zurück. 3. Unter dem Eindruck der Lehren, die das Leben, näm-lich der Odessaer Aufstand erteilte, erkannten die Neuiskristen faktischdie Notwendigkeit an, gemäß den Richtlinien nicht ihrer eigenen, sondernder Parteitagsresolution zu handeln, d. h., sie erkannten an, daß die Auf-gabe des Aufstands unaufschiebbar ist und daß direkte und unverzügliche

Aufrufe zur unmittelbaren Organisierung des Aufstands und der Bewaff-nung unbedingt notwendig sind.

Die rückständige sozialdemokratische Doktrin ist von der Revolutionsofort beiseite geschoben worden. Wir haben wiederum ein Hindernisweniger für die praktische Vereinigung mit den Neuiskristen auf Grundgemeinsamer Arbeit, was selbstverständlich noch nicht die völlige Besei-tigung der prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten bedeutet. Wir kön-nen uns nicht damit zufriedengeben, daß unsere taktischen Losungenhinter den Ereignissen dreinhinken, sich ihnen anpassen, nachdem sieeingetreten sind. Wir müssen danach streben, daß diese Losungen unsvorwärtsführen, unseren weiteren W eg erhellen und uns über die unmittel-baren Aufgaben des Augenblicks hinausheben. Wollen wir einen konse-quenten und prinzipiellen Kampf führen, so darf die Partei des Prole-tariats ihre Taktik nicht von Fall zu Fall bestimmen. Sie muß in ihrentaktischen Beschlüssen die Treue zu den Grundsätzen des Marxismus mitder richtigen Einschätzung der fortschrittlichen Aufgaben der revolutio-nären Klasse vereinigen.

Nehmen wir die andere brennende politische Frage, die der proviso-rischen revolutionären Regierung. Hier sehen wir wohl noch klarer, daßdie Redaktion der „Iskra" in ihrem Flugblatt faktisch mit den Losungender Konferenz bricht und sich die taktischen Losungen des III. Parteitagszu eigen macht. Die absurde Theorie, „sich (zum Zweck der demokra-tischen Umwälzung) nicht das Ziel zu setzen, durch Bildung einer provi-sorischen Regierung die Macht zu ergreifen oder die Macht in einer sol-chen zu teilen", ist über Bord geworfen, denn das Flugblatt ruft direktdazu auf, „sich der städtischen Behörden zu bemächtigen" und eine „pro-

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visorische Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten" zu organisieren.

Die absurde Losung, „die Partei der äußersten revolutionären Oppositionzu bleiben" (absurd in der Epoche der Revolution, obwohl durchaus rich-tig in der Epoche des rein parlamentarischen Kampfes), ist faktisch zu denAkten gelegt, denn die Odessaer Ereignisse zwangen die „Iskra", zu be-greifen, daß es lächerlich ist, sich in der Zeit des Aufstands auf diese Lo-sung zu beschränken, daß man aktiv zum Aufstand, zu seiner allerener-gischsten Durchführung und zur Ausnutzung der revolut ionären Machtaufrufen muß. Die absurde Losung der „revolut ionären Kommunen"wurde ebenfalls fallengelassen, denn die Ereignisse in Odessa zwangen

die „Iskra", zu begreifen, daß diese Losung nur der Verwechslung derdemokratischen Umwälzung mit der sozialistischen Vorschub leistet . Unddiese grundverschiedenen Dinge zu verwechseln, wäre lediglich Abenteu-rertum , das von einer völligen Un klarhe it des theoretischen D enkens zeugtund geeignet ist , die Verwirklichung der d ringend notwen digen praktischenMaßnahmen zu erschweren, die der Arbeiterklasse in der demokratischenRepublik den Kampf für den Sozialismus erleichtern.

Man erinnere s ich an die Polemik der neuen „Iskra" mit dem „Wpe-rjod", an ihre Takt ik des „nu r von unten" — im Gegensatz zur Losung des

„W perjod" „sowohl von unten als auch von oben ", und man wird sehen,da ß sich die „Isk ra" unse re Lösung der F rage zu eigen gemacht hat, indemsie jetzt direkt selbst zum Handeln von oben aufruft . Man erinnere sichan die Befürchtungen der „Iskra", daß wir uns durch die Verantwortungfür die Staatskasse, die Finanzen usw. kompromittieren könnten, und manwird sehen, daß die „Iskra" , wenn nicht durch die Kraft unserer Argu-mente, so durch die Ereignisse selbst von der Richtigkeit dieser Argumenteüberzeugt wurde, denn die „Iskra" empfiehlt in dem erwähnten Flugblattdirekt, „sich der Filialen der Staatsbank zu bemächtigen". Die absurdeTheo rie , daß die revolut ionär-demokrat ische D ikta tur des Prole taria ts un dder Bauernschaft, ihre gemeinsame Beteiligung an einer provisorischenrevolut ionären Regierung ein „V erra t am Prole taria t" oder „vulgärer Jau -resismus (Millerandismus)" sei, haben die Neuiskristen einfach vergessen,denn sie fordern jetzt selbst die Arbeiter und Bauern auf, sich der städti-schen Behörden, der Filialen der Staatsbank und der Waffenlager zu be-mächtigen, „das gan ze Volk zu bewaffnen" (un d zw ar offenbar jetzt schonm it Waffen und nicht nur mit dem „brennenden Bedürfnis nach Selbst-

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bewa ffnung"), den Sturz der Zarenm onarch ie zu proklam ieren usw. —

kurzum, ganz nach dem Programm zu handeln, das in der Resolution desIII. Parteitags gegeben ist , gerade so zu handeln, wie es die Losung derrevolutionär-demokratischen Diktatur und der provisorischen revolutionä-ren Regierung vorzeichnet.

Allerdings erwähnt die „Iskra" in ihrem Flugblatt weder die eine nochdie andere Losung. Sie bringt eine Aufzählung und Beschreibung allerMaßnahmen, deren Gesamtheit für eine provisorische revolutionäre Re-gierung charakteristisch ist, vermeidet aber dieses Wort. Schade, daß siedas tut. Faktisch übernim mt sie ja diese Losung selbst. Da ß ein klarer Te r-

minus fehlt , ist nur geeignet, in den Köpfen der Kämpfer Schwankungen,Unentschlossenheit und Verwirrung hervorzurufen. Die Furcht vor demWort „revolutionäre Regierung", „revolutionäre Macht" ist eine reinanarchistische und eines M arxisten un w ürd ige Furcht. U m sich der Behör-den und Banken zu „bemächtigen", „Wahlen auszuschreiben", die „provi-sorische Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten" zu übertragen,„den Sturz der Monarchie zu proklamieren" —dazu ist es unbedingt nötig,zuers t eine provisorische revolutionäre Regierung zu bilden und zu pr okla-mieren, die die gesamte militärische und politische Tätigkeit des revolutio-

nären Volkes zusammenfaßt und ihr ein einheitl iches Ziel weist. Ohnediese Zusammenfassung, ohne die allgemeine Anerkennung der provisori-schen Regierung durch das revolutionäre Volk und o hne den Ob ergan g d erganzen M acht an d iese Regierung bleibt jeder Versuch, sich der Behördenzu „bemächtigen" und die Republik zu „proklamieren", bloß ein umstürz-lerischer Handstreich ohne Sinn und Inhalt . Wird die revolutionäre Ener-gie des Volkes nidit durch eine revolutionäre R egierung zusam men gefaßt,so wird sie sich nach dem ersten Erfolg des Aufstands zersplit tern, inKleinigkeiten verzetteln, den gesamtnationalen Schwung verlieren u nd dieAufgabe, das Eroberte zu behaupten und das Proklamierte durchzufüh-

ren, nicht bewältigen.

Wir wiederholen: Faktisch, in Wirklichkeit , sind jene Sozialdemokra-ten , die die Beschlüsse des III. Parteitags der S DA PR nicht anerk ennen ,durch den Gang der Ereignisse gezwungen, gerade gemäß den Losungendes Parteitags zu handeln und die Losungen der Konferenz über Bord zuwerfen. D ie Revolution lehrt. Uns ere Sache ist es, ihre Lehren restlos a us-zuwerten, unsere taktischen Losungen mit unserem Verhalten und unseren

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Die Revolution lehrt 147

nächsten Aufgaben inEinMang zu bringen, in den Massen das richtige Ver-

ständnis für diese nächsten Aufgaben zu verbreiten und allerseits undallerorts die Arbeiter für die Kampfziele des Aufstands, für die Schaf-

fung einer revolutionären Armee und die Bildung einer provisorischenrevolutionären Regierung zu organisieren.

„Vroletan" Wr. 9, JJadu dem 7ext des „Vroletari".26. ( * 3 j 3«!» 1905.

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O H N M Ä C H T I G E W U T

In Nr. 104 der „Iskra" ist eine Notiz zu unserem Feuilleton „Ein drit-ter Schritt zurück"* („Proletari" Nr. 6) veröffentlicht. Wir hatten daringanz sachlich berichtet, daß sich die Neuiskristen zwar im Nam en der Par-tei der Druckerei, des Lagers und des Geldes bedienten, der Übergabe desParteieigentums aber entzogen. In welchen Gemütszustand sich die „Iskra"aus Wut über diese Erklärung hineingesteigert hat, ist aus ihrem Ge-schimpfe im Geiste der unvergeßlichen bundistischen „Schmutzkübel" er-sichtlich. Liebenswürdig bedenkt uns die „Iskra" mit Ausdrücken wie

„Schmierfinken", „feige Verleumder" usw. usf. Ganz wie Engels einstmalsdie Polemik einer gewissen Sorte von Emigranten charakterisiert hat:„Jedes Wort ist ein Nachttopf und kein leerer"54**. Wir haben natürlichdie französische Redewendung nicht vergessen: Wem Argumente fehlen,der verlegt sich aufs Schimpfen. Wir schlagen auch jetzt dem unvoreinge-nommenen Leser vor, nüchtern abzuwägen, worum der Lärm geht. DieNeuiskristen haben den Brief des ZK, in dem ihnen nach dem III. Partei-tag vorgeschlagen wurde, das Parteieigentum zu übergeben, nicht beant-wortet. Sie erkennen den III. Parteitag nicht an, erkennen die Schwenkung

des ZK zu den Bolschewiki nicht an. Nun gut. Aber aus dieser Nichtan-erkennung ergibt sich lediglich, daß die Neuiskristen von ihrem Stand-punkt aus nicht das gesamte, sondern nur einen bestimmten Teil des Par-teieigentums übergeben müßten. Das ist so einleuchtend, daß die „Iskra"selbst in ihrer Notiz von der „Möglichkeit der Aufteilung des gesamten

* Siehe We rke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 50 9- 51 8, russ. Die Red.** Von Lenin deutsch zitiert. Der Tibers.

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Ohnmächtige Wut 149

Parteieigentums" spricht. Ist dem so, unsere lieben Gegner, warum könn-

tet ihr dann den Brief des Zentralkomitees nicht entsprechend beantwor-ten? So aber bleibt trotz der ganzen Wucht eurer Ausdrücke zweifellosdie Tatsache bestehen, daß die Mehrheit über alles öffentlich Rechen-schaft a blegt, indem sie die Protokolle des III. Parteita gs he rausg ibt, ihraber legt nieman dem auch nur die geringste Rechenschaft darüb er a b, wieihr das Parteieigentum verwendet, veröffentlicht keinerlei Protokoll , be-gnügt euch mit Schimpfen. Denkt einmal in einer ruhigen Stunde nach,welchen Eindruck ein solches Benehmen auf ein denkfähiges Publikummachen m uß !

Weiter. Die Schwenkung des ZK zugunsten des Parteitags mißfällt der„Iskra". Das ist verständlich. Aber das ist doch nicht seine erste Schwen-kung. Vor einem Jahr, im August 1904, schwenkte das ZK zur Minder-heit ab. Vor einem Jahr erklärten wir öffentlich in der Presse, daß wir dieHandlungen des Zentralkomitees nicht als rechtmäßig anerkennen. Esfragt sich, wie verhielten wir uns damals gegenüber dem Parteieigentum?"Wir Übergaben sowohl die Druckerei als auch das Lager und die Kasseden Menschewiki. Die „Iskra" mag schimpfen, soviel sie will, aber dieseTatsache bleibt eine Tatsache. Wir legten Rechenschaft ab und übergabendas Eigentum unseren Gegnern, da wir mit parteimäßigen Mitteln kämp-fen und einen Parteitag durchsetzen wollten. Unsere Gegner verkrochensich vor dem Parteitag und legten niemandem auch nur die geringsteRechenschaft ab (außer ihren eigenen Anhängern, und auch denen inoffi-ziell, denn erstens gibt es keine Protokolle der „Konferenz", und zweitenssind weder ihre Tagesordnung noch ihre Zuständigkeit bekannt, d. h. in-wieweit ihre Beschlüsse für die Menschewiki selbst bindend sind).

Unser innerparteilicher Kampf hat mit der Spaltung geendet; jetzt gibtes nu r den Kampf einer Partei gegen eine ander e, die sich im Z usta nd derOrg anisation als Pro zeß befindet. U nd w erfen wir jetzt einen allgemeinenBlick auf die Geschichte des Kampfes bis zur Spaltung, so kann jeder —

(natürlich wer die Geschichte seiner Partei an Hand der Dokumente stu-diert un d sich nicht darauf b eschränkt, nach dem Höre nsagen zu urteilen,wie das viele aus Rußland Kommende tun) — kann jeder klar den allge-meinen Charakter des Kampfes sehen. Die Mehrheit , die des „Formalis-m u s " , des Bürokratismus usw. beschuldigt wird, trat an ihre Gegner alle

formellen Vorrechte, alle bürokratischen Einrichtungen ab: zuerst die

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150 IV . 3. Lenin

Redaktion des Zentralorgans, dann den Rat der Partei und zuletzt auch

das Zentralkomitee. Nur den Parteitag hätten sie und haben sie nicht ab-getreten. Und es ist so gekommen, daß die Bolsdiewiki die Partei wieder-herstellten (oder sich eine eigene Partei schufen, wie die Neuiskristenselbstverständlich meinen), indem sie alle ihre Parteieinrichtungen vollund ganz auf der freiwilligen Zustimmung aller Parteiarbeiter aufbauten—zunächst das Büro der Komitees der Mehrheit, dann den „Wperjod" undschließlich den III. Parteitag. U nsere Opponenten hingegen klammern sichgerade an die formellen Vorrechte und bürokratischen Einrichtungen, dieihnen aus Mitleid geschenkt wurden! Urteilt selbst: Wurde ihnen die „Re-

daktion des ZO" etwa nicht von Lenin und Plechanow geschenkt? Wennsich der „Proletari" als „ZO der Partei" bezeichnet, so stützt er sich aufdie Beschlüsse des III. Parteitags, die von den Menschewiki nicht aner-kannt werden, aber eindeutig, klar und bestimmt von der Parteimehrheitanerkannt wurden, deren Zusamm ensetzung allen bekannt ist. Die „Iskra"hingegen stützt sich, wenn sie sich „ZO der Partei" nennt, auf die Be-schlüsse des II. Parteitags, die jetzt w eder von den Bolsdiewiki anerkanntwerden (wir haben sie durch die Beschlüsse des III. Parteitags ersetzt)noch von den MensdhewikHl Und das ist der springende Punkt! Denn dieKonferenz der Menschewiki hat selbst das Statut des II. Parteitags aufge-hoben. Und die Neuiskristen klammern sidh jetzt an den 7itel, der vonihren eigenen Anhängern aufgehoben worden ist!

Selbst Plechanow, der in prinzipiellen Fragen mit den Neuiskristen nie-mals völlig konform gehen konnte, der ihnen jedoch endlos persönlicheZugeständnisse machte, der über die Bolschewiki mehr als genug herfiel,dem die Neuiskristen dafür immer Reverenzen erwiesen und noch erwei-sen — sogar er erklärte, die Konferenz habe den zentralen Einrichtungeneinen tödlichen Schlag versetzt, und zog es vor, den Staub von seinen

Füßen zu schütteln. Die Neuiskristen jedoch nennen sich weiterhin „ZO"und beschimpfen diejenigen, die ihnen nachweisen, daß ihre ganze Ein-stellung zur Partei nicht nur falsch, sondern auch absolut unanständig ist.Das Geschimpfe, das den Anlaß gab, daß ich auf dieses Thema zu spre-chen kam, ist eben psychologisch das unausbleibliche Resultat des dumpfenBewußtseins dieser Unanständigkeit. Wir erinnern daran, daß sogar HerrStruve, der seine prinzipiellen Sympathien sowohl für Trotzk i und Staro-wer als auch für Akimow und Martynow, sowohl für die Tendenzen des

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Ohnmädbtige W ut 151

Neuiskrismus im allgemeinen als auch ihrer Konferenz im besonderen des

öftern zum Ausdruck gebracht hat, seinerzeit zugeben mußte, daß ihreEinstellung nicht völlig korrekt oder, richtiger gesagt, völlig inkorrekt ist(siehe „Oswoboshdenije" Nr. 57).

Wir wissen ausgezeichnet, daß breite Kreise der Sozialdemokraten,besonders der Arbeiter, schrecklich unzufrieden mit der Spaltung sind (werkönnte mit ihr zufrieden sein?) und dazu neigen, „um jeden Preis" einenAusweg zu suchen. Wir verstehen diese Stimmung vollkommen und tra-gen ihr unbedingt Rechnung. Wir warnen aber alle und jeden: Die Stim-mung allein genügt nicht. Die Formel „um jeden Preis" ist ganz und gar

untauglich, denn es fehlt darin die Hauptsache: das Verständnis für dieMittel, die Spaltung zu beenden. Keine bitteren Worte, keine Versuche,irgend etwas „Drittes" zu finden, das weder bolschewistisch noch men-schewistisch ist, werden der Sache helfen, sondern sie nur noch mehr ver-wirren . Das Beispiel einer so starken Persönlichkeit wie Plechanow hat dasfaktisch, an Ha nd der Erfahrung zweier Jahre, bewiesen. Mögen die deut-schen Sozialdemokraten, die, wie Karl Kautsky, unsere Spaltung größten-teils nur aus einseitigen Berichten kennen, sie mit bitteren W orten abtun.Ihre Unkenntnis ist allenfalls noch verzeihlich, obgleich es natürlich un-verzeihlich ist, daß sie über etwas urteilen wollen, was sie nicht kennen.Die russischen Sozialdemokraten müssen endlich lernen, Leute zu ver-achten, die nur imstande sind, die Sache mit bitteren W orten abzutun, voneiner Seite auf die andere zu pendeln und vom „Frieden" zu faseln, dieaber außerstande sind, etwas Reales für den Frieden zu tun. Der realeWeg zu Frieden und Einheit in der Partei führt nicht über voreilige Ab-kommen, die neue Konflikte heraufbeschwören, die Sache aufs neue undnoch mehr verwirren, sondern über die völlige Klärung der taktischen undorganisatorischen Tendenzen beider Teile durch die 7at. In dieser Bezie-hung sind wir mit der neuiskristischen Konferenz überaus zufrieden, denn

sie hat den unwiderruflichen Zerfall des Neuiskrismus deutlich gemacht.Die Revolution zerschlägt die Nachtrabtak tik der Neuiskristen. Ihre „Or-ganisation als Prozeß" wird zum allgemeinen Gespött. Von ihnen fällteinerseits Plechanow ab, den die Konferenz offensichtlich nicht nur überden organisatorischen Sinn dieser Konferenz, sondern auch über die Prin-zipientreue der Neuiskristen „aufgeklärt" hat. Von ihnen fällt anderseitsAkimow ab, der die Versprechungen oder die „Prinzipien" der Peters-

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152 W.J.Lenin

burger Menschewiki („Poslednije Iswestija"5 5 Nr. 235) a ls „leere Phrase"

bezeichnet. Der drit te Parteitag hat die eine Seite fester zusammen-geschweißt. Die Konferenz selbst hat die andere Seite zerschlagen. Uns

bleibt nur übrig, den „Versöhnlern" zu raten: Studiert die Geschichte derSpaltung, Genossen, denkt darüber nach, warum das Plechanowsche Ver-

söhnlertum gescheitert ist, gießt nicht neuen Wein in alte Schläuche!

„Proletari" Nr. 9, N adb dem 7ext des „Proktari".26. (i3.) Juli i905 .

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153

URSPRUNGLICHE VARIANTE DES VORWORTSZUR BROSCHÜRE

„ARBEITER ÜBER DIE SPALTUNG DERPARTEI"56

UMSCHLAG: Die Stimme der Arbeiter und die Spaltung

der Partei

Herausgegeben vom ZK derSDAPR

Inhalt:

I. Vorwort der Redaktion des „Proletari".II. Brief eines Odessaer Arbeiters.

III. Antwort auf den Brief eines Arbeiters. Von Jbramow.

IV. Offener Brief des ZK der SDAPR an die Organisationskommission.

VORWORT

In Nr . 8 des „Proletari" teilten wir bereits mit, daß wir den Brief einesOdessaer Arbeiters herausgeben werden, der unserer Meinung nach dieStimmung ziemlich vieler Arbeiter widerspiegelt. Als Antwort auf diesenBrief veröffentlichen wir erstens den A rtikel „Antwort auf den Brief einesArbeiters" von Gen. Abramow, Mitarbeiter des „Proletari", und zweitensden vor kurzem in Rußland erschienenen und in Nr. 10 des „Proletari"abgedruckten „Offenen Brief des Zentralkomitees der SDAPR an dieOrganisationskommission"5T.

Unserseits wollen wir noch einmal eines hervorheben: Die Vereinigungist notwendig. Der Genosse Arbeiter hat völlig recht, wenn er darauf be-steht. Aber es genügt nicht, darauf zu bestehen, man muß imstande sein,

11 Lenin, We rke, Bd. 9

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154 "W. 3. Lenin

die Vereinigung zu verwirklichen, man muß die Kraft haben, die Vereini-

gung durchzusetzen. Ausweichen, eine dritte Partei oder eine neutraleGruppe gründen — das ist nicht schwer. Aber das wird die Vereinigungnicht in die Nähe, sondern in die Ferne rücken, die jetzige verworreneSituation nicht vereinfachen, sondern sie noch mehr verwirren. Die Be-schlüsse der Konferenz der Minderheit oder der Neuiskristen geben keinedirekte und klare Antw ort auf die Frage: wie kann und muß man sich ver-einigen? Die Beschlüsse des III. Parteitags der SDAPR geben eine Ant-wort durch das Parteistatut, das die Rechte der M inderheit voll garantiert.Es wäre lächerlich, diese Antwort für fehlerlos, für ideal zu halten. Wer

aber über die Wiedervereinigung nicht nur reden, sondern sie mit realenMaßnahmen und Vorschlägen wirklich herbeiführen will, der soll sich nichtauf Anschuldigungen und Vorwürfe beschränken und soll nicht durch dieGründung einer dritten Partei die Spaltung vertiefen, sondern sich damitbefassen, seine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen und Formender Wiedervereinigung auszuarbeiten. Das ist weitaus schwieriger, als nurFrieden und Liebe zu predigen, aber dafür auch sehr viel nützlicher.

THe Redaktion des „Proletari"

Qesdhrieben im Juli 1905.

Zuerst veröffentlicht {926 Tladh dem Ma nuskript.im Lenin-Sammelband V.

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V O R W O R T Z U R B R O S C H Ü R E

„ A R B E I T E R Ü B E R D I E S P A L T U N G D E R P A R T E I '

Als wir in Nr. 8 des „Proletari" versprachen, den Brief eines Genossen,der sich „Ein Arbeiter unter vielen" nannte, vollinhaltlich abzudrucken,hatten wir keine Ahnung , wer dieser Genosse ist. Wir wissen, daß die von

. ihm geäußerten Gedanken tatsächlich von vielen Arbeitern geteilt werden,und das genügte uns zu dem Entschluß, seinen Brief herauszugeben. Jetzterfahren wir aus Nr. 105 der „Iskra", daß sich der Verfasser des Briefes„früher zur Minderheit zählte", daß er ein „alter heftiger Gegner dersogenannten Mehrheit" ist. Um so besser. Um so wertvoller ist für unsdas Eingeständnis dieses ehemaligen Menschewiks, daß sich die frommenWünsche hinsichtlich der „proletarischen Selbsttätigkeit" als „schöneWorte" herausstellten. Um so wertvoller ist seine entschiedene Verurtei-lung der intelligenzlerischen „Manilowerei" *. Das ist ein untrügliches An-zeichen, daß die Demagogie der Menschewiki, ihre freigebigen Verspre-chungen aller möglichen guten Dinge wie Autonomie, Selbsttätigkeit, De-mokratismus u. dgl. m. den klassenbewußten Arbeitern nun, wie nichtanders zu erwarten war, so langsam zum Halse heraushängen und beiihnen berechtigtes Mißtrauen und K ritik hervorrufen.

Höchst charakteristisch ist auch die Tatsache, die zweifellos noch eineganze Reihe menschewistischer Arbeiter zu „ehemaligen Menschewiki"machen w ird — die Tatsache, daß die „Iskra" in diesem Brief eines Arbei-ters die „Faust von unten" erblickt! Darüber lohnt es sich, ernsthaft nach-zudenken.

Was hat der Brief mit der „Faust" zu tun? frage ich mich. Bringt die-ses von den Menschewiki reichlich abgedroschene „schreckliche Wort"

* Manilow — Gestalt aus Gogols Roman „Die toten Seelen". Der Tibers.

11 *

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156 • W. I.Lenin

bestimmte organisatorische Begriffe zum Ausdruck oder lediglich intelli-

genzlerische Verärgerung , den Widerw illen gegen jedwede feste, die Lau-nen der Intellektuellen unterbindende Organisation?

W as will der Verfasser des Briefes? D as Ende der Spaltung. Sy mp athi-siert die „Iskra" mit diesem Ziel? Ja, sie erklärt das ausdrücklich. Hält siedie Erreichung dieses Zieles jetzt schon für möglich? Ja, denn sie sagt:„Die (taktischen) Meinungsverschiedenheiten sind nicht so groß, um dieSpaltung zu rechtfertigen."

Wenn dem so ist, warum kramt dann die „Iskra" in der Antwort anden Arbeiter aufs neue die taktischen Meinungsverschiedenheiten hervor

und erwähnt sogar den „Plan der Semstwokampagne", der doch in den„nur für Parteimitglieder" veröffentlichten Sonderblättern der „Iskra"und in der „konspirativen" Broschüre Plechanows begraben worden ist?Wozu das? Wo doch die Notwendigkeit von Polemiken und Auseinander-setzungen weder von dem Arbeiter noch von den Bolschewiki bestritten .wir d! W o doch das vom III. Parteitag angeno mm ene S tatut genau dasRecht eines jeden Komitees auf He rausg abe von L iteratur festlegt! W oes sich doch darum handelt, was zu machen ist, damit die taktischen Mei-nungsverschiedenheiten nicht zur Spaltung, d. h. zur Störung der organi-

satorischen Verbindung führen! Warum weidht die „Iskra" dieser klar ge-stellten Frage aus, indem sie nicht zur Sache gehörende Betrachtungenüber taktische Meinungsverschiedenheiten anstellt? Besteht etwa gar die„Faust" des Arbeiters darin, daß er kein Geschwätz zuläßt, das nicht zurSache gehört?

Um die Spaltung zu beenden, genügt es nicht, das zu wünschen. Manmuß wissen, wie es zu machen ist. Die Spaltung beenden heißt zu einer

Organisation verschmelzen. Und wer wirklich das Ende der Spaltungnäherrücken will, der darf sich nicht auf Klagen, Vorwürfe, Anwürfe,

Interjektionen und Deklamationen über die Spaltung beschränken (wie dasder Genosse Arbeiter und beispielsweise auch Plechanow tut, seit er imSumpfe steckt) — der muß unverzüglich darangehen, einen Typus dieserallgemeinen, einheitlichen Organisation auszuarbeiten.

Die Schwäche der Zuschrift des Arbeiters liegt gerade darin, daß derVerfasser über die Spaltung nur jammert und keine direkten Vorschlägemacht, wie man sie durch die Annahme bestimmter Organisat ionsnormenbeenden soll. Statt diesen Mangel zu beheben, verstärkt ihn die „Iskra",

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Vorwort zur "Broschüre „Arbeiter über d ie Spaltung der Partei" 157

indem sie in „panischer Angst" schreit: die „F aust!", nur weil der A rbei-

ter den Qedanken geäußert hat, man müsse unbedingt allgemeinverbind-liche Organisationsnormen anerkennen!! Die Meinungsverschiedenheitenrechtfertigen die Spaltung nicht, sagt der Arbeiter. Richtig! stimmt die„Iskra" z u. Also muß man jetzt einen recht festen Strick drehen (Oje, oje!Wie grob mechanisch ich mich ausdrücke! Schon wieder die „Faust"!Immer langsam, Genossen von der „Iskra", fallen Sie nicht gleich in O hn-macht wegen des „unlösbaren Knotens" und ähnlicher Schrecknisse!), derbeide Teile fest zusammenbinden und sie trotz der taktischen Meinungs-verschiedenheiten zusammengebunden halten würde — fährt der Arbeiter

fort.Die „Iskra" antwortet darauf wieder mit einem hysterischen Anfall undschreit: die Faust!

Wir aber antworten darauf: Richtig, Genosse Arbeiter! Sie urteilenvernünftig. Man braucht einen neuen, festen Strick. Aber gehen Sie dochweiter, machen Sie den nächsten Schritt: beginnen Sie, darüber nachzu-denken, was das eigentlich für ein Strick sein soll, was das eigentlich füreine allgemeine, beiderseits verbindliche (zu Hilfe! Wieder die Faust!)Organisation sein soll?

Der G enosse Arbeiter ist nicht weit genug gegangen, was die Bestimmt-heit seiner organisatorischen Vorschläge betrifft (denn die Frage der Be-endigung der Spaltung ist eine rein organisatorische Frage, wenn beideTeile anerkennen, daß die taktischen Meinungsverschiedenheiten dieSpaltung nicht rechtfertigen!) — die „ Iskra" aber findet, daß er zuweit gegangen sei, so weit, daß sie wieder ein Geschrei über die Fausterhob!!

W ir fragen den Leser noch einmal: Was bedeutet in W irklichkeit dieseberüchtigte Faust, die der neuen „Iskra" solchen Schrecken einjagt, daß

sie schier Schreikrämpfe bekommt? Bringt diese Faust bestimmte organi-satorische Ideen zum Ausdruck oder einfach die blinde und lächerlicheAngst der Intellektuellen vor jedweder „Bindung", jedweder für alle Par-teimitglieder verbindlichen Organisation?

überlassen wir es den klassenbewußten Arbeitern, diese Frage zu ent-scheiden, und gehen wir weiter.

Die wirkliche Schwierigkeit der Verschmelzung besteht — vorausgesetzt,daß beide Teile sie aufrichtig wünschen — in folgendem: Erstens muß man

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158 W. 3. Lenin

Organisationsnormen schaffen, ein Parteistatut, das für alle unbedingt ver-

bindlich ist; zweitens muß man alle parallelen, miteinander konkurrie-renden lokalen und zentralen O rganisationen und Körperschaften der Par-tei miteinander verschmelzen.

Die erste Aufgabe versuchte bis jetzt nur der III. Parteitag der SDAPRzu lösen, indem er ein Statut schuf, das jeder Minderheit konstitutionelleRechtsgarantien gibt. Der III. Parteitag sorgte dafür, daß jede Minder-heit, die das Programm, die Taktik und die organisatorische Disziplinanerkennt, sozusagen ihr Plätzchen in der Partei findet. Die Bolschewikisorgten dafür, daß auch die Menschewiki einen bestimmten Platz in der

einheitlichen Partei haben. Bei den Menschewiki sehen wir das nicht: ihrStatut gibt keineswegs jeder Parteiminderheit konstitutionelle Rechts-garantien.

Selbstverständlich wird kein Bolschewik das auf dem III. Parteitag an-genommene Statut als ideal und unfehlbar betrachten. Wer es für nötighält, dieses Statut zu ändern, der soll einen Entwurf genau umrissenerÄnderungen vorlegen — das wird ein sadhlidber Schritt zur Beendigung derSpaltung sein, das wird etwas mehr sein als Vorwürfe und K lagen.

Man wird uns vielleicht sagen: Warum macht ihr nicht selbst den An-

fang damit beim Statut der „Konferenz"? Wir antworten darauf, daßwir das schon getan haben; siehe „Proletari" Nr. 6: „Ein dritter Schrittzurüde".* Wir sind auch bereit, die grundlegenden Organisationsprinzi-pien, deren Anerkennung unseres Erachtens zur Verschmelzung notwen-dig ist, noch einmal zu wiederholen: 1. Die Unterordnung der Minderheitunter die Mehrheit (nicht zu verwechseln mit der Minderheit und derMehrheit in Anführungszeichen! Die Rede ist vom Organisationsprinzipder Partei überhaupt und nicht von der Verschmelzung der „Minderheit"und der „Mehrheit", wovon weiter unten die Rede sein wird. Man kann

sich, abstrakt gesprochen, die Verschmelzung in einer solchen Form den-ken, daß „Menschewiki" und „Bolschewiki" gleich stark sein werden, aberauch eine solche Verschmelzung ist unmöglich, wenn man das Prinzip unddie Pflidbt der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht an-erkennt). 2. Das oberste Organ der Partei muß der Parteitag, d. h. dieVersammlung der gewählten Vertreter aller vollberechtigten Organisa-tionen sein, wobei der Beschluß dieser Vertreter als endgültig gelten muß.

* Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 509-518, russ. Die Red.

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Vorwort zur Broschüre „Arbeiter über die Spaltung der Partei" 159

(Das ist das Prinzip der demokratischen V ertretung im Gegensatz zu dem

Prinzip der beratenden Konferenzen und der Abstimmung über ihre Be-schlüsse in den Organisationen, also des Plebiszits). 3. Die Wahlen zurzentralen Körperschaft (oder zu den zentralen Körperschaften) der Parteimüssen direkt sein und auf den Parteitagen erfolgen. Nicht auf dem Par-teitag vorgenommene Wahlen, zweistufige Wahlen usw., sind unzulässig.4. Die gesamte Parteiliteratur, die lokale wie die zentrale , muß unbedingtsowohl dem Parteitag als auch der entsprechenden zentralen oder lokalenParteiorganisation unterstehen. Das Vorhandensein von Parteiliteratur,die mit der Partei organisatorisch nicht verbunden ist, ist unzulässig.5. Der Begriff der Parteizugehörigkeit muß ganz genau umrissen sein.6. Ebenso müssen die Rechte jeder Parteiminderheit im Parte istatut genaufestgelegt sein.

Dies sind unseres Erachtens die unbedingt verbindlichen organisato-rischen Prinzipien, ohne deren Anerkennung die Verschmelzung unmög-lich ist. Darüber möchten wir die Meinung des Genossen, der sich „Ein

. Arbeiter u nter vielen" nennt, und überhaupt aller Anhänger der Ver-schmelzung hören.

Und die Frage der Beziehungen der Komitees zur Peripherie? des Prin-zips der W ählbarkeit? wird man uns fragen. W ir antworten, daß in dieserFrage keine grundlegenden organisatorischen Prinzipien zu erblicken sind,da ja die unbedingte Enhaltung des Prinzips der Wählbarkeit nicht ge-fordert wird. Auch die Menschewiki haben das nicht gefordert. Bei poli-tischer Freiheit wird das Prinzip der Wählbarkeit unerläßlich sein, jetztaber wird es auch vom Statut der „Konferenz" für die Komitees nichteingeführt. Diese oder eine andere Festlegung der Rechte und Vollmach-ten der Peripherie ist keine prinzipielle Frage (natürlich dann, wenn das,wovon man spricht, konkret verwirklicht wird, wenn man sich nicht mitDemagogie befaßt und nicht nur mit „schönen Worten" um sich wirft).

Der d ritte Parteitag der SDAPR versuchte die Begriffe Komitee und P eri-pherie genau festzulegen und die Beziehungen zwischen ihnen zu regeln.Alle Vorschläge bestimmter Änderungen, Ergänzungen und Kürzungenwürde jeder Bolschewik in aller Ruhe erwägen. In unserer Mitte gibt es,soviel ich weiß, in dieser Frage hinsichtlich dieses oder jenes Punktes keine„Unversöhnlichen", und die Protokolle des III. Parteitags werden dieseBehauptung bestätigen.

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160 W.I.Cenin

Die nächste und wohl nicht weniger schwierige Frage ist: Wie soll man

nun konkret alle parallelen Organisationen verschmelzen? Bei politischerFreiheit wäre das leicht, denn da gäbe es legale Parteiorganisationen miteiner bestimmten Zahl genau bekannter Mitglieder. Anders ist es beigeheimen Organisationen. Die Bestimmung der Mitgliedschaft ist um soschwieriger, je leichtsinniger man diese Mitgliedschaft zuweilen auffaßt,je öfter man zur Demagogie, zur fiktiven Aufnahme politisch nicht be-wuß ter Elemente in die Partei greift. U nserer Meinung nach müssen, wasdie Mittel zur Überwindung dieser Schwierigkeiten anbelangt, die mit derSachlage vertrauten Genossen in den einzelnen Orten das entscheidende

Wort sprechen. Die zeitweilige Ausschaltung von Mitgliedern der Orga-nisationen durch ihre „Kommandierung" ins Gefängnis, in die Verban-nung oder ins Ausland ist auch ein erschwerender Umstand, den man be-rücksichtigen muß. Sodann bietet natürlich die Verschmelzung der zen-tralen Körperschaften keine geringe Schwierigkeit. Ohne eine einheitlicheZentralleitung, ohne ein einheitliches Zentralorgan ist eine wirkliche Ein-heit der Partei unmöglich. Die Frage steht hier so: Entweder werden diepolitisdi bewußten Arbeiter (unbeirrt von dem Wehgeschrei über die„Faust") diejenigen, die tatsächlich die Parteiminderheit sind, dazu zwin-gen, ihre Auffassungen in den Organen der Lokalkomitees, auf Konfe-

renzen, Parteitagen, Versammlungen usw. zu vertreten, ohne daß dieParteiarbeit desorganisiert wird. Oder aber die bewußten sozialdemo-kratischen Arbeiter bewältigen diese Aufgabe jetzt nicht (allgemein ge-sprochen, werden sie sie bestimmt und unbedingt bewältigen,- dafür bürg tdie ganze Arbeiterbewegung in Rußland) — und dann werden zwisdienden konkurrierenden Zentralstellen, zwischen den konkurrierenden Or-ganen nur Vereinbarungen möglich sein, aber keine Verschmelzung.

Zum Schluß wollen wir noch einmal wiederholen: Der Genosse Arbei-ter und seine Gesinnungsgenossen sollen ihr Ziel nicht durch Klagen undAnschuldigungen und nicht durdi die Bildung neuer, dritter Parteien oderGruppen, Zirkel usw. (in der Art, wie es Plechanow tut, der jetzt außer-halb der Partei eine neue Parteizeitschrift53 gegründet hat) zu erreidientrachten. Die Bildung einer dritten Partei oder neuer Gruppen wird dieSache nur komplizieren und verwirren. Man muß darangehen, die kon-kreten Bedingungen der Verschmelzung auszuarbeiten: Sobald sich alleGruppen und Organisationen der Partei, alle politisdi bewußten Arbei-

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Vorwort zur Broschüre „Arbeiter über d ie Spaltung der Partei" 161

ter damit befassen, werden sie unbedingt und zweifellos imstande sein,

vernünftige Bedingungen auszuarbeiten und nicht nur auszuarbeiten, son-dern auch (unbeirrt von dem Wehgeschrei über die Faust) die Spitzen derPartei zu zwingen, sich diesen Bedingungen zu unterwerfen.

In Ergänzung zum Brief des Genossen Arbeiters veröffentlichen wireinen offenen Brief des ZK der SDAPR an die Organisationskommissionals ersten Schritt zu einer sachlichen Lösung der Frage, wie die Spaltungbeendet werden kann .

Redaktion des „Troletari"Juli 1905

Zuerst veröffentlicht i905 N ach dem 3'ext der Broschüre,in der vom ZK der STiJPJlherausgegebenen Broschüre.

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DAS PROLETARIAT KÄMPFT,DIE BOURGEOISIE ERSCHLEICHT SICH DIE MACHT

Während des Krieges hat die Diplomatie nichts zu tun. Nach Schlußder Kampfhandlungen t re ten die Diplom aten in den Vord ergrund, z iehendas Fazit, stellen Bilanzen auf und üben sich in ehrlichem Maklertum.

Etwas Ähnliches geht in der russischen Revolution vor sich. Währendder militärischen Zusammenstöße zwischen dem Volk und den Kräftende r Selbstherrschaft verstecken sich die liberalen Bo urgeois in ihren Ma us e-löchern. Sie sind gegen die Gewalt von oben und von unten, sie sind Feinde

sowohl der Willkür der Machthaber als auch der Anarchie des Pöbels.Sie erscheinen auf der Bühne nach Schluß der Kampfhandlungen, und inihren politischen Entscheidungen widerspiegelt sich klar die durch dieseKam pfhandlungen verursachte Än deru ng in der politischen Situation. Nachdem 9. Januar wurde die l iberale Bourgeoisie „rosarot",- jetzt , nadi denEreignissen in Odessa, die (im Zusammenhang mit den Ereignissen imKaukasus, in Polen usw.) das enorme Anwachsen des Volksaufstandsgegen die Selbstherrschaft im letzten halben Jah r der R evolution anzeigen,beginnt sie „rot" zu werden.

Die drei soeben abgehaltenen liberalen Tagungen sind in dieser Hin-sicht sehr aufschlußreich. Am konservativsten von allen war die Tagungder Industriellen und Kaufleute. Sie genießen das größte Vertrauen derSelbstherrschaft. Die Polizei läßt sie in Ruhe. Sie kritisieren das Buly-ginsche Projekt und verurteilen es, sie verlangen eine Verfassung, werfenaber, soweit wir nach den unvollständigen Berichten urteilen können, nichteinmal die Frage des Boykotts der Bulyginschen Wahlen auf. Die radi-kalste Tagung ist jene der Delegierten des „Verbands der Verbände" 59 .

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Das Proletariat kämpft, die Bourgeoisie ersdbleidbt siäo die Madrt 163

Sie findet schon im geheimen statt und auf nichtrussischem Territorium,

obzwar ganz nahe bei Petersburg, nämlich in Finnland. Wie man sagt,verstecken die Teilnehm er der Tagung aus Vorsicht alle Schriftstücke, unddie polizeilichen Durchsuchungen an der Grenze liefern der Polizei kei-nerlei Beweisstücke in die Hand. Diese Tagung spricht sich mit Stimmen-mehrheit (gegen eine, wie es scheint, beträchtliche Minderheit) für denvollständigen und entschiedenen Boykott der Bulyginschen Wahlen, füreine breite Agitation zwecks Verwirklichung des allgemeinen Wahlrechtsaus.

In der Mitte steht die am meisten „einflußreiche", feierliche und ge-

räuschvolle Tagung der Vertreter der Semstwos und Städte. Sie ist fastlegal: die Polizei verfaßt nur pro forma ein Protokoll und fordert zumAuseinandergehen auf, was mit einem Lächeln quittiert wird. Die Zei-tungen, die begonnen haben, Berichte zu veröffentlichen, werden verboten(„Slowo"60) oder verwarnt („Russkije Wedomosti"). An der Tagungnahmen nach dem in den „Tim es"61 erschienenen Schlußbericht des HerrnPjotr Dolgorukow 216 Delegierte teil. Korrespondenten ausländischerZeitungen telegrafieren über die Tagung in alle Welt. Zur politischenHauptfrage, nämlich ob man die Bulyginsche „Verfassung" boykottieren

soll, äußert sich die Tagung überhaupt nicht. Nach Meldungen englischerZeitungen war die Mehrheit für den Boykott, das Organisationskomiteeder Tagung jedoch dagegen. Man einigte sich auf ein Kompromiß: dieFrage bis zur Veröffentlichung des Bulyginschen Projekts offenzulassenund dann telegrafisch eine neue Tagung einzuberufen. Natürlich wird dasBulyginsche Projekt von der Tagung entschieden verurteilt; sie billigt dasVerfassungsprojekt des „Oswoboshdenije" (Monarchie und Zweikam-mersystem), lehnt es ab, sich an den Zaren zu wenden, und beschließt,„sich an das Volk zu wenden".

Den Text dieses Appells besitzen wir noch nicht. Nach Mitteilungender ausländischen Presse besteht er aus einem in zurückhaltenden Äuße-rungen abgefaßten Abriß der Ereignisse seit der Novembertagung derSemstwovertreter, einer Aufzählung von Tatsachen, die von der gewissen-losen Verschleppungstaktik der Regierung, von ihren gebrochenen Ver-sprechungen und von ihrer zynischen Gleichgültigkeit gegenüber den For-derungen der öffentlichen Meinung zeugen. Außer dem Appell an dasVolk wurde auch fast einstimmig eine Resolution über den Widerstand

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164 W.l Centn

gegen die willkürlichen und ungerechten Handlungen der Regierung an-

genommen. Diese Resolution erklärt, daß es die Tagung, „angesichts derwillkürlichen Handlungen der Behörden und der ständigen Verletzung derstaatsbürgerlichen Rechte durch sie für die Pflicht aller hält, die natür-lichen Menschenrechte mit friedlichen Mitteln zu verteidigen, einschließ-lich des Widerstands gegen Handlungen der Behörden, die diese Rechteverletzen, auch wenn solche Handlungen sich auf den Buchstaben desGesetzes stützen sollten" (zitiert nach den „Times").

Also unzweifelhaft ein Schritt unserer liberalen Bourgeoisie nach links.Die Revolution schreitet vorwärts, und auch die bürgerliche Demokratie

hinkt hinter ihr her. Der wahre Charakter dieser Demokratie als einerbürgerlichen Demokratie, welche die Interessen der besitzenden Klassenvertritt und die Sache der Freiheit inkonsequent und eigennützig verficht,zeigt sich immer deutlicher, obwohl die bürgerliche Demokratie „röter"wird und sich bemüht, manchmal eine „fast revolutionäre" Sprache zuführen.

In der Tat, was bedeutet die Verschiebung der Entscheidung über denBoykott der Bulyginschen Verfassung? Den Wunsch, mit der Selbstherr-schaft noch zu markten. Das mangelnde Selbstvertrauen jener Mehrheit,

die sich zugunsten des Boykotts gebildet hatte. Das stillschweigende Be-kenntnis, daß die Herren Gutsbesitzer und Kaufleute zwar eine Verfas-sung verlangen, sich aber gegebenenfalls auch auf weniger einigen we rden.Wenn selbst die Tagung der liberalen Bourgeois es nicht wagt, mit derSelbstherrschaft und mit der Bulyginschen Komödie sofort zu brechen,was ist dann von jener Zusammenkunft aller möglichen Bourgeois zuerwarten, die sich Bulyginsche „Duma" nennen und unter jeder Art Druckder absolutistischen Regierung gewählt werden wird (wenn sie je gewähltwerden wird!) ?

Genauso und nicht anders schätzt die absolutistische Regierung diesenAkt der Liberalen ein, sie betrachtet ihn nur als eine Episode des bürger-lichen Feilschens. Einerseits „erhöht" die Selbstherrschaft angesichts derUnzufriedenheit der Liberalen ihr Angebot ein wenig: die Auslandspressemeldet, daß ins Bulyginsche Projekt eine Reihe neuer „liberaler" Ände-rungen aufgenommen wird. Anderseits antwortet die Selbstherrschaft aufdie Unzufriedenheit der Semstwoleute mit einer neuen Drohung: bezeich-nend ist die Meldung des Korrespondenten der „Times", wonach Bulygin

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"Das Proletariat kämpft, die Bourgeoisie ersdhleidht sid> die TAaäot 165

und Goremykin als Antwort auf den „Radikalismus" der Semstwoleute

vorschlagen, die Bauern gegen die „Herreh" aufzuhetzen, indem manihnen die Zuteilung von Land im Namen des Zaren verspricht und (mitHilfe der Landeshauptleute) eine „Volks"abstimmung darüber veranstal-tet, ob es ständische oder allgemeine Wahlen geben soll. Natürlich istdiese Meldung nur ein Gerücht, das vermutlich mit Absicht in die Weltgesetzt wurde. Aber es bleibt außer Zweifel, daß die Regierung vor denwildesten, gröbsten und brutalsten Formen der Demagogie nicht zurück-scheut, daß sie sich vor dem Aufstand der „verwilderten Massen" unddes Abschaums der Bevölkerung nicht fürchtet, während die Liberalensich vor dem Volksaufstand gegen die Gewalttäter, die Helden von R aub,Mord und türkischer Grausamkeit fürchten. Die Regierung hat schonlängst mit dem Blutvergießen in unerhörten Ausmaßen und Formen be-gonnen. Die Liberalen aber antworten, daß sie Blutvergießen vermeidenwollen! Hat nach einer solchen Antwort etwa nicht jeder gedungeneMörder das Recht, sie als bürgerliche Krämer zu behandeln? Ist nachalledem die Resolution m it dem Appell an das Volk und mit dem Bekennt-nis zum „friedlichen Widerstand" gegen Willkür und Gewalt nicht einHohn? Die Regierung verteilt freigebig Warfen, sie dingt die niedrigsteSorte Menschen, damit sie Juden, „Demokraten", Armenier, Polen usw.

mißhandeln und niedermetzeln. Unsere „Demokraten" aber betrachtendie Agitation für den „friedlichen W iderstand" als einen „revolutionären"Schritt!

In der eben bei uns eingetroffenen Nr. 73 des „Oswoboshdenije" ent-rüstet sich He rr Struve über Herrn Suw orin62 , der Herrn Iwan Petrunke-witsch ermunternd auf die Schulter klopft und vorschlägt, solche Liberalein den Ministerien und Departements unterzubringen, damit sie sich be-ruhigen. Herr Struve ist empört, denn gerade Herrn Petrunkewitsch undseine Gesinnungsgenossen vom Semstwo („die sich vor der Geschichteund der Nation durch ein Programm" — durch welches? und wo? — „ge-bunden haben") hat er für das künftige Ministerium der konstitutionell-demokratischen Partei ausersehen. Wir aber glauben, daß die Haltungder Herren Petrunkewitsch sowohl bei ihrem Empfang durch den Zarenals auch auf der Semstwotagung am 6. (19.) Juli sogar den Suworin dasvolle Recht gibt, solche „Demokraten" mit Verachtung zu behandeln.Herr Struve schreibt:. „Jeder aufrichtige und denkende Liberale in Ruß-

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land fordert die Revolution." Wir aber sagen: Wenn diese „Forderung

der Revolution" im Juli 1905 in einer Resolution über die friedlichenMittel des Widerstands ihren Ausdruck findet, so haben die Suworin dasvolle Recht, solchen „Forderungen" und solchen „Revolutionären" mitVerachtung und Hoh n zu begegnen.

Herr Struve wird sicher einwenden, daß die Ereignisse, die unsereLiberalen bis jetzt nach links getrieben haben, sie mit der Zeit auch nochweiter treiben werden. Er schreibt in derselben Nr. 73 : „Die Bedingungenfür eine physische Einmischung der Armee in den politischen Kampf wer-den erst dann wirklich gegeben sein, wenn die absolutistische Monarchie

mit der in der Volksvertretung organisierten Nation zusamm enstößt. Dannwird die Armee vor die Wahl gestellt sein: Regierung oder Nation, unddie Wahl wird leicht und unfehlbar getroffen werden."

Dieses friedliche Idyll gleicht ganz dem Aufschieben der Revolutionauf die griechischen Kaienden63 . Wer organisiert denn die Nation in derVolksvertretung? Die Selbstherrschaft? Sie ist aber nur damit einverstan-den, die Bulyginsche Duma zu organisieren, gegen die ihr selbst prote-stiert, weil ihr sie nicht als eine Volksvertretung anerkennt! Oder wird„die Nation" selbst die Volksvertretung organisieren? Wenn dem so ist,

warum wollen dann die Liberalen von einer provisorischen revolutionärenRegierung, die sich nur auf eine revolutionäre Armee stützen kann, nichtswissen? Wenn sie schon auf ihrer Tagung im Namen des Volkes sprechen,warum tun sie dann nicht einen solchen Schritt, der von der Organisierungder Nation in der Volksvertretung zeugen würde? Wenn ihr wirklichVertreter des Volkes seid, meine Herren, und nicht Vertreter der Bour-geoisie, die in der Revolution die Interessen des Volkes verrät, warumwendet ihr euch dann nicht an die Armee? warum verkündet ihr nicht denBruch mit der absolutistischen Monarchie? warum verschließt ihr dieAugen vor dem unvermeidlichen Entscheidungskampf zwischen der revo-lutionären Armee und der zaristischen Armee?

Weil ihr vor dem revolutionären Volk Angst habt und euch an diesesVolk mit Phrasen wendet, während ihr in Wirklichkeit mit der Selbst-herrschaft rechnet und mit ihr feilscht. Ein weiterer Beweis dafür sind dieUnterhandlungen des Vorsitzenden des Organisationskomitees der Sem-stwotagung, des Herrn Golowin, mit dem Moskauer GeneralgouverneurKoslow. Herr Golowin versicherte Koslow, daß die Gerüchte, wonach die

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Absicht bestehe, diese Konferenz in eine konstituierende Versammlung

zu verwandeln, Unsinn seien. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß derVertreter der organisierten bürgerlichen Demokratie sich gegenüber demVertreter der Selbstherrschaft dafür verbürgte, daß sie nicht auf einenBruch mit der Selbstherrschaft abzie lt! Man muß schon ein politischer Säug-ling sein, um nicht zu verstehen, daß das Versprechen, die Tagung nichtals konstituierende Versammlung zu proklamieren, gleichbedeutend ist mitdem Versprechen, keine wirklich revolutionären Maßnahmen zu ergreifen.Denn Koslow fürchtete natürlich nicht die Worte „konstituierende Ver-sammlung", sondern die Jäten, die geeignet wären, den Konflikt zu ver-

schärfen und den Entscheidungskampf des Volkes und der Armee gegenden Zarismus zu entfachen! Ist es etwa keine politische Heuchelei, wennihr euch in W orten Revolutionäre nennt, vom Appell an das Volk und vonder Aufgabe aller Hoffnungen auf den Zaren sprecht, in Wirklichkeitaber die Diener des Zaren über eure Absichten beruhigt?

Ach, diese schwülstigen liberalen Phrasen ! Wie viele hat doch der Füh-rer der „konstitutionell-demokratischen" Parte i, Her r Petrunkewitsch, aufder Tagung gedroschen! Betrachten wir einmal, durch welche Erklärungener sich „vor der Geschichte und der Nation gebunden" hat. Wir zitieren

nach den Berichten der „Times".Herr De-Roberti spricht sich für eine Petition an den Zaren aus. Da-gegen sprechen Petrunkewitsch, Nowossilzew, Schachowskoi und Rodi-tschew. Die Abstimmung ergibt nur sechs Stimmen für die Petition. Ausder Rede des Herrn Petrunkewitsch: „Als wir am 6. (19.) Jun i nach Peter-hof fuhren, hofften wir noch, der Zar werde die bedrohliche Lage er-kennen und etwas unternehmen, um die Gefahr abzuwenden. Jetzt mußjedwede Hoffnung darauf aufgegeben werden. Nur ein Ausweg ist ge-blieben. Bis jetzt hofften wir auf eine Reform von oben, von nun an istunsere einzige Hoffnung — das Volk. (Lauter Beifall .) Wir müssendem Volk in schlichten und klaren Worten die Wahrheit sagen. Die Un-fähigkeit und die Ohnmacht der Regierung haben die Revolution herauf-beschworen. Das ist eine Tatsache, die von allen anerkannt werden muß.Unsere Pflicht ist es, alle Anstrengungen zu machen, damit Blutvergießenvermieden wird. Viele von uns haben lange Jahre im Dienste der Heimatgestanden. Jetzt müssen wir mutig zum Volk gehen und nicht zum Zaren."Am nächsten Tag fuhr H err Petrunkewitsch fort: „Wir müssen den engen

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Rahmen unserer Tätigkeit sprengen und zum Bauern gehen. Bis jetzt hoff-

ten wir auf Reformen von oben; aber derweil wir warteten, tat die Zeitihr W erk. Die Revolution, von der Regierung beschleunigt, ha t uns über-holt. Das Wort Revolution' erschreckte gestern zwei unserer Teilnehmerso sehr, daß sie die Tagung verließen. Aber wir müssen der Wahrheitmannhaft ins Auge blicken. Wir können nicht die Hände in den Schoßlegen und warten. Man wandte hier ein, daß der Appell der Semstwosund Städtischen Dumas an das Volk Agitation sei, die Unruhen stiftenwerde. Aber herrscht etwa in den Dörfern Ruhe? Nein, die Unruhensind schon da, und zwar in der schlimmsten Form. W ir können den Sturm

nicht aufhalten, aber wir müssen auf jeden Fall dafür Sorge tragen, daßeine zu starke Erschütterung vermieden wird. Wir müssen dem Volksagen, daß es nutzlos ist, die Fabriken und Güter zu zerstören. Wir dür-fen diese Zerstörung nicht als einen einfachen Vandalismus betrachten.Das ist die blinde und rohe A rt der Bauern, dem Übel abzuhelfen, das sieinstinktiv fühlen, aber zu erfassen außerstande sind. Mögen ihnen dieBehörden mit Nagaikas antworten. Unsere Pflicht ist es dennoch, zumVolk zu gehen. Wir hätten das früher tun sollen. Vierzig Jahre existier-ten die Semstwos, ohne mit den Bauern in enge und intime Berührung zukommen. Verlieren wir also keine Zeit, um diesen Fehler zu korrigieren.W ir müssen dem Bauern sagen, daß w ir mit ihm sind."

Sehr gut, Herr Petrunkewitsch! Wir sind mit dem Bauern, wir sind mitdem Volk, wir erkennen die Revolution als eine Tatsache an, wir habenjede Hoffnung auf den Zaren aufgegeben... Wacker, meine Herren!Aber... aber wie ist denn das? Nicht mit dem Zaren, sondern mit demVolk, und darum dem Generalgouverneur Koslow versprechen, die Ta-gung werde nicht als konstituierende Versammlung, d. h. als eine wirk-liche, echte Volksvertretung auftreten? Die Revolution anerkennen unddarum die Bestialitäten, Mordtaten und Räubereien der Regierungsscher-gen mit friedlichen Mitteln des Widerstands beantworten? Zum Bauernund mit dem Bauern gehen und darum sich mit dem unbestimmtestenProgramm begnügen, das nur eine Ablösung mit Zustimmung der Guts-besitzer verspricht! Nicht mit dem Zaren gehen, sondern mit dem Volkund darum ein Verfassungsprojekt annehmen, das erstens die Monarchieund die Aufrechterhaltung der Zarenmacht über das Heer und die Be-amtenschaft sichert und zweitens durch ein Oberhaus von vornherein

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die politische Herrschaft der Gutsbesitzer .und der Großbourgeoisie ver-

bürgt.*Die liberale Bourgeoisie geht zum Volk. Das ist wahr. Sie ist gezwun-

gen, zu ihm zu gehen, denn ohne das Volk fehlt ihr die Kraft, gegen dieSelbstherrschaft zu kämpfen. Aber sie fürchtet das revolutionäre Volk undgeht zu ihm nicht als Vertreterin seiner Interessen, nicht als neuer, feurigerKampfgenosse, sondern als ein Krämer, ein Makler, der von einer kämp-fenden Seite zur anderen überläuft. Heute ist sie beim Zaren und bittetihn im Namen des „Volkes" um eine monarchische Verfassung, wobei siedas Volk, die „Unruhen", den „Aufruhr", die Revolution feige verleug-

net. Morgen droht sie auf ihrer Tagung dem Zaren, droht ihm mit dermonarchischen Verfassung und dem friedlichen Widerstand gegen dieBajonette. Und ihr wundert euch noch, meine Herren, daß die Zaren-knechte eure feige und falsche Krämerseele durchschaut haben? Ihr fürch-tet euch davor, ohne den Zaren zu bleiben. Der Zar fürchtet sich nichtdavor, ohne euch zu bleiben. Ihr habt Angst vor dem entscheidendenKampf. Der Zar fürchtet ihn nicht, er will den Kampf, er provoziert ihnselbst und beginnt ihn, er will die Kräfte messen, bevor er Zugeständnissemacht. Es ist ganz natürlich, daß der Z ar euch verachtet. Es ist ganz na tü r :

lieh, daß die Lakaien des Zaren, die Herren Suworin, euch diese Ver-achtung dadurch bezeugen, daß sie eurem Petrunkewitsch ermunterndauf die Schulter klopfen. Ihr habt diese Verachtung verdient, weil ihrnicht gemeinsam mit dem Volke kämpft, sondern euch hinter dem Rückendes revolutionären Volkes die Macht erschleichen wollt.

Die ausländischen Korrespondenten und Publizisten der Bourgeoisieerfassen zuweilen diesen Kern der Sache ziemlich genau, obzwar sieihn recht eigenartig zum Ausdruck bringen. Herr Gaston Leroux im„Matin"64 legt die Auffassungen der Semstwoleute so aus: „Unordnung

oben, Unordnung unten, wir allein sind die Vertreter der Ordn ung ." D asist wirklich die Auffassung der Semstwoleute. In verständliches Russischübersetzt, heißt das: Oben und unten ist man zu kämpfen bereit, wir abersind ehrliche Makler, wir wollen uns die Macht erschleichen. Wir wartenab , ob nicht auch bei uns ein 18. März kommen wird, ob nicht das Volkwenigstens einmal im Straßenkampf die Regierung besiegen w ird, ob sich

* Siehe das von unserer Zeitung herausgegebene Flugblatt „Drei Verfassun-gen". (Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 521-523, russ. Die Red.)

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nicht auch uns wie der deutschen liberalen Bourgeoisie die Gelegenheit

bieten wird, nach dem ersten Sieg des Volkes die Macht in die Hand zunehmen. Und dann, wenn wir gegenüber der Selbstherrschaft zu einerKraft geworden sind, werden wir uns gegen das revolutionäre Volk wen-den und mit dem Zaren einen Pakt gegen das Volk schließen. Unser Ver-fassungsprojekt ist das fertige Programm eines solchen Paktes.

Keine dumme Spekulation. Vom revolutionären Volk gilt mitunter, wasdie Römer von Hannibal sagten: Zu siegen verstehst du, den Sieg zunützen verstehst du nicht! Wenn der Sieg des Aufstands nicht zur revo-lutionären Umwälzung, zum völligen Sturz der Selbstherrschaft, zur Aus-

schaltung der inkonsequenten und eigennützigen Bourgeoisie und zurrevo-lutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaftführt, dann wird er noch nicht den Sieg des Volkes bedeuten .

Das Organ der französischen konservativen Bourgeoisie, der „Temps",rät den Semstwoleuten unumwunden, den Konflikt schleunigst durch einenPakt mit dem Zaren beizulegen (Leitartikel vom 24 . Juli). Reformen, sagtdas Blatt, sind unmöglich ohne die Vereinigung der moralischen und dermateriellen Kraft. Über die materielle Kraft verfügt nur die Regierung,die moralische besitzen die Semstwoleute.

Eine ausgezeichnete Formulierung der bürgerlichen Auffassungen undeine ausgezeichnete Bestätigung unserer Analyse der Politik der Semstwo-leute! Der Bourgeois hat dabei nur eine Kleinigkeit vergessen, nämlichdas Volk, die Millionen u nd aber Millionen Arbeiter und Bauern, die durchihre Arbeit alle Reichtümer der Bourgeoisie schaffen und die für die Frei-heit kämpfen, weil sie die Freiheit so nötig haben wie das Licht und dieLuft. D er Bourgeois war berechtigt, sie zu vergessen, da sie ja ihre „mate-rielle Kraft" noch nicht durch einen Sieg über die Regierung bewiesenhaben. Anders als durch die „materielle Kraft" wurde in der Geschichte

noch keine einzige große Frage gelöst, und die zaristische Selbstherrschaft,wir wiederholen, beginnt selbst den Kampf, fordert das Volk heraus, seineKräfte mit ihr zu messen.

Die Bourgeoisie Frankreichs erteilt der russischen Bourgeoisie den Rat,mit dem Zaren schleunigst einen Pakt zu schließen. Sie fürchtet sich, fürch-tet sich instinktiv, vor dem Entscheidungskampf. Weiß man doch nochnicht, ob das Volk, wenn es siegt, die Herren Petrunkewitsch, die sich dieMacht erschleichen wollen, an die Macht lassen wird! Es ist unmöglich,

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t>as Proletariat kämpft, die "Bourgeoisie ersdbieidbt sidh die Macht 171

im voraus zu berechnen, wie entscheidend der Sieg sein wird und welches

seine Ergebnisse sein werden — das erklärt vollauf die Zaghaftigkeit derBourgeoisie.

Das Proletariat bereitet sich zu diesem Entscheidungskampf in ganzRu ßland vor. Es sammelt seine Kräfte, es lernt und ersta rkt in je.dem neu enZusammenstoß. Die bisherigen Gefechte haben zwar mit Mißerfolgen ge-endet, aber immer wieder zu neuen und stärkeren Angriffen geführt. DasProletariat geht dem Siege entgegen. Es reißt die Bauernschaft mit sich.Gestützt auf die Bauernschaft, wird es die wankelmütige und verräte-rische Haltung der Bourgeoisie paralysieren, wird es ihre Prätendenten

auf die Macht beiseite schieben, die Selbstherrschaft mit Gewalt ver-nichten und aus dem russischen Leben alle Spuren der verfluchten Leib-eigenschaft ausrotten. Dann werden wir dem Volk nicht eine monarchischeVerfassung erkämpfen, die der Bourgeoisie politische Privilegien sichert.Wir werden Rußland die Republik erkämpfen, die allen unterdrücktenVölkerschaften volle Freiheit sichert, die den Bauern und Arbeitern volleFreiheit sichert. Wir werden dann die ganze revolutionäre Energie desProletariats ausnutzen für den breitesten und kühnsten Kampf um denSozialismus, für die volle Befreiung aller Werktätigen von jeglicher Aus-

beutung.

„Troletari" 7ir. iO, Tiaä) dem 7ext des „Troletari".2. August [20. "Juli) 1905.

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D E R B O Y K O T T D E R B U L Y G I N S C H E N D U M A

U N D D E R A U F S T A N D

Die gegenwärtige politische Lage in Rußland ist so, daß bald eine Buly-ginsche Duma einberufen werden kann, d. h. eine beratende Versammlungvon Vertretern der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie, gewählt unterAufsicht und Mitwirkung der Diener der absolutistischen Regierung aufGrund eines ausgesprochenen Zensus, eines ständischen und indirektenWahlrechts, das eine glatte Verhöhnung des Gedankens der Volksvertre-tung ist. Welche Haltung soll man gegenüber dieser Duma einnehmen?

Die liberale Demokratie gibt auf diese Frage zwei Antworten: Ihr linkerFlügel in Gestalt des „Verbands der Verbände", d. h. hauptsächlich derVertreter der bürgerlichen Intelligenz, spricht sich dafür aus, diese Dumazu boykottieren, an den Wahlen nicht teilzunehmen und die Gelegenheitzu einer intensiven Agitation für eine demokratische Verfassung auf Grunddes allgemeinen Wahlrechts auszunützen. Ihr rechter Flügel in Gestalt derJulitagung der Vertreter der Semstwos und Städte, oder richtiger gesagtin Gestalt eines gewissen Teils dieser Tagung, ist gegen den Boykott, fürdie Teilnahme an den Wahlen und dafür, eine möglichst große Anzahl

seiner Kandidaten in d ie Duma hineinzubringen. Allerdings hat die Tagungin dieser Frage noch keinen Beschluß gefaßt und die Angelegenheit bis zurnächsten Tagung zurückgestellt, die nach Bekanntgabe der Bulyginschen„Verfassung" telegrafisch einberufen werden soll. Doch hat sich die Mei-nung des rechten Flügels der liberalen Demokratie schon genügend her-auskristallisiert.

Die revolutionäre Demokratie, d. h. hauptsächlich das Proletariat undseine politisch bew ußte W ortführerin, die Sozialdemokratie, ist im großen

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Der Boykott der TZulyginsdhen T)uma und der Aufstand 173

und ganzen unbedingt für den Aufstand. Diesen Unterschied in der

Taktik hat das Organ der liberal-monarchistischen Bourgeoisie, das „Os-woboshdenije", richtig erfaßt, in dessen letzter Nummer (74) einerseitsdie „offene Propagierung des bewaffneten Aufstands" als „wahnwitzigund verbrecherisch" entschieden verurteilt, anderseits aber die Idee desBoykotts als „praktisch fruchtlos" kritisiert und die Überzeugung aus-gedrückt wird, daß nicht nur die Semstwofraktion der konstitutionell-„demokratischen" (lies: monarchistischen) Partei, sondern auch der Ver-band der Verbände „ihre staatspolitische Prüfung bestehen", d. h. dieBoykottidee aufgeben werden.

Es fragt sich, wie sich die Partei des klassenbewußten Proletariats zurBoykottidee stellen und welche taktische Losung sie vor den Volksmassenin den Vordergrund rücken soll. Um diese Frage zu beantworten, mußman sich vor allem erinnern, worin das Wesen und die grundlegende Be-deutung der Bulyginschen „Verfassung" besteht. In einem Pakt des Zaris-mus mit den Gutsbesitzern und den Großbourgeois, die mittels einesharmlosen und für die Selbstherrschaft völlig unschädlichen scheinkonsti-tutionellen Almosens nach und nach von der Revolution, d. h. vom käm p-fenden Volk losgelöst und mit der Selbstherrschaft ausgesöhnt werdensollen. Da unsere ganze konstitutionell-„demokratische" Partei nach derErhaltung der Monarchie und einem Oberhaus lechzt (d. h. danach lechzt,daß in de r staatlichen Struktur des Landes die politischen Privilegien unddie politische Herrschaft der reichen „oberen Zehntausend" von vorn-herein gesichert bleiben), so unterliegt die Möglichkeit eines solchen Pak-tes keinem Zweifel. Ja noch meh r: in dieser oder jener Form, früher oderspäter, ist ein solcher Pakt wenigstens mit einem Teil der Bourgeoisieunvermeidlich, denn die Bourgeoisie wird durch ihre ganze Klassenlageim kapitalistischen System dazu gedrängt. Die Frage ist nur, wann und wiedieser Pakt zustande kommen wird, und die ganze Aufgabe der Partei

des Proletariats besteht darin, den Zeitpunkt seines Abschlusses mög-lichst hinauszuschieben, die Bourgeoisie möglichst zu spalten, aus den vor-übergehenden Appellen der Bourgeoisie an das Volk einen möglichst gro-ßen Nutzen für die Revolution zu ziehen und während dieser Zeit dieKräfte des revolutionären Volkes (des Proletariats und der Bauernschaft)auf den gewaltsamen Sturz der Selbstherrschaft und auf die Ausschaltung,die Neutralisierung der verräterischen Bourgeoisie vorzubereiten.

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In der Tat, die politische Lage der Bourgeoisie ist, wie wir schon des

öfteren betont haben, dadurch gekennzeichnet, daß die Bourgeoisie zwi-schen dem Zaren und dem Volke steht, daß sie die Rolle des ehrlichenMaklers spielen und sich hinter dem Rücken des kämpfenden Volkes dieMacht erschleichen möchte. Deshalb wendet sich die Bourgeoisie heute anden Zar en , morgen an das Volk; an jenen m it dem „ernstgemeinten, sach-lichen" Vorschlag eines politischen Geschäfts, an dieses mit leeren Phrasenüber die Freiheit (die Reden des Herrn I. Petrunkewitsch auf der Juli-tagung). Für uns ist es von Vorteil, wenn sich die Bourgeoisie an das Volkwendet, denn dadurch liefert sie Material für die politische Aufrüttelungund poli t ische Aufklärung so rückständiger und so breiter Massen, daßes einstweilen die reinste Utopie wäre, sie durch die sozialdemokratischeAgitation erfassen zu wollen. Mag die Bourgeoisie die Rückständigstenaufrütteln, mag sie den Boden stellenweise auflockern — wir werden un-ermüdlich den sozialdemokratischen Samen in diesen Boden säen. Über-all im Westen war die Bourgeoisie durch den Kampf gegen den Absolutis-mus gezwungen, das politische Bewußtsein des Volkes zu wecken, wobeisie zugleich trachtete, den Samen der bürgerlichen T heorien in der Arb ei-terklasse auszustreuen. Unsere Sache ist es, die Zerstörungsarbeit derBourgeoisie gegenüber der Selbstherrschaft ausz unutze n und die Arbeiter-

klasse unentw egt übe r ihre sozialistischen Aufgaben, üb er die unversöh n-liche Feindschaft zwischen ihren Interessen und den Interessen der Bour-geoisie aufzuklären.

Daraus geht klar hervor, daß unsere Taktik im gegenwärtigen Augen-blick erstens darin bestehen muß, die Idee des Boykotts zu unterstützen.An und für sich ist dieser Boykott eine innere Angelegenheit der bürger-lichen Demokratie. Die Arbeiteridasse ist daran nicht unmittelbar inter-essiert, aber sie ist unbedingt daran interessiert, jenen Teil der bürger-lichen Demokratie zu unterstützen, der revolutionärer ist, sie ist daran

interessiert, die politische Agitation zu erweitern und zu verschärfen. DerBoykott der Duma bedeutet einen verstärkten Appell der Bourgeoisie andas Volk, eine Entfaltung ihrer Agitation, eine Vermehrung der Gelegen-heiten für unsere Agitation und eine Vertiefung der politischen Krise, d. h.der Quelle der revolutionären Bewegung. Die Beteil igung der l iberalenBourgeoisie an der Dnma bedeutet eine Schwächung ihrer Agitation inder Gegenwart , einen Appell mehr an den Zaren als an das Volk und ein

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Näherrücken des konterrevolutionären Paktes zwischen dem Zaren undder Bourgeoisie.

Uns treitig wird die Bulyginsche Du ma , auch wenn sie nicht „gesprengt"wird, künftig selbst unvermeidlich politische Konflikte erzeugen, die dasProletariat unbedingt ausnutzen muß. Aber das ist eine Frage der Zu-kunft. Es wäre lächerlich, wollte man „geloben", diese bürgerlich-büro-kratische Duma niemals zu Zwecken der Agitation und des Kampfes aus-zunu tzen; doch darum handelt es sich jetzt nic ht Jetz t hat der linke Flügelder bürgerlichen Demokratie selbst die Frage des offenen und unmittel-baren Kampfes gegen die Du ma durch den Boykott aufgeworfen, und wirmüssen alle Anstrengungen machen, um diesen entschiedeneren Angriff

zu unterstützen. Wi r müssen die bürgerlichen Dem okraten, die Oswobosh-denzen, beim Wort nehmen. Wir müssen ihre Phrasen „ä la Petrunke-witsch" über den Appell an das Volk so weit wie möglich verbreiten undsie vor dem Volke bloßstellen, indem wir ihm zeigen, daß der erste undIdeinste praktische Prüfstein dieser Phrasen gerade die Frage war, obman die Duma boykottieren, d. h. sich mit einem Protest an das Volkwenden soll, oder ob man die Duma hinnehmen, d. h. auf den Protestverzichten, noch einmal zum Zaren gehen und sich diesen Hohn auf eineVolksvertretung gefallen lassen soll.

Ferner müssen wir, zweitens, alles daransetzen, damit der Boykottrealen Nutzen im Sinne der Erweiterung und Vertiefung der Agitationbringt und nicht auf eine einfache, passive Wahlenthaltung beschränktbleibt. Dieser Gedanke ist, wenn wir nicht irren, unter den in Rußlandwirkenden Genossen schon ziemlich weit verbreitet und wird von ihnenin die Worte gefaßt: aktiver Boykott.. Im Gegensatz zur passiven Ent-haltung muß der aktive Boykott eine verzehnfachte Agitation bedeuten,die Abhaltung von Versammlungen überall und allerorts, die Ausnutzun gder Wahlversammlungen, sei es auch dadurch, daß man gewaltsam in sie

eindringt, die Veranstaltung von Demonstrationen, politischen Streiksusw. usf. Selbstverständlich sind zum Zwecke der Agitation und desKampfes aus diesem Anlaß zeitweilige Abmachungen, mit diesen oderjenen Gruppen der revolutionären bürgerlichen Demokratie, wie sie imallgemeinen auf Grund einer Reihe von Beschlüssen unserer Partei zu-lässig sind, besonders zweckmäßig. Dabei müssen wir einerseits den Klas-sencharakter der Partei des Proletariats unentwegt wahren un d dürfen die

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sozialdemokratische Kritik an unseren bürgerlichen Verbündeten keinen

Augenblick lang aufgeben. Anderseits würden wir unsere Pflicht als Parteider fortgeschrittensten Klasse nicht erfüllen, wenn w ir es nicht verstünden,in der Agitation die im gegebenen Augenblick der demokratischen Revo-lution fortschrittlichste revolutionäre Losung aufzustellen.

Darin besteht unsere dritte unmittelbare und nächste politische Auf-gabe. „Aktiver Boykott" ist, wie bereits gesagt, Agitation, Werbung,Organisation der revolutionären Kräfte in größerem Maßstab, mit ver-doppe lter Energ ie, unte r dreifachem D ruck. Aber eine solche Arbeit ist un-denkbar ohne eine Ware, genaue und direkte Losung. Diese Losung kann

nur der bewaffnete Aufstand sein. Die Einberufung einer grob verfälsch-ten „Volksvertretung" durch die Regierung bietet ausgezeichnete Anlässezur Agitation für eine wirkliche Volksvertretung, zur Aufklärung derbreitesten Massen darüber, daß diese wirkliche Vertretung jetzt (nach alldem Betrug und all der Verhöhnung des Volkes durch den Zaren) nurvon einer provisorischen revolutionären Regierung einberufen werdenkan n, zu deren Bildung der Sieg des bewaffneten Aufstands, der faktischeSturz der Zarenmacht notwendig ist. Eine günstigere Gelegenheit zurbreiten Agitation für den Aufstand kann man sich gar nicht denken, unddiese Agitation erfordert unbedingt auch volle Klarheit über das Pro-

gramm der provisorischen revolutionären Regierung. Als ein solches Pro-gramm haben die von uns schon früher („Proletari" Nr. 7, „Revolutio-näre A rmee und revolutionäre Regierung" *) aufgestellten sechs Punktezu gelten : 1. Einberufung einer vom ganzen Volk gewählten konstituieren-den Versammlung; 2. Bewaffnung des Volkes; 3. politische Freiheit —

sofortige Aufhebung aller Gesetze, die in Widerspruch dazu stehen;

4. volle kulturelle und politische Freiheit für alle unterdrückten und nichtvollberechtigten Völkerschaften; das russische Volk kann sich die Freiheitnicht erobern, wenn es nicht für die Freiheit der anderen Völker käm pft;

5. Achtstundentag; 6. Gründung von Bauernkomitees zur Unterstützungund Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen, darunter auchder Umgestaltung der Agrarverhältnisse einschließlich der Konfiskationder Gutsbesitzerländereien.

Also: die Boykottidee energisch unterstützen; den rechten Flügel derbürgerlichen Demokratie, der dagegen ist, des Verrats überführen;

*~Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 530, russ. Die Red.

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Der Boykott der Bulyginsdien Duma und der Aufstand 177

diesen Boykott in einen aktiven verwandeln, d. h. breiteste Agitation

entfalten,- den bewaffneten Aufstand propagieren; zur sofortigen Orga-nisation von Gruppen und Abteilungen einer revolutionären Armee fürden Sturz der Selbstherrschaft und die Bildung einer provisorischen revo-lutionären Regierung aufrufen; das grundlegende und unbedingt ver-bindliche Programm dieser provisorischen revolutionären Regierung,das als Banner des Aufstands und als Vorbild bei allen zu erwartendenWiederholungen der Odessaer Ereignisse dienen muß, verbreiten underläutern.

Das muß die Taktik der Partei des klassenbewußten Proletariats sein.

Um diese Taktik völlig zu k lären und eine einheitliche Auffassung dar-über zu erzielen, müssen wir noch auf die Taktik der „Iskra" eingehen.Sie ist in Nr. 106 in dem Artikel „Verteidigung oder Angriff?" darge-legt. Ohne uns bei geringfügigen und untergeordneten Meinungsverschie-denheiten aufzuhalten, die bei den ersten Versuchen, zur Ta t zu schreiten,von selbst entfallen werden, wollen wir eine grundsätzliche Meinungs-verschiedenheit vermerken. Die „Iskra" verurteilt mit Recht den passivenBoykott, stellt ihm aber die Idee der sofortigen „Organisierung einerrevolutionären Selbstverwaltung" als „eventuellen Prolog des Aufstands"gegenüber. Nach Meinung der „Iskra" müssen wir „uns das Recht derWahlagitation durch die Gründung von Agitationskomitees der Arbeitererobern". Diese Komitees „müssen sich zum Ziel setzen, eine vom Volkvorzunehmende W ahl bevollmächtigter revolutionärer Depu tierter außer-halb jenes gesetzlichen' Rahmens zu organisieren, der durch die Regie-rungsvorlagen festgesetzt sein wird", und wir müssen „das ganze Landmit einem Netz von Organen der revolutionären Selbstverwaltung über-ziehen".

Eine solche Losung ist ganz und gar unbrauchbar. Vom Standpunkt der

politischen Aufgaben überhaupt ist sie ein heilloser Wirrwarr, und vomStandpunkt der jetzigen politischen Lage leitet sie Wasser auf die Mühledes Oswoboshdenzentums. Die Organisierung der revolutionären Selbst-verwaltung und der Wahl von Volksbeauftragten ist nicht der Prolog,sondern der Epilog des Aufstands. Diese Organisierung jetzt, vor demAufstand, ohne Zusammenhang mit dem A ufstand, verwirklichen zu wol-len, das heißt sich ein sinnloses Ziel setzen und in das Bewußtsein desrevolutionären Proletariats Verwirrung hineintragen. Man muß zuerst im

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Aufstand (wenn auch nur in einer einzelnen Stadt) siegen und eine provi-

sorische revolutionäre Regierung bilden, damit diese als Organ des Auf-stands, als anerkannte Führerin des revolutionären Volkes die Organi-sierung der revolutionären Selbstverwaltung in Angriff nehmen kann . DieLosung des Aufstands durch die Losung der Organisierung einer revolu-tionären Selbstverwaltung ersetzen oder auch nur verdrängen zu wollen,kommt etwa dem Ratschlag gleich, eine Fliege zu fangen und sie dannmit Fliegenpulver zu bestreuen. Hätte man den Odessaer Genossen in dendenkwürdigen Odessaer Tagen geraten, als Prolog zum Aufstand nichteine revolutionäre Arm ee, sondern die Wa hl von Volksbeauftragten durch

das Odessaer Volk zu organisieren, so hätten die Odessaer G enossen einensolchen Vorschlag natürlich verlacht. Die „Iskra" wiederholt den Fehlerder Ökonomisten, die „im Kampf für Rechte" einen Prolog zum Kampfgegen die Selbstherrschaft sehen wollten. Die „Iskra" kehrt zu den Fehl-schlüssen des unglückseligen „Plans der Semstwokampagne" zurück, derdie Losung des Aufstands durch die Theorie eines „höheren Demonstra-tionstypus" ersetzen wollte.

Es ist hier nicht der Ort, dem Ursprung dieses taktischen Fehlers der„Iskra" nachzugehen; wir verweisen alle, die sich dafür interessieren, auf

die Broschüre N. Lenins „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in derdemokratischen Revolution". Wichtiger ist hier zu erklären, wie es kommt,daß die Losung der Neuiskristen auf die Losung der Oswoboshdenzenhinausläuft. In der Praxis werden die Versuche, vor dem Sieg des Auf-stands die Wahl von Volksbeauftragten zu organisieren, den Oswobosh-denzen höchst gelegen kommen und dahin ausarten, da ß die Sozialdemo-kraten ins Schlepptau dieser Leute geraten. Die Selbstherrschaft wird,solange sie nicht durch eine provisorische revolutionäre Regierung ersetztist, den Arbeitern und dem Volk niemals gestatten, Wahlen vorzunehmen,die einigermaßen die Bezeichnung Volkswahlen verdienen (und auf dieKomödie von „Volks"wahlen unter der Selbstherrschaft wird sich dieSozialdemokratie nicht einlassen); aber die Oswoboshdenzen, die Ver-treter der Semstwos und Städte werden Wahlen vornehmen und sie un-geniert für „Volks"wählen, für eine „revolutionäre Selbstverwaltung"ausgeben. Die ganze Position der liberal-monarchistischen Bourgeoisie be-steht jetzt darin, daß sie versucht, den Aufstand zu vermeiden, die Selbst-herrschaft zu zwingen, die Semstwowahlen ohne den Sieg des Volkes über

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Der Boykott der TZulyginsdben Duma und der Aufstand 179

den Zarismus als Volkswahlen anzuerkennen und die Selbstverwaltung

der Semstwos und Städte ohne wirkliche Revolution für eine „revolutio-näre" (im Sinne von Petrunkewitsch) „Selbstverwaltung" auszugeben.In Nr . 74 des „Oswoboshdenije" kommt diese Position unübertrefflichzum Ausdruck. M an kann sich schwerlich etwas Widerwärtigeres vorstel-len als diesen Ideologen der feigen Bourgeoisie, der beteuert, daß die Pro-paganda des Aufstands sowohl die Armee als auch das Volk „demorali-siert" ! Das wird z.u einer Zeit gesagt, wo selbst ein Blinder sieht, daß derKleinbürger und der Soldat Rußlands sich nur durch den Aufstand vorder endgültigen Demoralisierung retten und beweisen können, daß siedas Recht haben, Staatsbürger zu sein! Der bürgerliche Manilow maltsich die arkadische Idylle aus, wie die Regierung einzig und allein unterdem Drude der „öffentlichen Meinung gezwungen sein wird, immer neueZugeständnisse zu machen, bis sie schließlich nicht mehr weiter kann undgenötigt ist, die Macht an eine auf Grund des allgemeinen, gleichen,direkten und geheimen Stimmrechts gewählte konstituierende Versamm-lung abzutreten, wie das die Gesellschaft fordert" ... (! mit einem Ober-haus?). „In diesem friedlichen (!!) Übergang der Macht von der jetzigenRegierung auf eine vom ganzen Volk gewählte konstituierende Versamm-lung, welche die Staats- und Regierungsgewalt auf neuen Grundlagen

organisiert, liegt absolut nichts Unwahrscheinliches." Und diese genialePhilosophie der kriecherischen Bourgeoisie wird durch den Ratschlag er-gänzt, die Arm ee, insbesondere die Offiziere, für sich zu gewinnen, „eigen-mächtig" Volksmilizen zu gründen und Organe der örtlichen Selbstver-waltung (lies: der Gutsbesitzer und Kapitalisten) als „Elemente der künf-tigen provisorischen Regierung" ins Leben zu rufen.

In diesem Wirrwarr steckt ein Sinn. Die Bourgeoisie möchte nämlichnichts anderes, als daß die Macht „friedlich", ohne Volksaufstand, aufsie übergeht; denn der Aufstand könnte am Ende gar siegen, die Republikund die wirkliche Freiheit erringen, das Proletariat bewaffnen und dieMillionen Bauern aufrütteln. Die Losung des Aufstands verschwindenlassen, um ihn herumreden und ihn den anderen ausreden, die sofortigeOrganisierung einer Selbstverwaltung (die nur den Trubezkoi, Petrunke-witsch, Fjodorow und Co. zugänglich wäre) als „Prolog" anraten — dasist es gerade, was für den bürgerlichen Verrat an der Revolution, für denPakt mit dem Zaren (Monarchie und Oberhaus) gegen den „Pöbel" not-

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wendig ist. Die liberale Manilowerei verrät somit die geheimsten Gedan-

ken und die tiefsten Interessen des Geldsacks.Die sozialdemokratische Manilowerei der „Iskra" offenbart lediglich

den Unverstand eines Teils der Sozialdemokraten und ihre Abweichungvon der einzigen revolutionären Taktik des Proletariats: erbarmungslosdie bürgerlich-opportunistischen Illusionen anzuprangern, daß friedlicheZugeständnisse des Zarismus möglich seien, daß eine Selbstverwaltungohne Sturz der Selbstherrschaft verwirklicht werden könne und daß W ah-len von Volksbeauftragten als Prolog zum Aufstand möglich seien. Nein,wir müssen klar und entschlossen die Notwendigkeit des Aufstands in

der heutigen Situation nachweisen, direkt zum Aufstand aufrufen (ohnenatürlich im voraus seinen Zeitpunkt festzulegen) und zur sofortigenOrganisierung einer revolutionären Armee auffordern. Nur die kühnste,breiteste Organisierung einer solchen Armee kann der Prolog zum Auf-stand sein. Nur der Aufstand kann tatsächlich den Sieg der Revolutionsichern, wobei natürlich der mit den örtlichen Verhältnissen Vertrautestets vor verfrühten Aufstandsversuchen warnen wird. Die wirklicheOrganisierung einer wirklich vom Volk getragenen wirklichen Selbstver-waltung aber kann nur der Epilog des siegreichen Aufstands sein.

„Troktari" 3Vr. i2, N adj dem 7ext des „Proletari".i6. (3.) August 1905.

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B E M E R K U N G Z U R R E S O L U T I O N D E R K O N F E R E N Z

D ER A U S L A N D S O R G A N I S A T I O N E N D ER S D A PR 6 5

Wie energisch das Zentralkomitee der SDAPR die Einheit der Parteianstrebt, ist aus dem offenen Brief an die Organisationskommission er-sichtlich, der in der vorliegenden Nummer veröffendicht ist. Wir erinnernnur daran, daß für die Vereinigung eine allgemeine organisatorische Basisnotwendig ist. Eine solche liegt unseres Wissens bisher nur in, Form desStatuts der SDAPR vor, das auf dem dritten Parteitag angenommenwurde und die gesetzlichen Rechte der Minderheit vollauf garantiert.

„Troktari" 5Vr. 12, Haäo&em 7ext des „ProletarV'.

16. C3j August 1905.

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ANMERKUNG ZU M. N. POKROWSKIS ARTIKEL„DIE BERUFSTÄTIGE INTELLIGENZ UND DIE

SOZIALDEMOKRATEN"

Uns scheint, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen dem Verfasserdes Artikels „Die Oswoboshdenzen an der Arbeit" und dem Genossen„Utschitel" 66 unbedeutender ist, als dieser glaubt. Wer längere Zeit ander revolutionären Bewegung teilnimmt, gewöhnt sich an den politischenKampf der Richtungen, eignet sich selbst bestimmte Ansichten an undneigt natürlich dazu, auch bei anderen bestimmte Ansichten vorauszu-setzen und sie auf Grund dieser oder jener Meinung (oder des Fehlenseiner Meinung) in einer Einzelfrage zu der einen oder anderen „Partei"

zu rechnen. Unstreitig ist es für den Agitator in Volksversammlungennützlich, wenn er außer „politischen" auch „pädagogische" Gesichtspunkteberücksichtigt, sich in die Lage seiner Zuhörer versetzt, mehr erklärt als„wettert" usw. Extreme sind immer von Übel, aber hätten wir zu wählen,so zögen wir die enge und unduldsame Bestimmtheit der weichen undnachgiebigen Verschwommenheit vor. Die Furcht vor der „Tyrannei"wird nur schlappe und knochenweiche N aturen von uns abstoßen. In wemder „Funke" glüht, der wird bald selber sehen, und das Leben wird ihmzeigen, daß d ie bestimmten und scharfen politischen Äußerungen über den„mythischen Oswoboshdenzen" durchaus gerechtfertigt sind und daß erdiesen typischen Oswoboshdenzen nur aus Mangel an politischer Erfah-rung als „mythisch" betrachtet hat. Der Genosse „Utschitel", dessen Hin-weise angesichts seiner Kenntnis des Milieus sehr nützlich sind, vermerktselbst die Schnelligkeit, mit der „bittere W ahrheiten verdaut" w erden.

„Vroletari" 5Vr. 13, Tiaä) dem 7 ext des „Proletari".22. (9j August 1905.

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ANTWORT DER REDAKTION DES „PROLETARI"AUF FRAGEN EINES GENOSSEN „ARBEITER"67

Von der Redaktion. Wir antworten auf die Fragen des Genossen: 1. Ja,bis zur Einberufung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierendenVersammlung sowohl leiten als auch verwalten; 2 . dann, wenn diese Teil-

nahme die Möglichkeit sichert, „alle konterrevolutionären Anschläge scho-nungslos zu bekämpfen und die selbständigen Interessen der Arbeiter-klasse zu wahren" (aus der Resolution des III.Par teitags) ; 3 . in der Reso-lution des III. Parteitags über den Aufstand ist direkt gesagt, daß man„dem Proletariat durch Propaganda und Agitation nidbt nur die politischeBedeutung, sondern audh die praktisch-organisatorische Seite des bevor-stehenden bewaffneten Aufstands klarzumachen" hat. Das heißt: manmuß das Bewußtsein der Massen entwickeln, ihnen die politische Bedeu-tung des Aufstands erldären. Aber das genügt nicht. Man muß außerdem

die Massen zum bewaffneten Kampf aufrufen und sofort damit beginnen,sich zu bewaffnen und Abteilungen der revolutionären Armee zu bilden.Weiter müssen wir dem Verfasser des Briefes sagen, daß den Erläuterun-gen zu den Resolutionen des Parteitags und der Konferenz über die pro-visorische revolutionäre Regierung eine ganze Broschüre N . Lenins ge-widmet ist: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischenRevolution". Zur Spaltung schließlich wäre zu sagen, daß die Empörungdes Verfassers vollauf berechtigt ist. Wir raten ihm, sich für die allge-meine Anerkennung der einheitlichen Regeln der Parteiorganisation ein-zusetzen, ohne sich von intelligenzlerischem Wehgeschrei über die Faust

von oben oder über die Faust von unten verwirren zu lassen; und zwarsoll er sich dafür nicht heimlich, nicht durch Intrigen, nicht durch dieGründung neuer Gruppen oder einer neuen Partei einsetzen, sondernoffen, direkt, im Rahmen einer Organisation der SDAPR.

„Troletari" 5Vr. 13, JVadj dem 7ext des „Prdletari"22. O J August 1905.

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„DIE EIN H EI T DES ZAREN M IT DEM VOLKUND DES VOLKES MIT DEM ZAREN"

In Nr. 12 des „Proletari", erschienen am 3. (16.) August, sprachen wirvon der Möglichkeit, daß bald eine Bulyginsche Duma einberufen wird,und untersuchten die Taktik der Sozialdemokratie ihr gegenüber.* Jetztist das Bulyginsche Projekt zum Gesetz geworden, und das Manifest vom6. (19.) August verkündet die Einberufung der „Reichsduma" „spätestensbis Mit te Januar 1906".

Ausgerechnet zum Jahrestag des 9. Jan ua r, an dem die P etersburgerArbeiter den Beginn der Revolution in Rußland und ihre Entschlossenheit,sich für den Sieg der Revolution unerschrocken zu schlagen, mit ihremBlut besiegelt haben — ausgerechnet zum Jahrestag dieses großen Ereig-nisses schickt der Zar sich an, die aufs gröblichste verfälschte, von derPolizei sorgfältig gesiebte Versammlung von Gutsbesitzern, Kapitalistenund einer nichtigen Zahl vor der Obrigkeit katzbuckelnder reicher Bauerneinzuberufen. Mit dieser Versammlung beabsichtigt der Zar, sich zu be-raten, wie mit einer Versammlung von Vertretern des „Volkes". Dabeiwerden die ganze Arbeiterklasse und all die Mill ionen Werktätiger, diekeine selbständige Wirtschaft haben, zu keinerlei Beteiligung an der Wahlder „Volksvertreter" zugelassen. Nun, wir werden ja sehen, ob diese

zarist ische Spekulation auf die Ohnmacht der Arbeiterklasse begrün-d e t i s t . . .

Solange das revolutionäre Proletariat sich nicht bewaffnet und über dieabsolutistische Regierung gesiegt hatte, konnte man ja auch nichts andereserwarten als dieses Almosen für die Großbourgeoisie, das den Zarennichts kostet und ihn zu nichts verpflichtet. Und selbst dieses Gnaden-

* Siehe den vorliegenden Band, S. 172—180. Die Red.

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„Die Einheit des Zaren m it dem Volk und des Volkes mit dem Zaren" 185.

geschenk hätte man im gegenwärtigen Augenblick wohl nicht gewährt,

wäre die Frage Krieg oder Frieden nicht drohend nähergerückt. Ohne sichmit den Gutsbesitzern und Kapitalisten beraten zu haben, entschließt sichdie absolutistische Regierung weder dazu, dem Volk die Lasten der wahn-witzigen Fortsetzung des Krieges aufzubürden, noch dazu, Maßnahmenzu treffen, durch welche die ganze Last der Kriegskosten in vollem Um-fang von den Schultern der Reichen auf die Schultern der Arbeiter undBauern abgewälzt wird.

Was den Inhalt des Gesetzes über die Reichsduma anbelangt, so hater die schlimmsten Erwartungen voll bestätigt. Man weiß nicht, ob diese

Duma jemals wirklich einberufen wird, denn es ist nicht schwer, derartigeGnadengeschenke zurückzunehmen, und ähnliche Versprechungen habendie absoluten Monarchen jedes Landes schon dutzendweise gegeben undgebrochen. Man weiß noch nicht, inwieweit diese künftige Duma, fallssie zusammentritt und nicht vereitelt wird, zum Mittelpunkt einer wirk-lich breiten politischen Agitation in den Volksmassen gegen die Selbst-herrschaft werden kann. Daß aber schon allein der Inhalt des neuen Ge-setzes über die Reichsduma für unsere Agitation, für die Erläuterung desWesens der Selbstherrschaft, für die Bloßlegung seiner Klassengrund-

lage, für die Aufdeckung der ganzen Unversöhnlichkeit seiner Interessenmit denen des Volkes und für die Verbreitung und Popularisierung un-serer, der revolutionär-demokratischen Forderungen überreiches Materialliefert, unterliegt nidit dem geringsten Zweifel. Man darf ohne Über-treibung sagen, daß das Manifest und das Gesetz vom 6. (19.) Augustjetzt zum Handbuch für jeden politischen Agitator, für jeden klassen-bewußten Arbeiter werden müssen, denn sie sind wirklich ein „Spiegel"aller Gemeinheiten und Schändlichkeiten, alles Asiatentums, aller Ver-gewaltigung und Ausbeutung, die Rußlands ganze soziale und politischeOrdnung durchdringen. Fast jeder Satz dieses Manifests und dieses Ge-setzes bietet eine fertige Grundlage für höchst inhaltsreiche und gehalt-volle politische Kommentare, die das demokratische Denken und das revo-lutionäre Bewußtsein wecken.

Es gibt ein Sprichwort: W enn man im Dreck wühlt, dann stinkt er. Liestman das Manifest und das Gesetz über die Reichsduma, so hat man dasGefühl, als werde vor deiner Nase ein Haufen Dreck aufgewühlt, der sichseit unvordenklichen Zeiten angehäuft hat.

13 Lenin, Werk e, Bd. 9

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Die Selbstherrschaft hat sich durch die jahrhundertelange Unterdrük-

kung des werktätigen Volkes, infolge seiner Unwissenheit und Geduckt-heit, infolge der Stagnation der ökonomischen und jeder anderen Kulturgehalten. Auf dieser Grundlage konnte die Lehre von der „unzertrenn-lichen Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren",die Lehre, daß die autokratische Macht des Zaren über allen Ständen undKlassen des Volkes, über der Teilung in Arme und Reiche stehe und daßsie die allgemeinen Interessen des gesamten Volkes zum Ausdruck bringe,ungehindert wachsen und heuchlerisch verbreitet werden. Und jetzt sindwir Zeugen des Versuchs, diese „Einheit" in der schüchternsten, embryo-

nalsten Form, in Gestalt einer einfachen 'Beratung mit den „Erwähltenaus dem ganzen russischen Lande" praktisch zu demonstrieren. Und waszeigt sich? Es stellt sich sofort heraus, daß die „Einheit des Zaren mit demVolk" nur möglich ist mit Hilfe einer Armee von Beamten und Polizisten,die über die Haltbarkeit des dem Volke angelegten Maulkorbs wachen.Für die „Einheit" ist erforderlich, daß das Volk den Mund nicht aufzu-machen wagt. Als „Volk" gelten nur die Gutsbesitzer und Kapitalisten,die zu zweistufigen Wahlen zugelassen werden (sie wählen zunächst inden Landkreisen oder Stadtbezirken Wahlmänner, und erst diese wählen

die Mitglieder der Reichsduma). Die bäuerlichen "Hofbesitzer zählen erstzum Volk, wenn sie unter Aufsicht, Mitwirkung und Belehrung der Adels-marschälle, Landeshauptleute und Polizeibeamten durch ein vierstufigesWahlsystem gesiebt worden sind. Zuerst wählen.die Hofbesitzer die Mit-glieder der Amtsbezirksversammlungen. Dann wählen die Amtsbezirks-versammlungen Vertreter der Amtsbezirke, zwei von jeder Versammlung.Diese Vertreter der Amtsbezirke wählen nun die Gouvernementswahl-männer. Und schließlich wählen diese Gouvernementswahlmänner derBauern zusammen mit den Gouvernementswahlmännern der Gutsbesitzerund Kapitalisten (Städter) die Mitglieder der Reichsduma! In der Ge-samtzahl der Gouvernementswahlmänner bilden die Bauern fast überalldie Minderheit. Von jedem Gouvernement ist ihnen nur ein unbedingtunter den Bauern zu wählendes Mitglied der Reichsduma gesichert, also51 Sitze von 412 (in den 51 Gouvernements des Europäischen Rußland s).

Die gesamte städtische Arbeiterklasse, die gesamte T)orfarmut, dieLandarbeiter und die Bauern ohne selbständige "Wirtschaft nehmen über-haupt an keinerlei Wahl teil.

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„Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren" 187

Die Einheit des Zaren mit dem Volk ist die Einheit des Zaren mit

den Gutsbesitzern und Kapitalisten, ergänzt durch eine Handvoll reicherBauern, wobei alle Wahlen strengster Polizeikontrolle unterstehen. Esist keine Rede von W ort- , P resse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit,ohne sie aber sind W ahlen die reinste Komödie.

Die Reichsduma besitzt absolut keine Rechte, denn alle ihre Beschlüssehaben nicht verbindlichen, sondern lediglich beratenden Charakter. Alleihre Beschlüsse kommen in den Reichsrat, d. h. unterliegen der Durchsichtund Genehmigung durch die Beamten. Die Duma ist nur ein Zierat desBeamten- und Polizeiapparats. Von den Sitzungen der Reichsduma ist die

Öffentlichkeit ausgeschlossen. Presseberichte über die Sitzungen der Reichs-duma werden nur dann zugelassen, wenn die Sitzungen nicht für geschlos-sen erklärt werden, das aber kann durch eine bloße bürokratische Ver-fügung geschehen, d. h. durch eine Erklärung des Ministers, daß die zubehandelnde Frage Staatsgeheimnis ist.

Die neue Reichsduma ist das alte russische Polizeirevier in erweiterterForm. Der reiche Gutsbesitzer und der kapitalistische Unternehmer (sel-ten ein reicher Bauer) werden zur „Beratung" in eine „öffentliche" Ver-handlung des Polizeireviers (oder des Landeshauptmanns oder eines Fa-

brikinspektors usw.) zugelassen. Sie haben jederzeit das Recht, ihre Mei-nung Seiner Majestät dem Kaiser... Verzeihung: dem Revierinspektorzur „wohlwollenden Prüfung" zu unterbreiten. Der „Pöbel" aber — dieArbeiter in den Städten und die Habenichtse auf dem Lande — wird selbst-verständlich niemals zu irgendwelchen „Beratungen" zugelassen.

Der Unterschied ist nur der, daß es viele Polizeireviere gibt und daßaus ihnen nichts ans Tageslicht dringt. Hingegen gibt es nur eine Reichs-duma, und so mußte man jetzt die Wahlordnung und die Grenzen ihrerRechte wohl oder übel bekanntgeben. Diese Veröffentlichung allein istschon, wir wiederholen es, eine vortreffliche Bloßstellung der ganzen N ie-dertracht der zaristischen Selbstherrschaft.

Vom Standpunkt der Volksinteressen ist die Reichsduma der frechsteHohn auf eine „Volksvertretung". Und als wollte man diesem H ohn nochmehr Nachdruck verleihen, kommen solche Tatsachen hinzu wie die Rededes Herrn D urnowo, die Verhaftung der Herren Miljukow und C o. unddie Herausforderung des Herrn Sdiarapow. Der neue Moskauer General-gouverneur Durnowo, der von der realctionären Presse begeistert begrüßt

13*

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wurde, plauderte in seiner Rede die wahren Pläne der Regierung aus, die

zugleich mit dem Manifest und dem Gesetz über die Reichsduma vom6. August an demselben 6. August einen Ukas üb er die Aufhebung desam 18. Februar 1905 herausgegebenen „Ukases an den Senat" erließ.Der Ukas vom 18. Februar gestattete Privatpersonen, Ansichten und Mei-nungen in Fragen der Staatswohlfahrt auszuarbeiten. Auf diesen Ukasgestützt, veranstalteten die Semstwoleute und die Vertreter der Intelligenzvon der Polizei geduldete Versammlungen, Beratungen und Tagungen.Jetzt ist dieser Ukas aufgehoben. Jetzt müssen alle „Ansichten und Mei-nungen in Fragen der Staatswohlfahrt" der absolutistischen Regierung

„auf dem im Grundgesetz über die Reichsduma vorgeschriebenem Wegzugehen"! Das bedeutet das Ende der Agitation, das Ende der Versamm-lungen und Tagungen. Es gibt eine Reichsduma, und damit Schluß. Genaudas sagte Herr Durnowo, als er erklärte, daß Semstwotagungen künftignicht mehr geduldet würden.

Die Liberalen in unserer „konstitutionell-demokratischen" (lies: mon-archistischen) Partei sind wieder einmal übertölpelt worden. Sie hattenmit einer Verfassung gerechnet, jetzt aber hat man ihnen anläßlich einer„huldvoll gewährten" Institution, die ein Hohn auf jede Verfassung ist,

jede konstitutionelle Agitation verboten!Und Herr Scharapow verplappert sich noch mehr. In seiner von derRegierung subventionierten Zeitung („Russkoje Delo" [Die russischeSache]) rät er offen, in dem Palast, in dem die Duma tagen wird, Kosakenbereitzuhalten... für den Fall „unangebrachter" Ausfälle dieser Duma.Um der Einheit des Zaren mit dem Volke willen müssen die Vertreter desVolkes so sprechen und handeln, wie der Zar es wünscht. Sonst werdendie Kosaken die Duma auseinanderjagen. Sonst können die Mitglieder derDuma auch ohne Kosaken verhaftet werden, sogar schon bevor sie in dieDuma gelangen. Sonnabend, den 6. August, erschien das Manifest über dieEinheit des Zaren mit dem Volk. Sonntag, den 7. August, wurde ein Füh-rer des gemäßigten Flügels der Oswoboshdenzen oder der „konstitutio-nell-demokratischen" (lies: monarchistischen) Partei, Herr Miljukow, miteinem Du tzend seiner politischen Freunde bei P etersburg verhaftet. M anwill sie wegen ihrer Teilnahme am „Verband der Verbände" gerichtlichbelangen. Wahrscheinlich wird man sie bald freilassen, aber die Pfortender Duma kann man leicht vor ihnen schließen: Man braucht nur zu

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„T>ie Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren" 189

erklären, daß eine „Voruntersuchung oder ein Gerichtsverfahren" gegen

sie schwebt!...Das russische Volk erhält die ersten kleinen Lektionen im Konstitutio-

nalismus. Alle Gesetze über die Wahl von Volksvertretern sind keinenroten Heller wert, solange die Herrschaft des Volkes, die volle Rede-,Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit nicht fäktisdo erkämpftist, solange die Bürger nicht bewaffnet sind, wodurch die Unantastbarkeitder Person gewährleistet werden könnte. Wir sagten oben, daß die Reichs-duma ein Hohn auf jede Volksvertretung ist. Vom Gesichtspunkt derTheorie der Volksberrsdbaft ist dem zweifellos so. Diese Theorie wird

aber weder von der absolutistischen Regierung noch von der monarchi-stischen liberalen Bourgeoisie (den Oswoboshdenzen oder der konstitu-tionell-monarchistischen Partei) anerkannt. Wir haben im heutigen Ruß-land drei politische Theorien, über deren Bedeutung wir noch des öfterensprechen werden. 1. Die Theorie der Beratung des Zaren mit dem Volk(oder der „Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit demZaren", wie das Manifest vom 6.August sagt). 2. Die Theorie der Ver-einbarung des Zaren mit dem Volk (das Programm der Oswoboshdenzenund der Semstwotagungen). 3. Die Theorie der Volksherrsdbaft (das P ro-

gramm der Sozialdemokratie wie auch der revolutionären Demokratieüberhaupt).

Vom Gesichtspunkt der Theorie der Beratung ist es ganz selbstver-ständlich, daß der Za r Beratungen nur m it Leuten abhä lt, die ihm genehmsind, und nur in Formen, die er wünscht. Und mit wem und wie sich derZar bera ten will, das zeigt die Reichsduma mit unübertroffener Anschau-lichkeit. Vom Gesichtspunkt der Theorie der Vereinbarung ist der Zardem Willen des Volkes nicht untergeordnet, sondern hat ihn nur zu be-rücksichtigen. Aber wie er ihn berücksichtigt, in welchen Grenzen er ihn

berücksichtigen soll, das geht aus der „Vereinbarungs"theorie der Oswo-boshdenzen nicht hervor. Und solange sich die reale Macht in den H ändendes Zaren befindet, ist die „Oswoboshdenzen"-Bourgeoisie unweigerlidizur kläglichen Rolle eines Bittstellers oder eines Maklers verurteilt, der dieSiege des Volkes gegen das Volk ausnutzen möchte. Vom Standpunkt derWerrscba/t des Volkes ist es notwendig, zuerst tatsächlich die volle Agita-tions- und W ahlfreiheit zu sichern und dann eine wirklich vom ganzenVolk gewählte konstituierende Versammlung einzuberufen, d. h. eine

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solche, die durch allgemeine, direkte, gleiche und geheime Abstimmung

gewählt wäre, die ganze Macht, die volle, einheitliche und ungeteilteMacht in der Hand hätte und wirklich die Herrschaft des Volkes zumAusdruck brächte.

Damit kommen wir zu unserer Agitationslosung (zur Losung derSDA PR) hinsichtlich der Reichsduma. We r kan n in Wirklichkeit die W ahl-freiheit und die Machtvollkommenheit der konstituierenden Versammlunggewährleisten? Nur das bewaffnete Volk, das sich zu einer revolutionä-ren Armee organisiert, alles Lebendige und Ehrliche aus der zaristischenArmee auf seine Seite gezogen, die zaristischen Kräfte besiegt und die

zaristische absolutistische Regierung durch eine provisorische revolutionäreRegierung ersetzt hat. Die Einrichtung der Reichsduma, die einerseits dasVolk mit dem Gedanken einer auf dem Vertretungssystem beruhendenRegierungsform „anlockt", anderseits aber die gröbste Fälschung einerVolksvertretung darstellt, wird eine unerschöpfliche Quelle für die brei-teste revolutionäre Agitation unter den Massen sein und als ausgezeich-neter Anlaß zur Veranstaltung von Versammlungen, Demonstrationen,politischen Streiks usw. dienen. Die Losung dieser ganzen Agitation wirdlauten: bewaffneter Aufstand, sofortige Bildung von Gruppen und Ab-

teilungen der revolutionären Armee, Sturz der zaristischen Regierung undErrichtung einer provisorischen revolutionären Regierung zwecks Einbe-rufung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlung.Die Festsetzung des Zeitpunkts für den Aufstand hängt selbstverständlichvon den örtlichen Bedingungen ab. Wir können nur sagen, daß es im all-gemeinen für das revolutionäre Proletariat jetzt vorteilhaft ist, den Zeit-pun kt des Aufstands etwas hinauszuschieben: die Bewaffnung der A rbeiterschreitet allmählich vorwärts, die Stimmung der Truppen wird immer un-zuverlässiger, die Kriegskrise steht am Vorabend ihrer Lösung (Kriegoder ein drückender Frieden). Verfrühte Aufstandsversuche können beieiner solchen Sachlage enormen Schaden bringen.

Zum Schluß bleibt uns noch übrig, die oben skizzierte taktische Losungden anderen Losungen kurz gegenüberzustellen. Wie wir schon in Nr. 12des „Proletari" gezeigt haben, entspricht unsere Losung dem, was dieMehrheit der in Rußland tätigen Genossen unter „aktivem Boykott" ver-steht. Die Taktik der „Iskra", die in Nr. 106 als einen möglichen Prologzum Aufstand die sofortige Organisierung einer revolutionären Selbst-

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„Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren" 191

Verwaltung und die W ahl von Volksbeauftragten empfohlen h at, ist völlig

falsch. Solange die Kräfte für den bewaffneten Aufstand und seinen Siegnoch nicht ausreichen, ist es lächerlich, von einer revolutionären Selbst-verwaltung des Volkes auch nur zu sprechen. Diese ist nicht der Prolog,sondern der Epilog des Aufstands. Eine solche falsche Taktik würde nurder „Oswoboshdenzen"-Bourgeoisie in die Hände arbeiten, erstens, weilsie durch die Losung der Organisierung einer revolutionären Selbstver-waltung die Losung des Aufstands ersetzen oder verdrängen will, undzweitens, weil sie es den liberalen Bourgeois erleichtern würde, ihre(Semstwo- und städtischen) Wahlen als Volkswahlen auszugeben, dennVolkswahlen sind unmöglich, solange die Macht in den Händen desZaren verbleibt, während Semstwo- und städtische Wahlen denLiberalen trotz aller Drohungen des Herrn Durnowo immerhin nochgelingen können.

Das Proletariat ist von den Dumawahlen ausgeschlossen. Das Proleta-riat kann die Duma eigentlich nicht boykottieren, denn diese zaristischeDum a boykottiert ja das Proletariat schon selbst durch ihre Beschaffenheit.Aber für das Proletariat ist es vorteilhaft, jenen Teil der bürgerlichen De-mokratie zu unterstützen, der nicht zum M arkten und Feilschen, sondernzum revolutionären Vorgehen, zum Boykott der Duma und zur verstärk-ten Agitation unter dem Volk für den Protest gegen diese Duma neigt.Das Proletariat darf nicht stillschweigend zusehen, wie die bürgerlicheDemokratie ihren ersten Verrat oder ihre erste Inkonsequenzdadurch be-geht, daß ihre Vertreter vom Boykott der Duma sprechen (für den Boykottsprach sich bei der ursprünglichen Abstimmung sogar die Mehrheit derSemstwotagung im Juli aus) und deklamatorisch erklären, sie würden sichan das Volk und nicht an den Zaren wenden (Herr I. Petrunkewitsch aufeben dieser Tagung), während sie in Wirklichkeit bereit sind, diesen neuenHohn auf die Volksforderungen ohne einen Protest im wahren Sinne des

W ortes, ohne eine breite Agitation hinzunehmen, den Gedanken des Boy-kotts über Bord zu werfen und in die Duma zu gehen. Das Proletariat darfjene verlogenen Phrasen, mit denen jetzt die Artikel in der legalen libe-ralen Presse gespickt sind (siehe z. B. „Rus" [Rußland] vom 7. August),die sich in den Kampf gegen die Boykottidee gestürzt hat, nicht unwider-legt lassen. Die Herren liberalen Zeitungsschreiber demoralisieren dasVolk durch ihre Versicherungen, daß es .einen friedlichen Weg, einen

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192 W. 1. Lenin

„friedlichen M einungskam pf" geben könne (w arum , meine He rre n, konn te

denn Miljukow nicht „friedlich" mit Scharapow kämpfen, he?). Die Her-ren l iberalen Zeitungsschreiber betrüge n das Volk, we nn sie erklären, d aßdie Semstwoleute „die zweifellos zu erwartende Beeinflussung der Bauern-wähler durch die Landeshauptleute und überhaupt durch die lokalen Be-hörden in einem gewissen Ausmaß (!) paralysieren (!!) können". („Rus",ebenda.) Die l iberalen Zeitungsschreiber verfälschen völl ig die Bedeu-tung der Reichsduma für den Gang der russischen Revolution, wenn siediese Duma mit der preußischen Kammer der Epoche des Budgetkon-fliktes mit Bismarck (1863) vergleichen. Will man schon einen Vergleich

ziehen, so darf man als Beispiel nicht die konstitutionelle Epoche, sondernmuß die Epoche des Verfassungskampfes, des Beginns der Revolution her-anziehen. Anders vorgehen hieße einen Sprung machen von der Epocheder revolutionären Bourgeoisie zur Epoche der mit der Reaktion aus-gesöhnten Bourgeoisie. (Vergleiche Nr. 5 des „Proletari" über die Paral-lele zwischen unseren Herren Petrunkewitsch und dem „ehemaligen Revo-lutionär" und nachmaligen Minister Andrassy*.) Die Reichsduma er-innert an den preußischen „Vereinigten La nd tag ", der am 3. Februar iS.il,ein Jahr vor der Revolution, geschaffen wurde. Die preußischen Li-beralen schickten sich damals auch an, rafften sich aber nicht dazu auf, diese

beratende Größgrundbesi tzerkammer zu boykot t ieren, und fragten dasVolk: „Annehmen oder Ablehnen?"** (So lautete der Ti tel einer Bro-schüre des bürgerlichen Liberalen Heinrich Simon, die 1847 erschien.) Derpreußische Vereinigte Landtag versammelte sich (die erste Session wurdeam 11 . Ap ril 1847 eröffnet u nd am 26 . Jun i 184 7 geschlossen) un d führtezu einer Reihe von Konflikten zwischen den Konstitutionalisten und derabsolutistischen Staatsmacht, blieb aber trotzdem solange eine totgeboreneEinrichtung, bis das revolutionäre Volk, dien voran das Proletariat 'Berlins,die königlichen Truppen im Aufstand vom iS.März i848 besiegte. Da

ging die Reichsduma... vielmehr der preußische Vereinigte Landtag zumTeufel. Da wurde (leider nicht durch eine revolutionäre Regierung, son-dern durch den König, dem die heldenhaften Arbeiter Berlins nicht „denGaraus gemacht" hatten) eine Nationalversammlung auf Grund des all-gemeinen Wah lrechts bei relativer Ag itationsfreiheit einberufen.

*~Siehe W erk e, 4. Ausgab e, Bd. 8, S. 491—495, russ. Die Red.** „Annehmen oder Ablehnen?" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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„Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren" 193

Mögen die bürgerlichen Verräter der Revolution in diese totgeborene

Reichsduma gehen. Das russische Proletariat aber wird sich an die ver-stärkte Agitation und die Vorbereitung unseres russischen 18. März 1848(oder besser des 10. August 1792) machen.

„Pro tetari" 'Nr. U, Na dj dem Jext des „Proletari".29. (.16.) August 1905.

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DIE SCHWARZHUNDERTSCHAFTENUND. DIE ORGANISATION DES AUFSTANDS

Die Ereignisse in Nishni-Nowgorod und Balaschow haben die all-gemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. In der letzten Nummer brach-

ten wir einen ausführlichen Bericht über das Gemetzel in Nishni-Nowgo-rod, in der heutigen bringen wir eine Schilderung des Blutbads in Bala-schow. Das Treiben der Schwarzhundertschaften nimmt immer größerenUmfang an. Die Sozialdemokratie muß ihr Augenmerk auf die Bedeutungdieser Erscheinung im allgemeinen Verlauf der revolutionä ren Entwicklungrichten. Zur Vervollständigung des Berichts aus Samara sei hier noch eininteressantes Flugblatt veröffentlicht, das die Borissoglebsker Gruppe derSDAPR herausgegeben hat:

„Arbeiter und Einwohner der Stadt Borissoglebsk! Die Ereignisse in Bala-

schow und Nishni-Nowgorod, bei denen die Polizei ihre Fähigkeit bewies, einGemetzel gegen alle Andersdenkenden zu organisieren, haben euch den gan-zen Ernst der durch die Revolution geschaffenen jetzigen Lage gezeigt. DieZeit der Worte und der platonischen Kritik ist vorbei. Die Regierung zwingtuns durch die Logik der Dinge, von Worten zu Taten überzugehen. Sie sieht,daß die revolutionäre Bewegung aus der Phase herausgetreten ist, in der siebisher nur von der Polizei und von der Gendarmerie bekämpft wurde. Sie be-kam zu spüren, daß die regulären Truppen des Innenministeriums für denKampf gegen den ,inneren Feind' nicht ausreichen. Die gesamte Bevölkerungdes Russischen Reiches ist zum .inneren Feind', zum .Aufruhrer' geworden,

und die Regierung sieht sich gezwungen, Freiwillige in die Reihen der regulä-ren Armee aufzunehmen. Aber indem sie Landstreichern, Raufbolden, fahren-den Leuten und ähnlichen Elementen, die keine bürokratische Zwangsjacke an-erkennen, massenhaft den Zutritt zum .Staatsdienst' eröffnete, war unsereRegierung gezwungen, auch die althergebrachten Methoden der Einwirkungauf die Massen und die althergebrachten konspirativen Methoden der direktenBekämpfung der Revolution zu ändern. Sie will den Teufel mit Beelzebub aus-treiben. Bisher pflegte unsere Regierung gegen das gedruckte Wort nur zukämpfen. Jetzt veröffentlicht sie selber Aufrufe in den .Moskowskije Wedomo-

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Die Sdbwarzbundertsdhaften und die Organisation des Aufstands 195

sti' im ,Russkoje Delo', im ,Grashdanin' [Der Staatsbürger], im ,Den' [Der

Tag] und in den übrigen offiziellen Presseorganen. Bisher pflegte unsere Re-gierung die Agitatoren nur zu verfolgen. Jetzt kommandiert sie selber Bischöfeund Generale, die Scharapow, Gringmut und ihre sonstigen Agitatoren zurAgitation unter dem Volk. Bisher pflegte unsere Regierung die Organisationennur zu unterdrücken. Jetzt organisiert sie selber Bünde des russischen Volkes,Ligen der Patrioten, Verbände der Monarchisten. Bisher pflegte die Regierungbeim Gedanken an den Aufstand nur zu zittern. Jetzt organisiert sie selberAufstände der Schwarzhundertschaften, hofft sie selber, einen Bürgerkrieg zuentfesseln. Aus Angst vor der nahenden Revolution hat die Regierung selberzu den Waffen der Revolution gegriffen: zur Organisation, Propaganda und

Agitation. Mit diesem zweischneidigen Schwert, mit den Schwarzhundert-schaften beginnt die Regierung Schauspiele der Volksempörung und Auftritteder Gegenrevolution zu inszenieren. Nach ,Vorproben' in den Randgebietengeht sie jetzt zu G astrollen im Zentrum Rußlands üb er. Wir waren kürzlich inNishni-Nowgorod und Balaschow Zeugen derartiger Schauspiele, und mankann nicht behaupten, daß die Selbstherrschaft hier etwa keinen Erfolg ge-habt hätte. Die .revolutionären' Kampfmethoden erwiesen sich als wirksam:viele Feinde der Selbstherrschaft wurden getötet oder mißhandelt und dieEinwohner terrorisiert — durch diesen gesetzlichen Terror unserer Regierung.

Zweifellos werden diesem Experiment bald andere in noch größerem Maß-

stab folgen. Die Lorbeeren der einen Schwarzhundertschaften lassen die ande-ren so lange nicht schlafen, bis auch sie ihre Kräfte erprobt haben werden. Woes eine Revolution gibt, dort gibt es auch eine Gegenrevolution, und folglichwird sich auch Borissoglebsk darauf einstellen müssen, daß es die organisato-rischen Fähigkeiten hervorragender Vertreter der Schwarzhunderterrichtungam eigenen Leibe zu spüren bekommt. W ir haben guten Grund, auch in Borisso-glebsk sowohl gegen die Juden als auch gegen die Arbeiter und die Intellek-tuellen gerichtete Pogrome zu erwarten. In dem Bestreben, allen .illegalenMaßnahmen' der Regierung gegen die revolutionäre Bewegung eine ent-sprechende Abwehr entgegenzusetzen, hat die Borissoglebsker Gruppe daher

Listen zur Aufstellung eines bewaffneten Selbstschutzes aufgelegt und bittetalle, deren Sympathien nicht auf der Seite der Regierung und der Schwarz-hundertschaften sind, die Aufstellung von Selbstschutzgruppen mit Waffen undund Geldspenden zu unterstützen."

In der Tat, der Bürgerkrieg wird der Bevölkerung von der Regierung

selbst aufgezwungen. In der Tat, „Landstreicher, Raufbolde und fahrendeLeute" werden zum Staatsdienst zugelassen. Unter diesen Umständenist das Bourgeoisgeschwätz der Oswoboshdenzen, daß die Agitation für

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196 W.J.Lenin

den Aufs tand verbrecherisch und wahn witzig, die Organ isation des Selbst-

schutzes schädlich sei („Osw obosh denije" N r. 74 ), nicht mehr n ur einegrenzenlose politische Gemeinheit, nicht nur eine Rechtfertigung derSelbstherrschaft und (faktisch) eine Liebedienerei vor den „MoskowskijeWedomosti". Nein, dieses Geschwätz wird ganz einfach zum senilen Ge-sabber der Oswoboshdenije-Mumien, die von der revolutionären Bewe-gung erbarmun gslos „über Bord des Lebens" geworfen un d ins Raritäten-kabinett gesteckt werden, wo der einzig richtige Platz für sie ist. Theore-tische Diskussionen über die Notwendigkeit des Aufstands können undmüssen geführt, taktische Resolutionen in dieser Frage sollen sorgfältig

durchdacht und ausgearbeitet werden, aber bei alledem darf man nicht ver-gessen, daß der elementare Gang der Ereignisse sich ohne jede Rücksichtauf Weisheitskrämereien machtvoll Bahn bricht. Man darf nicht vergessen,daß sich die Entwicklung aller jener großen Widersprüche, die sich jahr-hund ertelang im russischen Leben angehäuft hab en, mit unerbitt l icher G e-walt vollzieht, daß sie die Volksmassen auf den Plan ruft und die toten,leblosen Leh ren vom friedlichen Fo rtschritt auf den Keh richthaufen wirft.Die Opportunisten aller Schattierungen pflegen uns zu sagen: Lernt vomLeben! Leider verstehen sie unter Leben nur den Sumpf der friedlichen

Perioden, d er Zeiten des Stil lstands, wen n das Leben sich kaum vorw ärts-bewegt. Das sind von Blindheit geschlagene Leute, die stets hinter denLehren des revolutionären Lebens zurückbleiben. Ihre toten Doktrinenbleiben stets hinter dem stürmischen Strom der Revolution zurück, derdie grundlegenden Erfordernisse des Lebens, die t iefsten Interessen derVolksmassen zum Ausdruck bringt.

Ist es angesichts dieser Lehren, die uns das Leben erteilt, jetzt nichtgeradezu lächerlich, wenn ein bestimmter Teil der Sozialdemokratie dar-über jammert, wie gefährlich der Verschwörerstandpunkt gegenüber dem

Aufstand, die enge „jakobinische" Einschätzung seiner Notwendigkeit ,die Übertreibung der Bedeutung und Rolle der materiellen Gewalt indem bevorstehenden politischen Geschehen sei! Dieses Geschrei ertönteausgerechnet kurz vor der Zeit , als der Aufstand für das Volk zur drin-gendsten Lebensnotw endigkeit w urd e, als eben die M asse, die allen „Ver-schwörungen" besonders fernsteht, durch das Treiben der Schwarzhun-dertschaften in den Aufstand hineingezogen zu werden begann. Eineschlechte Doktrin wird durch eine gute Revolution glänzend korrigiert. In

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Die Sdbwarzhu ndertsdjajten und die Organisation des Aufstands 197

der neuen „Iskra" kann man senile, echt Bureninsche Witzeleien 68 (oder

Spöttereien?) darüber lesen, daß in einer speziell herausgegebenen militä-rischen Broschüre militärische Fragen der Revolution behandelt werden,einschließlich solcher Fragen wie der Durchführung von Tages- und N acht-angriffen, oder daß man nicht vergessen darf, Stabsquartiere des Auf-stands einzurichten und „diensthabende" Mitglieder der Organisation zuernennen, die sich über jeden Pogrom, jede Aktion des „Feindes" recht-zeitig informieren und unseren Kampftruppen, dem organisierten revolu-tionären Proletariat, rechtzeitig entsprechende Anordnungen geben könn-ten. Und zur selben Zeit sehen wir, ein wahrer Hohn auf die lebensfremde

Doktrin der Menschewiki im Ausland, wie die Menschewiki in Rußlandhandeln. Wir erfahren aus Jekaterinoslaw (siehe „Proletari" Nr. 13), daßfür die kritischen Tage (man erw artete einen Pogrom der Schwarzhunder-ter ! Gibt es jetzt in Rußland eine Stadt oder eine Siedlung, wo ähnlichesnicht erwartet würde?) ein Abkommen der Bolschewiki mit den Men-schewiki und dem „Bund" getroffen worden ist. „Gemeinsame Geldsamm-lungen für die Beschaffung von Waffen, gemeinsamer Aktionsplan usw."Und welcher Art dieser Plan ist, ersehen wir daraus, daß beispielsweiseim Brjansker Werk die Sozialdemokraten auf einem Meeting, an dem sich500 Arbeiter beteiligten, zur Organisierung der Abwehr aufgeforderthaben. „Am Abend wurden dann die organisierten Arbeiter des Brjan-sker Werkes in einigen Häusern einquartiert; es wurde ein Patrouillen-dienst eingerichtet, ein Führungsstab bestimmt usw. — kurzum, wir warenin voller Kampfbereitschaft" (unter anderem teilte jede der drei genanntenOrganisationen den anderen mit, wo sich ihr „Hauptquartier" befand ).

Die neuiskristischen Publizisten spotten... über ihre eigenen praktischarbeitenden Genossen!

So verächtlich ihr, meine Herren, auch die Nase rümpft über Nacht-

angriffe und ähnliche rein militärtalctische Dinge; so viel ihr auch feixtüber den „Plan" , diensthabende Sekretäre der Organisation oder schlecht-hin Mitglieder der Organisation für den Fall außerordentlicher Kampf-handlungen zu ernennen — das Leben nimmt sich sein Recht, die Revo-lution erteilt ihre Lehren, reißt die verknöchertsten Pedanten hoch undrüttelt sie wach. Militärische Fragen müssen zur Zeit des Bürgerkriegsbis in alle Einzelheiten studiert werden, und das Interesse der Arbeiterfür diese Fragen ist eine vollauf berechtigte und gesunde Erscheinung.

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198 TV. 1 Centn

Führungsstäbe (oder diensthabende Mitglieder der Organisationen) müs-

sen bestimmt werden. Einteilung der Patrouillen, Einquartierung der Ab-teilungen — alles das sind rein militärische Funktionen, alles das sind ein-leitende Operationen der revolutionären Armee, alles das ist die Organi-sation des bewaffneten Aufstands, die Organisation der revolutionärenTAaäot, die bei diesen kleinen Vorbereitungen, in diesen leichten Schar-mützeln heranreift und erstarkt, die hier ihre Kräfte erprobt, kämpfenlernt und sich auf den Sieg vorbereitet — einen Sieg, der um so näherrückt, um so wahrscheinlicher wird, je mehr sich die allgemeine politischeKrise vertieft, je mehr sich die Gärung, die Unzufriedenheit und das

Schwanken in den Reihen der zaristischen Armee verstärken.Dem Beispiel der Genossen aus Jekaterinoslaw und Borissoglebsk müs-

sen und werden die sozialdemokratischen Genossen in ganz Rußland instets zunehmendem Maße folgen. Die Aufforderung, sowohl mit Geld alsauch mit Waffen zu helfen, ist durchaus zeitgemäß. Immer größer wirddie Zahl der Menschen, die, obzwar sie allen „Plänen" und sogar allenIdeen der Revolution völlig fernstehen, beim Anblick dieser Greueltatender Polizei, der Kosaken und der Schwarzhunderter an wehrlosen Bürgernsehen und fühlen, daß der bewaffnete Kampf notwendig ist. Eine Wahl

gibt es nicht, alle anderen Wege sind abgeschnitten. Es ist unmöglich, sichüber das, was jetzt in Rußland geschieht, nicht zu beunruhigen, nicht anKrieg und Revolution zu denken, und jeder, der sich beunruhigt, der denktund sich interessiert, wird gezwungen, sich dem einen oder anderen be-waffneten Lager anzuschließen. Euer Vorgehen mag noch so friedlich undpedantisch legal sein, man wird euch dennoch niederknüppeln, zu Krüppelnschlagen, ja erm orden. Die Revolution kennt keine Neutralität. Der Kampf

ist schon entbrannt. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod — der Kampfzwischen dem alten Rußland der Sklaverei, der Leibeigenschaft und derSelbstherrschaft und dem neuen, jungen Rußland, dem Rußland des Vol-kes, dem Rußland der werktätigen Massen, die sich nach Licht und Frei-heit sehnen, um dann erst recht den Kampf für die volle Befreiung derMenschheit von jedem Joch und jeder Ausbeutung aufzunehmen.

Seid bereit für den kommenden bewaffneten Volksaufstand!

„Proktari" Nr. 14, . N adh dem 7ext des „Proletari".29. (.16.) August 1905.

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N A C H W O R T D E R R E D A K T I O N Z U D E M A R T I K E L

„ D E R D R I T T E P A R T E I T A G V O R D E M T R I B U N A L

D E R K A U K A S I S C H E N M E N S C H E W I K I "

Zu diesem, dem Organ des Kaukasischen Bundes der SDAPR entnom-.menen Artikel („Borba Proletariata" 69 N r. 1 in russischer Sprache; Nr. 6in armenischer und Nr. 9 in georgischer Sprache), bemerken w ir unserseits,daß die kaukasischen Menschewiki wohl die ersten sein dürften, die in derPresse nicht nur unbegründete Beschimpfungen gegen den Parteitag (imGeiste der neuen „Iskra") ausstießen, sondern auch versuchten, die Ver-tretung ganz bestimmter Parteikomitees anzufechten. Der KaukasischeBund widerlegte in seinem Organ sachlich und gründlich die menschewisti-

schen Argumente und bewies schlüssig, daß der III. Parteitag der SDAPRselbst dann absolut rechtmäßig war, wenn die fünf von den Menschewikiangefochtenen Mandate für ungültig erklärt worden wären.

„Vroletari" Jir. 14, T^adb dem (Text des „Proktari".29. (16.) August 1905.

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T R E T E N D I E „ L I B E R A L E N " S E M S T W O L E U T E

B E R E I T S D E N R Ü C K Z U G A N ?

Wir haben soeben die Mitteilung des Petersburger Korrespondentender bürgerlich-liberalen „Frankfurter Zeitung" vom 8. (21.) August ge-lesen, daß die Tagung der Vertreter der Semstwos und Städte, die lautBeschluß der Julitagung sofort nach Veröffentlichung des BulyginschenProjekts zusammentreten sollte und bereits für Ende August angesetztwar, nidht stattfindet. Weshalb wohl, meint ihr? Deshalb, weil der Za r am6. August seinen Ukas an den Senat vom 18. Februar 1905 aufgehobenhat! Der Korrespondent fügt hinzu: „Diese völlig unverständliche

( ? 7 Die Redaktion des „Proletari") Feigheit der Semstwoleute ruft hier inpolitischen Kreisen allgemeine Verwunderung hervor, denn gerade ineinem Augenblick wie jetzt traute man den Semstwoleuten eine derartigschlappe Haltung nicht zu. Deshalb glaubt man der von mir übermitteltenNachricht noch nicht vorbehaltlos und verhält sich zu ih r vorläufig abwar-tend." Wir haben längst vorausgesagt, daß es der Regierung nicht schwer-fallen wird, die liberalen Bourgeois auf ihre Seite zu locken und sie zuzwingen, „von der Revolution abzuschwenken".

„Troletari" 9Vr. u, Nadh dem 7ext des „Proletari".29. (i6.J August i905.

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DIE ARBEITERKLASSE UND DIE REVOLUTION

t. Die demokratische unddie sozialistische Umwälzung.2. Der bürgerliche Charakter der demokratischen Revolution. („Die bür-

gerliche und die sozialistische Revolution".)3. Die A ufgaben der Sozialdemokratie als selbständiger Klassenpartei des

Proletariats.4. Die Rolle der Bauernschaft in der demokratischen Revolution.5. Der bewaffnete Aufstand und die revolutionäre Armee.

6. Die revolutionäre Regierung. Ihre Aufgaben.7. Die revolutionär-demokratische Dik tatur des Proletariats und der

Bauernschaft.

1. d) Die Ziele der Arbeiterklasse, ß) Die Sozialdemokratie. Unser

Programm, f) Das ^Maxtmalprogramm und <5) das Minimalpro-

gramm. { Seine Charakteristik (vergleiche die 6 Punkte*). }

s) Die demokratische und die sozialistische Umwälzung.2. Die bürgerliche und die sozialistische Revolution. Wes-

halb ist die demokratische Umwälzung bürgerlich? a) Warenproduk-tion undkapitalistische Produktion, ß) Der ökonomische Wesenskern.y) Die konstitutionell-demokratische Partei, ihr Programm und ihr Klas-sencharakter. Eine Klassenpartei. Die Semstwotagungen. Die In-tellektuellenverbände. Die legale Presse. <S) Bürgerliche Ratschläge fürdas Proletariat: gewerkschaftlicher Kampf usw.

* Siehe den vorliegenden Band, S.176. Die Red.

14 Lenin, W erke , Bd. 9

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202 IV. 3. Lenin

3. Schlußfolgerungen aas dem Vorhergehenden. E i n e s e l b s t ä n d i g e

K l a s s e n p a r t e i . Organisation — gewerkschaftlich und auf Pariei-ebene, agitatorisch und militärisch. Der Marxismus: „Doktrin".

4. Die besonderen Interessen der Bauernschaft. Überreste der Leibeigen-schaft. Weshalb ist die Rolle der Bauernschaft in der demokratischenRevolution besonders wichtig? Die „schwarze Umteilung", ihre Bedeu-tung. Die Bauern sind die natürlichen Verbündeten der Arbeiter. Derkleinbürgerliche Charakter der Bauernschaft.

5. Der Aufstand. Moralische und materielle Stärke.Bewaffnung des Volkes. Die militärische Organisation (militäri-

sche Fragen usw.). Die revolutionäre Armee. (Beispiel: Nishni-Nowgo-rod und Jekaterinoslaw) ((Bomben, Waffen)).

6. Die revolutionäre Regierung, das Organ des Aufstands. Die Bedeu-tung der revolutionären Regierung und der revolutionären Staatsmacht.Die Beteiligung an der revolutionären Regierung. Das Programm derrevolutionären Regierung: die 6Pu.nk.te, Europa entflammen.

7. W as bedeutet Diktatur? Diktatur einer Xlasse und Diktatur einerPerson. Die demokratische Diktatur. Klassen.

Qesdhrieben im August 1905.Zuerst veröffentlicht 1926 Nadh dem ^Manuskript.

im Lenin-Sammelband V.

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V O R W O R T Z U R D R I T T E N A U F L A G E D E R B R O S C H Ü R E

„ D I E A U F G A B E N

D E R R U S S I S C H E N S O Z I A L D E M O K R A T E N "

Die dritte Auflage der vorliegenden Broschüre erscheint in einem Augen-blick der revolutionären Entwicklung in Rußland, der sich wesentlich unter-scheidet vom Jah re 1897, als diese Broschüre geschrieben wurde, und vomJahre 1902, als sie in zweiter Auflage erschien. Es ist überflüssig zu sagen,daß die Broschüre nur einen allgemeinen Abriß der Aufgaben der Sozial-demokratie gibt und nicht einen konkreten Hinweis auf die gegenwärtigenAufgaben, die dem jetzigen Stand der Arbeiterbewegung und der revolu-tionären Bewegung wie auch dem Stand der Sozialdemokratischen Arbeiter-

partei Rußlands entsprechen. Den gegenwärtigen Aufgaben unserer Parteiist meine Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demo-kratischen Revolution" (Genf, 1905) gewidmet. Vergleichen die Leser diebeiden Broschüren, so können sie sich ein U rteil darüber bilden, ob sich dieAuffassungen des Verfassers von den allgemeinen Aufgaben der Sozial-demokratie und von ihren speziellen Aufgaben im gegenwärtigen Augen-blick folgerichtig entwickelt haben. Daß ein solcher Vergleich nicht nutzlosist, ersieht man unter anderem aus dem kürzlichen Angriff des Führersunserer liberal-monarchistischen Bourgeoisie, Herrn Struve, der im „Os-woboshdenije" die revolutionäre Sozialdemokratie (in Gestalt des III . Par-teitags der SDAPR) beschuldigte, die Frage des bewaffneten Aufstandsauf Rebellenart und abstrakt-revolutionaristisch gestellt zu haben. Wir be-merkten bereits im „Proletari" (Nr. 9, „Die Revolution lehrt"), daß einbloßer Vergleich der „Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" (1897)mit „Was tun?" (1902) und dem „Proletari" (1905) die Beschuldigungder Oswoboshdenzen widerlegt und den Zusammenhang zwischen derEntwicklung der sozialdemokratischen Auffassungen vom Aufstand und

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204 TV. 3. Lenin

der Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland beweist. Die

Beschuldigung der O swoboshdenzen ist lediglich ein opportunistischerAus-fall der Anhänger der liberalen Monarchie, die danach trachten, ihren Ver-rat an der Revolution, ihren Verrat an den Interessen des Volkes und ihrStreben nach einem Kompromiß mit der zaristischen Staatsmacht zu ver-hüllen.

!W. Lenin

August 1905

Zuerst veröffentlicht im Herbst 1905 Tiach dem Jext der 'Broschüre,

in der vom ZK der SDÄPR. herausgegebenen Broschüre.

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B E M E R K U N G Z U P . N I K O L A J E W S B R O S C H Ü R E

„ D IE R E V O L U T I O N I N R U S S L A N D " 7 0

Die vorliegende Broschüre ist vor dem 6. August geschrieben worden.Jetzt ist die Reichsduma bereits Tatsache. Die Arbeiterklasse und über-haupt alle Besitzlosen haben nicht das Recht, Mitglieder der Duma zuwählen. Die reichen Gutsbesitzer und Kauf eute wählen die Mitglieder derDuma durch Wahlmänner der Gouvernements. Die Bauern wählen nichteinmal die Wahlmänner der Gouvernements direkt, sondern durch Kreis-wahlmänner, die ihrerseits in Amtsbezirksversammlungen gewählt wer-den. Von W ahlfreiheit, von Presse- und Versammlungsfreiheit keine Spur.

Die Polizei herrscht nach wie vor unumschränkt. D ie Dum a faß t keine fürdie Regierung bindenden Beschlüsse, sie berät nur, d. h., sie besitzt fak-tisch keinerlei Macht.

Zuerst veröfientlidot ?$ad) dem ^Manuskript,

im Herbst i905.

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I M N A C H T R A B

D ER M O N A R C H I S T I S C H E N B O U R G E OI SIE

O D E R A N D E R S P I T Z E D E R R E V O L U T I O N Ä R E N

A R B E IT E R K L A S SE U N D B A U E R N S C H A F T ?

Die Taktik der Sozialdemokratie gegenüber der Reichsduma nimmtauch weiterhin unter allen Fragen des revolutionären Kampfes, die auf derTagesordnung stehen, die erste Stelle ein. Die Meinungsverschiedenheiten,die über diese Taktik zwischen dem opportunistischen („Iskra") und demrevolutionären („Pro letari") Flügel der SDAPR aufgetaucht sind, müssenmit aller Sorgfalt untersucht werden, nicht um eine kleinliche Polemik zuführen (die manchmal zu einem Gezänk ausartet), sondern um die Fragevöllig zu klären und den örtlichen Funktionären bei der Ausarbeitung mög-

lichst präziser, bestimmter und einheitlicher Losungen behilflich zu sein.Zunächst ein paar Worte über die Entstehung dieser Meinungsverschie-

denheiten. In Nr. 12 des „Proletari", noch vor der Bekanntgabe des Ge-setzes über die Reichsduma, setzten wir die Grundlagen unserer Taktikund unserer Differenzen mit der „Iskra" auseinander. Wir forderten:1. Unterstützung der Boykottidee in dem Sinne, daß man die Agitationund den Appell an das Volk verstärkt, in dem Sinne, daß das Proletariatden linken Flügel der bürgerlichen Demokratie unterstützt und ihren rech-ten Hügel unnachgiebig des V errats überführt; 2. unbedingt aktiven Boy-

kott und nicht „passive Enthaltung", d. h. „verzehnfachte Agitation" biszum „gewaltsamen Eindringen in Wahlversammlungen" einschließlich undendlich 3. eine „klare, genaue und direkte Agitationslosung", nämlich: be-waffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Re-gierung. Die Losung der „Iskra" (Nr. 106): „Organisierung einer revolu-tionären Selbstverwaltung" lehnten wir entschieden ab, weil sie konfus istund den Oswoboshdenzen, d. h. der monarchistischen Bourgeoisie, in dieHände arbeitet. W ir betonten dabei gleich — als hätten wir vorausgesehen,

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daß die „Iskra" wieder Differenzen „ausbrüten" wird — unser Einver-

ständnis mit der Verurteilung der Idee des passiven Boykotts durch die„Iskra".Wenn daher die „Iskra" jetzt in Nr. 108 Anspielungen macht auf eine

Theorie der „Nichteinmischung", des „Absentismus", der „Enthaltung",der „verschränkten Arme" u. dgl. m., so lassen wir uns auf derartige „Ein-wände" erst gar nicht ein, denn das ist keine Polemik, sondern nur einVersuch, dem Gegner „Nadelstiche" zu versetzen. Durch solche „polemi-sche" Methoden — die durch die verleumderische Behauptung gekrönt wer-den, gewisse Führer wollten gern selbst in die provisorische Regierung

gelangen — hat die neue „Iskra" schon längst in breitesten Kreisen derSozialdemokratie eine ganz bestimmte Einstellung zu sich hervorgerufen.

Der Kern der Meinungsverschiedenheiten läuft somit darauf hinaus,daß die „Iskra" unsere Agitationslosung, die unseres Erachtens im Mittel-punkt stehen muß (bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee, proviso-rische revolutionäre Regierung), nicht akzeptiert. Der „Proletari" hält esindes für absolut unzulässig, „die Losung des Aufstands durch die Losungder Organisierung einer revolutionären Selbstverwaltung ersetzen oderauch nur verdrängen zu wollen" (Nr. 12 des „Proletari"). Alle übrigen

Meinungsverschiedenheiten sind von relativ geringerer Bedeutung. Da-gegen ist weiterhin besonders wichtig der Umstand, daß die „Iskra" inNr. 108 schon beginnt (wie sie das des öfteren getan hat), zurückzuwei-chen, auszuweichen und sich herauszuwinden: die Losung der Organ isie-rung einer revolutionären Selbstverwaltung ergänzt sie durch die Losung„aktiver Kampfaktionen der Volksmassen" (Allah allein weiß, wodurchsich das vom bewaffneten Aufstand unterscheidet). Die „Iskra" versteigtsich sogar zu der Behauptung, daß „die Organisierung einer revolutionärenSelbstverwaltung die einzige Methode ist, den allgemeinen Volksaufstandwirklich zu organisieren'". Nr. 108 der „Iskra" trägt das Datum vom13. (26.) August, am 24. August n. St. aber erschien in der W iener „Ar-beiter-Zeitung" ein Artikel des Gen. Martow, der den „Plan" der „Iskra"ganz und gar im Geiste der Nr. 106 und nicht im Geiste der „Korrektu-ren" in N r. 108 darlegt. Diesen wertvollen Artikel des Gen. Martowübersetzen wir weiter unten* in seinem H auptteil als Muster „sozialdemo-kratischer Manilowerei".

* Siehe den vorliegenden Band, S. 219-221. Die Red.

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208 "W. 1 £enin

'Versuchen wir, uns in dem W irrw arr zurechtzufinden.

Um die Sache klarzustellen, müssen wir uns vor allem darüber Rechen-schaft ablegen, welche Kräfte — und auf welche Weise — gegenwärtig inder nissischen Revolution „Geschichte machen". Die Selbstherrschaft hatdie Theorie der „Beratung" des Zaren mit dem Volk aufgegriffen. W äh-rend sie sidi mit dem unter Polizeiaufsicht gesiebten Häuflein Erwählterder Gutsbesitzer und H ändler zu beraten wünscht, beginnt sie, die Revo-lution mit fürchterlicher Grausamkeit zu unterdrücken. Weite Kreise dermonarchistischen Bourgeoisie (die Oswoboshdenzen oder die konstitutio-nell-„demokratische" Partei) treten für die Theorie der Vereinbarung des

Zaren mit dem Volk ein. Die Bourgeoisie bringt mit dieser Theorie ihrenVerrat an der Revolution zum Ausdruck, ihre Bereitschaft, sie anfangs zuunterstützen und sich dann mit der Reaktion gegen sie zu verbünden. D asrevolutionäre Proletariat, soweit es von der Sozialdemokratie geführtwird, fordert die Herrschaft des Volkes, d. h. die vollständige Vernich-tung der reaktionären Kräfte und vor allem den tatsächlichen Sturz derzaristischen Regierung und ihre Ersetzung durch eine provisorische revo-lutionäre Regierung. Das Proletariat strebt (oft unbewußt, aber unbeirrtund energisch) danach, die Bauernschaft für sidi zu gewinnen und mitihrer Hilfe die Revolution trotz der Wankelmütigkeit und des Verrats derBourgeoisie zum vollen Siege zu führen.

Die Reichsduma ist unzweifelhaft ein Zugeständnis an die Revolution,aber ein Zugeständnis, das gemacht wurde (das ist noch unzweifelhafter),um die Revolution abzuwürgen und keine Verfassung zu gewähren. Diebürgerlidien „Vereinbarungsfreunde" wollen eine Verfassung durchsetzen,um die Revolution abzuw ürgen; Herr W inogradow hat (in den „RusskijeWedom osti") dieses Bestreben der liberalen Bourgeoisie, das sich aus ihrerKlassenlage unausbleiblich ergibt, mit besonderer Klarheit zum Ausdruckgebracht.

Es fragt sich nun: W eldie Bedeutung hat angesichts dieser Sachlage dervom „Verband der Verbände" (siehe Nr. 14 des „Proletari"), also vonder umfassendsten Organisation der bürgerlichen Intelligenz gefaßte Be-sdilu ß, die Duma zu boykottieren? Die bürgerliche Intelligenz möchte imgroßen ganzen auch eine „Vereinbarung". Sie schwankt daher, wie der„Proletari" schon oft gezeigt hat, ebenfalls zwischen Reaktion und Revo-lution, zwischen Schadier und Kampf, zwischen einem Pakt mit' dem

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Im T^acbtrab der monarchistischen Bourgeoisie 209

Zaren und dem Aufstand gegen den Za ren. Das kann auf Grund der Klas-

senlage der bürgerlichen Intelligenz gar nicht anders sein. Es wäre aber einFehler, zu vergessen, daß diese Intelligenz besser geeignet ist, die weit ver-standenen wesentlichen Interessen der gesamten Klasse der Bourgeoisiezum Ausdruck zu bringen, zum Unterschied von den zeitweiligen undengen Interessen einzig und allein der „Spitzen" der Bourgeoisie. Die In-telligenz ist besser geeignet, die Interessen der breiten Masse des Klein-bürgertums und der Bauernschaft zum Ausdruck zu bringen. Sie ist daherbei all ihr er Wankelmütigkeit zum revolutionären Kampf gegen die Selbst-herrschaft besser geeignet, und unter der Voraussetzung, daß sie sich demVolk nähert, kann sie zu einer großen Kraft in diesem Kampf werden . Ansich ohnmächtig, könnte sie doch bedeutenden Schichten der Kleinbürgerund Bauern gerade das geben, was diesen mangelt: Wissen, Programm,Führung und Organisation.

Der Kern der „Boykott"idee, wie sie beim „Verband der Verbände"entstanden ist, liegt folglich darin , daß der erste Schritt der Großbourgeoi-sie zur "Beratung und Vereinbarung mit dem Zaren unvermeidlich denersten Schritt der kleinbürgerlichen 'Intelligenz zur Annäherung an dasrevolutionäre Volk hervorgerufen hat. Die Gutsbesitzer und Kapitalistensind nach rechts gerutscht, die bürgerliche Intelligenz, die Vertreterin desKleinbürgertums, ist nach links gerutscht. Jene gehen zum Z aren , ohne imentferntesten darauf zu verzichten, ihm noch des öfteren mit der Machtdes Volkes zu drohen. Die Intelligenz überlegt, ob sie zum Volk gehensoll, ohne mit der Theorie der „Vereinbarung" schon endgültig zu brechenund ohne den revolutionären Weg ganz zu beschreiten.

Da s ist der Kern der Boykottidee, die, wie wir schon in Nr. 12 des „Pro-leta ri" festgestellt haben, innerhalb der bürgerlichen Dem okratie entstan-den ist. Nur sehr kurzsichtige und oberflächliche Leute könnten in dieserIdee Nichteinmischung, Absentismus, Enthaltung u. ä. erblicken. Die bür-gerliche Intelligenz braucht sich gar nicht zu en thalten, denn sie wird durchden hohen Wahlzensus ganz von selbst aus der Reichsduma ferngehalten.Die bürgerliche Intelligenz stellt in ihrer Resolution über den Boykott die„Mobilisierung aller demokratischen Elemente des Landes" an die ersteStelle. Die bürgerliche Intelligenz ist das tatkräftigste, entschiedenste undkampflustigste Element der Oswoboshdenzen, der konstitutionell-„demo-kratischen" Partei. Diese Intelligenz wegen der Boykottidee der Enthai-

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2 10 • IV.I.Lenin

tung u. ä. zu beschuldigen oder ihr sogar die Unterstützung und Weiter-

entwidklung ihrer Idee zu versagen, hieße aus Kurzsichtigkeit der mon-archistischen G roßbourgeoisie, deren O rgan „Oswoboshdenije" nicht um-sonst gegen die Boykottidee kämpft, in die Hände zu arbeiten.

Die Richtigkeit der dargelegten Ansicht wird, abgesehen von allgemei-nen und gründlegenden Erwägungen, durch wertvolle Eingeständnisse desHerrn S. S.71 in Nr. 75 des „O swoboshdenije" bestätigt. Es ist höchst be-merkenswert, daß Herr S. S. die Anhänger der Boykottidee zur „radika-len" , ihre Gegner aber zur „gemäßigten" Gruppe rechnet. Die ersten be-schuldigt er des „Narodowolzentums", der Wiederholung der von den

„aktiven revolutionären Gruppen" gemachten Fehler (eine ehrenvolle Be-schuldigung für jeden, gegen den sie vom „Oswoboshdenije" erhobenwird); von den zweiten sagt er direkt, sie stünden zwischen zwei Feuern:zwischen der Selbstherrschaft und der „sozialen (sie!*) Revolution", wo-bei der arme Herr S. S. vor lauter Angst die demokratische Republik umein Haar mit der sozialen Revolution verwechselt hätte! Das wertvollsteEingeständnis des H errn S. S. ist das folgende: Für die Radikalen, sagt er,den Kongreß des „Verbands der Verbände" mit der Semstwotagung ver-gleichend, „lag der Schwerpunkt unzweifelhaft (hört ! hört!) in der Forde-rung, das Wahlsystem zu ändern, während für die gemäßigtere Qruppedas Jiauptinteresse darin bestand, die Rechte der Duma zu erw eitern".

Dam it ist alles gesagt! H err S. S. hat die geheimsten „Gedanken" derGutsbesitzer und Kapitalisten ausgeplaudert, die wir hundertemal an-geprangert haben. Ihr „Hauptinteresse" ist nicht, das Volk zu den W ah-len heranzuziehen (davor fürchten sie sich), sondern die Rechte der Dum azu erweitern, d. h. diese Versammlung der Großbourgeoisie aus einer ge-setzberatenden in eine gesetzgebende Versammlung zu verwandeln. Hierliegt der Hund begraben. D ie Großbourgeoisie kann sich niemals mit einer„gesetzberatenden" Duma zufriedengeben. Daher sind Verfassungskon-flikte in der Reichsduma unausbleiblich. Aber die Großbourgeoisie kannauch niemals eine verläßliche und treue Anhängerin der Volksherrschaftsein. Sie wird immer mit der einen Hand nach der Verfassung (für sich)greifen und m it der anderen H and dem Volk die Rechte wegnehmen oderder Erweiterung der Volksrechte entgegenwirken. Die Großbourgeoisiekann nicht anders als nach einer Verfassung streben, die ihre Privilegien

* so! Die Red.

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sichert. Die radikale Intelligenz kann nicht anders als danach streben, die

Interessen der breitesten Massen des Kleinbürgertums und der Bauern-schaft zumAusdruck zu bringen. Der rechte Flügel der bürgerlichen Demo-kratie, der den Sperling in der Hand hat, beginnt sogleich „klug" zu wer-den und sagt sich, wie wir gesehen haben, schon von „illegalen" T agungenlos. Der linke Flügel sieht, daß er sogar ohne den Sperling geblieben ist unddaß die Gutsbesitzer und Kapitalisten, die aus den Diensten des „drittenElements" (Agitation, Propaganda, Organisation, Presse usw.) allen Vor-teil gezogen haben, bereit sind, ihn zu verraten, indem sie sich in derReichsduma nicht um die Rechte des Volkes, sondern um ihre eigenenvolksfeindlichen Rechte bemühen . U nd nun , nachdem die bürgerliche In-telligenz den Beginn des Verrats gewittert hat, verdammt sie die Reichs-duma als „freche Herausforderung" der Regierung an alle Völker Ruß-lands, verkündet den Boykott und rät zur „Mobilisierung der demokra-tischen Elemente".

Angesichts dieser Sachlage über die Boykottidee herzufallen, hieße sei-tens der Sozialdemokraten die Rolle politischer Einfaltspinsel zu spielen.Der ichtige Klasseninstinkt des revolutionären P roletariats gab der Mehr-heit der russischen Genossen die Idee des aktiven Boykotts ein. Das be-deu tet: den linken Flügel unterstützen und ihn näher zu sieb heranziehen,danach trachten, die Elemente der revolutionären "Demokratie auszuson-dern, um gemeinsam m it ihnen gegen die Selbstherrschaft vorzustoßen.Die radikale Intelligenz reicht uns den kleinen Finger — nehmen wir dieganze Hand! Ist der Boykott keine Prahlerei, die Mobilisierung keinePhrase und die Empörung über die freche Herausforderung keine Pose,so müßt ihr mit den „Vereinbarungsfreunden" brechen, euch für dieTheorie der Volksherrschaft entscheiden und die einzig folgerichtigen undeinheitlichen Losungen der revolutionären Demokratie : bewaffneter Auf-stand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Regierung, akzep-

tieren, in der 7at akzeptieren. Sich diejenigen angliedern, die in der Tatdiese Losungen akzeptieren, und vor allem Volke diejenigen auf den Mist-haufen der Geschichte werfen, die auf der Seite der „Vereinbarungs-freunde" bleiben — das ist die einzig richtige Taktik des revolutionärenProletariats.

Unsere Neuiskristen haben sowohl den klassenmäßigen Ursprung alsauch die reale politische Bedeutung der Boykottidee verschlafen u n d . .. in

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212 "W.l.Cehin

die Luft geschossen. Genosse Tscherewanin schreibt in Nr. 108: „Wie

aus den Flugblättern des Don-Komitees und der St. Petersburger Gruppeersichtlich ist, sprechen sich diese beiden (NB: tnensdbewistisdben. An-merkung der Redaktion des „Proletari") Organisationen für den Boykottaus. Sie halten die Teilnahme an den Wahlen zu einer solchen Duma füreine Schmach, für einen Verrat an der Revolution und brandmarken imvoraus jene Liberalen, die an den Wahlen teilnehmen werden. Dadurchwird die Möglichkeit ausgeschlossen, die Reichsduma zu einem Werkzeugder demokratischen Revolution zu machen, und die darauf gerichteteAgitation wird offensichtlich verworfen." Die von uns hervorgehobenen

Worte zeigen gerade den soeben skizzierten Fehler. Denn diejenigen, diegegen die „Nichteinmischung" deklamieren, verdunkeln doch nur diewirklich wichtige Frage der Methoden der Einmischung. Es gibt zwei Me-thoden der Einmischung, zwei Typen von Losungen. Die erste Methode:„eine verzehnfachte Agitation, die Abhaltung von Versammlungen überallund allerorts, die Ausnutzung der Wahlversammlungen, sei es auch da-durch, daß man gewaltsam in sie eindringt, die Veranstaltung von Demon-strationen, politischen Streiks usw. usf." („P role tari" N r. 12). Die Losun-gen dieser agitatorischen Kampagne haben wir schon erläutert. Die andereMethode: die „revolutionäre Verpflichtung abverlangen, in die Reichs-duma zu gehen, um ihre Umwandlung in eine revolutionäre Versamm-lung durchzusetzen, welche die Selbstherrschaft stürzt und eine konsti-tuierende Versammlung einberuft" (Gen. Tscherewanin in Nr. 108 der„Iskra"), oder: „auf die Wählerkollegien einen Druck in dem Sinne aus-üben, daß in die Duma nur entschiedene Anhänger der demokratischenund freien Vertretung gewählt werden" (Gen. Martow in der Wiener„Arbeiter-Zeitung").

Diese verschiedenen Methoden widerspiegeln denn auch die „zwei Tak-

tiken" d er Sozialdemokratie. Der opportunistische Flügel der Sozialdemo-kratie ist stets geneigt, auf die bürgerliche Demokratie in der Weise einen„Druck auszuüben", daß er ihr Verpflichtungen abverlangt, während derrevolutionäre Flügel der Sozialdemokratie auf die bürgerliche Demokratiedadurch einen „Druck ausübt" und sie nach links stößt, daß er sie wegenihrer Rechtsschwarikungen brandmarkt und daß er unter den Massen dieLosungen der entschiedenen Revolution verbreitet. Die Theorie des „Ab-verlangens von Verpflichtungen", diese berühmte Theorie des Zackmus-

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Im Tiaditrab der monardbistisdben "Bourgeoisie 213

papiers Starowers, ist im höchsten G rade naiv un d nur geeignet, im Prole-

tariat Verwirrung zu stiften und es zu demoralisieren. Wem will Gen.Tscherewanin die übernommene „Verpflichtung" zur Einlösung präsen-tieren? Am Ende dem lieben Go tt? W eiß denn Gen. Tscherewanin nicht,daß unter dem Druck der materiellen Klasseninteressen all und jede Ver-pflichtung zum Teufel geht? Ist denn der Einfall desselben Gen. Tschere-wanin, die bürgerlichen Deputierten der Reichsduma dem revolutionärenProletariat durch „gebundene Mandate" zu verpflichten, nicht eine Kin-derei? Müßte doch Gen. Martow, wollte er seinen Plan in der 7at aus-'führen, vor der Arbeiterklasse erklären, daß die Herren X oder Y aus

dem Gremium der Gutsbesitzer „entschiedene Anhänger einer freien unddemokratischen Vertretung" seien! Solche Erklärungen abzugeben, hießegrößte politische Demoralisation zu säen!

Noch eines beachte man: Alle diese „revolutionären Verpflichtungen"der Herren Petrunkewitsch, Roditschew und tutti quanti*, alle diese „ge-bundenen Mandate", alle diese Reverse über die „entschiedene Unter-stützung einer demokratischen und freien Vertretung" (kann man einenallgemeineren, unklareren, nebelhafteren Ausdruck finden?) würden imNamen der Sozialdemokratie hinter dem R ücken des Proletariats abver-

langt und gegeben werden. Denn offen kann man das nicht machen, undsogar in freien Ländern, wo es eine offene Agitation gibt, werden diePolitiker nicht so sehr durch private Abmachungen als vielmehr durch dieProgramme der Parteien verpflichtet, wir aber haben keine bestimmtenund festgefügten politischen Parteien bei den Wahlen zur Reichsduma undwerden audb keine habenl überlegt euch doch, Genossen Neuiskristen,in welchen Sumpf ihr wiederum geraten seid: in Worten gibt es bei euchnichts als „die Masse", „vor der Masse", „unter Teilnahme der Masse",„Selbsttätigkeit der Masse", in Wirklichkeit aber reduziert sich euer„Plan" auf geheime Abmachungen, die den Herrn Petrunkewitsch ver-pflichten, nicht ein Verräter an der Revolution, sondern ihr „entschie-dener" Anhänger zu sein!

Die Neuiskristen haben sich selbst ad absurdum geführt. Nirgendwo inRußland denkt jemand, sogar von ihren eigenen Anhängern, auch nur imTraum daran, sich auf derartige alberne „revolutionäre Verpflichtungen"einzulassen. Nein, nicht so muß man sich einmischen. Man muß sich

* alle ihresgleichen. Die Red.

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214 W.l£enm

dadurch einmischen, daß man die Vereinbarungstheorie und die bürger-

lichen Vereiribarungsfreunde, alle diese Petrunkewitsdi u. a.m. schonungs-los anprangert. Ihren bürgerlichen Verrat an der Revolution entlarven,gegen die Selbstherrschaft (und für alle Tälle audb gegen die "Duma) dierevolutionären Kräfte zum Aufstand vereinigen — das ist die einzig ver-läßliche Methode, auf die Duma real einen „Druck auszuüben" und denSieg der Revolution real vorzubereiten. Nur unter dieser Losung dürfenwir uns in die Wahlagitation einmischen, nicht zum Zweck von Wahl-manövern, Abmachungen und Verpflichtungen, sondern zur Propagandades Aufstands. Und nur die reale Kraft des bewaffneten Volkes wird die

Möglichkeit geben, die möglichen und wahrscheinlichen künftigen Kon-flikte innerhalb der Reichsduma oder zwischen der Reichsduma und demZaren zum Vorteil der Revolution (und nicht zugunsten einer eng-bürger-lichen Verfassung) auszunutzen . W eniger Vertrauen zur Reichsduma undmehr Vertrauen zu den Kräften des sich bewaffnenden Proletaria ts, meineHerren!

Damit sind wir auch bei der Losung angelangt: Organisierung einerrevolutionären Selbstverwaltung. Wir wollen sie einmal aufmerksamuntersuchen.

Erstens ist es rein theoretisch falsch, die Losung der revolutionärenSelbstverwaltung in den Vordergrund zu rücken, anstatt die Losung derVolksherrschaft aufzustellen. Die erste bezieht sich auf die Verwaltung',die zweite auf die Staatsordnung. Die erste verträgt sich daher mit derverräterischen bürgerlichen Theorie der „Vereinbarung" (das sich selbstverwaltende Volk mit dem Zaren an der Spitze, der „nicht verwaltet,sondern herrscht"), d ie zweite verträgt sich damit absolut nicht. Die ersteist für die Oswoboshdenzen annehmbar, die zweite nicht.

Zweitens ist es völlig unsinnig, die Organisierung der revolutionären

Selbstverwaltung der Organisierung des allgemeinen Volksaufstandsgleichzusetzen. Aufstand ist Bürgerkrieg, ein Krieg aber erfordert eineArmee. Hingegen erfordert Selbstverwaltung an und für sich keine Armee.Es gibt Länder,, wo eine Selbstverwaltung, aber keine Armee besteht. Unddie revolutionäre Selbstverwaltung bedarf keiner revolutionären Armee,wenn die Revolution auf norwegische Art vor sich geht: dort wurde demKönig „gekündigt" und eine Volksbefragung durchgeführt. Wenn jedochdas Volk von einem Despotismus unterdrückt w ird, der sich auf die Armee

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Jm Tladbtrab der monarchistisdben "Bourgeoisie 215

stützt und den Bürgerkrieg eröffnet, dann ist es eine geradezu unsagbare

Abgeschmacktheit, die revolutionäre Selbstverwaltung der revolutionärenArmee gleichzusetzen, die erste hervorzuheben und die zweite zu ver-schweigen — eine Abgeschmacktheit, die entweder Verrat an der Revolu-tion oder krassen Unverstand zum Ausdruck bringt.

Drittens bestätigt auch die Geschichte die im übrigen handgreiflicheWahrheit, daß nur ein voller und entscheidender Sieg des Aufstands voll-auf die Möglichkeit gewährleistet, eine wirkliche Selbstverwaltung zuorganisieren. Wäre in Frankreich die munizipale Revolution im Juli 1789möglich gewesen, wenn nicht am 14. Juli das aufständische und bewaff-

nete Paris die königlichen Truppen besiegt, die Bastille erstürmt und denWiderstand des Absolutismus an der entscheidenden Stelle gebrochenhätte? Oder wollen sich die Neuiskristen dabei vielleicht auf das Beispielder Stadt Montpellier berufen, wo die munizipale Revolution, die Orga-nisierung der revolutionären Selbstverwaltung, friedlich vor sich ging, wosogar dem Intendanten der Dank ausgesprochen w urde, weil er so liebens-würdig war, bei seiner eigenen Absetzung mitzuwirken? Erwartet dieneue „Iskra" vielleicht, daß wir während unserer Agitationskampagneanläßlich der Dumawahlen den Gouverneuren für ihre Selbstabsetzungvor der Erstürmung der russischen Bastillen den Dank aussprechen wer-den? Ist es denn nicht bezeichnend, daß im Frankreich des Jahres 1789die Zeit de r munizipalen Revolution mit der beginnenden Emigration derReaktionäre zusammenfällt, während bei uns die Losung der revolutio-nären Selbstverwaltung anstatt der Losung des Aufstands zu einer Zeiterhoben wird, da noch die Emigration der Revolutionäre andauert? Alsman einen hohen russischen Würdenträger fragte, warum am 6. Augustkeine Amnestie gewährt wurde, antwortete er: „Aus welchem Grundesollen wir 10000 Menschen freilassen, die wir mit nicht geringer Mühefestgenommen haben und die schon morgen den erbitterten Kampf gegen

uns aufnehmen würden?" Dieser Würdenträger urteilte klug, jene aber,die von der „revolutionären Selbstverwaltung" reden, bevor diese 10000befreit sind, urteilen unklug.

Viertens beweist die heutige russische Wirklichkeit anschaulich dieUnzulänglichkeit der Losung „revolutionäre Selbstverwaltung" und dieNotwendigkeit der direkten und bestimmten Losung des Aufstands.Man sehe doch, was am 2. August a. St. in Smolensk geschehen ist. Die

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216 W. 3. Lenin

städtische Duma erklärte die Einquartierung der Kosaken für ungesetzlich,

stellte die Auszahlung von Geld an sie ein, organisierte zum Schutz derEinwohnerschaft eine städtische Miliz und w arnte in einem Aufruf an dieSoldaten vor Gewalttätigkeiten gegen die Bürger. Wir möchten wissen,ob unsere wackeren Neuiskristen das für ausreichend halten. Ist dieseMiliz nicht als eine revolutionäre Armee, als ein Organ nicht nur der Ver-teidigung, sondern auch des Angriifs zu betrachten? — und zwar des An-griffs nicht nur gegen die Smolensker Kosakenhundertschaft, sonderngegen die absolutistische Regierung überhaupt? Sollte man diese Idee vonder Ausrufung einer revolutionären Armee und ihrer Aufgaben nicht

propagieren? Kann man eine wirklich vom Volk getragene Selbstverwal-tung der Stadt Smolensk als gesichert betrachten, solange die revolutio-näre Armee keinen entscheidenden Sieg über die zaristische Armee er-rungen hat?

Fünftens zeugen die Tatsachen unwiderleglich davon, daß die Losungder revolutionären Selbstverwaltung an Stelle der Losung des Aufstandsoder im Sinne (?) der Losung des Aufstands für die Oswoboshdenzennicht nur „annehmbar "ist, sondern von ihnen bereits angenommen wor-den ist. Man nehme Nr. 74 des „Oswoboshdenije" zur Hand. Dort finden

wir eine entschiedene Verurteilung der „wahnwitzigen und verbreche-rischen Propagierung des bewaffneten Aufstands" und zugleich eine Ver-teidigung der städtischen Milizen und der Organisierung von Organen derörtlichen Selbstverwaltung als Elementen einer künftigen provisorischenRegierung (vgl. Nr. 12 des „Proletari").

Von welcher Seite man auch an die Frage herantritt — stets und immerzeigt sich, daß die neue Losung der neuen „Iskra" eine Losung im Geisteder Oswoboshdenzen ist. Sozialdemokraten, die die Losung des bewaff-neten Aufstands, der revolutionären Armee und der provisorischen Regie^

rung durch die Losung der Organisierung einer revolutionären Selbst-verwaltung ersetzen oder verdrängen wollen, trotten im Nachtrab dermonarchistischen Bourgeoisie einher, anstatt an der Spitze der revolutio-nären Arbeiterklasse und Bauernschaft zu marschieren.

Man wirft uns vor, daß wir hartnäckig ein und dieselben Losungen„einhämmern". W ir rechnen uns diesen Vorwurf als Kompliment an. Un-sere Aufgabe besteht ja darin, neben den allgemeinen Wahrheiten dessozialdemokratischen Programms unablässig auch die politischen Tages-

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'im TJadotrab der monardhistisdben "Bourgeoisie 217

losungen einzuhämmern. Wir haben erreicht, daß das den Liberalen ver-

haßte „Viergespann" (allgemeines, direktes, gleiches und geheimes Stimm-recht) weiteste Verbreitung fand. Wir haben die Arbeitermassen mit dem„Sechsgespann" der politischen Freiheiten bekannt gemacht (Rede-, Ge-wissens-, Presse-, Versammlungs-, Koalitions- und Streikfreiheit). Wirmüssen jetzt millionen- und milliardenfach das „Dreigespann" der nächstenrevolutionären Aufgaben (bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee,provisorische revolutionäre Regierung) wiederholen. Die Volkskräfte, diediese Aufgaben erfüllen werden, wachsen elementar nicht bloß täglich,stündlich gar. Die Aufstandsversuche mehren sich, die Organisation desAufstands m acht Fortschritte, mit der Bewaffnung geht es vorw ärts. Aus

den Reihen der Arbeiter und Bauern, der Männer im Bauernkittel, in derArbeiterbluse und im Soldatenrock, treten namenlose Helden hervor, diemit der Menge unzertrennlich verbunden sind und immer tiefer durch-drungen w erden vom edlen Fanatismus der Volksbefreiung. Unsere Sacheist es, dafür zu sorgen, d aß sich alle diese Bäche zu einem mächtigen Stromvereinen und daß das Licht des zielbewußten, offenen, klaren und be-stimmten revolutionären Programms unserer nächsten Aufgaben die ele-mentare Bewegung erhellt und ihre Kräfte verzehnfacht.

Das Fazit. Unsere Tak tik gegenüber der Reichsduma kann in fünf Punk-

ten zusammengefaßt werden: 1. verstärkte Agitation anläßlich des Ge-setzes über die Reichsduma und der Wahlen, Veranstaltung von Ver-sammlungen, Ausnützung der Wahlagitation, D emonstrationen usw. usf. ;2. Zuspitzung dieser ganzen Agitationskampagne auf die Losungen: be-waffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Re-gierung, Verbreitung des Programms dieser provisorischen Regierung;3. Heranziehung aller Elemente der revolutionären Demokratie und nurdieser, d. h. nur derjenigen, die wirklich die oben angeführten Losungenannehmen, zu dieser Agitation und zum bewaffneten Kampf; 4. Unter-

stützung der vom linken Flügel der bürgerlichen Demokratie ausgegan-genen Idee des Boykotts, damit dieser Boykott zu einem aktiven Boykottim Sinne der oben skizzierten breitesten Agitation wird; Gewinnung derlinken Vertreter der bürgerlichen D emokratie für das revolutionär-demo-kratische Programm und für eine Betätigung, die sie dem Kleinbürger-tum und der Bauernschaft näherbringt; 5. schonungslose Entlarvung undBrandmarkung der bürgerlichen „Vereinbarungstheorie" und der bürger-

15 Lenin, W erke , Bd. 9

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liehen „Vereinbanmgsfreunde" vor den breitesten Massen der Arbeiter

und Bauern; Bekanntgabe und Bloßstellung jedes verräterischen und un-sicheren Schrittes der Vereinbarungsfreunde sowohl vor der Duma alsauch in der Duma; Warnung der Arbeiterklasse vor diesen bürgerlichenVerrätern an der Revolution.

„Vroletari" SVr. i5 , • SVad) dem 7ext des „Vroletari"'.5. September [23. August) i905.

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DIE KLARSTE DARLEGUNGDES VERWORRENSTEN PLANS

Im Leitartikel* haben wir auf die Verworrenheit des neuen Plans einer„Dumakampagne" der neuen „Iskra" hingewiesen. Hier seine klarsteDarlegung von Martow selbst in der Wiener „Arbeiter-Zeitung" (vom24. August n. St.). (Die Hervorhebungen in den Zitaten stammen über-all von Martow selbst.)

„Der Plan ", schreibt Gen . M artow, „der von manchen russischen Organ isa-tionen unterstützt wird... ist dieser: Die Arbeiterorganisationen ergreifen dieInitiative zur Gründung der Volksagitationskomitees, die von allen mit der

zarischen ,Reform' nicht zufriedengestellten Elementen der Bevölkerung zuwählen sind. Die Aufgabe solcher Komitees ist, zu allererst die Agitation fürdie wirkliche Volksvertretung im ganzen Lande zu entfalten. Diese Komiteeswerden formell zum Zwecke der Teilnahme der Masse der Bevölkerung an denbevorstehenden Wahlen gebildet. Da sie durch das Wahlrecht von der direktenTeilnahme ausgeschlossen sind, können die Staatsbürger an den Wahlen in-direkt teilnehmen, indem sie ihre Meinungen und Forderungen den engerenKollegien der privilegierten Wähler mitteilen. Auf die Wählerkollegien übendie Komitees einen Druck in dem Sinne aus, daß in die D um a nur entschiedeneAnhän ger de r dem okratischen und freien V ertretung gewäh lt werden. Dabei

trachten die Komitees außerhalb der .legalen' Vertretung eine illegale V ertre-tung zu schaffen, die in einem bestimmten Moment vor dem Lande als proviso-risdhes Organ des Volkswillens auftreten könnte. Die Komitees rufen die Be-völkerung auf, ihre Vertreter durch allgemeine Stimmenabgabe zu wählen,diese Vertreter sollen im gegebenen Mom ent in einer Stadt zusamm enkommenund sich als konstituierende Versammlung proklamieren. Das ist das sozusagenideelle Ziel dieser Kampagne. Ob es dazu kommt oder nicht, die Bewegung

* Siehe den vorliegenden Band, S. 20 6- 21 8. Die Red.

15 *

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220 W.l£enin

auf diesem Wege wird die Organisation der revolutionären Selbstverwaltung

schaffen, die den Rahmen der zaristischen Legalität bricht und Grundsteine zudem kommenden Triumph der Revolution legt. Die Elemente einer solchenrevolutionären Selbstverwaltung werden nach und nach in ganz Rußland ge-bildet, wie zum Beispiel jetzt schon in zwei kaukasischen Qouvernements, wodie offiziellen Behörden durch die ganze Bevölkerung boykottiert werden unddie Bevölkerung von der eigenen gewählten Behörde verwaltet wird. (Neben-bei : Die Bauern von Qurien verlangen eine Bestätigung dieser Behörde durdbunser Komitee.)

Die Organisation einer solchen überall öffentlich funktionierenden Selbst-verwaltung ist die Form, in der die Liquidation der Autokratie, welche nicht

freiwillig die Konstitutionsära inaugurieren will, vor sich gehen soll. Es ver-steht sich, daß die Möglichkeit selbst einer solchen Organisation durch diewachsende Desorganisation des Regierungsapparates und durch das Anwachsender wirkenden Kraft im Volke geschaffen wird."

Wir empfehlen den Genossen diesen beispiellosen Plan als das ideelleZiel der monarchistischen (Oswoboshdenzen-) Bourgeoisie, als das ideelleZiel der Liquidation der russischen proletarisch-bäuerlidoen Revolutiondurdb die liberalen Qutsbesitzer.

Die Oswoboshdenzen-, d. h. die monarchistische Bourgeoisie möchte,

wie wir schon hun dertem al gezeigt hab en, eben eine solche „Liq uidation ",bei welcher sich der Übergang der Macht an die Bourgeoisie ohne einenVolksau fstand oder wenigstens ohne einen vollen Sieg des Volksaufstandsvollzöge. Manilowsche Pläne von „Wahlen" unter Aufrechterhaltung derautokratischen Macht arbeiten voll und ganz der liberalen "Bourgeoisiein die Hände, die einzig und allein imstan de ist, etwas durchzufüh ren,was solchen Wahlen ähnlich sieht.

Bei den Einzelheiten dieses lächerlichen Planes wollen wir uns nur kurzaufhalten. Ist es nicht naiv, außer acht zu lassen, daß sich im Kaukasus

(nicht in zwei Gouvernements, sondern in einigen Amtsbezirken) dieSelbstverwaltung auf den bewaffneten Aufstand stützt? Ist es nicht kin-disch, zu glauben, daß das, was in einigen Gebirgsdörfern eines fernenRandgebiets möglich ist, ohne den Sieg des Volkes über die Selbstherr-schaft in Ze ntr alru ßla nd möglich sei? Ist dieser Plan vielstufiger „W ah len "unter Aufrechterhaltene) der Macht der absolutistischen Regierung nichtideale Pedanterie1? Die „unzufriedenen Elemente der Bevölkerung" (?)wählen Volksagitationskomitees (ohne Programm, ohne klare Losungen).

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Die klarste Darlegung des verworrensten Plans 221

Die Komitees schaffen eine „illegale Vertretung" (die vermutlich die ille-

gale Organisation der sozialistischen Arbeiterpartei einfach durch eineOswobosbdenzen-Organisation ersetzen soll!). Es ist offensichtlich, daßdie Ersetzung des klaren revolutionären Ausdrucks „provisorische Regie-rung als Organ des Aufstands" durch den unklaren Ausdruck „Organdes Volkswülens" voll und ganz der bürgerlichen Semstwopartei in dieHände arbei te t . Allgemeine Wahlen zur konstituierenden Versammlungauf Initiative „illegaler" Komitees und unter Belassung der Macht in denHänden der Trepow 7 2 und Co. ist vollends eine kindische Idee.

In Auseinandersetzungen ist es zuweilen von Nutzen, wenn jemand

als „Anwalt des Teufels", als Verteidiger einer unsinnigen Auffassungauftritt, die von allen abgelehnt wird. Diese Rolle hat jetzt die „Iskra"übernommen. Ihr Plan eignet sich vortrefflich für Schulungszwecke, um inZirkeln, Versammlungen, Kundgebungen usw. unsinnige Auffassungenzu widerlegen, sowie dazu, die Losungen des revolutionären Proletariatsden Losungen der monarchistischen liberalen Bourgeoisie klarer gegen-überzustellen.

„Troletari" 7ir. 15, Tiaäi dem Jext des „Vroletari".

5. September (.23. August) 1905.

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I N F O R M A T I O NDER INTERNATIONALEN SOZIALDEMOKRATIE

ÜBER UNSERE PARTEIANGELEGENHEITEN

Die Information der internationalen Sozialdemokratieüber unsere Parteiangelegenheiten ist eine der ernstesten Pflichten allerim Ausland lebenden Sozialdemokraten. Wir erinnern die Genossen daranund fordern sie auf, die Positionen des III. Parteitags der SDAPR durchdie energischste Agitation zu verteidigen. Agitiert werden muß unermüd-lich, aus jedem Anlaß, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, in ausnahms-los allen Zirkeln der ausländischen Arbeiter und vor einzelnen Mitgliedernder ausländischen sozialdemokratischen Parteien. Agitiert werden muß

mit Methoden, die bewußter Sozialdemokraten und Mitglieder einerArbeiterpartei würdig sind. Der Agitation muß eine vollständige Infor-mation über die dokumentarische Seite der Sadie zugrunde liegen. Hierbeisteht im Vordergrund die Verbreitung der von uns sowohl französisdb(Beilage zur Zeitung „Le Socialiste" vom 25. Juni 1905. Anschrift derZeitung „Le Socialiste", Zentralorgan der französischen Sozialisten: Ruede la Corderie 16. Paris) als auch deutsdb (Broschüre „Bericht über den3. Parteitag". Adresse des Herausgebers: Birk et C°, Buchdruckerei undVerlagsanstalt in München, Wittelsbacherplatz 2. Preis 20 Pf.) heraus-gegebenen Resolutionen des III. Parteitags der SDAPR. Sowohl die fran-zösische als auch die deutsche Übersetzung der Resolutionen sind außer-dem im Vertrieb unserer Partei erhältlich.

Neben diesem grundlegenden Material müssen auch die wichtigstenDokumente und A rtikel aus unserer Presse übersetzt werden. Dabei sinddie ungebührlichen Chlestakowschen Manieren der neuen „Iskra" ständigzu entlarven. Die „Iskra" veröffentlicht weder in deutscher noch in fran-zösischer Sprache den vollen Wortlaut der Resolutionen ihrer Konferenz

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Information der internationalen Sozialdemokratie 223

(durch den sie überführt würde, daß sie sich den Titel eines Zentralorgans

eigenmächtig und usurpatorisch angeeignet hat). Die „Iskra" veröffentlichtin der europäischen sozialdemokratischen Presse eine „Statistik" der orga-nisierten Arbeiter, die bloß zum Lachen reizt (es genügt, darauf hinzu-weisen, daß es die neue „Iskra" bisher nicht wagte, diese „Statistik" inrussischer Sprache zu veröffentlichen, weil sie sich zu blamieren fürchtete,wir abe r druckten sie in N r. 9 des „ Pro letar i" vollständig a b 7 8 ) . Die„Iskra" versendet jetzt an alle Auslandskolonien einen von der Redaktionunterzeichneten Brief, der hinsichtlich der Stärke der Minderheit eben-solche ergötzliche Chlestakowsche Beteuerungen enthält, die den russi-

schen Lesern unserer sozialdemokratischen Presse bisher schamhaft ver-heimlicht wurden. Diese Marktschreier muß man aus allen Kräften be-kämpfen, jedoch in würdiger Form, und eine vollständige Information derÖffentlichkeit und Klärung der Dinge anstreben, ohne in Prahlerei undliterarische Spiegelfechterei zu verfallen, ohne auch nur im geringsten zuKlatschereien und Privatmitteilungen, die das Licht der Öffentlichkeitscheuen, hinabzusinken.

„Proletari" 7$r. 15, Tiaäa dem Jext des „Proletari".

5. September [23. August) 1905.

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A N M E R K U N G Z U D E M A R T I K E L

„ D IE F I N A N Z E N R U S S L A N D S U N D D IE R E V O L U T I O N "

Von der Redaktion. Eine bemerkenswerte Bestätigung der Schlußfolge-rungen, die der Verfasser zieht, findet sich in dem soeben in Berlin erschie-nenen Buch „Die Zukunft Rußlands und Japans" von Rudolf M artin. W irhatten noch keine Gelegenheit, uns mit diesem Buch bekannt zu machen,und vermerken daher vorläufig, auf Grund von Besprechungen der Aus-landspresse, nur seine wichtigsten Schlußfolgerungen. Der Verfasser ver-tritt einen rein kaufmännischen Standpunkt, fern jeder politischen Stel-lungnahme. Statistiker von Beruf, untersucht er eingehend die FinanzlageRußlands und kommt zu dem Schluß, daß die Bankrotterklärung unver-

meidlich ist, ganz gleich, ob der Krieg fortgesetzt oder ob Frieden geschlos-sen wird.Die russische Landwirtschaft sei in völligem Niedergang, und umsie wieder hochzubringen, benötige man ein Kapital von 50 MilliardenRubel. Das Budgetdefizit werde im nächsten Jahrzehnt nicht weniger als300 Millionen Rubel jährlich betragen. Die Staatsschuld R ußlands, die sichjetzt nach der Schätzung des Verfassers auf 8 Milliarden Rubel beläuft,müsse im Laufe von 5 Jahren auf 12 Milliarden anwachsen. Die Anleihe-zinsen könnten durch nichts gedeckt werden, denn niemand werde Rußlandjetzt Geld geben. Die Parallele zwischen Rußland von 1905 und Frank-

reich unter Ludwig XVI. sei erstaunlich. Rudolf Martin rät Deutschlanddringend, die russischen Anleihen, in denen an die anderthalb MilliardenRubel deutschen Geldes stecken, so bald wie möglich (nach Möglichkeit anAm erika) abzustoßen. Die europäische Bourgeoisie beeilt sich, die Verbin-dungen mit Rußland zu lösen, da sie den sicheren Bankrott voraussieht.

J>ro\etan" 77r. 15, Nad h dem 7ext des „Proletari".5. September (23. August] 1905.

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DAS VERHÄLTNIS DER SOZIALDEMOKRATIEZUR BAUERNBEWEGUNG

Die ungeheure Bedeutung der Bauernbewegung in der gegenwärtigendemokratischen Revolution in Rußland ist in der ganzen sozialdemokra-tischen Presse schon sehr oft erläutert w orden. Der III. Parteitag derSozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands hat bekanntlich zu dieserFrage eine besondere Resolution angenommen, um die Tätigkeit der ge-samten Partei des klassenbewußten Proletariats gerade in bezug auf diejetzige Bewegung der Bauernschaft genauer festzulegen und zu verein-heitlichen. Obwohl diese Resolution rechtzeitig vorbereitet worden war

(der erste Entwurf wurde in Nr. 11 des „Wperjod" vom 10. (23.) Märzd. J.* veröffentlicht) und obw ohl sie vom Parteitag, der sich bem ühte, diebereits feststehenden Auffassungen der gesamten Sozialdemokratie Ruß-lands zu formulieren, sorgfältig ausgearbeitet worden war, rief die Reso-lution bei einer Reihe in Rußland tätiger Genossen trotzdem Bedenkenhervor. Das Saratower Komitee erklärte diese Resolution einstimmig fürunannehmbar (siehe Nr. 10 des „Proletari").74 Leider ist der damals vonuns geäußerte Wunsch, eine Begründung dieses Verdikts zu erhalten, bis-her unerfüllt geblieben. Wir wissen nur, daß das Saratower Komitee auchdie Agrarresolution der neuiskristischen Konferenz für unannehmbarerklärt hat. Es ist also unzufrieden mit dem, was beide Resolutionengemeinsam haben, nicht mit dem, wodurch sie sich voneinander unter-scheiden.

Ein uns zugegangener (als hektographiertes Flugblatt herausgegebener)Brief eines Moskauer Genossen enthält neues Material zu dieser Frage.Wir drucken diesen Brief ungekürzt ab:

* Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. '8, S. 208/209, russ. Die Red,

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226 W. 1 Lenin

O F F E N E R B R IE F A N D AS Z E N T R A L K O M I T E EU N D A N D I E A U F D E M L A N D E T Ä T I G E N G E N O S S E N

Genossen! Die Gebietsorganisation des Moskauer Komitees hat die Arbeitunter der Bauernschaft unmittelbar in Angriff genommen. Die mangelnde Er-fahrung, wie eine solche Arbeit zu organisieren ist, und die besonderen Bedin-gungen unseres zentralrassischen Dorfes sowie der Umstand, daß die Weisun-gen der Resolutionen des III. Pa rteitag s in dieser Frage nicht genügend klarsind und daß Material über die Arbeit unter der Bauernschaft sowohl in derperiodischen Presse als auch in der sonstigen Parteiliteratur fast völlig fehlt,

veranlassen uns, an das Zentralkomitee die Bitte zu richten, uns eingehendeDirektiven sowohl prinzipieller als auch praktischer Natur zugehen zu lassen.Euch aber, Genossen, die Ihr auf dem gleichen Gebiet arbeitet, bitten wir, unsdie von Euch gesammelten praktischen Erfahrungen zu übermitteln.

Wir halten es für notwendig, Euch die Bedenken, die uns beim Lesen derResolution des III. Parteitag s „ü ber das Verhältnis zur Bauernbew egung" ge-kommen sind, und den Organisationsplan, den wir bei uns auf dem Landebereits in Anwendung bringen, mitzuteilen.

„Paragraph a) Unter den breitesten Schichten des Volkes zu propagieren,daß die Sozialdemokratie sich die tatkräftigste Unterstützung aller revolutio-

nären Maßnahmen der Bauernschaft zur Aufgabe macht, die geeignet sind,ihre Lage zu verbessern, bis zur Konfiskation der gutsherrlichen, fiskalischen,Kirchen-, Kloster- und Apanageländereien einschließlich" (aus der Resolutiondes III. Parteitags der SDA PR).

In diesem Paragraphen ist vor allem unklar, auf welche Weise die Partei-organisationen die Propaganda führen werden und führen müssen. Die Pro-pagand a erfordert vor allem eine Organisation, die denen, die aufgeklärt wer-den sollen, ganz nahesteht. Ob diese Organisation Komitees des Landproleta-riats sein werden oder ob auch andere organisatorische Wege für die münd-liche wie schriftliche Propaganda gangbar sind, ist eine offene Frage.

Dasselbe ist von dem Versprechen der tatkräftigen Unterstützung zu sagen.Eine Unterstützung, noch dazu eine tatkräftige, ist ebenfalls nur möglich, wennes eine örtliche Organisation gibt. Die Frage der „tatkräftigen Un terstützun g"scheint uns überhaupt äußerst unklar zu sein. Kann die Sozialdemokratie dieEnteignung solcher Gutsländereien unterstützen, die mit den intensivsten Me-thoden — Verwendung von Maschinen, Anbau wertvollerer Kulturen usw. —

bestellt werden? Der Übergang solcher Ländereien in den Besitz kleinbürger-licher Eigentümer — so wichtig es auch ist, d eren Lage zu verbessern — bedeu-tet einen Schritt zurück im Sinne der kapitalistischen Entwicklung der betref-

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Das Verhältnis der Sozialdemo kratie zur 'Bauernbewegung 127

fenden Wirtschaft. Und wir als Sozialdemokraten müßten unseres Erachtens

diesen Punkt über die „Unterstützung" durch die Klausel einschränken: „wenndie Enteignung dieser Ländereien zugunsten des bäuerlichen (kleinbürgerlichen)Eigentums gegenüber der jetzigen Bewirtschaftung der betreffenden Lände-reien eine höhere Entwicklungsform dars tellt".

Ferner:„Paragraph d) Anzustreben, daß sich das ländliche Proletariat selbständig

organisiert, mit dem städtischen Proletariat unter dem Banner der sozialdemo-kratischen Partei vereinigt und seine Vertreter in die Bauernkomitees hinein-schickt."

Der letzte Teil dieses Paragraphen ruft Zweifel hervor. Die Sache ist die,

daß bürgerlich-demokratische Organisationen wie der „Bauernbund" und reak-tionär-utopistische Organisationen wie die Sozialrevolutionäre sowohl bürger-liche als auch proletarische Elemente der Bauernschaft unter ihrem Banner orga-nisieren. Entsenden wir unsere Vertreter aus den Organisationen des Land-proletariats in solche „Bauem"kom itees, so werden w ir uns selbst, unseren Auf-fassungen vom Block usw. widersprechen.

Auch hier sind, wie uns scheint, Korrekturen, und zwar sehr ernste Korrek-turen, vonnöten.

Das sind einige allgemeine Bemerkungen zu den Resolutionen des III. Par-teitags. Es wäre wünschenswert, sie möglichst rasch und möglichst eingehend

zu prüfen.Was nun den Plan einer „ländlichen" Organisation innerhalb unserer Ge-bietsorganisation anbelangt, so sind wir gezwungen, unter Bedingungen zu ar-beiten, die von den Resolutionen des III. Parte itags mit keiner S ilbe erwähntwerden. Vor allem ist zu vermerken, daß die Bevölkerung des Landstrichs, indem wir tätig sind — das M oskauer Gouvernement und die angrenzendenKreise der benachbarten Gouvernements — vorwiegend in Industriebetriebenarbeitet. Das Kustargewerbe * ist relativ schwach entwickelt und der Teil derBevölkerung, der sich aussdbließHdb mit Landwirtschaft beschäftigt, ganz un-bedeu tend. Riesige M anufakturbetriebe mit 100OQ bis 15000 Arbeitern wech-

seln mit kleinen Fabriken ab, die 500 bis 1000 Arbeiter beschäftigen und überentlegene Flecken un d Dörfer verstreu t sind. M an sollte glauben, daß die Sozial-demokratie unter diesen Umständen hier einen sehr günstigen Boden vorfindet,aber die Praxis hat gezeigt, daß solche aus der Vogelperspektive gemachtenVoraussetzungen keiner Kritik standhalten. Unser „Proletariat" hat sich inseiner übergroßen Mehrheit bis heute noch nicht vom Grund und Boden los-

* Kustargewerbe — die vorwiegend ländliche russische H ausindustrie. Sieheauch: W. I. Lenin, Werke, Bd. 3, Kapitel VI, Abschnitt VIII. Der Tibers.

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228 W.J.Lenin

gelöst, obwohl manche Fab riken b ereits 40 bis 50 Jahre bestehen. D as „Dorf"

haftet so fest an ihm, daß alle jene psychischen und sonstigen Voraussetzungen,die im „reinen" Proletariat durch die kollektive Arbeit geschaffen werden, inunserem Proletariat nicht zur Entwicklung gelangen. Die Landwirtschaft unse-rer „Proletarier" weist gewisse Zwitterformen auf. Ein in der Fabrik beschäf-

tigter Weber dingt für die Bestellung seines Stückchens Land einen Nachbarn.Auf dem gleichen Stückchen Land arbeiten seine Frau (wenn sie nicht in derFabrik beschäftigt ist), die Kinder, die alten und gebrechlichen Leute, und erselbst wird darauf arbeiten, wenn er altert, einen Unfall erleidet oder wegenaufsässigen oder verdächtigen Benehmens auf die Straße geworfen wird. Solche„Proletarier" kann man schwerlich als Proletarier bezeichnen. Ihrer wirtschaft-

lichen Lage nach sind sie Paupers, ihrer Ideologie nach Kleinbürger. Sie sindunwissend und konservativ. Aus ihren Reihen werden die „Schwarzhund erter"geworben. Doch in letzter Zeit beginnt auch ihr Selbstbewußtsein zu erwachen.Durch Bindeglieder aus dem „reinen" Proletariat wecken wir diese unwissendeMasse nicht ohne Erfolg aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf. Die Bindeglie-der mehren sich, festigen sich stellenweise, die Paupers geraten unter unserenEinfluß und nehmen sowohl in der Fabrik als auch im Dorf unsere Ideologie insich auf. Und wir glauben nicht, daß die Gründung von Organisationen innicht „rein" proletarischer Umwelt dem orthodoxen Standpunkt widerspricht.Wir haben keine andere Umwelt, und wenn wir auf dem orthodoxen Stand-

punkt, nur das ländliche „Proletariat" zu organisieren, verharren, werden wirunsere Organisation und die uns benachbarten Organisationen auflösen müs-sen. Wir wissen, daß es uns schwer sein wird, gegen das Verlangen anzukämp-fen, die von den Gutsbesitzern vernachlässigten Äcker und sonstigen Nutzun-gen oder jene Kloster- und Kirchenländereien, die von den Kuttenträgern nichtordentlich bewirtschaftet werden, zu enteignen. Wir wissen, daß die bürger-liche Demokratie, von der ^demokratisch-monarchistischen" Fraktion (einesolche gibt es im Kreis Rusa) bis zum „Bauern"bund, mit uns um den Einflußauf die „Paupers" kämpfen wird, aber wir werden diese gegen jene wappnen.Wir setzen alle sozialdemokratischen Kräfte im Umkreis ein, sowohl die Intel-

lektuellen als auch die Industrieproletarier, um unsere sozialdemokratischenKomitees aus „Paupers" zu bilden und zu festigen. Und wir werden es nachfolgendem Plan machen: In jeder Kreisstadt oder in jedem großen Industrie-zentrum errichten wir Kreiskomitees aus Gruppen der Gebietsorganisation.Das Kreiskomitee organisiert außerhalb der Fabriken und Betriebe seines Be-zirks „Bauern"komitees. Diese Komitees dürfen aus konspirativen Gründennicht viele Mitglieder haben, und ihre Zusammensetzung wird von den amrevolutionärsten gesinnten und fähigsten bäuerlichen Paupers bestimmt. Wo

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"Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung 229

sowohl Fabriken als auch Bauern vorhanden sind, wird es notwendig sein, sie

gemeinsam in einem U ntergruppenkom itee zu organisieren.Vor allem muß ein solches Komitee klar und eindeutig in den örtlichen Be-

dingungen Bescheid wissen: A) Agrarverhältnisse: 1. Bäuerliches Anteilland,Pacht, Besitzformen (Gemeinde-, Hofbesitz usw.). 2. Ländereien im Umkreis:a) wem gehören sie; b)wieviel La nd ist vorhanden; c)welche Beziehung habendie Bauern zu diesem L and ; d)wie sind die Bedingungen für die Nutzung die-ses Lan des: 1. Abarbeit, 2. übermäßiger Pachtzins für „Bodenabschnitte" usw.;e) Verschuldung beim Dorfwucherer, Gutsbesitzer usw. B) Steuern und Ab-gaben, Höhe der Grundsteuer auf die Ländereien der Bauern und der Guts-besitzer. C) Wanderarbeit und Kustargewerbe, Pässe, Winterverdingung

u. a. m. D) Fabriken und B etriebe am O rt : die Arbeitsbedingungen: 1. Arbeits-lohn, 2. Arbeitstag, 3. Verhalten der Werkleitung, 4. Wohnverhältnisse usw.E) öffentliche Verwaltung: Landeshauptleute, Gemeindevorsteher, Schreiber,Amtsrichter, Gendarmen, Geistliche. F) Semstwo: Vertreter der Bauern, Sem-stwoangestellte: Lehrer, Ärzte, Bibliotheken, Schulen, Teehäuser. G) Amts-bezirksversammlungen : ihre Zusam mensetzung un d G eschäftsführung. H) Or-ganisationen: „Bauernbund", Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten.

Nachdem sich das sozialdemokratische Bauernkomitee mit all diesen An-gaben vertraut gemacht hat, ist es verpflichtet, auf den Amtsbezirksversamm-lungen die Beschlüsse durchzusetzen, die sich aus der einen oder anderen un-

normalen Lage der Dinge ergeben. Daneben treibt ein solches Komitee aucheine verstärkte Propaganda und Agitation für die Ideen der Sozialdemo-kratie in der Masse, es veranstaltet Zirkel, Kundgebungen undVersammlun-gen, verbreitet Flugblätter undBroschüren, sammelt Geld für die Parteikasseund hält durch die Kreisgruppe die Verbindung mit der Gebietsorganisationaufrecht.

Wenn es uns gelingt, eine ganze Reihe solcher Komitees zu schaffen, dannwird der Erfolg der Sozialdemokratie gesichert sein.

Ein Qebietsorganisator

Wir werden selbstverständlich nicht die Aufgabe übernehmen, diedetaillierten praktischen Weisungen auszuarbeiten, von denen der Ge-

nosse spricht; das ist Sache der örtlichen Funktionäre und der praktisdi

leitenden russischen Zentralstelle. Wir wollen an den inhaltsreichen Brief

des Moskauer Genossen anknüpfen, um die Resolution des III. Parteitags

und die dringendsten Aufgaben der Partei überhaupt zu erläutern. Aus

dem Brief ersieht man, daß die Mißverständnisse, die durch die Resolu-

tion des III. Parteitags hervorgerufen worden sind, nur zum Teil von

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230 W.J.Lenin

theoretischen Zweifeln herrühren. Ihre zweite Quelle ist die neue Frage

nach dem Verhältnis zwischen den „revolutionären Bauernkomitees" undden unter der Bauernschaft arbeitenden „sozialdemokratisch enTiomitees",eine Frage, die früher gar nicht aufgetaucht war. Schon allein die Tat-sache, da ß diese Frage nun aufgeworfen wird, zeugt davon, daß die sozial-demokratische Arbe it un ter der Bauernschaft einen großen Schritt vorwärtsgemacht hat. Auf die Tagesordnung werden bereits verhältnismäßig de-taillierte Fragen gesetzt, hervorgerufen durch die praktischen Bedürfnisseder „ländlichen" Agitation, die begonnen hat, Wurzeln zu schlagen undfeste, ständige Formen anzunehmen. Und der Verfasser des Briefes ver-

gißt mehrfach, daß er, wenn er der Resolution des Parteitags Unklarheitvorwirft, eigentlich eine Frage beantwortet haben will, die der Parteitagnicht gestellt hat und nicht stellen konnte.

So ist beispielsweise die Meinung des Briefschreibers nicht ganz richtig,daß sowohl die Propaganda unserer Ideen als auch die Unte rstützung derBauernbewegung „nur" beim Vorhandensein örtlicher Organisationenmöglich seien. Gewiß sind solche Organisationen wünsdienswert und mitzunehmender Tätigkeit notwendig, aber die erwähnte Arbeit ist auch dort,wo solche Organisationen fehlen, möglich und notwendig. In unserer ge-

samten Tätigkeit, sogar wenn wir nur unter dem städtischen Proletariatarbeiten, dürfen wir die Bauernfrage nicht außer acht lassen und müssendie von der ganzen Partei des klassenbewußten Proletariats durch denIII. Parteitag abgegebene Erklärung verbreiten: Wir unterstützen denBauernaufstand. Die Bauern sollen das wissen — aus unserer Literatur,von den Arbeitern, durch besondere Organisationen usw. Die Bauernsollen wissen, daß das sozialdemokratische Proletariat bei dieser Unter-stützung nicht haltmachen wird vor der Konfiskation des Grund und Bo-dens (d. h. der entschädigungslosen Enteignung der Eigentümer).

Der Briefschreiber wirft hier eine theoretische Frage auf, nämlich obman die Enteignung der großen Güter zugunsten des „bäuerlichen, klein-bürgerlichen Eigentums" nicht durch eine besondere Klausel einschränkensolle. Aber indem er diese Klausel vorschlug, engte er den Sinn der Reso-lution des III. Parteitags willkürlich ein. In der Resolution ist mit keinemWort gesagt, daß sich die sozialdemokratische Partei verpflichtet, denÜbergang der konfiszierten Ländereien gerade in den Besitz kleinbürger-lidier Eigentümer zu unterstützen. Die Resolution sagt: Wir unterstützen

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T)as 'Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung 231

„bis zur Konfiskation einschließlich", d. h. bis zur Wegnahme ohne Ent-

schädigung einschließlich, aber die Frage, wem das Weggenommene über-geben werden soll, wird von der Resolution gar nicht entschieden. Es istkein Zufall, daß diese Frage offengeblieben ist: aus den Artikeln der Zei-tung „Wperjod" (Nr. 11, 12 und 15)* ist ersichtlich, daß es als unklugbetrachtet wurde, diese Frage im voraus zu entscheiden. Dort wurde z. B.darauf hingewiesen, daß sich die Sozialdemokratie in einer demo kratischenRepublik hinsichtlich der Nationalisierung des Grund und Bodens nichtfestlegen und die Hände binden kann.

In der Tat liegt für uns, zum Unterschied von den kleinbürgerlichen

Sozialrevolutionären, der Schwerpunkt heute in der revolutionär-demo-kratischen Seite der Bauernaufstände und in der selbständigen Organisie-rung des Landproletariats in einer Klassenpartei. Nicht die Projekte der„schwarzen Umteilung" oder der Nationalisierung sind heute der Kernder Frage, sondern die Erkenntnis der Bauernschaft, daß man die alteOrdnung auf revolutionärem Wege zerstören muß, und ihre Entschlossen-heit, das wirklich zu tun. Deshalb drängen die Sozialrevolutionäre auf„Sozialisierung" u. dgl. m., wir aber auf revolutionäre 'Bauernkomitees;ohne sie, sagen wir, sind alle Reformen nichts. Mit ihnen und auf sie ge-

stützt, ist der Sieg des Bauernaufstands möglich.Dem Bauernaufstand müssen wir auf jede Art und Weise helfen, bis

zur Konfiskation der Ländereien einschließlich — aber durchaus nicht bis

zu allerlei kleinbürgerlichen Projekten einschließlich. Wir unters tützen dieBauernbewegung, soweit sie revolutionär-demokratisch ist. Wir bereitenuns vor (und zwar sofort, unverzüglich), sie zu bekämpfen, sobald siesich als reaktionär, als antiproletarisch entpuppen wird. Der ganze Sinndes Marxismus liegt in dieser doppelten Aufgabe, die nur von Leuten,die den Marxismus nicht verstehen, vereinfacht und zu einer einheitlichen

und gewöhnlichen Aufgabe verflacht werden kann.Hier ein konkretes Beispiel. Nehmen wir an, der Bauernaufstand habe

gesiegt. Die revolutionären Bauernkomitees und die provisorische revo-lutionäre Regierung (die sich zum Teil eben auf diese Komitees stützt)könn en jede beliebige Konfiskation des Großgrun dbesitzes durchführen.Wir treten für die Konfiskation ein, das haben wir bereits erklärt. Doch

* Siehe W erke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 204 -20 9, 2 18- 223 und 286 -30 0, russ.T > i e R e d .

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232 IV.J. Lenin

wem raten wir die konfiszierten Ländereien zu übergeben? In dieser Hin-

sicht habe n w ir uns die H än de nicht gebunden und werd en sie uns nie durchErklärungen von der Art binden, wie sie der Briefschreiber unvorsich-tigerweise vorschlägt. Er hat nämlich vergessen, daß dieselbe Resolutiondes III. Parteitag s erstens von d er „Säuberung des revolutionär-demo-

kratischen Inhalts derT Sauernbewegung von allen reaktionärenTteimisdrun-

gen" und zweitens von der Notwendigkeit einer „selbständigen Organi-

sation des Landp roletariats in allen 7ällen und unter allen Um ständen"

spricht. Das sind unsere Direktiven. Reaktionäre Beimischungen wird esin der Bauernbewegung immer geben, und wir erklären ihnen von vorn-

herein den Krieg. Der Klassenantagonismus zwischen dem Landprole-tariat und der Dorfbourgeoisie ist unvermeidlich, und wir enthüllen ihnvon vornherein, erläutern ihn, bereiten uns zum Kampfe auf seiner Basis

vor. Zu einem Anlaß dieses Kampfes kann sehr leicht die Frage werden,wem und wie die konfiszierten Ländereien zu übergeben sind. Und wirvertuschen diese Frage nicht, wir versprechen keine ausgleichende Auf-teilung, „Sozialisierung" u. dgl. m., sondern sagen: Auf diesem Gebietwerden wir noch kämpfen, werden wieder kämpfen, werden auf neuemKampfboden und mit anderen Verbündeten kämpfen; da werden wir un-

bedingt mit dem Landproletariat, mit der ganzen Arbeiterklasse gegendie Dorfbourgeoisie stehen. Praktisch kann das sowohl den Übergang desBodens an die Klasse der kleinen Landwirte bedeuten, und zwar dort, wodas auf Knechtschaft, auf Leibeigenschaftsverhältnissen beruhende großeGrundeigentum vorherrscht, wo die materiellen Voraussetzungen dersozialistischen Groß prod uktion noch fehlen, als auch die Nation alisierung,wenn die demokratische Revolution einen vollen Sieg errungen hat, oderauch die Übergabe der großen kapitalistischen Güter an Arbeiterassozia-

tionen, denn von der demokratischen Revolution werden wir sofort, und

zwar nach Maßgabe unserer Kraft, der Kraft des klassenbewußten undorganisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolutionbeginnen. Wir sind für die ununterbrodiene Revolution. Wir werden nichtauf halbem Wege stehenbleiben. Wenn wir nicht sofort und unverzüglichalle möglichen „Sozialisierungen" versprechen, so eben deshalb, weil wirdie wirklichen Bedingungen dieser Aufgabe kennen und den im Schößeder Bauernschaft heranreifenden neuen Klassenkampf nicht vertuschen,sondern aufdecken.

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Das Verhä ltnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung 233

Zunächst unterstützen wir bis zu Ende, mit allen Mitteln, bis zur Kon-

fiskation, den Bauern überhaupt gegen den Gutsbesitzer, danach aber (undsogar nicht danach, sondern gleichzeitig) unterstützen wir das Proletariatgegen den Bauern überhaupt. Es wäre eine leere Utopie, jetzt die Kombi-nation der Kräfte innerhalb der Bauernschaft „am nächsten Tage" nachder (demokratischen) Revolution berechnen zu wollen. Ohne in Aben-teur ertum zu verfallen, ohn e unserem w issenschaftlichen G ewissen u ntreuzu werden, ohne nach bill iger Popularität zu haschen, können wir sagenund sagen wir nur das eine •. Wir werden mit allen Kräften der gesamtenBauernschaft helfen, die demokratische Revolution zu vollbringen, damites uns, der Partei des Proletariats, um so leichter sei, möglichst rasch zueiner neuen und höheren Aufgabe, zur sozialistischen Revolution, über-zugehen. Wir versprechen nach dem Siege des jetzigen Bauernaufstandskeinerlei Harmonie, keinerlei Ausgleichung und keinerlei „Sozialisierung",im Gegenteil , wir „versprechen" neuen Kampf, neue Ungleichheit undeine neue Revolution, die wir ja auch anstreben. Unsere Lehre schmecktweniger „süß" als die Märchen der Sozialrevolutionäre; wer aber nur mitsüßen Tränklein gelabt werden will, der gehe zu den Sozialrevolutionären,-solchen Leuten werden wir sagen-. Viel Glück auf den Weg.

Von diesem marxistischen Standpunkt aus ist unserer Meinung nachauch die Frage der Komitees zu lösen. Unseres Erachtens darf es keinesozialdemokratischen Bauernkomitees geben. Ist das Komitee sozialdemo-kratisch, so besteht es nicht nur aus Bauern, besteht es aus Bauern, so istes nicht rein proletarisch, nicht so zialdemok ratisch. Es gibt viele, die diesebeiden Dinge gern durcheinanderwerfen möchten — wir gehören nicht zuihnen. Wir werden überall , wo dies möglich ist , danach trachten, eigeneKomitees, Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu organi-sieren. Ihnen w erden ebenso Bauern wie Paupe rs, Intellektuelle wie Prosti-tuierte (kürzlich fragte uns ein Arbeiter in einem Brief, warum man nicht

unte r den Prostituierten agitiere), Soldaten w ie Lehrer un d A rbeiter —kurz um, alle Sozialdemokraten und niemand außer Sozialdemokraten an-gehören. Diese Komitees werden die gesamte sozialdemokratische Arbeitin ihrem ganzen Umfang leisten, wobei sie jedoch bestrebt sein werden,speziell und besonders das Landproletariat zu organisieren, denn dieSozialdemokratie ist die Klassenpartei des Proletariats. Ss ist der aller-größte Irrtum, zu glauben, daß die Organisierung jenes Proletariats, das

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234 "W. 7. Lenin

sich noch nicht völlig von allerlei Überbleibseln der Vergangenheit frei

gemacht hat, dem „orthodoxen Standpunkt widerspricht", und wir möch-ten annehmen, daß die darauf bezüglichen Stellen des Briefes auf einemeinfachen Mißverständnis beruhen. Das Stadt- und Industrieproletariatwird unvermeidlich den Hauptkern unserer Sozialdemokratischen Arbei-terpartei bilden, doch müssen w ir, wie auch unser Programm besagt, alleWerktätigen und Ausgebeuteten ohne Ausnahme heranziehen, aufklärenund organisieren: Kustare wie Paupers, Bettler wie Dienstboten, Land-streicher wie Prostituierte — selbstverständlich unter der notwendigen undobligatorischen Bedingung, daß sie sich der Sozialdemokratie anschließen,nicht aber die Sozialdemokratie sich ihnen anschließt; daß sie sich auf denStandpunkt des Proletariats stellen, nicht aber das Proletariat sich aufihren Standpunkt stellt.

W as haben aber die revolutionären Bauernkomitees damit zu tun? wirdder Leser fragen. Bedeutet das, daß sie nicht nötig sind? Doch, sie sindnötig. Unser Ideal ist, überall in den Dörfern rein sozialdemokratischeKomitees zu haben, die dann mit allen revolutionär-demokratischen Ele-menten, Gruppen und Zirkeln der Bauernschaft übereinkommen, revolu-tionäre Komitees zu gründen. Wir sehen hier eine völlige Analogie zurSelbständigkeit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Stadt undihrem Bündnis mit allen revolutionären Demokraten zum Zwecke desAufstands. Wir sind für den Aufstand der Bauernschaft. Wir sind un-bedingt gegen die Vermengung und Verschmelzung verschiedenartigerKlassenelemente und verschiedenartiger Parteien. Wir sind dafür, daß dieSozialdemokratie die gesamte revolutionäre Demokratie zum Aufstandanspornt, daß sie der gesamten revolutionären Demokratie hilft, sich zuorganisieren, und daß sie, ohne sich mit ihr zu verschmelzen, mit ihrSchulter an Schulter geht — in den Städten auf die Barrikaden, in denDörfern gegen die Gutsbesitzer und die Polizei.

Es lebe der Aufstand gegen die Selbstherrschaft in Stadt und Land! Eslebe die revolutionäre Sozialdemokratie, die Vorhut der gesamten revolu-tionären Demokratie in der gegenwärtigen Revolution!

„Troletari" 5Vr. 16, Na ch dem Jext des „Vroletari".14. (l.) Septembe r 1905.

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W A S W O L L E N U N D W A S F Ü R C H T E N

U N S E R E L I B E R A L E N B O U R G E O I S ?

Bei uns in Rußland steckt die politische Erziehung des Volkes und derIntelligenz noch in den ersten Anfängen. Bei uns haben sich klare politi-sche Oberzeugungen und feste Parteianschauungen bisher kaum heraus-gebildet. Bei uns schenkt man jedem Protest gegen die Selbstherrschaftnur allzu leicht Glauben und legt jede Kritik, die sich gegen Charakter undWesen eines solchen Protestes richtet, mißgünstig als eine schädliche Spal-tung der Befreiungsbewegung aus. Kein Wunder, daß unter dieser allge-meinen Flagge der Befreiung auch das unter der Redaktion des Herrn

Struve herausgegebene „Oswoboshdenije" in allen Kreisen der freiheitlichdenkenden Intelligenz, die es haß t, den K lasseninhalt des „Oswoboshden-zen"-Liberalismus zu analysieren, weit verbreitet ist.

Dabei bringt der Oswoboshdenzen-Liberalismus die Grundzüge desgesamten rassischen Liberalismus lediglich systematischer und zensurfreizum Ausdruck. Je weiter die Revolution vorwärtsschreitet, desto mehr ent-hüllt sich dieser L iberalismus selbst, desto unverzeihlicher w ird die Furcht,der Wahrheit ins Auge zu schauen und das wahre Wesen dieses Liberalis-mus zu erkennen. Sehr bezeichnend sind in dieser Hinsicht die „Politi-

schen Briefe" des bekannten Historikers Herrn Pawel Winogradow indem bekannten liberalen Organ „Russkije Wedomosti" (vom 5. August).Nicht m inder bezeichnend ist auch die Tatsache, daß andere liberale Blät-ter, wie „Nascha Shisn", aus dieser ehrenwerten Abhandlung ohne einWort der Empörung und Entrüstung Auszüge nachdrucken. Mit seltenerAnschaulichkeit hat Herr Pawel Winogradow die Interessen, die Taktikund die Mentalität der eigennützigen Bourgeoisie zum Ausdruck gebracht.Seine Offenheit könnte von diesen oder jenen gerisseneren Liberalen viel-

16 *

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236 W.J.Lenin

leicht als unangebracht empfund en w erden , um so wertvoller ist sie jedoch

für die klassenbew ußten A rbeiter. Hie r die Schlußsätze aus dem Artikel desH err n Win ograd ow , in denen die ganze Quintessenz zusamm engefaßt is t :

„Ich weiß nicht, ob es Rußland noch gelingen wird, zur neuen Ordnung aufeinem W ege zu kommen, der jenem nahe Hegt, den Deu tschland 1848 gegangenist; doch ich zweifle nicht daran, daß man alle Anstrengungen machen muß,um diesen und nicht den von Frankreich 1789 gewählten Weg zu beschreiten."

„Der unreifen, schlecht zusammengefügten, von innerer Feindschaft zerris-senen russischen Gesellschaft drohen auf dem letzteren Weg unerhörte Gefah-ren, wenn nicht gar der Un tergang . Es wäre unerwünscht, einen Anschauungs-

unterricht über die Themen Macht, Ordnung, nationale Einheit und sozialeOrganisation zu erleben, um so mehr, als diesen Anschauungsunterricht ent-weder der neu zu Kräften gekommene Urjadnik* oder der deutsche Wacht-meister erteilen w ird, dem eine Anarchie in Ruß land d ie Aussicht eröffnet,Vorsehung zu spielen."

Also das ist es, woran der russische Bourgeois am meisten denkt: an dieunerhörten Gefahren des „Weges" von 1789! Der Bourgeois ist nicht ab-geneigt, den Weg Deutschlands von 1848 zu beschreiten, er wird aber„alle Anstrengungen" machen, um den Weg Frankreichs zu vermeiden.Ein lehrreicher Ausspruch, über den es sich lohnt, sehr gründlich nach-zudenken.

Worin besteht der grundlegende Unterschied zwischen den beiden We-gen? Darin, daß die bürgerlich-demokratische Umwälzung, die 1789 vonFrankreich, 1848 von Deutschland verwirklicht wurde, dort vollendetw urd e, hier aber nicht. Im ersten Falle ging die Um wälzu ng bis zur Repu-blik und zur vollen Freiheit , im zweiten machte sie halt , ohne die Monar-chie und die Reaktion gebrochen zu haben. Im zweiten Falle vollzog sichdie Umwälzung hauptsächlich unter der Führung der l iberalen Bourgeois,die in ihrem Schlepptau die nicht genügend gefestigte Arbeiterklasse führ-ten, im ersten Falle wurde sie, wenn auch nur zu einem bestimmten Teil ,von der aktiv-revolutionären Vo lksmasse, den Arb eitern und Bauern durch-geführt, die, wenn auch nur zeitweise, die solide und gemäßigte Bourgeoi-sie beiseite geschoben hatten. Im zweiten Falle kam es rasch zur „Beruhi-gung " des Landes, d.h . zu r Unterdrück ung des revolutionären Volkes undzum Sieg des „Urjadniks und des Wachtmeisters", im ersten Falle kam es

* Der russische Polizist. Der "Übers.

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"Was wollen und w as fürdbten unsere liberalen Bourgeois? 237

für eine gewisse Zeitspanne zur Herrschaft des revolutionären Volkes, das

den W iderstand der „Urjadniks und W achtmeister" gebrochen ha tte .Und da tritt nun ein gelehrter Lakai der russischen Bourgeoisie in dem

höchst „ehrenwerten" liberalen Organ mit einer Warnung vor dem ersten,dem „französischen" Weg hervor. Der gelehrte Historiker wünscht den„deutschen" Weg und spricht das offen aus. Er weiß ausgezeichnet, daßman bei dem deutschen Weg um den bewaffneten Volksaufstand nichtherumge komm en ist. In den Jahre n 1848 und 1849 gab es in Deutschlandeine ganze R eihe von Aufständen und sogar provisorischen revolutionärenRegierungen. ~Dod> keiner dieser Aufstände war völlig siegreich. Der er-

folgreichste Aufstand, der Berliner Aufstand vom 18. März 1848, endetenicht mit dem Sturz der Königsmacht, sondern mit Zugeständnissen desan der Macht gebliebenen Königs, der sich von der Teilniederlage sehrrasch erholen und alle diese Zugeständnisse zurücknehmen konnte.

Der gelehrte Historiker der Bourgeoisie fürchtet also nicht die Auf-stände des Volkes. Er fürdhtet den Sieg des Volkes. Er fürchtet nicht, daßdas Volk der Reaktion, der Bürokratie, der ihm verhaßten Bürokratie,einen kleinen Denkzettel geben könnte. Er fürdhtet den Sturz der reaktio-

nären Macht durdh das Volk. Er haßt die Selbstherrschaft und wünscht von

ganzem Herzen ihren Sturz, Rußlands ^Untergang aber erwartet er nichtvon der Erhaltung der Selbstherrschaft, nicht von d er Vergiftung des Volks-organismus durch das langsame Verfaulen des nicht abgetöteten Parasitender monarchistischen Regierungsmacht, sondern vom vollen Sieg des

Volkes.

Er weiß es, dieser M an n d er Dreigroschenwissenschaft, da ß die Zeit derRevolution eine Zeit des Anschauungsunterrichts für das Volk ist, undweil er keinen Anschauungsunterricht über das Thema Vernichtung derReaktion will, schreckt er uns mit dem Anschauungsunterricht über das

Th ema Vernichtung der Revolution. Wie das Feuer fürchtet er den Weg,auf dem die Revolution, wenn auch nur für kurze Zeit, einen vollen Siegerringen kon nte, und er ersehnt von ganzem H erze n einen Ausg ang in derArt des deutschen, als die Reaktion für lange, sehr lange Zeit einen vollenSieg errang.

Er begrüßt nicht die Revolution in Rußland, sondern möchte ihr ledig-lich mildernde Umstände zubilligen. Er wünscht keine siegreiche Revolu-tion, sondern eine mißlungene Revolution. Er betrachtet die Reaktion als

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238 W. % Lenin

eine gesetz- und rechtmäßige, natürliche und dauerhafte, zuverlässige und

vernünftige Erscheinung. Er betrachtet die Revolution als eine gesetz-widrige, phantastische, unrechtmäßige Erscheinung, die bestenfalls bis zueinem gewissen Grade durch die Labilität, die „Schwäche" und das „Un-vermögen" der absolutistischen Regierung gerechtfertigt werden kann.Dieser „objektive" Historiker sieht in der Revolution nicht ein höchst ge-setzmäßiges Recht des Volkes, sondern ein sündhaftes und gefährlichesVerfahren, die Auswüchse der Reaktion zu beschneiden. Für ihn ist dieRevolution, die einen vollen Sieg errungen hat, „Anarchie", die Reaktionaber, die einen vollen Sieg errungen hat, ist keine Anarchie, sondern nur

eine kleine Übertreibung gewisser notwendiger Staatsfunktionen. Erkennt keine andere „Macht" als die monarchistische, keine andere „Ord -nung" und keine andere „gesellschaftliche Organisation" als die bürger-liche. Von jenen Kräften Europas, denen die Revolution in Rußland „dieAussicht eröffnet, Vorsehung zu spielen", kennt er nur den „deutschenWachtmeister", während er den deutschen sozialdemokratischen Arbeiternicht kennt und nicht kennen will. Am unerträglichsten ist ihm der „Hoch-mut" jener, die „sich anschicken, die westliche Bourgeoisie zu überholen".(Der Herr Professor setzt das Wort Bourgeoisie in ironische Anfüh-

rungszeichen, als wollte er sagen: was für ein blödsinniger Terminus inAnwendung auf die europäische, die eu-ro-pä-i-sche Kultur!) Gutmütigverschließt dieser „objektive Historiker" die Augen vor der Tatsache, daßEuropa gerade deshalb schon seit vielen Jahrzehnten politisch stillstehtoder rückwärtsgeht, weil in Rußland die niederträchtige Selbstherrschaftam Leben erhalten bleibt. Er fürchtet den Anschauungsunterricht des „neuzu Kräften gekommenen Urjadniks", und daher warnt er — oh, dieserVolkstribun! oh, diese politische Leuchte! — eindringlichst davor, alle„Kräfte" des heutigen Urjadniks entschlossen zu vernichten. Welch ver-ächtliche, knechtselige Figur! Welch abscheulicher Verrat an der Revolutionunte r dem Deckmantel einer angeblich gelehrten und angeblich objektivenUntersuchung der Frage! Kratzt den Russen, und zum Vorschein kommtder Tatar, sagte Napoleon. Kratzt den russischen liberalen Bourgeois,sagen wir, und zum Vorschein kommt, in eine funkelnagelneue Uniformgekleidet, der Urjadnik, dem man aus der scharfsinnigen, „gelehrten" und„objektiven" Erwägung heraus, daß er sonst am Ende „neu, zu Kräftenkommen" möchte, neun Zehntel seiner alten Kraft belassen hat. Jeder

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IVas wollen und w as furalten unsere liberalen Bourgeois? 239

Ideologe der Bourgeoisie ist durch und durch eine Krämerseele; er denkt

nicht daran, die Xrä/te der Reaktion und des „Urjadniks" zu vernichten,sondern daran, diesen Urjadnik durch ein möglichst rasch geschlossenesSchachergeschäft zu bestechen, zu schmieren und milder zu stimmen.

Wie unübertrefflich bestätigt doch dieser gelehrte Ideologe der Bour-geoisie alles, was wir schon des öfteren im „Proletari" über Wesen undCharakter des russischen Liberalismus gesagt haben! Zum Unterschiedvon der europäischen Bourgeoisie, die seinerzeit revolutionär war underst nach Jahrzehnten auf die Seite der Reaktion überging, überspringenunsere einheimischen Weisen die Revolution oder wollen sie zumindest

überspringen, um sogleich zu einer gemäßigten und akkuraten Herrschaftder reaktionären Bourgeoisie zu gelangen. Die Bourgeoisie will und kannaus ihrer Klassenlage heraus die Revolution nicht wünschen. Sie will nurein Schachergeschäft mit der Monarchie gegen das revolutionäre Volk, siewill sich nu r hinte r dem Rücken dieses Volkes die Macht erschleichen.

Welch lehrreiche Lektion erteilt dieser Weise der liberalen Bourgeoisiejenen Doktrinären der Sozialdemokratie, die sich bis zu folgender Reso-lution verstiegen haben, die von den kaukasischen Neuiskristen angenom-men und von der „Iskra"-Redaktion in einem Extrablatt ausdrüdklid) ge-

billigt wurde. Diese Resolution ist (zusammen mit der Billigung durch die„Iskra") in der Broschüre „Zw ei Tak tiken" (S. 68 /69 )* von N .L en inungekürzt abgedruckt. Da sie aber den Genossen in Rußland kaum be-kannt ist, weil die Redaktion der „Iskra" selbst kein Verlangen trug, dieseResolution, die sie in ihrer Zeitung als „sehr gelungen" bezeichnete, zuveröffentlichen, geben wir sie hier zur Belehrung aller Sozialdemokratenund zur Beschämung der „Iskra" vollständig wieder:

„Da die Konferenz" (die kaukasische Konferenz der Neuiskristen) „esals ihre Aufgabe betrachtet, den revolutionären Augenblick zur Vertiefung

des sozialdemokratischen Bewußtseins des Proletariats auszunutzen,spricht sie sich, um der Partei die vollste Freiheit der Kritik an dem ent-stehenden bürgerlich-staatlichen Regime zu sichern, gegen die Bildungeiner sozialdemokratischen provisorischen Regierung und gegen den Ein-tritt in eine solche Regierung aus und hält es für das zweckmäßigste, aufdie bürgerliche provisorische Regierung zwecks angemessener Demokra-tisierung des staatlichen Regimes einen Druck von außen auszuüben. Die

* Siehe den vorliegenden Band, S. 83. Die Red.

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240 W.JXenin

Konferenz ist der Meinung, daß die Bildung einer provisorischen Regierungdurch die Sozialdemokraten oder der Eintritt in eine solche einerseits zumAbfall breiter Massen des Proletariats von der sozialdemokratischen Par-tei führen würde, die von ihr enttäuscht w ären, weil die Sozialdemokratie,ungeachtet der M achtergreifung, die dringenden Bedürfnisse der Arbeiter-klasse einschließlich der Verwirklichung des Sozialismus nicht befriedigenkönnte, anderseits aber die bürgerlichen Klassen veranlassen würde, vonder Revolution abzuschwenken, wodurch der Schwung der Revolution ge-schwächt würde."

Das ist eine schändliche Resolution, denn sie drückt (ohne Willen undWissen ihrer Verfasser, die auf die schiefe Ebene des Opportunismus ge-raten sind) den Verrat der Interessen der Arbeiterklasse an die Bourgeoi-sie aus. Diese Resolution gibt ihren Segen dazu, daß das Proletariat fürdie Zeit der demokratischen Revolution in ein Anhängsel der Bourgeoisieverwandelt wird. Man braucht nur diese Resolution neben das oben an-geführte Zitat aus dem Artikel des Herrn Winogradow zu setzen (undähnliche Zitate findet jeder zu Hunderten und Tausenden in der liberalenPublizistik), um zu erkennen, in welchem Sumpf die Neuiskristen versun-ken sind.Herr Winogradow, dieser höchst typische Ideologe der Bourgeoi-sie, ist ja von der Revolution bereits abgeschwenkt. Hat er dadurch nichtden „Schwung der Revolution" geschwächt, ihr Herren Neuiskristen?Müßtet ihr nicht mit einem Schuldbekenntnis zu den Herren Winogradowgehen und sie um den "Preis eures Verzidrts auf die Tübrung in der Revo-lution anflehen, „von der Revolution nicht abzuschwenken"?

„Proletari" 3Vr. 16, "Nach dem lext des „Proletari".14. (l.) Septemb er 1905.

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D I E T H E O R I E D E R S E L B S T E N T S T E H U N G

„Die ,Iskra' hat gezeigt, daß sich die konstituierende Versammlung aufdem Weg der Selbstentstehung, ohne Mitwirkung einer Regierung, ganzgleich welcher, also auch einer provisorischen, bilden kann. Von jetzt abkann diese schreckliche Frage als erschöpft gelten, und der ganze Streit,der sich daran knüpfte, muß aufhören."

So schreibt der „Bund" in Nr. 247 der „Poslednije Iswestija", datiertvom 1. September (19. August). Ist das keine Iron ie, so kann man sich einebessere „Entwicklung "der iskristischen Ansichten gar nicht vorstellen.Jedenfalls ist die Theorie der „Selbstentstehung" aufgestellt, die „schreck-liche Frage" ist erschöpft, der Streit „muß aufhören". Welch ein Segen!W ir werden jetzt leben, ohne uns über diese schreckliche Frage zu streiten,wir w erden diese neue, frisch entdeckte, einfache und wie ein Kinderaugeklare Theorie der „Selbstentstehung" hegen und pflegen. Zwar ist dieseTheorie der Selbstentstehung nicht von selbst entstanden, sondern voraller Augen, als eine Frucht der Liebe zwischen „Bund" und neuer„Iskra" — aber wichtig ist ja der Wert einer Theorie, nicht ihre Ent-stehung!

Wie wenig erfinderisch waren doch diese schlechtberatenen russischenSozialdemokraten, die diese „schreckliche Frage" sowohl auf dem III. Par-teitag der SDAPR als auch auf der Konferenz der Neuiskristen erörterthaben: Die einen redeten immerfort von einer provisorischen Regierungzwecks Entstehung — nicht Selbstentstehung — einer konstituierenden Ver-sammlung; die anderen ließen die Möglichkeit zu (Resolution der Konfe-renz), daß „der entscheidende Sieg der Revolution über den Zarismus"auch „durch den Beschluß einer Vertretungskörperschaft, unter dem

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242 TV. 1 Lenin

unmittelbaren revolutionären Druck des Volkes eine konstituierende Ver-

sammlung einzuberufen, gekennzeichnet sein kann". Und niemand, nichteinmal die gesamte Redaktion der neuen „Iskra" mitsamt Plechanow, diean der Konferenz teilnahm, kam auf den Gedanken, den jetzt „die ,Jskra'gezeigt" und der „Bund" resümiert, fixiert und auf einen wunderhübschenNam en getauft hat. W ie alle genialen Entdeckungen hat auch die Jbeorieder Selbstentstebung einer konstituierenden Versammlung plötzlich Lichtin das Chaos gebracht. Jetzt ist alles klar geworden. Man braucht sichnicht mehr über die provisorische revolutionäre Regierung den Kopf zuzerbrechen (erinnert euch des bedeutsamen Ausspruchs der „Iskra": euer

Mund soll nicht durch die Verbindung der Worte „es lebe" und „die Re-gierung" entweiht werden!), man braucht den Mitgliedern der Reichs-duma nicht mehr die „revolutionäre Verpflichtung" abzuverlangen, „dieReichsduma in eine revolutionäre Versammlung zu verwandeln" (Tschere-wanin in Nr. 108 der „Iskra"). Die konstituierende Versammlung kannvo n selbst entstehen!! Das wird ihre makellose Geburt unmittelbar durchdas Volk sein, das sich durch keinerlei „Mittlerschaft" einer Regierung, seies auch einer provisorischen, sei es auch einer revolutionären, beschmutzt.Das wird eine „unbefleckte" Geburt auf dem reinen W eg der allgemeinen

W ahlen sein, ohne jeden „jakobinischen" Kampf um die Macht, ohne jedeEntweihung der heiligen Sache durch den V errat bürgerlicher Vertretungs-körperschaften, ja sogar ohne die plumpen Hebam men, die in dieser unrei-nen, sündigen, schmutzigen Welt bisher immer just dann die Bühne be-traten, wenn die alte Gesellschaft mit einer neuen schwanger ging.

Es lebe die Selbstentstehung! Mögen alle revolutionären Völker ganzRußlands jetzt erkennen, daß diese Selbstentstehung „möglich" und damitfür sie auch notwendig ist, weil sie den rationellsten, leichtesten und ein-fachsten Weg zur Freiheit darstellt! Möge zu Ehren des „Bund" und der

neuen „Iskra", dieser selbstentstandenen Eltern der Theorie der Selbst-entstehung, schnellstens ein Denkmal errichtet werden!So sehr wir indes durch das strahlende Licht der neuen wissenschaft-

lichen Entdeckung geblendet sind, müssen wir dennoch einige niedereEigenschaften dieser erhabenen Schöpfung leichthin streifen. Wird derMond in Ham burg miserabel gemacht7S, so werden die neuen Theorien inder Redaktion der „Poslednije Iswestija" auch nicht gerade sorgfältig fa-briziert. Es gibt ein einfaches Rezept, das von jeher bei Leuten beliebt ist,

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Die Jbeorie der Selbstentstebung 243

die niemals auch nur einen einzigen selbständigen Gedanken verbrochen

haben: Man nehme entgegengesetzte Auffassungen, verrühre sie gut undteile die Mischung halb un d halb! Vom „Proletari" nehme man die K ritikder Volkswahlen unter der Selbstherrschaft, von der „Iskra" d ie Verurtei-lung der „schrecklichen Frage", vom „Proletari" den aktiven Boykott, vonder „Iskra" die Unbrauchbarkeit des Aufstands als Losung... „wie dasBienchen von jedem Blümchen sein Scherflein ho lt" . Und die guten Bundi-sten putzen sich selbstzufrieden heraus, freuen sich, daß der Streit überdie schreckliche Frage aufhört, und sind von sich selbst entzückt: Wie sindsie doch über die Enge und Enseitigkeit der Auffassungen beider streiten-

den Parteien erhaben!Etwas stimmt bei euch nicht, werte Genossen vom „Bund". Andere„Wege der Selbstentstehung", außer dem neuiskristischen, habt ihr nichtgezeigt. Und was diesen Weg anbelangt, so habt ihr selbst zugeben müs-sen, daß die Wahlen von Volksvertretern „unter den Verhältnissen derSelbstherrschaft und gegen den W illen der Regierung, die über die ganzeStaatsmaschine verfügt", nur lädherlidhe Wahlen sein können. Laßt unsdoch nicht auf halbem W ege im Stich, o Schöpfer der neuen Th eor ie: sagtuns, auf welchem „Wege", außer dem neuiskristischen, ihr euch die

„Selbstentstehung den kt"!Der „Proletari" schrieb gegen die „Iskra", daß unter der Selbstherr-schaft nur die Oswoboshdenzen Wahlen durchführen können, die sie gernfür Volkswahlen ausgeben möchten.* Der „Bund" erwidert: „Dieses Argu-ment hält keiner Kritik stand, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß dieSelbstherrschaft niemandem gestatten wird — auch den Oswoboshdenzennicht —, über den vom Gesetz festgelegten Rahmen hinaus Wahlen vor-zunehmen." Wir bemerken dazu mit aller Ehrerbietung: Von denSemstwoleuten, den Stadtverordneten und den Mitgliedern der „Ver-bänd e" w urden und werden W ahlen vorgenommen. Das ist eine Tatsache.Der Beweis liegt auf der Ha nd : ihre zahlreichen Büros.

Der „Bund" schreibt: „Eine Agitation gegen die Duma, für den bewaff-neten Aufstand läßt sich überhaupt (!) nicht durchführen, da der Auf-stand, der nur ein Mittel zur Verwirklichung des politischen Umsturzesist, in diesem Falle" (und nicht „überhaupt"?) „nicht als Agitationslosungdienen kann. Auf die Duma kann und muß mit der Ausweitung und Ver-

*~Sfehe den vorliegenden Band, S. 190/191. Die Red.

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244 IV.l.Cenin

tiefung de r politischen Agitation für die konstituierende Versammlung auf

Grund des allgemeinen usw. Stimmrechts geantwortet werden." Wir er-widern: Erstens, wenn die Bundisten ein wenig nachgedacht oder einfachunser Parteiprogramm zu Rate gezogen hätten, so hätten sie gesehen, daßauch die konstituierende Versammlung nur ein „Mittel" ist. Es ist unver-nünftig, das eine „Mittel" als geeignet, das andere aber als „überhaupt"ungeeignet für eine Losung zu erklären. Zweitens, wir haben schon längstund viele Male ausführlich klargelegt, daß die Losung der konstituieren-den Versammlung allein gar nichts taugt, denn sie ist zur Losung derOswoboshdenzen, zur Losung der bürgerlichen „Vereinbarer" geworden

(siehe „Proletari" Nr. 3 und 4) *. Von der liberal-monarchistischen Bour-geoisie ist es durchaus natürlich, da ß sie die Frage, wie die konstituierendeVersammlung einberufen werden soll, im dunkeln läßt. Für Vertreter desrevolutionären Proletariats aber ist das völlig unzulässig. Zu den ersterenpaß t die Theorie der Selbstentstehung vollauf. Letztere aber kann sie vorden klassenbewußten Arbeitern nur bloßstellen.

Das letzte Argument des „Bund": „Der bewaffnete Aufstand ist not-wendig, man muß sich auf ihn vorbereiten, vorbereiten und nochmals vor-bereiten. Aber wir sind einstweilen nicht imstande, ihn hervorzurufen,

deshalb (!!) ist es zwecklos, ihn mit der Duma zu verknüpfen." Wir er-wid ern: 1. Die Notwendigkeit des Aufstands und seiner Vorbereitung an -erkennen und gleichzeitig über die Frage der „Kampfgruppen" (die, wieder „Bund" schreibt, „dem Arsenal des ,Wperjod' entnommen ist") ver-ächtlich die Nase rümpfen, das heißt sich selber ohrfeigen, das heißt be-weisen, daß man das, was man geschrieben, nicht durchdacht hat. 2. Dieprovisorische revolutionäre Regierung ist ein Organ des Aufstands. Diesein der Resolution des III. Parteitags direkt ausgesprochene These ist imGrunde auch von der neuiskristischen Konferenz angenommen worden,wenn auch nach unserer Meinung in einer weniger glücklichen Fassung(die „aus einem siegreichen Volksaufstand hervorgehende" provisorischerevolutionäre Regierung: Sowohl die Logik als auch die geschichtliche Er-fahrung zeigen, daß provisorische revolutionäre Regierungen als Organedes Aufstands, des gar nicht siegreichen oder des nicht ganz siegreichenAufstands, möglich sind; außerdem ist es so, daß die provisorische revolu-tionäre Regierung aus dem Aufstand nicht nur „hervorgeht", sondern ihn

*~STehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 458, 477—483 russ. Vie Red.

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Die Jheorie der Selbstentstehung 245

auch leite t). Die Bundisten machen keinen Versuch, diese These anzufech-

ten, und sie läßt sich auch nicht anfechten. Die Notwendigkeit des Auf-stands und seiner Vorbereitung anerkennen und gleichzeitig verlangen,daß der Streit über die „schreckliche Frage" der provisorischen Regierungaufhört, das heißt schreiben, ohne zu denken. 3. Der Satz, daß sich diekonstituierende Versammlung „ohne Mitwirkung einer Regierung, ganzgleich welcher, also auch einer provisorischen, bilden kann", ist eine an-ardristisdbe Phrase. Sie steht durchaus auf dem Niveau der berühmteniskristischen Phrase über die „Entweihung" des Mundes durch die Verbin-dung der Worte „es lebe" und „die Regierung". Sie zeigt das Unverständ-

nis für die Bedeutung der revolutionären Staatsmacht als eines der größ-ten und höchsten „Mittel", den politischen Umsturz zu verwirklichen.Der billige „Liberalismus", mit dem der „Bund", dem Beispiel der „Iskra"folgend, hier paradiert (überhaupt ohne Regierung, sei es auch eine provi-sorische!), ist nichts anderes als anarchistischer Liberalismus. Die Bildungeiner konstituierenden Versammlung ohne M itwirkung eines Aufstandsist ein Gedanke, der nur bürgerlichen Banausen ansteht, wie auch die Ge-nossen vom „Bund" sehen. Und ein Aufstand ohne Mitwirkung einer pro-visorischen revolutionären Regierung kann weder das ganze Volk umfas-sen noch siegreich sein. W ir müssen also leider imm er wieder konstatieren,daß sich bei den Bundisten das eine mit dem andern absolut nicht zusam-menreimt. 4. Wenn man sich auf den Aufstand vorbereiten m uß, so gehörtzu dieser Vorbereitung notwendigerweise auch die Verbreitung und Er-läuterung der Losungen: bewaffneter Volksauf stand, revolutionäre Armee,provisorische revolutionäre Regierung. W ir m üssen sowohl selbst die neuenKampfmethoden, ihre Bedingungen, ihre Formen, ihre Gefahren, ihrepraktische Durchführung usw. studieren als auch die Massen darüber auf-klären. 5. Die These „Wir sind einstweilen nicht imstande, den Aufstandhervorzurufen" ist falsch. Die Ereignisse auf dem „Potjomkin" haben

vielmehr gezeigt, daß wir nicht imstande sind, verfrühte Ausbrüche desin Vorbereitung befindUdben Aufstands zu verhindern. Die Matrosen des„Potjomkin" waren weniger vorbereitet als die Matrosen anderer Schiffe,und der Aufstand war daher weniger umfassend, als er hätte sein können.Was folgt daraus? Daß es zur Aufgabe der Vorbereitung eines Auf-stands gehört, verfrühte Ausbrüche eines in Vorbereitung befindlichen oderschon fast vorbereiteten Aufstands zu verhindern. Daß der elementar

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246 IV . 3. Lenin

anwachsende Aufstand unsere bewußte und planmäßige Arbeit seiner

Vorbereitung überholt. Auch jetzt sind wir nicht imstande, zersplitterte,vereinzelte, bald hier, bald dort spontan auftretende Ausbrüche des Auf-stands zu verhindern. Um so mehr sind wir verpflichtet, uns mit der Ver-breitung und Erläuterung aller politischen Aufgaben und der politischenVorbedingungen eines erfolgreichen Aufstands zu beeilen. Um so wenigerklug sind folglich Vorschläge, mit dem Streit über die „schreckliche Frage"der provisorischen Regierung aufzuhören. 6. Ist der Gedanke richtig, daß„es zwecklos ist, den Aufstand mit der Duma zu verknüpfen" ? Nein, erist falsch. Es ist unsinnig, den Zeitpunkt des Aufstands im voraus, zumal

von hier, aus dem Ausland, bestimmen zu wollen. Von einer „Verknüp-fung" in diesem Sinne kann, wie der „Proletari" oft genug gesagt hat, garkeine Rede sein. Aber die Agitation für den Aufstand, seine Propagie-rung, muß man mit allen wichtigen und das Volk aufrüttelnden politischenEreignissen „verknüpfen". Der ganze Streit dreht sich bei uns jetzt geradedarum, welche Agitationslosung im Mittelpunkt unserer ganzen „Dum a"-agitationskampagne stehen soll. Ist die Duma ein solches Ereignis? Ja,zweifellos. Werden uns die Arbeiter und Bauern fragen: wie antwortetman am besten auf die Duma? Ganz gewiß werden sie das fragen undhaben es schon getan. Wie soll man auf diese Fragen antworten? Nichtindem man auf die Selbstentstehung hinweist (darüber kann man nurlachen), sondern indem man die Bedingungen, Formen, Voraussetzungen,Aufgaben und Organe des Aufstands erklärt. Je mehr wir mit solcher Auf-klärung erreichen, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich dieunvermeidlichen Ausbrüche des Aufstands leichter und schneller zu einemerfolgreichen, siegreichen Aufstand entwickeln werden.

„Proletari" 'Nr. 16, 9Jado dem 7ext des „Proletari".

14. (i.) September i905.

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B R I E F A N D A S I N T E R N A T I O N A L E

S O Z I A L I S T I S C H E B Ü R O

16. September 1905

W erter Genosse! Alle Ihre Briefe, in denen eine Vermittlung des Inter-nationalen Sozialistischen Büros zur Aussöhnung der beiden Fraktionenunserer Partei vorgeschlagen w ird, sind an das Zentralkomitee in Rußlandgesandt worden. Nunmehr kann ich Ihnen mitteilen, daß das Zentral-komitee bereit ist, an der erwähnten Konferenz teilzunehmen, voraus-gesetzt, daß sie nur den Charakter einer Vorberatung träg t. Ich hoffe, dieDelegierten des Zentralkomitees werden in nächster Zeit, voraussichtlichim September, nach Genf oder Berlin kommen.

Indessen muß ich Ihnen mitteilen, daß das Zentralkomitee im Begriffsteht, in Rußland mit der Organisationskommission, dem Vollzugsorgander Parteiminderheit, ein Übereinkommen zu schließen. Die V orverhand-lungen haben bereits stattgefunden, und die beiden Parteien haben sichüber die Summen geeinigt, die von den ausländischen Organisationen fürdie russische Revolution abgeführt worden sind. Der Text dieser Verein-barung ist Ihnen vor zwei Wochen zugesandt worden.

Da die Aussöhnung nur dauerhaft sein kann, wenn sie durch ein vollesEinvernehmen zwischen den Genossen in Rußland verbürgt ist, wäre eszweckmäßig, das Ergebnis dieser Verhandlungen abzuwarten, bevor mandie Konferenz, von der Sie schreiben, einberuft.

"Wladimir Wjanow ("N. Lenin)

Zuerst veröffentlidht i929 Nado dem 7 ext der 2.—3. Ausgabein der 2.-3. Ausgabe der "Werke, verglichen mit demder Werke "W. 1. Zenins, Durchschlag des französischenHand VIII. Sdbreibmasdhinentextes.

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D I E F R E U N D E H A B E N S I C H G E F U N D E N

In den letzten Tagen brachten die ausländischen Zeitungen, die die Ent-wicklung der politischen Krise in Rußland äußerst aufmerksam verfolgen,eine Reihe interessanter Meldungen über die Tätigkeit der Semstwoleuteund der Oswoboshdenzen. Hier die Meldungen:

„Die hiesige [Petersburger] Konferenz der Adelsmarschälle erzieltenach zweistündiger Beratung ein volles Einvernehmen mit dem Ministerdes Innern über die Wahlen" zur Reichsduma („Vossische Zeitung" 76

vom 16. September). „Aus allen russischen Gouvernements und Städten

wird völlige Gleichgültigkeit der Mehrzahl der Wahlfähigen gegenüberden ihnen gewährten politischen Rechten gemeldet" (ebenda). Golowin(Vorsitzender des Moskauer Semstwoamtes) verhandelt mit Dumowo(Generalgouverneur von Moskau) über die Genehmigung der Semstwo-tagung. Dumowo sagte zu Golowin, er sympathisiere durchaus mit denSemstwoleuten, habe jedoch den Befehl, die Tagung mit allen Mitteln zuverhindern. Golowin berief sich auf die Tagung der Professoren. Dumowoantwortete, daß „das etwas ganz anderes sei, da die H ochschüler zum Be-ginn der Studien auf jeden Fall überredet werden müßten" („Frankfurter

Zeitung" vom 17. September). „Die Semstwotagung, die das Wahlpro-gramm beraten soll, ist für den 25. September in Moskau unter der Be-dingung genehmigt worden, daß sie sich strikt an diese Frage hält"(„Times" vom 18. September, Depesche aus St. Petersburg). „Herr Go-lowin besuchte heute den Generalgouverneur, um mit ihm über die bevor-stehende Semstwotagung zu verhandeln. Seine Exzellenz erklärte, die Ta-gung sei genehmigt, aber ihr Programm müsse sich auf drei Fragen be-schränken: 1. Beteiligung der Semstwos und der Städte an den Wahlen

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Die "freunde haben sich gefunden 249

zur Reichsduma; 2 . Organisat ion der W ahlka m pagn e; 3 . Betei ligung

der Semstwos und Städte an der Hungerhilfe" (ebenda, Depesche ausMo sk au ) .

Die Freunde haben sich gefunden, die Freunde haben sich verständigt.Der Pakt zwischen Golowin (dem Führer der Semstwopartei) und Dur-nowo ist geschlossen. Nur Säuglinge könnten so blind sein, nicht zu sehen,daß der Pakt auf gegenseitigen Zugeständnissen, auf dem Prinzip do utdes (ich gebe, dam it du gibst) beruh t. W as die Selbstherrschaft zugestan-den hat, ist klar: sie hat die Tagung genehmigt. Was die Semstwopartei(oder die Osw oboshden zenpartei? Allah hal te sie auseinander! Ab er lohnt

es sich überhaupt, sie auseinanderzuhalten?) zugestanden hat, darüberspricht niemand. Die Bourgeoisie hat allen Grund, ihre Verhandlungenmit der Selbstherrschaft geheimz uhalten. Abe r kennen w ir die De tails, dieEinzelheiten nicht, so kennen wir um so besser den Kern der Zugeständ-nisse der Bourgeoisie. Die Bourgeo isie hat der Selbstherrschaft verspro-

chen, ihren revolutionären Eifer zu dämpfen, der dar in bestand, daß manPetrunkewitsch am Hof für einen gewesenen Revolutionär hielt. . . DieBourgeoisie hat versprochen, einen kleinen Preisnadhiaß mit einem großen

zu beantworten. W ie gro ß der Preisnachlaß ist, wissen wir nicht. W ir w is-

sen aber, daß der „Kaufpreis" der Bourgeoisie zwei Seiten hatte: für dasVolk — eine monarchische Verfassung m it zwei K am me rn; für denZa ren — die Einberufung von Volksve rtretern u nd weiter nichts (denngegenüber Nikolaus II . von mehr zu sprechen, wagte die famose Delega-tion der Semstwoleute nicht). Un d jetzt ha t die Bourgeoisie der Selbstherr-schaft versprochen, ihr von diesem zweiseitigen Kaufpreis noch einenNachlaß zu gewähren. Die Bourgeoisie hat versprochen, untertänig, loyal

und legal zu sein*

Die Freunde haben sich gefunden, die Freunde haben sich geeinigt.

Ungefähr zur selben Zeit haben andere Freunde begonnen, sich zu

* Am 21 . September meldeten die Auslandszeitungen aus Petersburg, daßdas Büro der Sem stwotagung viele Absagen für die auf den 2 5. Septemberangesetzte Tagung erhält, und zwar mit der Begründung, daß das Programmder Tagung durch die Regierung stark beschnitten worden ist. Wir verbürgenuns nicht für die Richtigkeit dieser Meldung, aber wenn es sich auch nur umein Gerücht handeln sollte, bestätigt sie unbedingt unsere Ansicht über dieBedeutung der Unterredung Golowins mit Durnowo.

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finden und sich zu verständigen. Der Petersburger Berichterstatter des Bör-

senblattes „Frankfurter Zeitung" (vom 15. September) meldet, daß einegeheime Tagung des „Verbandes des Oswoboshdenije" [Bundes der Be-freiung] stattgefunden habe, und zwar anscheinend in Moskau. „Auf die-ser Versammlung wurde beschlossen, den ,Verband des Oswoboshdenije'in eine demokratisch-konstitutionelle Partei umzuformen, und zwar wurdedieser Antrag von den zum Verbände gehörenden Semstwomännern ge-stellt und von der Versammlung einstimmig angenommen. Hierauf wurden40 Verbandsmitglieder gewählt, die den Auftrag erhielten, das Partei-programm auszuarbeiten und zu redigieren. Diese Kommission wird ihre

Funktionen demnächst beginnen." Auch die Frage der Reichsduma wurdeerörtert. Nach lebhaften Debatten wurde beschlossen, „sich an den Wah-len zu beteiligen, jedoch mit der Bedingung, daß die gewählten Parteiglie-der sich an der Reichsduma nicht beteiligen, um die laufenden Angelegen-heiten zu erledigen, sondern sich wählen lassen, um in der Reichsdumaselbst den Kampf aufzunehmen". In den Debatten wurde darauf hinge-wiesen, daß ein umfassender (oder weitgehender) Boykott der Wahlennicht möglich sei, nur ein solcher aber Sinn hätte. (Ha t denn in dieser Ver-sammlung, meine Herren, niemand dazwischengerufen: Sage nicht: Ich

kann nicht, sondern sage: Ich will nicht? Anmerkung der Redaktion des„Proletari".) „Die Versammlung erachtet jedoch, daß die Reichsduma eingutes Terrain für die Propaganda demokratischer Ideen sei. ,Ein jederwahre Freund des Volkes', heißt es im Protokoll der Versammlung, ,einjeder Freund der Freiheit wird nur in die Reichsduma gehen, um für einenkonstitutionellen Staat zu kämpfen.'" (Man erinnere sich an den Oswo-boshdenzen S. S., der allen und jedem erläuterte, daß das Schwergewichtfür die radikale Intelligenz in der Erweiterung des Wahlrechts, für dieSemstwoleute, die Gutsbesitzer und Kapitalisten aber in der Erweiterung

der Rechte der Reichsduma liege. Redaktion des „Proletari".) „Hierbeiwird von der Versammlung darauf hingewiesen, daß die demokratischenReichsdumavertreter bei diesem Kampfe einen völligen "Bruch mit dergegenwärtigen Regierung" (hervorgehoben im Original) „im Auge behal-ten müßten und einen solchen nicht scheuen dürften. Diese Resultate derVersammlung werden natürlich vervielfältigt und verbreitet werden."(Die Redaktion des „Proletari" hat aus Rußland bis heute weder diesesFlugblatt noch Kenntnis von ihm erhalten.) „Im Hinblick auf den weit-

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Die freunde haben siöh gefunden 251

reichenden Einfluß der ,Oswoboshdenzen', wie sich die Mitglieder des

Verbandes nennen, zu denen die verschiedensten Gesellschaftskreise gehö-ren und die von Semstwomännern geführt werden, gewinnt eine solcheWahlagitation in den ihnen nahestehenden, dem Zensus genügenden Krei-sen große Bedeutung, und es steht außer Zweifel, daß ein fester Kern von,Oswoboshdenzen' in die Reichsduma eindringen und dort die Linke ab-geben wird, sobald sich die Reichsduma in eine wirkliche Volksvertretungverwandelt. Gelingt es diesen Radikalen, die Kandidaten der gemäßigtenSemstwos und Städte zu sich herüberzuziehen, so kann es zur Proklamie-rung einer konstituierenden Versammlung kommen.

Die Beteiligung der politischen russischen Parteien an den Wahlenscheint somit außer Frage gestellt, da sich ja auch der ,Verband der Ver-bände' schließlich für eine solche erklärt hat, nur der jüdische ,Bimd.' agi-tiert gegen die Du ma wa hlen, wie denn übe rhaup t die Arbeiter in verschie-denen Stä dt en . . . auf großen M eetings kategorisch gegen die Reichsduma,aus der sie ausgeschlossen sind, Stellung genommen haben."

So schreibt der Berichterstatter einer deutschen bürgerlichen Zeitungdie Geschichte der russischen Revolution. Wahrscheinlich enthalten seineBerichte einzelne Unrichtigkeiten, im großen und ganzen aber kommen

sie zweifellos der Wahrheit nahe — selbstverständlich nur, was die Tat-sachen betrifft, nicht die Prophezeiungen.

Welches ist nun der wahre Sinn der von ihm geschilderten Tatsachen?Die Bourgeoisie Rußlands spielt, wie wir schon hundertemal gezeigt

haben, den Makler zwischen dem Zaren und dem Volk, zwischen derStaatsmacht und der Revolution, weil sie die Revolution ausnützen möchte,um sidh in ihrem Klasseninteresse die Macht zu sichern. Daher muß sie,solange sie die M acht noch nicht besitz t, nach der „Freund schaft" sowohlmit dem Zaren als auch mit der Revolution streben. Und das ist genau,

was sie tut. Den respektablen Golowin schickt sie zu Durnowo, damit ersich mit ihm befreunde. Den anonymen Federfuchser schickt sie aus, da-mit er sich mit dem „Volk", mit der Revolution befreunde. Dort haben sichdie Freunde gefunden und geeinigt. Hier strecken sie die Hand aus, nickenfreundlich, versprechen, aufrichtige Freunde des Volkes, Freunde derFreiheit zu sein, beteuern, an der Duma nur um des Kampfes willen, aus-schließlich um des Kampfes willen teilzunehmen, und schwören, daß siemit der gegenwärtigen Regierung vollständig und endgültig brechen

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werd en, ja sie stellen sogar die Proklamierung .einer konstituierenden Ver-

sammlung in Aussicht. Sie tun radikal, scharwenzeln vor den Revolutionä-ren, buhlen darum, von ihnen als Freunde des Volkes.und der Freiheit be-zeichnet zu werden, sind bereit, alles mögliche zu versprechen — vielleichtbeißt man an!

Und man hat angebissen! Die neue „Iskra", Parvus an der Spitze, hatangebissen. Die Freunde haben sich gefunden und Verhandlungen übereine Vereinbarung begonnen. Man muß den Oswoboshdenzen, die in dieDuma gehen, eine revolutionäre Verpflichtung abverlangen, ruft Tschere-wanin („Iskra" Nr. 108). Wir sind einverstanden, vollauf einverstanden,

antworten die Oswoboshdenzen, wir werden eine konstituierende Ver-sammlung proklamieren. Man muß einen Druck ausüben, damit nur ent-schiedene Anhänger einer freien und demokratischen Vertretung gewähltwerden, stößt Martow ins Hörn Tscherewanins (Wiener „Arbeiter-Zei-tung", übersetzt im „Proletari" Nr. 15). Gewiß, gewiß, antworten dieOswoboshdenzen, bei Gott, wir sind zu allem entschlossen, wir nehmenKurs auf den vollen Bruch mit der gegenwärtigen Regierung. Man m uß siedaran erinnern, daß sie verpflichtet sind, die Interessen des Volkes wahr-zunehmen, man muß sie zwingen, die Interessen des Volkes wahrzuneh-

men, donnert unser Ledru-Rollin " , Parvus. O ja, antworten die Oswobosh-denzen, wir haben es sogar ins Protokoll eingetragen, daß wir aufrichtigeFreunde des Volkes, Freunde der Freiheit sind. Man muß politische Par-teien bilden, verlangt Parvus. Schon gemacht — antworten die Oswobosh-denzen, wir nennen uns schon konstitutionell-demokratische Partei. Manmu ß ein klares Programm haben, beha rrt Parvu s. Aber bitte, antworten dieOswoboshdenzen, wir haben ja 40 Personen hingesetzt, ein Programm zuschreiben, an uns soll es nicht fehlen, bitte sehr!... Man muß eine Ver^einbarung treffen über die Unterstützung der Oswoboshdenzen durch die

Sozialdemokraten, schließen im Chor alle Neu iskristen . Die Oswoboshden-zen vergießen Tränen der Rührung. Golowin fährt zu Durnowo, um ihmeinen Gratulationsbesuch abzustatten.

Wer sind hier die Komödianten und wer die Genarrten?Alle Fehler der iskristischen Taktik in der Dumafrage haben nun zu

dem natürlichen und unausbleiblichen Finale geführt. Die schändlicheRolle, welche die „Iskra" durch ihren Kampf gegen die Idee des aktivenBoykotts gespielt hat, ist jetzt für jedermann sichtbar. Und wem die

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Die reunde haben sidb gefunden 253

iskristische Taktik genützt hat, das unterliegt jetzt keinem Zweifel mehr.

Die Idee des aktiven Boykotts ist von der Mehrheit der monarchistischenBourgeoisie begraben worden. Die iskristische Taktik wird unweigerlichvon der Mehrheit der russischen Sozialdemokratie begraben werden.

Parvus hat sich derart verrannt, daß er von einem formellen Abkommenmit den Oswoboshdenzen (den „Demokraten"), von Bindung zwischenden Oswoboshdenzen und den Sozialdemokraten durch gemeinsame poli-tische Verantwortung und von einer Unterstützung der Oswoboshdenzendurch die Sozialdemokraten auf Grund genau festgelegter Bedingungenund Forderungen zu reden begann. Von diesem Unsinn und dieser

Schmach werden sich wahrscheinlich sogar die Neuiskristen abgrenzen.Doch Parvus hat lediglich die Grundidee des Neuiskrismus offener undgröber ausgesprochen. Die formelle Unterstützung, die von Parvus vor-geschlagen wird, ist nur die zwangsläufige Schlußfolgerung aus jenermoralisdben Unterstützung, welche die neue „Iskra" der monarchistischenBourgeoisie die ganze Zeit dadurch erwiesen hat, daß sie den aktivenDumaboykott verurteilte, die Absicht der Demokraten, sich an der Dumazu beteiligen, rechtfertigte und verteidigte und der Parlamentsspielereifrönte, obwohl es noch gar kein Parlament gab. Nicht umsonst wurde ge-

sagt: wir haben zwar noch kein Parlament, aber parlamentarischen Kre-tinismus haben wir schon übergenug.

Der Grundfehler der Neuiskristen liegt offen zutage. Sie haben gegen-über der Vereinbarungstheorie, dieser grundlegenden politischen Theoriedes Oswoboshdenzentums, diesem stärksten und richtigsten Ausdruck derKlassenstellung und der Klasseninteressen der russischen Bourgeoisie, dieganze Zeit hindurch beide Augen zugedrückt. Sie wollten und wollen nurdie eine Seite der Sache sehen, nämlich die Konflikte der Bourgeoisie mitder Selbstherrschaft, die andere Seite der Sache aber, die Vereinbarung

der Bourgeoisie mit der Selbstherrschaft gegen das Volk, gegen das Prole-tariat, gegen die Revolution lassen sie unbeachtet. Indessen rückt geradediese zweite Seite immer mehr in den Vordergrund und gewinnt mit jedemSchritt, den die Revolution in Rußland vorwärts macht, mit jedem Monat,den sich diese für die bürgerlichen Anhänger der Ordnung so unerträglicheLage hinzieht, immer grundlegendere Bedeutung.

Der Grundfehler der Neuiskristen führte dazu, daß sie die Methoden,um die Konflikte zwischen der Bourgeoisie und der Selbstherrschaft durch

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die Sozialdemokratie auszunutzen, die Methoden, um diese Konflikte

durch unsere Bemühungen anzufadoeti, von Grund aus falsch beurteilten.Ja, wir sind verpflichtet, diese Konflikte unbedingt und stets zu entfachen,sowohl ohne Duma als auch vor der Duma und in der Duma, falls sie"zusammentritt. Aber das Mittel für diese Entfachung sehen die Neuiskri-sten ganz und gar nicht dort, wo man es sehen muß. Anstatt das Feuer da-durch zu schüren, daß man die Fenster einschlägt und dem frischen Luft-zug der Arbeiteraufstände Zutritt gewährt, mühen sie sich im Schweißeihres Angesichts, Spielzeugblasbälge zu erfinden und die revolutionäreGlut der Oswoboshdenzen dadurch anzublasen, daß sie ihnen närrische

Forderungen und Bedingungen stellen.Ja, wir sind verpflichtet, die Bourgeoisie stets zu unterstützen, wenn sie

revolutionär auftritt. Aber vor allem und am meisten hat diese Unter-stützung bei uns (erinnert euch an die Einstellung der „Sarja" und deralten „Iskra" zum „Oswoboshdenije") stets darin bestanden und wird beider revolutionären Sozialdemokratie stets darin bestehen, jeden falschenSchritt dieser, mit Verlaub zu sagen, „demokratischen" Bourgeoisie rück-sichtslos zu entlarven und anzuprangern. Insoweit wir den Demokratis-mus der Bourgeoisie beeinflussen können, wird dieser Einfluß nur dann

real sein, wenn jeder bürgerliche Demokrat, der vor den Arbeitern, vorden politisch aufgeklärten Bauern spricht, gezüchtigt wird für alle Ver-rätereien, alle Fehler dieser Bourgeoisie, gezüchtigt wird für alle nicht-erfüllten Versprechungen, für alle vom Leben und durch Taten wider-legten schönen Worte. Wenn diese Bourgeoisie, die gestern noch in ganzEuropa den Dumaboykott ausposaunte, heute schon Schurkereien begeht,ihre Versprechungen zurücknimmt, ihre Beschlüsse umstößt, ihre Resolu-tionen um modelt und sich mit allen möglichen Durnowos über eine legaleArt des Vorgehens einigt — dann dürfen wir diese Lügner, diese Lakaien

der Selbstherrschaft nicht moralisch unterstützen, ihnen nicht die Mög-lichkeit geben, sich herauszuwinden, ihnen nicht gestatten, sich an dieArbeiter mit neuen Versprechungen heranzumachen (die genauso wiederzum Teufel gehen werden, sobald sich die Duma aus einer beratendenin eine gesetzgebende Versammlung verwandelt). Nein, wir müssen siebrandmarken und das ganze Proletariat davon überzeugen, daß neue Ver-rätereien dieser bürgerlichen „Demokratie", dieser Vereinbarer zwischender Verfassung und Trepow, zwischen der Sozialdemokratie und dem

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"Die freunde haben sidb gefunden 255

Oswoboshdenzentum, unvermeidlich und unausbleiblich sind. Wir müssen

allen Arbeitern—unter anderem auch auf Grund des Betrugs, den die Bour-geoisie in der Frage des Boykotts am Volke verübt hat — beweisen undzeigen, daß alle diese Petrunkewitsch und Co. schon ausgewachsene Ca-vaignacs und Th iers 7S sind.

Nehmen wir an, daß wir die Aufgabe, diese Duma zu vereiteln, bevorsie das Licht der Welt erblickt, nicht bewältigen. Nehmen wir an, da ß dieDuma zusammentritt. Verfassungskonflikte werden in ihr unvermeidlichsein, denn die Bourgeoisie kann nicht anders als nach der Macht streben.Audi dann sind wir verpflichtet, dieses Streben zu unterstützen, denn die

konstitutionelle Ordnung wird auch dem Proletariat etwas geben, da jadie Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse den Boden für unseren Kampfum den Sozialismus ebnet. Das ist alles richtig. Aber hier endet nicht,sondern hier beginnt erst unsere grundlegende Meinungsverschiedenheitmit der neuen „Iskra". Es ist das nicht eine Meinungsverschiedenheit dar-über, ob man den bürgerlichen Demokratismus unterstützen soll, sonderndarüber, w ie man ihn in der revolutionären Epoche unterstützen, wie maneinen Druck auf ihn ausüben soll. Rechtfertigt ihr den Verrat dieser Leu teoder verschließt ihr die Augen davor, wollt ihr rasch zu einem Kompro-miß gelangen und recht bald Parlament spielen, laß t ih r sie Versprechun-gen machen und Verpflichtungen eingehen, so erreicht ihr bloß, daß sieauf euch einen T)rudk ausüben und nidht ihr auf siel W ir leben jetzt in derRevolution. Die Zeiten, da man allein durch das geschriebene Wort einenDruck ausüben konnte, sind schon vorbei. Die Zeiten, da man auf parla-mentarischem Wege einen Druck ausüben kann, sind noch nicht gekom-men. Einen wirkUdhen und nicht eingebildeten Druck kann man nur durchden Aufstand ausüben. Sobald der Bürgerkrieg das ganze Land erfaßt,wird der Druck durch militärische Gewalt, in offener Schlacht ausgeübt,und alle anderen Versuche, einen Druck auszuüben, sind hohle und er-

bärmliche Phrasen. Kein Mensch hat noch gewagt, zu behaupten, dieEpoche des Aufstands sei für Rußland vorbei. U nd ist sie nicht vorbei, sobedeutet jedes Ausweichen vor der Aufgabe des Aufstands, jede Aus-flucht vor seiner Notwendigkeit, jeder „Nachlaß" von unserer Forderungan die bürgerliche Dem okratie, sich am Aufstand zu beteiligen, eine Kapi-tulation vor der Bourgeoisie, eine Verwandlung des Proletariats in ihrenTrabanten. Das Proletariat hat noch nirgends in der Welt und noch kein

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einziges Mal die Waffen aus der Hand gegeben, wenn ein ernsthafter

Kampf entbrannt wa r, es ist noch kein einziges Mal vor dem verfluchtenErbe der Unterdrückung und Ausbeutung zurückgewichen, ohne daß esseine Kräfte mit dem Feind gemessen hätte. Hier sind jetzt unsere Werk-zeuge, um einen Druck auszuüben, hier liegen unsere Hoffnungen aufden Druck. Niem and kann heute den Ausgang des Kampfes voraussagen.Siegt das Proletariat, so werden die Arbeiter und die Bauern, nicht aberdie Golowin und Struve die Revolution machen. Wird das Proletariatgeschlagen, so wird die Bourgeoisie für die Dienste, die sie der Selbstherr-schaft in diesem Kampf geleistet hat, neue konstitutionelle Belohnungen

erhalten. Dan n und erst dann w ird eine neue Epoche beginnen, ein neuesGeschlecht auf den Plan treten, die europäische Geschichte sich wieder-holen und der Parlamentarismus für eine Zeitlang der wirkliche Prüfsteinder ganzen Politik werden.

Ihr wollt jetzt, gleich jetzt einen Druck ausüben? Bereitet den Auf-stand vor, propagiert ihn, organisiert ihn. Nur der Aufstand bietet dieMöglichkeit, daß die Dumakomödie nicht das Ende der russischen bürger-lichen Revolution bedeutet, sondern zum Anfang einer vollständigen de-mokratischen Umwälzung wird, die einen Brand proletarischer Revolu-

tionen in der ganzen Welt entfacht. Nur im Aufstand liegt die Gewähr,daß unser „vereinigter Landtag" zum Präludium einer konstituierendenVersammlung von anderem als dem Frankfurter Typus wird, daß dieRevolution nicht mit einem bloßen 18 . März (1848) endet und wir nichtnur einen 14. Juli (1789), sondern auch einen 10. August (1792) habenwerden. Nu r im Aufstand und nicht in schriftlichen Verpflichtungen derOswoboshdenzen liegt die Bürgschaft, daß aus ihren Reihen einzelne Jo-hann Jacoby79 hervorgehen können, die sich, von der Nichtswürdigkeitder Golowinschen Kriecherei abgestoßen, in letzter Minute den Reihendes Proletariats und der Bauernschaft anschließen werden, um für dieRevolution zu kämpfen.

„VroXeian" 3Vr. 18, Na dh dem Jext des „Proletari".26. (13.) September 1905.

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. S T R E I T E T Ü B E R D I E T A K T I K ,

A B E R G E B T K L A R E L O S U N G E N !

Die Auseinandersetzung über die Taktik gegenüber der Reichsdumaentbrennt immer stärker. Die Meinungsverschiedenheit zwischen der„Iskra" und dem „Proletari" wird immer tiefer, besonders nach demArtikel von Parvus in der „Iskra".

Über die Taktik zu streiten ist notwendig. Aber man muß dabei volleKlarheit anstreben. Fragen der Taktik sind Fragen des politischen Ver-haltens der Partei. Man kann und soll dieses oder jenes Verhalten anHand sowohl der Theorie als auch historischer Untersuchungen und einerAnalyse der ganzen politischen Situation usw. begründen. Doch darf die

Partei des kämpfenden Proletariats bei allen diesen Auseinandersetzungendie Notwendigkeit völlig klarer Antworten, die keine zwei "Deutungenzulassen, auf die konkreten Fragen unseres politischen Verhaltens nichtaus dem Auge lassen: Ja oder nein? Sollen wir jetzt, im gegebenen Augen-blick, das und das tun oder nicht?

Diese klaren Antworten sind auch deshalb unerläßlich, damit die Mei-nungsverschiedenheiten nicht übertrieben, nicht verwirrt werden und da-mit die Arbeiterklasse ganz genau weiß, welche konkreten Ratschläge ihrdiese oder jene Sozialdemokraten im gegebenen Augenblick erteilen.

Um in unseren Streit mit der „Iskra" völlige Klarheit hineinzubringen,geben wir folgende Liste konkreter Fragen, die das politische Verhaltender Sozialdemokratie in der jetzigen Dumakampagne betreffen. Wir er-heben keinen Ansprach auf erschöpfende Vollständigkeit dieser Liste undwerden alle Hinweise auf die Notwendigkeit ihrer Ergänzung, der Ab-änderung oder Untergliederung dieser oder jener Fragen begrüßen. Selbst-verständlich bezieht sich das, was für die Wahlversammlungen gilt, auchauf all und jede Versammlung überhaupt.

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W E L C H E R A T S C H L Ä G E

G E B E N D I E S O Z I A L D E M O K R A T E N D E M P R O L ET A R IA TH I N S I C H T L I C H D E R R E I C H S D U M A ?

„Iskra" „Proletari"1. Sollen die Arbeiter in die Wahlversammlun-

gen eindringen? Ja Ja

1. Sollen die Arbeiter sogar gewaltsam in dieW ahlversamm lungen eindringen? Ja Ja

3. Soll man in diesen Versammlungen von der

völligen Untauglichkeit der Reichsduma und vonallen Zielen, von dem ganzen P rogram m der Sozial-dem okratie sprechen? Ja Ja

4. Soll man in diesen Versammlungen die Arbei-ter und das ganz e Volk zum bewaffneten Au fstand ,zur Bildung einer revolutionären Armee und einerprovisorischen revolution ären Regieru ng aufrufe n? ? Ja

5. Soll man die (unter Punkt 4) genannten Lo-sungen zum M ittelpunkt unserer gesamten „D um a"-kampagne machen? Nein Ja

6. SoU ma n die „Osw obosh denzen " (oder „kon-stitutionellen Demokraten"), die in die Reichs-duma gehen, als bürgerliche Verräter bran dm arken ,die mit dem Za ren eine „Ve reinbarung " treffen? . Ne in Ja

7. Sollen wir Sozialdemokraten dem Volk ausein-andersetzen, ob die Wahl der Petrunkewitsch oderder Stachowitsch usw. in die Reichsduma vorzu-

ziehen ist? . Ja Ne in8. Soll man mit den Oswoboshdenzen irgend-welche Abkommen darüber treffen, daß wir sie aufGrund dieser oder jener Bedingungen, Forderun-g en , V erpflichtungen u sw . u n te rs tü tz e n? . . . . J a N e in

9. Soll man die Losung „revolutionäre Selbst-verwaltung" zum Mittelpunkt unserer Agitationmachen? Ja Nein

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Streitet über die Jaktik, aber gebt klare Losungen! 259

„Iskra" „Proletari"

10. Soll man das Volk sofort, gleich jetzt auf-fordern, in allgemeiner Abstimmung Organe derrevolutionären Selbstverwaltung und durch dieseeine konstituierende Versam mlun g zu wä hlen ? . . Ja Nein

11. Sollen wir sozialdemokratische Wahlkomiteeswählen? Sollen wir unsere eigenen sozialdemokra-tischen Ka ndid aten für die Reichsduma aufstellen? Ja N ein

„Troletari" 7Jr. 18, Na dy dem 7ext des „Proletari",26. (.13.) September 1905.

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P A R L A M E N T S S P I E L E R E I

Wir haben schon mehrfach (in Nr. 12 des „Proletari" vor dem Gesetzüber die Reichsduma und in N r. 14—17 nach dem 6.August) unsere Tak-tik gegenüber der Reichsduma entwickelt und müssen jetzt wieder daraufzurückkommen, um sie den von Parvus geäußerten neuen Ansichten (Son-derdruck des Artikels „Die Sozialdemokratie und die Reichsduma" ausN r. 110 der „Iskra") gegenüberzustellen.

Verfolgen wir zunächst Schritt für Schritt die grundlegenden Gedankenvon Parvus. „Wir müssen bis zum äußersten gegen ein unterschobenes

Parlament, dieses Gemisch von Niedertracht und Nichtigkeit kämpfen",so beginnt er seinen Artikel und fügt dieser treffenden These sofort diefolgende, nicht minder treffende hinzu : „D ie Reichsduma s tü rz en ... kön-nen wir nur durch einen Volksaufstand. D ie Regierung zwingen, das Wahl-recht zu ändern und die Rechte der Duma zu erweitern, können wir wie-derum nur durch einen Volksaufstand." Ausgezeichnet. Welches müssennun, fragt es sich, unsere ^it atio nslosu ngen hinsichtlich der Reichsdumasein? Welches sind die hauptsächlichen und besonders wichtigen Organi-sationslormen des Kampfes gegen das Gemisch von Niedertracht undNichtigkeit? Parvus stellt im Grunde genommen die Frage ebenso, wenner sagt: „Das, was wir unserseits zur Vorbereitung des Aufstands beitragenkönnen, sind Agitation und Organ isation." Und hier folgt, wie er denerstenTeil dieser Frage über das Verhalten zu den W ahlversammlungen löst.

„Wenn wir diese Versammlungen stö ren", schreibt Parvus, „wenn wirsie sprengen, dann werden wir nur der Regierung einen Dienst erweisen."

Parvus ist also dagegen, daß die Arbeiter das Häuflein Gutsbesitzerund Kaufleute daran bindern, die Tagesordnung der W ahlversammlungen

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Parlamentsspielerei 261

auf die niederträchtige und nichtige Reichsduma zu beschränken? Parvus

ist dagegen, daß die Arbeiter die Wahlversammlungen zu einer Kritik ander „niederträchtigen" Reichsduma und zur Darlegung ihrer sozialdemo-kratischen Ansichten und ihrer Losungen benutzen?

Es sieht so aus, aber unmittelbar nach dem zitierten Satz sagt Parvusschon etwas anderes: „Was man den Arbeitern nicht freiwillig gibt", lesenwir in seinem Artikel, „müssen sie sich gewaltsam nehmen. Sie müssenin Massen in den Wählerversammlungen erscheinen und sie in Arbeiter-Versammlungen verwandeln." (Die Hervorhebungen in den Zitaten sindüberall von uns. Redaktion des „Proletari".) „Anstatt darüber zu disku-tieren, ob man Iwan Fomitsch oder Foma Iwanytsch wählen soll, werdensie politische Fragen auf die Tagesordnung setzen." (Parvus wollte ver-mutlich sagen-, sozialdemokratische Fragen, denn die Frage, ob man Fomaoder Iwan wählt, ist auch eine politische Frage.) „Hier können wir sowohlüber die Politik der Regierung als auch über die Taktik der Liberalen,sowohl über den Klassenkampf als auch über die Reichsduma selbst disku-tieren. Das alles führt zu einer Revolutionierung der Massen."

Man beachte, was sich bei Parvus ergibt. Einerseits soll man die Ver-sammlungen der Trub ezko i, Petrunkewitsch u nd Stachowitsch nicht stören.Die Idee des Boykotts verurteilt Parvus am Ende seines Artikels entschie-den. Anderseits soll man: 1. gewaltsam in die Versammlungen eindringen;2. die Versammlungen der Petrunkewitsch und Stachowitsch „in Arbeiter-versammlungen verwandeln"; 3. anstatt über die Frage zu diskutieren,derentwegen die Versammlung einberufen worden ist (ob man Fomaoder Iwan wählen soll), unsere sozialdemokratischen Fragen erörtern:sowohl den Klassenkampf wie den Sozialismus und selbstverständlich auchdie Notwendigkeit des Volksaufstands, seine Vorbedingungen, seine Auf-gaben, seine Mittel, Methoden, Waffen und seine Organe wie die revo-lutionäre Armee und die revolutionäre Regierung. Wir sagen: selbstver-

ständlich, obgleich Parvus kein Wort über die Propagierung des Aufstandsin den Wahlversammlungen verliert, denn er gibt ja einleitend selber zu,daß wir bis zum äußersten kämpfen müssen und daß wir unsere nächstenZiele nur durch einen Aufstand erreichen können.

Es ist War, daß sich Parvus verheddert hat. Er bekämpft die Boykott-idee, er rät davon ab, die Versammlungen zu stören und sie zu sprengen,aber gleich darauf, im selben Atemzug, empfiehlt er, in die Versammlun-

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gen gewaltsam einzudringen (heißt das nicht, sie zu „sprengen"?), sie in

Arbeiterversammlungen zu verwandeln (heißt das nicht, die Petrunke-witsch und Stachowitsch zu „stö ren"?), nidht die Fragen der Duma, son-dern unsere eigenen, die sozialdemokratischen, revolutionären Fragen zuerörtern, welche die Petrunkewitsch gar nicht ernsthaft erörtern wollen,während die Arbeiter und aufgeklärten Bauern sie sehr gern erörternwollen und unbedingt erörtern werden.

Warum hat sich nun Parvus verheddert? Weil er den Gegenstand desStreits nicht begriffen hat. Er zieht gegen die Boykottidee ins Feld, weiler meint, Boykott bedeute bloße Enthaltung, den Verzicht auf den Gedan-

ken, die Wahlversammlungen für unsere Agitation auszunutzen. Indessenwird ein solcher passiver Boykott nicht einmal in der legalen, geschweigedenn in der illegalen Presse von irgend jemandem propagiert. Parvusoffenbart eine völlige Unkenntnis der politischen Fragen Rußlands, wenner den passiven mit dem aktiven Boykott verwechselt, wenn er über denBoykott Betrachtungen anstellt, ohne auch nur mit einem Wort auf diezweite form des 'Boykotts einzugehen.

Wir haben bereits wiederholt auf die bedingte Bedeutung des Terminus„aktiver Boykott" hingewiesen und dabei festgestellt, daß die Arbeiter die

Reichsduma nicht zu boykottieren brauchen, da die Reichsduma selbst dieArbeiter boykottiert. Den wahren Inhalt dieses bedingten Terminus habenwir jedoch von Anfang an, schon vor anderthalb Monaten, ganz klar be-stimmt, als wir in Nr. 12 des „Proletari", vor dem Erscheinen des Gesetzesüber die Reichsduma, schrieben: „Im Gegensatz zur passiven Enthaltungmuß der aktive Boykott eine verzehnfachte Agitation bedeuten, die Ab-haltung von Versammlungen überall und allerorts, die Ausnutzung derWahlversammlungen, sei es auch dadurch, daß man gewaltsam in sie ein-dringt, die Veranstaltung von Demonstrationen, politischen Streiks usw.usf." Und etwas weiter: „Aktiver Boykott" (wir setzten diesen Terminusals einen bedingten Terminus in Anführungsstriche) „ist Agitation, W er-bung, Organisation der revolutionären Kräfte in größerem Mäßstab, mitverdoppelter Energie, unter dreifachem Druck."

Das ist so klar ausgedrückt, daß es nur Menschen nicht verstehen konn-ten, die den politischen Fragen Rußlands völlig fremd gegenüberstehen,oder aber Menschen, die heillos verwirrt sind, Konfusionsräte, wie dieDeutschen sagen.

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Parlamentsspiderei 263

Was will also Parvus nun eigentlich? Wenn er empfiehlt, in die Wäh-

lerversammlungen gewaltsam einzudringen, sie in Arbeiterversammlungenzu verwandeln, sozialdemokratische Fragen und den Aufstand zu erörtern,„anstatt darüber zu diskutieren, ob man Iwan Fomitsch oder Foma Iwa-nytsch wählen soll" (man beachte: „anstatt", nicht zugleich, nicht außer-dem), so empfiehlt er gerade den aktiven Boykott. Parvus ist, wie mansieht, ein kleines Malheur passiert: Er wollte durch die eine Tür gehenund öffnete die andere . Er erklärte der Boykottidee den Krieg, sprach sichaber selber (in der Frage der Wahlversammlungen) für den aktiven Boy-kott aus, d. h. für die einzige Form des Boykotts, die in der politischenPresse Rußlands zur Debatte stand.

Gewiß, Parvus könnte einwenden, daß bedingte Termini für ihn nichtbindend seien. Dieser Einwand wäre formal richtig, aber dem Wesen derSache nach keineswegs stichhaltig. Man muß genau wissen, wovon dieRede ist. Um Worte werden wir nicht streiten, aber politische Termini,die sich in Rußland, am Ort der Handlung, bereits eingebürgert haben,sind eine vollendete Tatsache, mit der m an rechnen muß. Ein sozialdemo-kratischer Schriftsteller im Ausland, dem es einfiele, diese Losungen, diesich am Ort der Handlung einbürgern, zu ignorieren, verriete damit nureine äußerst beschränkte und erstarrte literatenhafte Selbstgefälligkeit.Wir wiederholen: Von einem anderen als dem aktiven Boykott hat nie-mand in Rußland gesprochen und niemand in der revolutionären Pressegeschrieben. Parvus hätte das volle Recht, den Terminus zu kritisieren,seine bedingte Bedeutung abzulehnen oder anders zu deuten usw., abersie zu ignorieren oder die bereits eingebürgerte Bedeutung zu entstellenheißt Verwirrung in die Frage hineintragen.

Wir wiesen oben darauf hin, daß Parvus sagte: nicht zugleich, sondernanstatt. Parvus empfiehlt, nicht zugleich mit der Frage, ob man Fomaoder Iwan wählen soll, auch unsere sozialdemokratischen Fragen und dieFrage des Aufstands, sondern anstatt der Frage, wen man wählen soll,die Frage des Klassenkampfes und des Aufstands aufzuwerfen. DieserUnterschied „nicht zugleich, sondern anstatt" ist sehr wichtig, und es istum so notwendiger, darauf einzugehen, als Parvus, wie aus dem weiterenInhalt seines Artikels ersichtlich ist, vielleicht selbst daran dachte, sich zukorrigieren und zu sagen: nicht anstatt, sondern zugleich.

W ir haben zwei Fragen zu untersuchen: 1. Ist es in den W ahlversamm-

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lungen möglich, „zugleich" die Wahl von Iwan oder Foma und den Klas-

senkampf, den Sozialismus, den Aufstand zu erörtern? 2. Wen n das mög-lich ist, soll man dann zugleich die erste und die zweite Frage oder diezweite anstatt der ersten erö rtern? W er die russischen Verhältnisse kenn t,dem wird es kaum schwerfallen, beide Fragen zu beantworten. In dieWahlversammlungen eindringen und sie in Arbeiterversammlungen ver-wandeln wird man gewaltsam tun müssen, d.h. indem man vor allem denWiderstand der Polizei und der Truppen bricht. In größeren Arbeiter-zentren (wo allein die sozialdemokratische Arbeiterpartei darauf rechnenkann, eine wirklich breite Volksbewegung zu leiten) wird der Widerstand

der Polizei und der Trup pen am ernstesten sein. Davor die Augen zu ver-schließen, wäre unserseits einfach dumm. Parvus sagt selbst, daß „dieWahlagitation jeden Augenblick in einen revolutionären Aufstand um-schlagen kann". Wenn dem so ist, dann sind wir verpflichtet, unsereKräfte so zu berechnen und einzusetzen, daß sie eben der Aufgabe desAufstands dienen, nicht aber der Aufgabe, bei den Wahlen zur Reichs-duma unseren Einfluß für Föma und nicht für Iwan geltend zu machen.Wenn dem so ist, dann muß im Mittelpunkt unserer ganzen Agitations-kampagne hinsichtlich der Reichsdama die Hauptlosung stehen: bewaff-neter Aufstand, revolutionäre Armee, revolutionäre Regierung. Wenn

dem so ist, dann sind wir verpflichtet, vor allem und am meisten geradediese Losungen in sämtlichen Versammlungen zu propagieren und zu er-läutern. Parvus schlägt sich daher wiederum selbst, wenn er einerseits„jeden Augenblick" den Aufstand erw artet und anderseits übe r die Propa-gierung des Aufstands, die Analyse seiner Vorbedingungen, Mittel undOrgane als den „Nerv" der Dumakampagne keine Silbe sagt.

Weiter. Untersuchen wir einen anderen Fall, der in einzelnen, besondersin weniger großen Zen tren möglich ist. Nehm en w ir an, daß die Versuche,gewaltsam in eine Versammlung einzudringen, keinen ernsten Kampf mitder Regierung hervorrufen und nicht zu einem Aufstand führen. Nehmenwir an, daß diese Versuche in einzelnen Fällen von Erfolg gekrönt sind.Dann darf man erstens die Einrichtung nicht vergessen, die Belagerungs-zustand heißt. Jeden Teilsieg des Volkes über die Polizei und die Truppenbeantwortet die Regierung, was sogar Parvus bekannt sein dürfte, mit derVerhängung des Belagerungszustands. Schreckt uns diese Perspektive?Ne in, denn das ist ein Schritt, der den Aufstand näher rückt und überhaupt

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Parlamentsspielerei 265

den ganzen Kampf verschärft. Schreckt das die Semstwoleute und die

Dumawahlmänner im allgemeinen? Unbedingt, denn es erleichtert dieVerhaftung der Miljukows und dient der Regierung als Vorwand, einenTeil der Wahlversammlungen, vielleicht sogar alle Versammlungen unddie ganze Duma zu verbieten! Die Sache läuft also wieder darauf hinaus,daß die einen den Aufstand wünschen, ihn propagieren, ihn vorbereiten,für ihn agitieren, Kampfabteilungen für den Aufstand organisieren usw.,während die anderen keinen Aufstand wollen, die Idee des Aufstands be-kämpfen, die Propagierung des Aufstands als Wahnwitz und Verbrechenverurteilen usw. Sollte Parvus wirklich nicht wissen, daß diese „anderen"alle Oswobosbdenzen sind, d. h. sogar die am weitesten links stehendenbürgerlichen Demokraten, die in die Duma gelangen können??

Weiß Parvus das aber, so muß er (zweitens) auch folgendes wissen.Einem gewaltsamen Eindringen in die Wählerversammlungen und ihrerVerwandlung in Arbeiterversammlungen werden nicht nur (mitunter so-gar nicht so sehr) Polizei und Militär, sondern audh die Semstwoleute, dieOswoboshdenzen selbst Widerstand leisten. Davor die Augen zu ver-schließen, ist nur Kindern verzeihlich. Die Semstwoleute und Oswobosh-denzen stellen die Frage klarer und offener als manche Sozialdemokraten.

Entweder bereitet man den Aufstand vor und macht ihn zum Mittelpunktder Agitation und der gesamten Tätigkeit — oder man stellt sich auf denBoden der Duma und macht sie zur Grundlage des gesamten politischenKampfes. Die Semstwoleute und Oswoboshdenzen haben diese Frage be-reits entschieden, was wir von Nr. 12 des „Proletari" an schon wiederholtvermerkt und hervorgehoben haben. Die Semstwoleute und Oswobosh-denzen gehen gerade dazu und nur dazu in die Versammlungen, um überdie Wahl von Foma oder Iwan, Von Petrunkewitsch oder Stachowitsch zudiskutieren, um ein Programm des „Kampfes" (eines Kampfes in Anfüh-rungsstrichen, eines Kampfes in weißen Lakaienhandschuhen) auf demBoden der Duma und keinesfalls des Aufstands anzunehmen. Die Sem-stwoleute und Oswoboshdenzen (wir nennen sie absichtlich in einemAtem, denn für eine politische Unterscheidung zwischen ihnen liegt keinGrund vor) werden natürlich nicht abgeneigt sein, in ihre Versammlung(nur dort und nur dann, wenn man das ohne Anwendung von Gewalt inirgendwie bedeutendem Ausmaß tun können wird!!) auch Revolutionäreund Sozialdemokraten zuzulassen, falls sich unter den letzteren unkluge

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Leute finden sollten, die bereit wären, zu versprechen, daß sie Foma gegen

Iwan, Petrunkewitsch gegen Stachowitsch „unterstützen" werden. DieSemstwoleute werden jedoch niemals dulden, daß ihre Versammlung „ineine Arbeiterversammlung verwandelt", daß ihre Versammlung zu einerrevolutionären Volksversammlung gemacht, daß von ihrer Tribüne offenund direkt zum bewaffneten Aufstand aufgerufen wird . Diese Binsenwahr-heit vorzukau en, ist sogar ein wenig peinlich, aber Parvus un d der „Iskra"muß man sie vorkauen. Die Semstwoleute und Oswoboshdenzen werdensich einer solchen Ausnutzung ihrer Versammlungen unweigerlich wider-setzen, obgleich diese bürgerlichen Krämer natürlich keinen gewaltsamen

Widerstand leisten, sondern ungefährlichere, „friedlichere" und hinter-listigere Mittel anwenden werden. Sie werden mit Leuten, die ihnen dieUnterstützung Petrunkewitschs gegen Stachowitsch und Stachowitschsgegen Gringmut „durch das Volk" versprechen, eine Abmachung aus-schließlich unter der Bedingung treffen, daß die Wählerversammlung nichtin eine Arbeiterversammlung verwandelt und daß ihre Tribüne nicht zurPropagierung des Aufstands benutzt wird. Werden sie erfahren, daß Ar-beiter in ihre Versammlung kommen (und das werden sie fast immer er-fahren, denn Massendemonstrationen lassen sich nicht verbergen), so wer-den die einen von ihnen es glattweg der Behörde melden; die anderenwerden die Sozialdemokraten zu überreden suchen, das nicht zu tun; diedritten werden zu den Gouverneuren rennen und ihnen versichern, daßsie „daran unschuldig" sind, daß sie die Duma wollen und in die Dumawollen, daß sie durch den Mund ihres „loyalen Kollegen", des HerrnStruve, die „wahnwitzige und verbrecherische" Propagierung des Auf-stands stets verurteilt haben,- die vierten werden empfehlen, Ort und Zeitder Versammlung zu ändern,- die fünften, die „kühnsten" und politischgerissensten, aber werden im Flüsterton erklären, daß sie sich freuen, dieArbeiter anzuhören, sie werden dem sozialdemokratischen Redner dan-

ken, vor dem „Volk" Kratzfüße und Bücklinge machen, werden allen undjedem in einer hübschen, effektvollen und zu Herzen gehenden Rede ver-sichern, daß sie immer für das Volk, von ganzer Seele für das Volk seien,daß sie nicht mit dem Zare n, sondern m it dem Volk gingen und d aß „ihr"Petrunkewitsch das schon vor langem erklärt habe . Sie werden auch sagen,daß sie mit dem sozialdemokratischen Redner „vollauf einverstanden"seien, was die „Niederträchtigkeit und Nichtigkeit" der Reichsduma an-

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gehe, daß man jedoch — um mit den schönen Worten des hochverehrten

Parlamentariers Parvus zu reden, der zu so gelegener Zeit die parlamen-tarischen Musterbeispiele der Vollmarschen Bündnisse zwischen Sozial-demokraten und Katholiken auf das unparlamentarische Rußland über-tragen hat — „die Wahlagitation nicht behindern/ sondern sie erweitern"solle; sie zu erweitern, bedeute aber, das Schicksal der Reichsduma nichtsinnlos aufs Spiel zu setzen, sondern die Wahl von Foma gegen Iwan,von Petrunkewitsch oder Roditschew gegen Stachowitsch, von Stacho-witsch gegen Gringmut usw. durch das ganze Volk zu „unterstützen".

Kurzum, je dümmer und feiger die Semstwoleute sind, um so geringer

ist die Aussicht, daß sie in ihrer Wahlversammlung Parvus anhören wer-den. Je klüger und mutiger die Semstwoleute sind, um so größer ist dieseAussicht, um so größer ist aber auch die Aussicht, daß Parvus, wenn erFoma gegen Iwan unterstützt, übertölpelt wird.

Nein, mein guter Parvus! Die Taktik des Parlamentarismus auf Ruß-land zu übertragen, solange es in Rußland kein Parlament gibt, bedeuteteine unwürdige Parlamentsspielerei zu treiben, bedeutet, sich aus einemFührer der revolutionären Arbeiter und aufgeklärten Bauern in einenTrabanten der Gutsbesitzer zu verwandeln. Zeitweilige Vereinbarungen

legaler politischer Parteien, die es bei uns nicht gibt, durch geheime Ab-machungen mit den Roditschew und Petrunkewitsch über ihre Unter-stützung gegen Stachowitsch zu ersetzen, bedeutet Demoralisation unterdie Arbeiter zu tragen. Offen vor die Massen hintreten kann die sozial-demokratische Partei aber vorläufig nicht, während die radikaldemokra-tische Partei es teils nicht kann, teils nicht will, und wohl häufiger nichtwill als nicht kann.

Die offene und klare Losung der Semstwoleute und Oswoboshdenzen:Nieder mit der verbrecherischen Propagierung des Aufstands, für die

Arbeit in der Duma und durch die Duma! müssen wir mit der offenenund klaren Losung beantworten: Nieder mit den bürgerlichen Verräternan der Freiheit, den Herren Oswoboshdenzen und Co., nieder mit derDuma, es lebe der bewaffnete Aufstand!

Die Losung des Aufstands mit der „Beteiligung" an der Wahl vonFoma oder Iwan zu verbinden, bedeutet nichts anderes, als unter demVorwand einer „breiten" und „vielseitigen" Agitation, „elastischer" und„hellhöriger" Losungen Verwirrung zu stiften, denn in der Praxis ist eine

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solche Verbindung Manilowerei. In der Praxis wird ein Auftreten von

Parvus und Martow vor den Semstwoleuten, um Petrunkewitsch gegenStadiowitsch zu „unterstützen" (vorausgesetzt, daß sich dieses Auftretenausnahmsweise verwirklichen läßt), kein offenes Auftreten vor den Volks-massen, sondern ein Auftreten übertölpelter Arbeiterführer vor einerHandvoll Verräter an den Arbeitern hinter den Kulissen sein. Theore-tisch, oder vom Standpunkt der allgemeinen Grundlagen unserer Taktik,ist die Verbindung dieser Losungen jetzt, im gegebenen Augenblick, eineAbart des parlamentarischen Kretinismus. Für uns revolutionäre Sozial-demokraten ist der Aufstand keine absolute, sondern eine konkrete Lo-

sung. Wir haben sie 1897 zurückgestellt, wir haben sie 1902 im Sinneeiner allgemeinen Vorbereitung aufgestellt und erst 1905, nach dem 9. Ja-nuar, als direkte Aufforderung auf die Tagesordnung gesetzt. Wir ver-gessen nicht, daß Marx 1848 für den Aufstand war, aber 1850 die Phan-tastereien und Phrasen über einen Aufstand verurteilt hat80, daß Lieb-knecht bis zum Krieg 1870/71 die Teilnahme am Reichstag verurteilt,nach dem Krieg aber selbst daran teilgenommen hat. Wir haben vonvornherein, in N r. 12 des „Pro letari", festgestellt, daß es lächerlich w äre,wollte man geloben, in Zukunft nicht auf dem Boden der Duma zu käm p-

fen. Wir wissen, daß nicht nur das Parlament, sondern auch die Parodieauf ein Parlament, solange die Vorbedingungen für einen Anfstand nichtgegeben sind, zum Hauptzentrum der gesamten Agitation werden kann,und zwar für die ganze Zeit, solange an einen Volksaufstand nicht zudenken ist.

Wir verlangen jedoch eine klare und eindeutige Fragestellung. Glaubtihr, daß die Epoche der Aufstände für Rußland vorüber ist, so sagt esund verteidigt offen eure Ansicht. Wir werden sie unter dem Gesichts-punkt der konkreten Verhältnisse allseitig und ruhig beurteilen und er-

örtern. Sprecht ihr aber selber davon, daß ein Aufstand „jeden Augen-blick" möglich, daß er notwendig ist, so brandmarken wir all und jedeÄußerung gegen den aktiven D umaboykott als klägliche Manilowerei undwerden sie als solche brandmarken. Ist der Aufstand möglich und not-wendig, so müssen wir gerade ihn zur zentralen Losung unserer ganzenKampagne um die Dum a machen, so müssen wir in jedem Oswoboshden-zen, der vor dieser Losung des Aufstands zurückscheut, die käuflicheSeele des „Frankfurter Parlamentsschwätzers" enthüllen. Ist der Aufstand

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möglich und notwendig, so bedeu tet das, daß es keinerlei legales Zentrum

für den legalen Kampf um die Ziele des Aufstands gibt, und durch Mani-lowsche Phrasen kan n man es nicht ersetzen. Ist der Aufstand möglich un dnotwendig, so bedeutet das, daß die Regierung „das. Bajonett auf dieTagesordnung gesetzt", den Bürgerkrieg eröffnet und den Belagerungs-zustand als Antikritik der demokratischen Kritik ins Feld geführt hat.Unter solchen Umständen das „fast parlamentarische" Aushängeschildder Reichsduma ernst zu nehmen und im Dunkeln, im Flüsterton, untervier Augen mit den Petrunkewitsch Parlamentsspielerei zu treiben, be-deutet die Politik des revolutionären Proletariats durch das Politikaster-

tum komödiantenhafter Intellektueller zu ersetzen!

Nachdem wir die grundlegende Falschheit in der ganzen Position vonParvus nachgewiesen haben, genügt es, wenn wir nur noch kurz auf ein-zelne, besonders krasse Äuß erungen dieser Falschheit eingehen. „Vor denWahlen oder nach den Wahlen", schreibt Parvus, „wird in Verbindungmit der Reichsduma eine gesetzliche Basis für das Bestehen politischerParteien geschaffen." Das stimmt nicht. In Wirklichkeit wird jetzt eine„gesetzliche Basis" für die Verfälschung der Wahlen durch die Regierung

geschaffen. Diese Basis ist: 1. der Landeshauptmann (die bäuerlichenWahlen liegen vollkommen in seiner Hand); 2. die Geheimpolizei (Ver-haftung Miljukows); 3. der Belagerungszustand. Wenn in Wirklichkeit,und nicht im Munde von Literaten, „eine gesetzliche Basis für das Be-stehen politischer Parteien" (darunter auch der SDAPR) geschaffen seinwird, dann werden wir verpflichtet sein, die ganze Frage des Aufstandsvon neuem zu prüfen, denn für uns ist der Aufstand nur eines der wich-tigen, aber durchaus nicht immer obligatorischen Mittel, ein freies Feldzum Kampf für den Sozialismus zu erobern.

„Es ist notwendig, unverzüglich nicht als einzelne Gesellschaftsgrup-pen, nicht als Juristen, Ingenieure oder Semstwoleute, sondern offiziellund offen als liberale, demokratische oder sozialdemokratische Partei auf-zutreten. Die Vertreter verschiedener Richtungen können in dieser Be-ziehung miteinander Vereinbarungen treffen, wie einzelne Parlaments-fraktionen Vereinbarungen treffen."

Ja, sie können das tun, aber nicht offen — denn wenn Parvus Trepowvergessen hat, so hat Trepow Parvus nicht vergessen —, sondern nur

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geheim. W as Parvus als parlamentarische Vereinbarung bezeichnet (die für

Sozialdemokraten in einem pariamentarisdoen Land mitunter notwendigist), das ist im heutigen Rußland, im September 1905, die verabscheuungs-würdigste Parlamentsspielerei. Die Verräter an der Revolution rückenjetzt die Vereinbarung zwischen den Oswoboshdenzen und den Revolu-tionären in den Vordergrund, die Anhänger der Revolution dagegen dieVereinbarung zwischen den Sozialdemokraten und allen revolutionärenDemokraten, d. h. den Anhängern des Aufstands. Wenn die neue „Iskra",Parvus und Plechanow* jetzt eine „parlamentarische" Vereinbarung mitden Oswoboshdenzen treffen (die eine Partei gegründet haben, siehe den

Artikel „Die Freunde haben sich gefunden"**), so werden wir öffent-lich erklären, daß diese Sozialdemokraten jegliches Gefühl für die Wirk-lichkeit verloren haben und über Bord geworfen werden müssen. Wirwerden dann mit den revolutionären Demokraten auf dem Boden dergemeinsamen Agitation für den Aufstand, seiner Vorbereitung und Durch-führung eine Vereinbarung treffen.

Wir haben bereits in der Kritik der neuiskristischen Resolutionen(Lenin: „Zwei Taktiken") gezeigt, daß die „Iskra" zum liberalen Guts-besitzer hinabsinkt, während der „Proletari" den revolutionären Bauern

emporhebt und aufrüttelt.***„Es ist notwendig, daß jede Partei ihr Wahlkomitee zur Leitung der

Wahlen im ganzen Lande organisiert. Es ist notwendig, daß sich die Par-teien über praktische Maßnahmen verständigen, um für die Zeit der W ah-len die Rede-, Versammlungs- usw. Freiheit zu erweitern. Es ist notwendig,daß sie sich durch gemeinsame politische Verantwortung binden" (hört,hört, Genossen Arbeiter! Die Neuiskristen wollen euch an die Petrun-kewitsch binden! Nieder mit den Petrunkewitsch! Nieder mit den Neu-iskristen!), „so daß, wenn der offizielle Vertreter einer politischen Partei

als solcher polizeilich verfolgt oder gerichtlich belangt wird, die Vertreter* Anmerkung: Wir erwähnen Plechanow, weil er in der Presse erklärt hat,

die Taktik der „Iskra" sei besser als die des „Proletari". Es stimmt, daß Ple-chanow dabei kein Wort verlor über die Resolutionen der JJeuiskristen unddes III. Parteitag s, aber wenn sich ein sozialdemokratischer Schriftsteller drehtund wendet, so mindert das seine Schuld nicht, sondern vergrößert sie.

** Siehe den vorliegenden Band, S. 249—251. Die Red.***'• Siehe den vorliegenden Band, S. 34. Die Red.

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Tarlamentsspielerei 271

aller anderen (!) Parteien sich mit ihm solidarisch erklären und alle zusam-

m en einen Volkspro test ( ?? ) u nd, wen n m öglich (hö rt , hö rt!) , einen Volks-auf stan d zu seinem Schütze o rganisieren (!) ."

Viel Glück auf den Weg, l iebwerter Parvus! Organisieren Sie Protesteund einen Aufstand mit Petrunkewitsch (Demokrat) und Stachowitsch(Liberaler) — unsere Wege haben sich geschieden. Wir werden das m itden revolutionären Demokraten tun. Nur ändert bei dieser Gelegenheitauch eure Losungen, verehrte Helden „parlamentarischer Vereinbarun-gen". Anstatt : „der Aufstand ist notwendig", sagt: „der Aufstand soll ,wenn möglido, die Protes te ergänzen". Dann werden al le Oswoboshden-

zen m it euch einverstanden se in! An statt der Losung „allgemeines,gleiches,direktes und geheimes Wahlrecht" stell t die Losung auf: „die Regierungsoll, wenn möglidh, eine direkte, gleiche, al lgemeine un d geheime Abstim -mung s ichern". Viel Glück auf den Weg, meine Herren! Wir werdengeduldig warten, bis Parvus, Petrunkewitsch, Stachowitsch und Mar-tow zum Schütze Miljukows „einen Volksprotest und, wenn möglich,einen Volksaufstand organisieren". Es ist ja, meine Herren, in unserer„fast parlamentarischen" Epoche viel zeitgemäßer, Herrn Miljukowzu schützen, als Hunderte und Tausende verhafteter und verprügelterA r b e i t e r ! . . .

Parvus erklärt kategorisch: „Wir haben keinerlei Aussicht, selbständigunsere Vertreter in die Duma zu bringen." Nichtsdestoweniger schreibter: „Wenn sich zeigt , daß die Wahlkomitees nicht zu verwirklichen sind,so müssen wir dennoch alle Anstrengungen machen, eigene Kandidaturenaufzustellen." Trotz des Zensus, glaubt Parvus, „ist in einzelnen Fällendie Möglichkeit sozialdemokratischer Kandidaturen nicht ausgeschlossen".„Eine oder zw ei sozialdemokratische K andid aturen, wo imm er es auch sei,werden zur poli t ischen Losung für das ganze Land werden."

Wir danken wenigstens für die Klarheit . Aber was hält euch zurück,meine Herren? Die Zei tung „JLus" hat längst ihre Kandidaturen aufge-stell t , die Kandidaturen aller dieser Stachowitsch, Petrunkewitsch undsonst igen Verrä ter an der Revolut ion, d ie um die Gunst der H erre n D ur-nowo bet teln . Weshalb schweigt denn die Zei tung „Iskra"? Warum gehtsie nicht von Worten zu Taten über? Warum stell t sie nicht die Kandida-turen von Axelrod, Starower, Parvus und Martow für die Reichsdumaauf? Probiert es, meine Herren, macht einen Versuch, ein experimentum

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272 W. J. Lenin

in corpore vili.* Probiert es, und wir werden sogleich sehen, wer von uns

recht hat: Ob ihr recht habt, die ihr glaubt, daß diese Kandidaten zur„Losung für das ganze Land" werden, oder wir, die wir glauben, daß dieseKandidaten gegenwärtig nur die Rolle von Hanswursten spielen werden?

Parvus schreibt: „Die Regierung hat einer Handvoll Menschen dasWahlrecht zu einer Institution gegeben, die die Angelegenheiten des ge-samten Volkes verwalten sollte. Dies erlegt den künstlich herausgesuchtenW ählern die Pflicht auf, ihr exklusives Recht nicht nach persönlicher Will-kür" (sondern nach Klassen- oder Parteiwillkür?), „sondern unter Be-rücksichtigung der Meinung der Volksmassen auszuüben. Sie an diese

Pflicht zu erinnern, sie zu zwingen (!!), ihr nachzukommen, das ist un-sere Aufgabe, für deren Erfüllung wir vor keinerlei Mitteln haltmachendürfen."

Diese Betrachtung, die natürlich durch die Versicherung ergänzt wird,daß die Taktik des (aktiven) Boykotts mangelnden Glauben an die „revo-lutionären Kräfte des Landes" (sie!) zum Ausdruck bringe, ist grund-falsch. Sie ist ein Musterbeispiel sentimental-bürgerlicher Fragestellung,gegen die sich alle Sozialdemokraten auflehnen müssen. Parvus' Betrach-tung ist bürgerlich, denn er übersieht den Klassencharakter der Dum a: die

Vereinbarung zwischen Bourgeoisie und Selbstherrschaft. Parvus' Betrach-tung ist eine hohle, sentimentale Phrase, denn er nimmt, sei es auch nurfür einen Augenblick, die verlogenen Worte der Oswoboshdenzen ernst,daß sie „der Meinung der Volksmassen Rechnung tragen" wollen. Derehrenwerte Parvus ist um etwa drei Jahre zu spät gekommen. Als die Libe-ralen weder ein Presseorgan noch eine illegale Organisation besaßen, wiraber das eine wie das andere hatten, förderten wir ihre politische Entwick-lung. Und dieses Verdienst wird die Geschichte aus der Tätigkeit der So-zialdemokratie nicht streichen. Jetz t aber sind die Liberalen aus politischen

Säuglingen zu Hauptmachern der Politik geworden, sie haben durch dieTat gezeigt, daß sie die Revolution verraten. Wenn man jetzt das Hau pt-augenmerk nicht darauf richtet, den Verrat der bürgerlichen „Verein-barer" anzuprangern, sondern darauf, sie an ihre „Pflicht" zu erinnern,daß sie die Sache (nidit der Bourgeoisie, sondern) des ganzen Volkes zuvertreten haben, so heißt das, sich in Traban ten der Oswoboshdenzen zuverwandeln! Denn nur die Oswoboshdenzen können ernstlich den Aus-

* Ein Versuch am gemeinen Körper, ein Versuch, der nichts kostet. Die Hed.

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Parlamentsspielerei 273

druck der „revolutionären Kräfte des Landes" in der Reichsduma suchen.

Die Sozialdemokratie weiß, daß wir jetzt bestenfalls erreichen können,die verräterischen Bemühungen der Bourgeoisie zu neutralisieren, zu para-lysieren. Die Semstwoleute und Oswoboshdenzen sind nicht die „revolu-tionäre Kraft des Landes", und es ist eine Schande, das nicht zu wissen,Genosse Parvus! Die revolutionäre Kraft sind jetzt, in der demokratischenRevolution, nur das Proletariat und die gegen die Gutsbesitzer kämpfendeBauernschaft.

Die schönste Perle unter all den Perlen des bemerkenswerten Artikelsvon Parvus ist seine Formulierung der 'Bedingungen für die Unterstützung

der Oswoboshdenzen durch das Proletariat. „Es ist notwendig", schreibtParvus, „die Kandidaten der Opposition, die unserer Unterstützung teilrhaftig werden wollen, auf bestimmte politische Forderungen zu verpflich-ten." (Das ist kein Russisch, sondern eine schlechte Übersetzung aus demDeutschen, aber der Sinn ist immerhin klar.) „Solche könnten beispiels-weise sein: 1. in der Duma selbst ihre sofortige Auflösung und die Ein-berufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinenusw. Wahlrechts fordern; 2. der Regierung alle militärischen und finan-ziellen M ittel verweigern, solange diese Forderung nicht erfüllt wird ."

Von Stufe zu Stufe tiefer. Wer einmal ausgerutscht und auf die schiefeEbene geraten ist, der gleitet unaufhaltsam weiter hinab. Unsere außer-halb der beiden Teile der Partei stehenden Übermenschen vom SchlageParvus' und Plechanows setzen sich erhaben über dieselben Resolutionender Neuiskristen hinweg, für die sie moralisch und politisch verantwortlichsind. Diese Übermenschen dünken sich höherstehend als die „Mehrheit"un d die „M inderhe it": in Wirklichkeit stehen sie tiefer als diese und jene,denn zu allen Unzulänglichkeiten der Mehrheit gesellen sich bei ihnennoch alle Unzulänglichkeiten der Minderheit und alle Unzulänglichkeiten

eines "Überläufers.Man nehme Parvus. Er ging die ganze Zeit Hand in Hand mit der„Iskra", sogar dann, als der Plan der Semstwokampagne und der 9. Januarihm für kurz e Zeit die Augen über ihre opportunistische Haltu ng öffneten.Nichtsdestoweniger wollte Parvus als „Versöhnler" gelten, vermutlichdeshalb, weil ihn, als er nach dem 9. Januar die Losungen der provisori-schen Regierung zu verkünden begann, die Bolschewiki korrigieren undauf das Phrasenhafte seiner Losungen hinweisen mußten. Ohne den

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274 W . J.Centn

Zaren, und eine Arbeiterregierung! rief Parvus unter dem Eindruck des

9. Januar. O hne das Volk, und eine liberale Duma! das ist es, worauf seinejetzige „Taktik" nach dem 6. August hinausläuft. Nein, Genosse, auf derStimmung des Augenblicks, auf der Anbetung des Augenblicks werden wirunsere Taktik nicht aufbauen!

Parvus hat jetzt „neue" 'Bedingungen für die Liberalen ausgetüftelt. Diearmen Neuiskristen, wie aufreibend ist für sie das Austüfteln von „Be-dingungen" für eine Vereinbarung mit den Oswoboshdenzen! Starowerhat sich auf dem II. Parteitag (siehe seine Resolution, die vom III. Partei-tag aufgehoben wurde) Bedingungen ausgedacht, die sofort zum Teufel

gingen, denn weder im Plan der Semstwokampagne noch jetzt sind dieseBedingungen von irgendeinem Neuiskristen, der über eine „Vereinbarung"mit den Oswoboshdenzen geschrieben hat, vollinhaltlich aufgestellt wor-den. Die Konferenz der Neuiskristen hat in der Resolution über das Ver-hältnis zu den Liberalen andere, strengere Bedingungen aufgestellt. DerNeuiskrist Parvus trägt für diese Resolution die moralische Verantwor-tung — aber was kümmern sich Literaten, die sich Übermenschen dünken,schon um irgendwelche Resolutionen, die unter Mitwirkung von verant-wortlichen Vertretern des Proletariats ausgearbeitet worden sind! Über-

menschen pfeifen auf Parteiresolutionen!In der Resolution der Neuiskristen über das Verhältnis zu den opposi-

tione llen Parteien steht schwarz auf weiß geschrieben, daß die Sozial-demokratie „von allen Feinden des Zarismus fordert":

„ 1. Energische und eindeutige Unterstützung jeder entschlossenen Ak-tion des organisierten Proletariats, die darauf gerichtet ist, dem Zarismusneue Schläge zu versetzen."

Parvus empfiehlt eine „Vereinbarung" mit den Oswoboshdenzen unddas Versprechen, sie zu „unterstützen", ohne etwas Derartiges zu ver-

langen.„2. Offene Anerkennung und vorbehaltlose Unterstützung der For-

derung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlungauf Grund des allgemeinen usw. Stimmrechts und offenes Vorgehen gegendie jene Parteien und Qruppen, die danach trachten, die Rechte des Vol-kes zu beschneiden, sei es durch Beschränkung des Wahlrechts, sei es durchUnterschiebung einer gnädig gewährten monarchischen Verfassung anStelle einer konstituierenden Versammlung."

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'Parlamentsspielerei 275

Den ganzen zweiten Teil dieser Bedingungen erkennt Parvus nicht an.

Er läßt sogar die Frage, von wem die Oswoboshdenzen in der Duma die„Einberufung" der konstituierenden Versammlung „fordern" sollen, völ-lig im dunkeln. Wohl vom Z aren? W eshalb sie denn nicht selbst einberu-fen, ihr ehrenwerten Helden „parlamentarischer Vereinbarungen"? Oderseid ihr jetzt schon nicht mehr gegen eine „gnädige Qewäbrung" ?

„3. Entschiedene Unterstützung des Kampfes, den die Arbeiterklassegegen die Regierung und die Kapitalmagnaten für die Streik- und Koali-tionsfreiheit führt."

Von dieser „Bedingung" befreit Parvus die Oswoboshdenzen vermut-

lich im Hinblick auf die Einberufung der Duma und die Schädlichkeit derTaktik: „Je schlimmer, desto besser" (obgleich Parvus, als wollte er sichüber den Leser lustig machen, gleich hinterher versichert, daß es schlimmerwäre, wenn die Dum a gesetzgeberische Rechte besäße, d.h., daß ein Schrittzum Besseren und namentlich jener, den die Oswoboshdenzen anstreben,ein Schritt zum Schlechteren sei!!).

„4. Offenen Widerstand gegen alle Versuche der Regierung und desFeudaladels, die revolutionäre Bauernbewegung durch barbarische Gewalt-maßnahmen gegen die Person und gegen den Besitz des Bauern zu unter-

drücken."Mein wackerer Parvus, weshalb haben Sie diese Bedingung vergessen?Sollten Sie wirklich nicht dam it einverstanden sein, jetzt diese ausgezeich-nete Forderung an Petrunkewitsch zu stellen? an Stachowitsch? an Rodi-tschew? an Miljukow? an Struve?

„5. Verzicht auf die Unterstützung jedweder Maßnahmen, die denZweck haben, im freien Rußland ganz gleich welche Beschränkungen derRechte einzelner Nationalitäten und ganz gleich welche Spuren der natio-nalen Unterdrückung aufrechtzuerhalten;

und 6 . aktive Beteiligung an der Selbstbewaffnung des Volkes zumKampf gegen die Reaktion und Unterstützung der Sozialdemokratie beiihren Versuchen, den bewaffneten Massenkampf zu organisieren."

Mein wadkererParvus,weshalb habenSie dieseBedingungen vergessen?

„Vroleiari" 5Vr. 18, Tiad] dem Manuskript.26. (13.) September i905.

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D I E L I B E R A L E N V E R B Ä N D E

U N D D I E S O Z I A L D E M O K R A T I E 8 1

Welche Bedeutung haben die „Berufs"verbände der Intellektuellen fürdas Proletariat? Und sollten wir Sozialdemokraten ihnen nicht beitreten,um gegen die Trübung des Klassenbewußtseins der Arbeiter zu kämpfen?

Die „Berufs'Verbände der Intellektuellen und der „Verband der Ver-bände" sind politische Organisationen. Faktisch sind das liberale Ver-bände. Im großen und ganzen sind das Verbände, die den Kern der so-genannten konstitutionell-demokratischen, d. h. der bürgerlich-liberalenPartei ausmachen. Uns fällt jetzt eine sehr ernste Pflicht zu: die partei-

mäßige Erziehung des Proletariats und den Zusammenschluß seines Vor-trupps zu einer wirklichen politischen Partei, einer von allen anderen Par-teien unbedingt unabhängigen, unbedingt selbständigen Partei mit allenKräften zu fördern. Wir müssen uns deshalb zu allen Schritten, die in dieklaren und bestimmten Verhältnisse zwischen den Parteien Verwirrunghineintragen können, äußerst vorsichtig verhalten. Die ganze liberaleBourgeoisie bietet jetzt alles auf, um die Bildung einer vollauf selbständi-gen Klassenpartei des Proletariats zu verhindern, um die gesamte „Be-freiungsbewegung in dem einen Strom des Demokratismus zu „vereini-

gen" und zu „verschmelzen" und so den bürgerlichen Charakter diesesDemokratismus zu verschleiern.

Unter diesen Umständen den liberalen Verbänden beizutreten, wäreseitens der Mitglieder der sozialdemokratischen Partei ein großer Fehler,der sie in die äußerst schiefe Lage von Mitgliedern zweier verschiedenerund feindlicher Parteien brächte. Man kann nicht zwei Herren dienen.Man kann nicht Mitglied zweier Parteien sein. Beim Fehlen politischerFreiheit und im Dunkel des Selbstherrschaftssystems kann man die Par-

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Die liberalen Verbände und die Sozialdemokratie 777

teien leicht verquicken, und die Interessen der Bourgeoisie erfordern eine

solche Verquickung. Die Interessen des Proletariats aber erfordern einegenaue und klare Abgrenzung der Parteien. Und G arantien dafür, daß diesozialdemokratischen Gruppen, die den „Berufs"verbänden der Intellek-tuellen beitreten, ihre volle Selbständigkeit bewahren, nur der SDAPRund keiner anderen Partei angehören und über jeden ihrer Schritte ihrerParteiorganisation Rechenschaft ablegen — solche Garantien, und zwarreale und nicht bloß in Worten, können gegenwärtig nicht gegeben wer-den. In neunundneunzig von hund ert Fällen dürfte es solchen M itgliedernnicht gelingen, ihre Selbständigkeit zu bewahren, un d sie werden ihre Zu-

flucht zu „Schlichen" nehmen müssen, die vom Standpunkt ihrer Ergeb-nisse nutzlos, für das noch junge eigene Partetbewußtsein der Arbeiteraber demoralisierend und daher schädlich sind.

„Proletari" SVr. 18 , "Nach dem Jext des „Proletari".26. (.13.) September 1905.

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VON DER VERTEIDIGUNG ZUM ANGRIFF

Der Sonderberichterstatter der soliden konservativen Zeitung „Temps"

telegrafierte dieser Zeitung am 21. (8.) September aus Petersburg:„In der vorgestrigen Nach t überfiel eine Gru ppe von 70Personen das Rigaer

Zentralgefängnis, durchschnitt die Telefonlinien und drang mittels Strick-leitern in den Gefängnishof ein, wo nach heißem Handgemenge zwei Gefäng-niswärter getötet und drei schwer verletzt wu rden. Die M anifestanten befreitendann zwei politische Gefangene, die vor dem Kriegsgericht standen und dasTodesurteil erwarteten. Während der Verfolgung der Manifestanten, denenes mit Ausnahme von zweien, die verhaftet wurden, zu entkommen gelang,wurden ein Polizeiagent getötet und einige Polizisten verwundet."

Es geht also imm erhin vorw ärts! D ie Bewaffnung macht, ungeachtet d erunermeßlichen, jeder Beschreibung spottende n Schwierigkeiten, imm erhinFortschrit te. Der individuelle Terror, dieses Produkt der intell igenzleri-schen Schwäche, versinkt ins Reich der Vergangenheit. Anstatt daß manZehntausende Rubel und eine Menge revolutionärer Kräfte für die Er-mordung irgendeines Sergej (der Moskau kaum schlechter revolutionierteals viele Revolutionäre), für einen Mord „im Namen des Volkes" auf-wendet, beginnen jetzt Kampfhandlungen zusammen mit dem Volk. D asist der Augenblick, in welchem die Pioniere des bewaffneten Kam pfes nichtnur in Worten, sondern in der Tat mit der Masse verschmelzen, an dieSpitze der Kampfgruppen und Kampfabteilungen des Proletariats tretenund mit Feuer und Schwert des Bürgerkriegs "Dutzende von Volksführernerziehen, die mo rgen, wenn sich die Arb eiter zum A ufstand erheb en, d ankihrer Erfahrung und ihrer heroischen Kühnheit Tausenden und Zehntau-senden von Arbeitern zu helfen vermögen.

Wir grüßen die Helden der revolutionären Rigaer Kampfabteilung!Möge ihr Erfolg den sozialdemokratischen Arbeitern ganz Rußlands zur

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Von der Verteidigung zum Angriff 279

Ermutigung und als Vorbild dienen. Ein Hoch den Vorkämpfern der revo-

lutionären Volksarmee!Man sieht, von welchem Erfolg, sogar rein militärisch betrachtet, dasUnternehmen der Rigaer gekrönt war. Der Feind hat drei Tote und wahr-scheinlich fünf bis zehn Verwundete. Unsere Verluste: im ganzen zweiMann, wahrscheinlich verwundet und deshalb vom Feinde gefangen-genommen. Un sere Trop häen: zwei der Gefangenschaft entrissene revo-lutionäre Führer. Das ist doch ein glänzender Sieg!! Das ist ein wirklicherSieg nach einer Schlacht mit dem bis an die Zä hne bewaffneten Feind. Dasist keine Verschwörung mehr gegen irgendeine verhaßte Person, keinRacheakt, kein Verzweiflungsausbruch und keine bloße „Abschreckung" —

nein, das ist schon der wohldurchdachte und vorbereitete, die Kräftever-hältnisse berücksichtigende Beginn von Aktionen der Abteilungen einerrevolutionären Armee. Die Zahl solcher Abteilungen in einer Stärke von 25bis 75 Man n kann in jeder großen Stadt, oft auch in den Vororten einer Groß -stadt, auf einige Dutzend gebracht werden. Die Arbeiter werden diesenAbteilungen zu Hunderten beitreten, man muß nur sofort darangehen,diese Idee weitgehend zu propagieren, diese Abteilungen aufzustellen, siemit jeder Art Waffen zu versorgen, von Messern und Revolvern bis zuBomben, und diese Abteilungen militärisch zu schulen und auszubilden.

Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, da in Ermangelung eines revo-lutionären Volkes einzelne revolutionäre Terroristen die Revolution„machten". Die Bombe hat aufgehört, die Waffe einzelner „Bombisten"zu sein. Sie wird zum unentbehrlichen Zubehör der Volksbewaffnung. Mitder veränderten Kriegstechnik m üssen und werden sich auch die M ethodenund Mittel des Straßenkampfes verändern. Wir alle studieren jetzt (undtun gut daran) den Bau von Barrikaden und die Kunst, sie zu verteidigen.Doch über dieser nützlichen alten Sache darf man die neueste Entwicklungder Kriegstechnik nicht vergessen. Der Fortschritt in der Verwendung von

Sprengstoffen hat auf dem Gebiet der Artillerie eine Reihe von Neuheitenmit sich gebracht. Die Japaner waren den Russen zum Teil auch deshalbüberlegen, weil sie viel besser mit Sprengstoffen umzugehen verstanden.Die weitgehende Anwendung stärkster Sprengstoffe ist eine höchst charak-teristische Besonderheit des letzten Krieges. Und die Japaner, diese jetztin der ganzen Welt allgemein anerkannten Meister der Kriegskunst, gin-gen auch zur "Handbombe über, die sie gegen Port Arthur vortrefflich zum

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280 W. J. Lenin

Einsatz brachten. Lernen wir also von den Japanern! Lassen w ir wegen der

schweren M ißerfolge bei den Versuchen, massenhaft Waffen zu beschaffen,den Mut nicht sinken! Keinerlei Mißerfolge werden die Energie jenerbrechen, die ihre enge Verbindung mit der revolutionären Klasse fühlenund im Leben sehen, die sich bewußt sind, daß sich jetzt tatsächlich dasganze Volk für ihre nächsten Kampfziele erhoben hat. Die Herstellungvon Bomben ist überall und allerorts möglich. Sie erfolgt jetzt in Rußlandin weit größerem Umfang, als jeder von uns weiß (und jedes Mitgliedeiner sozialdemokratischen Organisation kennt bestimmt mehr als einBeispiel der Einrichtung von Werkstätten). Sie erfolgt in unvergleichlich

größerem Umfang, als die Polizei weiß (diese aber weiß sicher mehr alsdie Revolutionäre in den einzelnen Organisationen). Keine Macht wirdden Abteilungen einer revolutionären Armee widerstehen können, diemit Bomben bewaffnet sind, die unversehens eines Nachts gleichzeitigmehrere solcher Überfälle wie den Rigaer durchführen und in deren Ge-folge — das ist die letzte und w ichtigste Bedingung — sich Hunderttausendevon Arbeitern erheben werden, die den „friedlichen" neunten Januar nichtvergessen haben und sich leidenschaftlich nach einem bewaffneten neuntenJanuar sehnen.

Dah in treiben offensichtlich die Dinge in R ußland. M an denke sich hin-ein in die Meldungen der legalen Zeitungen über Bomben, die in Reise-körben friedlicher Schiffspassagiere gefunden wurden. Man lese sich hin-ein in die Nachrichten über die Hunderte von Überfällen auf Polizistenund Militärs, über die Dutzende auf der Stelle Getöteter, die DutzendeSchwerverwundeter während der letzten zwei Monate. Sogar die Korre-spondenten des verräterischen bürgerlichen „Oswoboshdenije", das die„wahnwitzige" und „verbrecherische" Propagierung des bewaffneten Auf-stands eifrig verurteilt, geben zu, daß tragische Ereignisse noch nie so nahebevorstanden wie heute.

An die Arbeit denn, Genossen! Möge jeder auf seinem Posten sein!Möge jeder Arbeiterzirkel d aran denken, daß die Ereignisse, wenn nichtheute, so morgen von ihm die führende Teilnahme am letzten und ent-scheidenden Kampf verlangen können!

„Proktari" SVr. 18, Tiaäo dem 7ext des „Proietari".26. (13.) September 1905.

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Z U R G E G E N W Ä R T I G E N L A G E

In Nr. 15 des „Proletari" war als Musterbeispiel einer sogenannten„revolutionären Selbstverwaltung" (von der „Iskra" mit der Losung desVolksaufstands durcheinandergebracht) bereits die entschlossene Haltungder Smolensker Duma vermerkt worden*, die die Einquartierung von Ko-saken in der Stadt für ungesetzlich erklärte, die Auszahlung von Geld ansie einstellte, zum Schutz der Einwohnerschaft eine städtische Miliz orga-nisierte und die Soldaten in einem Aufruf vor Gew alttätigkeiten gegen dieBürger warnte. Als weitere Illustration derselben Idee und zur Charakte-ristik der gegenwärtigen Lage bringen wir aus „l'Humanite" eine ähn-

liche Resolution, die von der Kertscher Duma anläßlich des kürzlich inder Stadt durchgeführten Pogroms angenommen w urde.

Die Duma beschloß: 1. der jüdischen Einwohnerschaft wegen der vonihr erlittenen Opfer (an Getöteten und Verwundeten) und materiellenVerluste das Beileid auszusprechen; 2. für das städtische Gymnasium zumGedenken der während der Unruhen getöteten Schüler zwei Stipendienzu stiften; 3. unverzüglich die Auszahlung von städtischen Geldern fürden Unterhalt der Polizei einzustellen, da die Ortsbehörden unfähig undwenig geneigt waren, Leben und Besitz der Einwohnerschaft zu schützen;

4. an die armen, von den Unruhen am meisten betroffenen Juden eineSumme von 1500 Rubel zu verteilen; 5. dem Hafenkapitän, als dem einzi-gen örtlichen Beamten, der aus Menschlichkeit mit großer Energie ein wei-teres Massengemetzel verhütete, ihre Sympathie zu bekunden; 6. denInnenminister von dem gesetzwidrigen Verhalten der Behörden währendder Unruhen in Kenntnis zu setzen und eine Untersuchung durch denSenat zu fordern.

* Siehe den vorliegenden Band, S. 215/216. Die Red.

19 Lenin, W erk e, Bd. 9

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282 19.1 Lenin

Insofern die Kertscher D um a den ih r durch das G esetz gezogenen Rah-

men der Dumakompetenz eigenmächtig erweitert, insofern sie sich an demallgemeinen revolutionären Leben des gesamten Staates beteiligt, beschrei-tet sie den Weg einer wahrhaft „revolutionären Selbstverwaltung". Aberwo sind die Qarantien, daß sich diese Selbstverwaltung in eine Selbstver-waltung des „Volkes" verwandeln wird? Und geziemt es uns Sozialdemo-kraten, dieses „Stückchen Revolution" als Hauptlosung in der Agitationherauszustellen, oder müssen wir den vollen und entscheidenden Sieg derRevolution propagieren, der ohne einen Aufstand unmöglich ist?

„Vroletari" Wr. 18, Na& i dem 7ext des „Proletari".26. O 3 j September 1905.

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V O N D E R R E D A K T I O N D E S Z E N T R A L O R G A N S

D E R S D A P R

Genossen! W ir möchten eure Aufmerksamkeit auf eine Möglichkeit derZusammenarbeit zwischen dem Zentralorgan und den Lokalblättern aufdem Gebiet der Agitation richten. Sehr häufig beschuldigt man das Z O , essei von der Bewegung isoliert, sei nicht populär usw. usf. Diese Vorwürfeenthalten natürlich einen Teil Wahrheit, und wir wissen ausgezeichnet,wie unzureichend in dieser kritischen Z eit unsere A rbeit aus der Ferne ist.Aber unsere Isolierung hängt zum Teil auch von den seltenen und unregel-mäßigen Verbindungen zwischen dem ZO und der Masse der örtlichen

Sozialdemokraten sowie von der ungenügenden Zusamm enarbeit zwischenihnen ab. Zweifellos helfen wir euch zuwenig. Aber auch ihr helft uns zu-wenig. Auf die Beseitigung eines dieser Mängel möchten wir jetzt kame-radschaftlich eure Aufmerksamkeit lenken.

Die lokalen Parteifunktionäre nutzen das ZO nicht genügend für dieAgitation aus. Das ZO trifft verspätet und in zu wenigen Exemplaren ein.Man muß daher 1. häufiger in den Lokalblättern Artikel und Notizennachdrucken; 2. häufiger populäre Losungen (und Artikel) des ZO in denLokalblättern auswerten oder frei wiedergeben, wobei ihr sie ergänzen,

ändern, kürzen usw. könnt, denn ihr seht aus der Nähe besser, was nottut, und alle Publikationen der Partei sind ja Gemeingut der gesamtenPartei; 3. häufiger das ZO in den Lokalblättern zitieren, um den Namendes Z O , die Idee einer eigenen ständigen Zeitung, den Gedanken an eineeigene ideologische Zentralstelle, an die Möglichkeit, sich stets dorthin zuwenden usw. usf., unter den Massen zu popularisieren. Man soll bei jederGelegenheit bestrebt sein, in den Blättern darauf hinzuweisen, daß dergleiche Gedanke in dem oder jenem Artikel des „Proletari" oder analoge

19 *

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284 TV.lXenin

Nachrichten in dem oder jenem seiner Berichte enthalten sind usw. usf.

Das ist für die Information der Massen über unser ZO und für die Er-weiterung unseres ganzen Wirkungskreises außerordentlich wichtig.

Die Lokalkomitees haben schon des öfteren ihnen geeignet erscheinendeArtikel nachgedruckt. Aber jetzt sind einheitliche Losungen (über das Ver-hältnis zu den Liberalen, den Oswoboshdenzen, über die Einstellung zuihrer „Vereinbarungstheorie", zu ihrem Verfassungsentwurf usw., über dierevolutionäre Armee, über das Programm der revolutionären Regierung,über den Boykott der Reichsduma usw. usf.) besonders wichtig. Man mußbestrebt sein, das ZO in der örtlichen Agitation allseitig auszuwerten,

indem man in den Blättern die Gedanken und Losungen nicht nur nach-druckt, sondern sie auch frei wiedergibt, sie entsprechend den örtlichenVerhältnissen weiterentwickelt oder abändert u. dgl. m. Das ist außer-ordentlich wichtig, um eine wirkliche Zusammenarbeit zwischen euch unduns, einen Meinungsaustausch, eine Korrektur unserer Losungen zu er-reichen und um die Massen der Arbeiter damit bekannt zu machen, daßwir ein ständiges ZO der Partei haben.

Wir bitten euch eindringlich, diesen Brief in ausnahmslos allen, auch denuntersten Organisationen und Zirkeln der Partei zu verlesen und zu er-

örtern.Redaktion des „Proletari"

„Rabotsöbi"a2Nr.2, 7la& dem Manuskript.September 1905.

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D E R J E N A E R P A R T E I T A G

D ER S O Z I A L D E M O K R A T I S C H E N P AR TE I

D E U T S C H L A N D S 8 3

Die Parteitage der deutschen Sozialdemokraten haben schon längst eineBedeutung gewonnen, die weit über den Rahmen der deutschen Arbeiter-bewegung hinausgeht. Die deutsche Sozialdemokratie steht hinsichtlichOrganisiertheit, Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Bewegung, Reich-tum und Gehalt der marxistischen L iteratur an der Spitze aller sozialdemo-kratischen Parteien. Es ist nur natürlich, daß unter diesen Um ständen auchdie Beschlüsse der deutschen sozialdemokratischen Parteitage häufig einefast internationale Bedeutung gewinnen. So war es in der Frage der neue-sten opportunistischen Strömungen im Sozialismus (Bernsteiniade). DerBeschluß des Dresdener sozialdemokratischen Parteitags, der die altbe-währte Taktik der revolutionären Sozialdemokratie bestätigte, wurde voniAmsterdamer Internationalen Sozialistenkongreß aufgegriffen und istnunmehr zum allgemeinen Beschluß des gesamten klassenbewußten Pro-letariats der W elt geworden. So auch jetzt. Die Frage des politischen M as-senstreiks — die Hauptfrage des Jenaer Parteitags — bewegt die ganzeinternationale Sozialdemokratie. Sie wurde in der letzten Zeit durch dieEreignisse in einer ganzen Reihe von Ländern, darunter auch, und sogarwohl vor allem, in Rußland, in den Vordergrund gerückt. Und die Ent-

scheidung der deutschen Sozialdemokratie wird zweifellos auf die gesamteinternationale Arbeiterbewegung einen nicht unbeträchtlichen Einfluß indem Sinne ausüben, daß sie den revolutionären Geist der kämpfenden Ar-beiter festigt und stärkt.

Doch wir wollen zunächst auch die übrigen, weniger wichtigen Fragenkurz erwähnen, die der Jenaer Parteitag behandelt und gelöst hat. Er be-faßte sich vor allem m it der Organisationsfrage. W ir w erden hier natürlich

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286 W. 1 Lenin

nicht auf Einzelheiten des revidierten Statuts der deutschen Partei ein-

gehen. Wichtig ist, den äußerst charakteristischen Grundzug dieser Ände-rung zu betonen: die Tendenz zur weiteren, vollständigeren und strenge-ren Durchführung des Zentralismus, zur Schaffung einer festeren Organi-sation. Diese Tendenz zeigte sich erstens darin, daß in das Statut einedirekte Bestimmung aufgenommen wurde, nach welcher jeder Sozialdemo-krat verpflichtet ist, einer Parteiorganisation anzugehören, es sei denn, daßbesonders ernste Gründe vorliegen, die das nicht zulassen. Zweitens zeigtesie sich darin, daß das System der Vertrauensleute durch das Systemsozialdemokratischer Lokalorganisationen ersetzt wurde, daß an Stelle des

Prinzips der individuellen V ollmacht, des Vertrauens zur Person, das Prin-zip der kollektiven, organisatorischen Verbindung getreten ist. Drittenszeigte sie sich in dem Beschluß, der alle Parteiorganisationen verpflichtet,25 Prozent ihrer Einnahmen der zentralen Parteikasse zuzuführen.

Im großen und ganzen sehen wir hier deutlich, daß das Wachstum dersozialdemokratischen Bewegung und ihre zunehmende Revolutionierungunbedingt und unvermeidlich zu einer konsequenteren Anwendung desZentralismus führen. In dieser Hinsidit ist die Entwicklung der deutschenSozialdemokratie für uns Russen außerordentlich lehrreich. Die organisa-

torischen Fragen haben bei uns bis vor kurzem einen unverhältnismäßiggroßen Raum unter den aktuellen Fragen des Parteilebens eingenommenund tun das zum Teil auch noch heute. Seit dem III. Parteitag haben sichin der Partei deutlich zwei organisatorische Tendenzen herausgebildet. Dieeine — zum konsequenten Zentralismus und zur systematischen Erweite-rung des Demokratismus innerhalb der Parteiorganisation, nicht zu dem-agogischen Zwecken, nicht um des Effekts willen, sondern um in dem M aße,wie sich der Sozialdemokratie in Rußland ein freieres Tätigkeitsfeld bietet,diesen Demokratismus zu verwirklichen. Die andere — zur organisatori-schen Verschwomm enheit, zur „organisatorischen Unklarheit", deren Übeljetzt sogar Plechanow, der sie so lange verteidigte, begriffen hat. (Wirwollen hoffen, daß die Ereignisse ihn ba ld dazu bringen werden, auch denZusamm enhang zwischen dieser organisatorischen Unklarheit und der tak-tischen Unklarheit zu begreifen.)

M an denke an die Auseinandersetzungen über § 1 unseres S tatuts. DieKonferenz der Neuiskristen, die früher die „Idee" ihrer falschen Formu-lierung hitzig verteidigt hatten, warf je tzt sowohl den ganzen Paragraphen

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Der Jenaer P arteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 287

als auch die ganze Idee einfach über Bord. Der III. Parteitag bestätigte das

Prinzip des Zentralismus und der organisatorischen Verbindung. DieNeuiskristen versuchten sofort, die Zugehörigkeit jedes Parteimitglieds zueiner Organisation als eine Frage allgemeiner Prinzipien zu behandeln.Jetzt sehen wir, da ß die Deutschen — und zwar Opportunisten wie Revo-lutionäre gleichermaßen — die prinzipielle Berechtigung dieser Forderungnicht einmal anzweifeln. Als sie diese Forderung (daß jedes Parteimitgliedeiner Parteiorganisation anzugehören hat) direkt in ihr Statut aufnahmen,begründeten sie notwendige Ausnahmen von dieser Hegel keineswegs mitPrinzipien, sondern... mit der unzureichenden JreibeiX in Deutschland.Vollmar, der in Jena über die organisatorische Frage referierte, rechtfertigtezulässige Ausnahmen von der Regel damit, daß es solchen Leuten wiekleinen Beamten unmöglich sein werde, der Sozialdemokratischen Parteioffen anzugehören. Selbstverständlich ist bei uns in Rußland eine ganzandere S ituation: da jede Freiheit fehlt, sind alle Organisationen gleich ge-heim. Bei revolutionärer Freiheit ist es besonders wichtig, die Parteienstreng abzugrenzen und in dieser Hinsicht keinerlei „Verschwommenheit"zu dulden. Doch das Prinzip, daß es wünschenswert ist, die organisatori-schen Verbindungen zu festigen, bleibt unerschütterlich.

Was das System der Vertrauensleute betrifft, das von den deutschenSozialdemokraten jetzt aufgegeben worden ist, so hing es voll und ganzmit dem Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten zusammen. Je weiter die-ses Gesetz in die Vergangenheit rückte, desto natürlicher und unvermeid-licher wurde der Übergang zum Aufbau der gesamten Partei auf dem Sy-stem der unmittelbaren Verbindung zwischen den Organisationen ohne dieMittlerschaft von Vertrauensleuten.

Auch die andere Frage, die in Jena vor der Frage des politischen Streikserörtert wurde, ist für Rußland außerordentlich lehrreich. Das ist die Frageder Maifeier oder, richtiger gesagt (wenn man vom Kern der Frage aus-geht und nicht von dem Tagesordnungspunkt, der den A nlaß der Diskus-sion bildete), die Frage des Verhältnisses der Gewerkschaftsbewegung zursozialdemokratischen Partei. Wir haben im „Proletari" schon mehrmalsdavon gesprochen, welch tiefen Eindruck der Kölner Gewerkschaftskon-greß84 auf die deutschen Sozialdemokraten, und nicht nur auf sie allein,gemacht hat. Auf diesem Kongreß zeigte sich mit aller Deutlichkeit, daßsidi sogar in Deutschland, wo die Traditionen des Marxismus und sein

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288 "W. 1 Lenin

Einfluß am stärksten sind, in den Gewerkschaftsverbänden—wohlgemerkt:

in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbänden — antisozidistisdhe-Tendenzen entwickeln, Tendenzen zum „reinen Trade-Unionismus" imenglischen, d. h. im unbestreitbar bürgerlichen Geist. Und so weitete sichauf dem Jenaer Parteitag die Frage der Maidemonstration im engerenSinne des W ortes zwangsläufig zur Frage des Trade-Unionismus und derSozialdemokratie, zur Frage des „Ökonomismus" aus, um die Bezeichnungder Richtungen unter den russischen Sozialdemokraten anzuwenden.

Fischer, der über die Maifeier referierte, sagte rundheraus, es wäre eingroßer Fehler, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß „in den

Gewerkschaften da und dort der sozialistische Geist etwas verlorengegan-gen ist". Das gehe so weit, daß z. B. Bringmann, der Vertreter des Zim-mererverbandes, Sätze der folgenden Art aussprach und druckte: „Nachmeinen Erfahrungen hat die Arbeitsruhe am 1. Mai in den Gewerkschaf-ten gewirkt wie ein Fremdkörper im menschlichen Organismus." „DieGewerkschaft ist unter den gegebenen Verhältnissen das einzige Mittel,um die Lage der Arbeiterklasse zu verbessern" usw. Zu diesen „Sympto-men einer Krankheit", wie sich Fischer treffend ausdrückte, gesellt sicheine Reihe anderer. Der Gewerkschaftsegoismus oder „Ökonomismus" ist

in Deutschland ebenso wie in Rußland und überhaupt überall mit demOpportunismus (Revisionismus) verknüpft. Die Zeitung desselben Zim-mererverbandes schrieb, die Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialis-mus seien zerstört, die Krisentheorie, die Katastrophentheorie usw. seienfalsch. Der Revisionist Calwer forderte die Arbeiter auf, nicht unzufrie-den zu sein, ihre Bedürfnisse nicht zu steigern, sondern sich zu bescheidenusw. usf. Liebknecht fand die allgemeine Zustimmung des Parteitags, alser sich gegen die Idee der „Neutralität" der Gewerkschaften aussprachund dazu bemerkte: „Bebel ist zwar auch für die Neutralität eingetreten,aber ich glaube, daß es einer der wenigen Punkte ist, wo Bebel nicht dieMehrheit der Partei hinter sich hat."

Bebel selbst bes tritt, daß er den Gewerkschaftsverbänden Neutra litätgegenüber der Sozialdemokratie angeraten habe. Die Gefahr des Gewerk-schaftsegoismus erkannte Bebel uneingeschränkt an. Er sagte weiter, daßihm noch schlimmere Beispiele dieser zünftlerischen Verblödung bekanntseien: Bei den jüngeren Gewerkschaftsführern gehe das so weit, daß sieganz ungeniert über die Partei und über den Sozialismus, ja sogar über

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Der Jenaer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei T)eutsdhlands 289

die Theorie des Klassenkampfes höhnen. Diese Erklärung Bebeis löste

allgemeine Empörungsrufe des sozialdemokratischen Parteitags aus. Lau-ter Beifall ertönte, als er entschlossen erklärte: „Genossen, seid auf demPosten, überlegt euch, was ihr tut , ihr wandelt einen sehr verhängnisvollenW eg, an dessen Ende ihr euren eigenen Niedergang herbeifüh rt...."

Zur Ehre der deutschen Sozialdemokratie muß also gesagt werden, daßsie der Gefahr unverzagt ins Auge schaute. Weder vertuschte sie dieExtreme des Ökonom ismus, noch ersann sie üble Ausflüchte und Winkel-züge (wie sie bei uns z. B. von Plechanow nach dem II. Parteitag so reich-lich erfunden wurden). Nein, sie hat die Krankheit rücksichtslos fest-

gestellt, die schädlichen Tendenzen entschieden verurteilt und alle Partei-mitglieder unumwunden und offen aufgefordert, sie zu bekämpfen. Einlehrreiches Ereignis für die russischen Sozialdemokraten, von denen sichmanche das Lob des Herrn Struve für ihre „Erleuchtung" in der Frage derGewerkschaftsbewegung redlich verdient haben!

Qesdbrieben im September 1905.

Zuerst veröffentlicht 1924 in der Tiaöj dem Ma nuskript.Zeitschrift „Pod Snamenem Marxisma"CUnter dem B anner des Marxismus) Jtfr. 2.

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29 0

K E I N E S C H W I N D E L E I !

U N S E R E K R A F T L I E G T I M A U S S P R E C H E N

D E R W A H R H E I T !

Zuschrift an die Redaktion85

„Wir sind nicht imstande, den Aufstand herv orzu rufen... deshalb istes zwecklos, ihn mit der Duma zu ve rknü pfen ... die Agitationslosung istdie konstituierende Versammlung." So schrieb der „Bund", und der Ver-fasser des Artikels in Nr . 16 * hat ihm ungenügend geantwortet.

Diese Worte des „Bund" widerspiegeln vortrefflich das Spießertum inder Sozialdemokratie, das Spießertum im Sinne der Banalität, des golde-nen Mittelwegs, der Farblosigkeit, der Gemeinplätze, der Mittelmäßig-keit (was der „ Bund", der bekanntlich sowohl 1897 bis 1900 als auch 1901bis 1903 und 1904 die Rolle eines ideologischen Parasiten spielte und sienoch jetzt im Jahre 1905 spielt, stets verkörpert ha t).

Das ist die landläufige Ansicht, der gewöhnliche Standpunkt, der „ge-sunde Menschenverstand" („der Triumph des gesunden Menschenver-stands" im „Oswobosbdenije" und „die Erleuchtung").

Das ist der größte Sdhwindel, dessen Entlarvung für die russische Revo-lution und für das klassenbewußte Proletariat als den einzig möglichenUrheber einer siegreichen Revolution von größter Bedeutung ist.

Wir seien nicht imstande, den Aufstand hervorzurufen, deshalb dürfeman ihn nicht mit der Duma verknüpfen, deshalb laute die Losung nicht:

bewaffneter Aufstand, sondern: konstituierende Versammlung.Das ist dasselbe, als sagte man: W ir, d ie Nackten und Schutzlosen, die

Hungrigen und Gequälten, sind nicht imstande, aus unserem Sumpf, indem wir umkomm en, auf jenen Berg hinaufzusteigen, wo Licht und Sonne,Luft und alle Früchte der Erde sind. Wir haben die Leiter nicht, ohnedie der Aufstieg unmöglich ist. Wir sind nicht imstande, die Leiter zu

* Siehe den vorliegenden Band, S. 241—246. Die Red.

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Keine Sdhwindelei! TAnsere "Kraft liegt im Aussprechen der 'W ahrheit! 291

beschaffen. Deshalb dürfen wir unseren Kampf für den Aufstieg nicht mit

der Losung der Beschaffung (respektive Herstellung) der Leiter verknüp-fen. Deshalb muß unsere Losung sein: Auf den Berg! Auf den Berg! Aufdem Berg ist Glück und Erlösung, Luft und Licht, Ermutigung und Stär-kung.

Weil die Leiter fehlt, ohne die man nicht hinaufsteigen kann, deshalbsoll man als Losung nicht die Beschaffung einer Leiter nehmen und anihrer Herstellung arbeiten, deshalb soll die Losung lauten: Seid drobenauf dem Berg, auf dem Berg ist das Glück usw .!

„Die Schwäche hatte sich wie immer in den W underglauben gere ttet",

hat Marx gesagt.86

Ist es die Schwäche des Proletariats oder die Schwäche der Oiäupter des„Bund" und der neuen „Iskra", die sich jetzt in den Wunderglauben ret-tet? in den Glauben, daß man ohne Leiter auf den Berg gelangen könne?in den Glauben an die konstituierende Versammlung ohne Aufstand?

Dieser Glaube ist der Glaube von Irrsinnigen. Ohne bewaffneten Auf-stand ist die konstituierende Versammlung ein Phantom, eine Phrase, eineLüge, eine Frankfurter Schwatzbude.

Der Betrug und der Schwindel des Oswoboshdenzentums, dieser ersten

umfassend politischen, massenhaft politischen, volkstümlichen Form derbürgerlichen Losung in Rußland, bestehen gerade in der Unter-stützung dieses Wunderglaubens, dieser Lüge. Denn die liberale Bour-geoisie braucht ihre Lüge, für sie ist es keine Lüge, sondern die höchsteWahrheit, die Wahrheit ihrer Klasseninteressen, die Wahrheit der bür-gerlichen Freiheit, die Wahrheit der kapitalistischen Gleichheit, das Aller-heiligste der Brüderlichkeit aller Krämer.

Das ist ihre (der Bourgeoisie) Wahrheit, denn sie braucht nicht den Siegdes Volkes, nicht den Berg, sondern den Sumpf für die Massen und die

Herrschaft der Großköpfe und Geldsäcke über den Pöbel; sie brauchtnicht den Sieg, sondern den Pak t, die Vereinbarung mit dem Feind = denVerrat an den Feind.

Für die Bourgeoisie ist das kein „Wunder", sondern eine Realität, dieRealität des Verrats an der Revolution, nicht aber des Sieges der Revo-lution.

... Wir sind nicht imstande, die Leiter zu beschaffen... wir sind nichtimstande, den Aufstand hervorzurufen... Ist dem so, Herrschaften?

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292 W . J. Cenin

Wenn dem so ist, dann stellt eure ganze Propaganda und Agitation

um, dann beginnt, vor den Arbeitern und dem ganzen Volk neue, um -gearbeitete Reden zu halten, neu aufgebaute, andere Reden.Dann sagt zum Volk: Arbeiter von Petersburg, Riga, Warschau, Odessa,

Tiflis... wir sind nicht imstande, den Aufstand hervorzurufen und imAufstand zu siegen. Deshalb ist es zwecklos, an eine vom ganzen Volkgewählte konstituierende Versammlung auch nur zu denken, davon auchnur zu reden. Besudelt nicht große Worte mit kleinlichen Ausflüchten.Verdeckt nicht eure Schwäche mit dem Glauben an Wunder. Schreit eureSchwäche in alle Welt hinaus — Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur

Besserung. Verlogene Phrasen, hohle Prahlereien bedeuten den morali-schen Tod und sind das sichere Unterpfand des politischen Todes.

Arbeiter! Wir sind zu schwach, den Aufstand hervorzurufen und imAufstand den Sieg zu erringen! Hört deshalb auf mit dem Gerede übereine vom ganzen Volke gewäh lte konstituierende Versammlung, verjagtdie Lügner, die davon sprechen, entlarvt den Verrat der Oswoboshdenzen,der „Dumafreunde", der Kadetten und des übrigen Packs, denn sie wollennur in Worten eine vom ganzen Volk gewählte konstituierende Ver-sammlung, in Wirklichkeit aber eine gegen das Volk gerichtete Versamm-

lung, die nicht Neues konstituiert, sondern das Alte flickt, die euch keinneues Kleid, kein neues Leben, keine neuen W affen für den neuen großenKampf gibt, sondern nur Flitter für eure alten Lumpen, nur Gaukelei undBetrug, Spielzeug statt W affen, Ketten s tatt Gewehre.

Arbeiter! Wir sind zu schwach für den Aufstand. Deshalb sprecht nichtvon Revolution und erlaubt den Prostituierten des Oswoboshdenzen-tums, den "Kadetten und Dumafreunden nicht, von Revolution zu spre-chen, erlaubt diesen bürgerlichen Halunken nicht, den für das Volk er-habenen Begriff mit ihren Lästerzungen zu besudeln.

Wir sind schwach? Also gibt es bei uns keine Revolution und kann eskeine geben. Das ist keine Revolution des Volkes, das ist eine Begaunerungdes Volkes durch die Petrunkewitsch und die Bande der liberalen Zaren-knechte. Das ist kein Kampf für die Freiheit, das ist eine Verschacherungder Volksfreiheit für Parlamentssitze der Oswoboshdenzen. Das ist keinBeginn eines neuen Lebens, sondern eine Verewigung der alten Plackereiund Schinderei, des alten Dahinvegetierensund langsamen Verfaulens.

W ir sind nicht imstande, den Aufstand hervorzurufen, Genossen Arbei-

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Keine Sdhwindelei! Unse re Xraft liegt im Aussprechen der W ahrheit! 293

ter! Wir sind nicht imstande, das Volk für die Revolution zu mobilisie-

ren! Wir sind nicht imstande, die Freiheit zu erringen... Wir sind nurimstande, den Feind ins Wanken zu bringen, nicht aber, ihn zu schlagen,ihn so weit ins Wanken zu bringen, daß sich Petrunkewitsch neben ihnsetzen kann. Fort also mit allem Gerede über die Revolution, über dieFreiheit, über die Volksvertretung — wer davon spricht, ohne durdb dieTat an der Leiter zu arbeiten, um sie zu beschaffen, am Aufstand, um siezu erkämpfen, der ist ein Lügner und Gauner, der betrügt euch.

Wir sind schwach, Genossen Arbeiter! Hinter uns steht nur das Prole-tariat, stehen nur Millionen von Bauern, die einen zersplitterten, trieb-

haften, unbewaffneten Kampf ins Blinde hinein begonnen haben.Gegen uns ist die ganze Höflingsclique, sind alle Arbeiter und Bauern,die in Soldatenröcken stecken und*

Schluß. Wir sind schwach. Die Schwäche rettet sich in den Wunder-glauben. Das ist Tatsache — nach den Worten des „Bund" und nach demPlan der „Iskra".

Doch was ist Tatsache, meine Herren? Daß die Kräfte des Proletariatsganz Rußlands schwach sind oder daß die Häupter der Bundisten und der

Neuiskristen schwach sind?Sagt die Wahrheit:1. Es gibt keine Revolution. Es gibt einen K uhhandel der liberalen Bour-

geoisie mit dem Z ar en ...2. Es gibt keinen Kampf für die Freiheit. Es gibt eine Verschacherung

der Volksfreiheit.3. Es gibt keinen Kampf für die Volksvertretung. Es gibt eine Vertre-

tung des Qeldsadks.Wir sind schwach... daraus entspringt unabweislich der ganze Verrat

an der Revolution.Wollt ihr die Revolution, die Freiheit, die Volksvertretung ... so müß t

ihr Stark sein.Anders herum

Ihr seid schwach? a>) W er ist schwach? Die KräfteDie Revolution ist das Los der des Proletariats oder die Häupter

Starken! der Iskristen und Bundisten?

* Der Satz ist im Manuskript nicht beendet. Die Red.

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294 J. Lenin

Wir sollen in Lumpen bleiben.

Ihr seid schwach?Die Freiheit wird nur von Star-

ken errungen.Die Schwachen werden stets

Sklaven sein. Die Erfahrungder ganzen Geschichte.

Ihr seid schwach?

Eure Vertretung wird durch eureSklavenhalter, eure Ausbeuterverwirklicht werden.

Die „Vertretung" ist entwedereine Errungenschaft des Star-ken oder ein bloßes StückPapier, ein Betrug, eineAugenbinde für den

Schwachen, um ihn zuverdummen ...

Qesdhrieben im September 1905.Zuerst veröffentlicht 1926im Lenin-Sammeiband V.

n) Ihr wollt die Revolution? Ihr

müßt stark sein!

£) Wir müssen die Wahrheitsagen: darin liegt unsere Kraft,aber die Masse, das Volk, dieTrtenge wird durch T aten, nach demKampfe, entscheiden, ob Kraft vor-handen ist.

Ist sie vorhanden?Oder wir sind schwach.(o) Wer ist schwach.

dem Manuskript.

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ÜBER DIE SOGENANNTE ARMENISCHESOZIALDEMOKRATISCHE ARBEITERORGANISATION

Wir erhielten einen Brief vom Zentralkomitee, in dem mitgeteilt wird,daß die „Armenische sozialdemokratische Arbeiterorganisation" denWunsch geäußert hat, die auf der Konferenz aller sozialdemokratischenParteien87 angenommene Resolution zu unterzeichnen. Das ZK stimmtjedoch dieser Unterzeichnung nicht zu, weil es gegen die Teilnahme die-ser Organisation, einer reinen Auslandsorganisation ohne ernsthafte Ver-bindungen in Rußland, an der Konferenz war. Wir hoffen, im „Prole-tari" bald ausführlicher über den wahren Charakter dieser Organisation

berichten zu können. Vorläufig bemerken wir, daß alle, die die wahrhaftsozialdemokratische Bewegung unter den armenischen Arbeitern im Kau-kasus unterstützen wollen, sich ausschließlich an die kaukasischen Orga-nisationen der SDAPR zu wenden haben, die im Kaukasus und nicht inGenf armenische Literatur herausgeben.

Qesdbrieben Septemberbis Oktober i905.

Zuerst veröffentlidbt 1931 Nach dem Manuskript.im Lenin-Sammelband XVI.

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D I E S E M S T W O T A G U N G

Am Montag, dem 12. (25.) September, wurde in Moskau die Tagungder Vertreter der Semstwos und Städte eröffnet, die die Frage des Ver-haltens zur Duma behandelte und endgültig entschied. Diese Tagung be-deutet gleich den vorhergegangenen Semstwotagungen einen neuen Schrittauf dem Wege der politischen Entwicklung und politischen Organisierungder Bourgeoisie Rußlands. Deshalb muß jeder klassenbewußte Arbeiterdiese Entstehung einer bürgerlichen konstitutionellen Partei aufmerksamverfolgen. Die politische Entwicklung des Proletariats als Klasse ist immer

und überall Hand in Hand mit der politischen Entwicklung der Bour-geoisie als Klasse gegangen.

Doch außer dieser allgemeinen Bedeutung hat die Semstwotagung auchnoch eine gewaltige Bedeutung für die außerordentlich aktuelle Frage un-seres Verhaltens zur Dum a. Vereinbarung der Bourgeoisie mit dem Zaris-mus oder entschiedenerer Kampf jener gegen diesen? — das ist der Kernder Frage, die bekanntlich auch in der Sozialdemokratie taktische Mei-nungsverschiedenheiten hervorruft.

Es sei vor allem daran erinnert, d aß die Semstwoleute auf ihrer vorher-

gegangenen Tagung die Bulyginsche Duma entschieden verurteilt und denbekannten Verfassungsentwurf der Oswoboshdenzen (Monarchie undZweikammersystem) angenommen hatten. Die Frage des Dumaboykottswar anfangs von der Mehrheit positiv entschieden, dann jedoch wiederaufgegriffen und bis zur nächsten Tagung zurückgestellt worden, die un-verzüglidb nach der Veröffentlichung des Gesetzes über die Reichsdumaeinberufen werden sollte; es war sogar von ihrer telegrafischen Einbe-rufung die Rede. In Wirklichkeit wurde die Tagung gar nicht so bald ein-

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Die Semstwotaguncj 297

berufen. Wie wir in Nr. 14 des „Proletari" vermerkten, gingen anfangs

Gerüchte um, daß die Semstwoleute sie abgesagt hätten. Dann wurdendie Verhandlungen des Herrn Golowin mit Durnowo bekannt, die wir inder vorigen Nummer des „Proletari" geschildert und bewertet haben*und die mit der Genehmigung der Tagung durch die Polizei endeten. DieTagung fand mithin unter völlig anderen Voraussetzungen statt als dievorangegangene: damals verbot die Polizei die Tagung, drohte sie aus-einanderzujagen, setzte ein Protokoll auf und veranlaßte nach der Tagungeine Untersuchung durch den Senat; jetzt haben sich die Semstwoleuteund die Polizei vorher besprochen und geeinigt.

Um dem Leser die ganze Bedeutung dieses Unterschieds zwischen da-mals und jetzt zu verdeutlichen, erinnern wir an die Erklärung in derletzten Nummer des „Oswoboshdenije". Ein Herr „Independent" („Un-abhängiger", vermutlich unabhängig von der Polizei?) schrieb in Nr. 76,in völliger Übereinstimmung mit dem Verfasser des Leitartikels derselbenNummer, folgendes: „Von keinerlei Kompromiß darf auch nur die Redesein. Nach wie vor hat man die Freiheit zu erobern, nicht aber zu erbet-teln .. . Man darf, und das ist im höchsten Grade wichtig, keinen Augen-blick lang auf die früheren Kampfmethoden und auf die bereits erobertenPositionen verzichten. Wenn es hierbei auch die M öglichkeit von K ompro-missen gibt, so muß sie sofort und entschlossen beseitigt werden. Alles,was bisher zur Organisierung der freiheitlichen Kräfte getan worden ist,muß auch fernerhin getan werden... Die Tätigkeit der Tagungen, Ver-bände und Versammlungen muß in demselben Geist und in derselbenRichtung fortgesetzt werden wie früher."

Klarer kann man sich nicht ausdrücken. Das Organ der Semstwo- oder„konstitutionell-demokratischen" Partei spricht sich nach dem 6. Augustentschieden und vorbehaltlos gegen den Verzicht auf die früheren Xampf-

methoden aus. Doch das Wesen der verlogenen Position der liberalenBourgeoisie besteht ja gerade darin, daß sie neben dem Wunsch nach Frei-heit den nicht weniger begehrlichen Wunsch nach einem Pakt mit demZarismus hegt. Deshalb sagt sie das eine und tut das andere. Um „nichtauf die früheren Kampfmethoden zu verzichten", hätte man die Dumaboykottieren müssen. Nachdem man auf den Boykott verzichtet hatte,mußte man logischerweise zwangsläufig auf einige „frühere Kampfmetho-

*~STehe den vorliegenden Band, S. 248-256. Die Red.

20 Lenin, We rke, Bd. 9

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298 W. J.Lenin

den" verzichten. Das „Oswoboshdenije" begann gerade dann gegen Kom-

promisse zu wettern, als Golowin das Kompromiß mit Durnowo schloß.Das „Oswoboshdenije" schrie gerade dan n: „Keinen Augenblick lang ver-zichten", als die Semstwotagung auf die frühere Freiheit ihrer Sitzungenverzichtete. Anläßlich des „Geschenks" der Duma, dieses angeblichen An -bruchs der Freiheit, erklärten sich die Semstwoleute einverstanden, weni-ger frei zu beraten.

Tatsache ist, daß 1. das Programm der Tagung von Herrn Durnowo,d. h . der Polizei, beschnitten wurde ; 2. der Vorsitzende sich verpflichtete,die Tagung zu schließen, falls Fragen behandelt würden, die das von der

Polizei genehmigte Programm nicht vorsah; 3. die Tagung zustimmte, inAnwesenheit eines Polizisten zu tagen, eines Delegierten Durnowos (sei-nes Kanzleichefs), der die Vollmacht hatte, die Tagung zu schließen,falls die von Herrn Golowin mit Herrn Durnowo vereinbarten „Bedin-gungen" verletzt würden; 4. auf der Tagung von der Polizei, ebenfallsunter Androhung der Auflösung, „aufrührerische Zwischenrufe" unter-sagt waren (Telegramm des Sonderberichterstatters der konservativenZeitung „Temps", der hinzufügt, alle diese Bedingungen seien korrekteingehalten worden).

Selbstverständlich können wir, da wir unsere Informationen aus aus-ländischen Zeitungen schöpfen, nicht für die unbedingte Richtigkeit undVollständigkeit dieser Informationen bürgen. Doch es besteht kein Grund ,daran zu zweifeln, daß sie im großen und ganzen richtig sind. Im Gegen-teil, Herr Golowin (dessen Verhandlungen mit Durnowo natürlich nichtfür die Öffentlichkeit bestimmt waren!) dürfte der Polizei noch weiter-gehende Versprechungen hinsichtlich des untertänigen Verhaltens derSemstwoleute gemacht haben.

Die Tatsache ist unbestreitbar. Die Worte des „Oswoboshdenije" unddie Taten der Oswoboshdenzen gehen himmelweit auseinander. Die Lite-raten des „Oswoboshdenije" üben sich in schönen Redensarten gegendie Polizei, während die Praktiker alles mit der Polizei gütlich ins reinebringen. Der Beginn der Semstwokampagne zu den Dumawahlen fiel zu-sammen mit dem Beginn der Verständigung zwischen der Semstwobour-geoisie und der Selbstherrschaft.

Die ausländischen Korrespondenten vermerken einmütig den friedlichenCharakter dieser Tagung der Semstwoleute im Vergleich mit der vorher-

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Die Semstwotagung 299

gegangenen. Fü r den Boykott der Dum a sprach sich nur ein Redner aus —

nach anderen Meldungen zwei. Die Mehrheit trat für die Beteiligungein (wir schrieben bereits in Nr. 12 des „Proletari" *, noch vor der Ver-öffentlichung des Gesetzes über die Duma, daß die Meinung des rech-ten Flügels der Semstwoleute in dieser Frage schon feststehe). Die Mehr-heit fand, daß die Nichtbeteiligung an den Wahlen ein „Zeichen vonFurchtsamkeit" sei — eine Auffassung, die, wie wir wissen, von Parvusund der neuen „Iskra" durchaus geteilt wird. In der Verständigung mitder Polizei hat sich dagegen die Japjerkeit unserer Semstwoleute ge-zeigt . . .

Die Tagung nahm eine Resolution an, in der die Duma nicht verurteilt,sondern lediglich gesagt wird (wir wissen wirklich nicht, ob das furchtsamoder tapfer ist), daß „die Dum a keine Volksvertretung im genauen Sinnedes Wortes darstellt". Die russischen Bürger werden aufgefordert, sichauf Grund der von den Semstwotagungen früher angenommenen Pro-gramme zusammenzuschließen und auf dem Boden der Duma zu kämp-fen, über den Kampf außerhalb der Duma und unabhängig von der Dumasteht in der Resolution keine Silbe; das heißt, um es mit den W orte n desvon der Polizei „unabhängigen" Oswoboshdenzen auszudrücken: „Keinen

Augenblick lang auf die früheren Kampfmethoden verzichten"...Ihren früheren, unziemlichen „revolutionären" Eifer dämpfend, ver-

legten sich die Semstwoleute auf die „positive" Arbeit im Zusammenhangmit der Duma. Sie arbeiteten in allen Einzelheiten ein politisches Pro-gramm aus (seinen vollen Wortlaut besitzen wir noch nicht); sie versuch-ten, ihre Abkehr von der Demokratie zu bemänteln, indem sie die Haupt-punkte des gemäßigten Konstitutionalismus wiederholten; sie behandelteneingehend Fragen der Wahlkampagne, der Organisierung eines zentralenund lokaler Wahlkomitees, der Aufstellung von Kandidatenlisten und

ähnliches mehr.Ist es nach alledem wirklich noch nicht klar, worauf der Gutsbesitzer-

und Kaufmannsliberalismus der Semstwoleute und Oswoboshdenzenabzielt?

Darauf, da ß man beginnt, nacheinander die Kampfforderungen derDemokratie, all das, was die Rechte des revolutionären Volkes sicher-stellt, was den Kampf für die Freiheit fördert und ausweitet, über Bord

* Siehe den vorliegenden Band, S. 172—180. Die Red.

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300 W.ü. Lenin

zu werfen (in der Resolution nichts zu sagen über den Kampf außerhalb

der Duma usw;)! Da ß man beginnt, alle jene Forderungen der D emokratiezu verankern, welche die Macht einzig und allein der Bourgeoisie sicher-stellen (vor allem Sitze in der Duma)! Daß man kein Gewicht legt aufdie Agitation im Volk, um so mehr aber auf die sachliche Mitarbeit inder Duma!

W ie treffend sagte doch der „Libera le" und gestrige Anbeter der Selbst-herrschaft William Stead (siehe seinen Brief vom 26. September in den„Times"), daß der äußere Frieden einen inneren Frieden erforderte, denFrieden zwischen dem Zaren und der liberalen Bourgeoisie, der durch

das Gesetz vom 6. August verkündet wu rde ! Die Semstwoleute beweisendurch ihr Verhalten, daß sie berät sind, frieden zu schließen, obgleich sienatürlich bei weitem nicht sofort und bei weitem nicht in allem Friedenschließen werden. „Herr Michael Stachowitsch, ein Freund und Mitarbei-ter Schipows", schrieb der Korrespondent des „Temps" am 27. Septem-ber, „rechnet auf die Gründung einer Mittelpartei, die für die Selbstherr-schaft und für eine beratende Duma eintritt; er behauptet, viele Mitgliederder extremen Parteien (!! welcher Schimpf für die Oswoboshdenzen! DieRedaktion des „Proietari") seien bereit, sich dieser Partei anzuschließen."

Die Behauptung des Herrn Stachowitsch wird nicht nur durch die Wortevieler legaler Zeitungen, sondern noch mehr durch die Jäten der HerrenSemstwovertreter bestätigt. Her r M . Stachowitsch war auf der Ta gunganwesend, teilt der Korrespondent der „Tim es" am 26. September m it.„Er glaubt fest an den Sieg der gemäßigten Elemente; und in der Tatfehlen fast gänzlidh die üblichen heftigen Anschuldigungen (fiery denun-ciations) gegen die Regierung, mit Ausnahme zufälliger (!!) Hinweiseauf die kaukasischen Greuel; was seine Voraussage (forecast) zu bestä-tigen scheint (rather confirms)." „Die Stimmung auf der Tagung — tele-

grafiert derselbe Korrespondent der konservativen englischen Zeitung —steht in erstaunlichem Gegensatz zu der Stimmung, die auf der Julitagungherrschte, als zahlreiche Delegierte für den Boykott der Duma eintraten."

Wird sich die „Iskra" wirklich auch jetzt noch nicht von ihrer falschenMeinung lossagen, wonach die Anhänger des Boykotts passive Enthaltungwollten, während die für die Beteiligung eintretenden Stachowitschs einenernsthaften Kampf wollen? W ird sie am Ende auch jetzt noch, zusammenmit Parvus, für eine Verständigupg mit den Oswoboshdenzen und für

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Die Sem stwotagung 301

deren Unte rstützu ng eintreten, nachdem die Osw oboshd enzen offensicht-

lich begonnen haben, sich mit den Durnowos zu verständigen?PS . Die Gerechtigkeit gebietet zu sagen, daß fortgesetzt neue Mit-

teilungen eintreffen, wonach die russischen Neuiskristen mit der neuen„Iskra" nicht übereinstimmen. Wir erhielten soeben ein Flugblatt der(menschewistischen) St. Pete rsbu rger G ru pp e: „Reichsduma oder kon sti-tuierende Versammlung". Neben der Kritik an der Duma begegnen wirhier der Losung „Nieder mit der Duma!". Die Vertreter der Arbeiterwerden aufgefordert, den Liberalen zu sagen, „daß sie die Reichsdumanicht anerkennen sollen", „daß sie verpflichtet sind, sich von ihrem Wahl-

recht (im Flugblatt undeutlich gedruckt) zur Duma loszusagen", daß sieden Arbeitern helfen sollen, „sich zum Kampf gegen die Schwarzhundert-schaften und die Reichsduma zu bewaffnen". Somit haben die Petersbur-ger Menschewiki die Losung des aktiven Boykotts gutgeheißen. Wie beidem berühmten „Plan der Semstwokampagne" befindet sich die „Iskra"im Widerspruch mit ihren russischen Anhängern. Nur in einer Hinsichtnähern sich die Petersburger Menschewiki der „Iskra": sie fordern dieArbeiter auf, sogleich „in den Fabriken, Werkstätten und Betriebsabtei-lungen ebenso wie seinerzeit in die Schidlowski-Kommission 88 Vertre ter"zu wählen. . . „Mögen unsere Vertreter, nachdem sie sich versammelthaben, ebenso den Kampf gegen die Reichsduma führen, wie die von unsin die Schidlowski-Kommission Gewählten gegen diese schlaue Falle derSelbstherrschaft gekämpft haben." Diese Losung ähnelt sehr der iskri-stischen Losung der „revolutionären Selbstverwaltung", obwohl die Ge-nossen der St. Petersburger G rup pe dieses unangebracht pom pöse W or tnatürlich nicht gebrauchen. Wir zweifeln nicht, daß die Petersburger Ar-beiter einsehen werden, wie unrichtig diese Losung u nd w ie fehlerhaft derVergleich mit der Schidlowski-Kommission ist. Damals boykottierten dieArbeiter die Kommission, jetzt boykottiert die Duma die Arbeiter.

Die revolutionäre Selbstverwaltung kann, wenn die Macht des Zarenaufrechterhalten bleibt, nur ein Stückchen der Revolution sein (Beschlußder Smolensker Stadtduma usw.). Sie zur Hauptlosung des revolutionärenProletariats zu machen, bedeutet Verwirrung zu stiften und den Oswo-boshdenzen in die Hände zu arbeiten. Wenn wir die Organisation derrevolutionären Kräfte des Proletariats und der Bauernschaft entwickeln,erweitern, festigen und ausbauen, dürfen wir diese Organisation des

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302 W. 7. Lenin

Krieges, diese Organisation des Aufstands nicht mit der Seibstverwatiung

verwechseln. Sowohl ihrer Bestimmung als auch der Art ihrer Entstehungund ihrem C harak ter nach ist die Organisation des bewaffneten Aufstands,die Organisation der revolutionären Armee der Organisation der revolu-tionären Selbstverwaltung in nichts ähnlich. Je eifriger die liberalen Bour-geois, die Oswoboshdenzen, sich bemühen, die konsequenten revolutio-när-demokratischen Losungen zu beschneiden, abzustumpfen und zu stut-zen, um so klarer und deutlicher müssen wir sie aufstellen: Einberufungeiner vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlung durcheine provisorische revolutionäre Regierung, Organisierung des bewaff-

neten Aufstands und einer revolutionären Armee zum Sturz der Zaren-macht.

„Proletari" Wf. 19, Tiad] dem Text des „Proletari"'.3. Oktober (20. September) 1905.

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Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript„Sozialismus und Bauernsdiaft"

1905

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303

SOZIALISMUS UND BAUERNSCHAFT

Die Revolution, die Rußland jetzt erlebt, ist eine allgemeine Volks-revolution. Die Interessen des ganzen Volkes sind in einen unversöhn-lichen Widerspruch mit den Interessen einer Handvoll Leute geraten, dieentweder die absolutistische Regierung bilden oder sie unterstützen. Schonallein die bloße Existenz der modernen Gesellschaft, die auf der Grund-lage der Warenwirtschaft aufgebaut ist und in der gewaltige Unterschiedeund Gegensätze zwischen den Interessen der verschiedenen Klassen undBevölkerungsgruppen bestehen, erfordert die Vernichtung der Selbstherr-

schaft, die politische Freiheit und die offene und unmittelbare Wider-spiegelung der Interessen der herrschenden Klassen in der staatlichenOrdnung und Verwaltung. Die demokratische, ihrem gesellschaftlich-ökonomischen Wesen nach bürgerliche Umwälzung muß unweigerlichdie Bedürfnisse der ganzen bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruckbringen.

Allein diese Gesellschaft, die jetzt im Kampf gegen die Selbstherr-schaft einheitlich und geschlossen zu sein scheint, ist durch die Kluft zwi-schen Kapital und Arbeit selbst unwiderruflich gespalten. Das Volk, das

sich gegen die Selbstherrschaft erhoben hat, ist kein einheitliches Volk.Eigentümer und Lohnarbeiter, eine unbedeutende Anzahl (die „oberenZehntausend") von Reichen und aber Millionen von Besitzlosen undWerktätigen — das sind wahrhaftig „zwei Nationen", wie ein weitblik-kender Engländer bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesagthat89. Der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie steht in ganzEuropa auf der Tagesordnung. Dieser Kampf hat längst auch auf Ruß-land übergegriffen. Im heutigen Rußland machen den Inhalt der Revolu-

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304 W. J. Lenin

tion nicht die zwei kämpfenden Kräfte aus, sondern zwei verschiedene

und verschiedenartige soziale Kriege: Der eine spielt sich im Schößeder heutigen absolutistisch-leibeigenschaftlichen Ordnung, der andere imSchöße der künftigen, vor unseren Augen schon entstehenden bürgerlich-demokratischen Or dnu ng ab. D er eine ist der Kampf des gesamten V olkesfür die Freiheit (für die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft), für dieDemokratie, d. h. für die Volksherrschaft — der andere ist der Klassen-kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie für die sozialistische Gesell-schaftsordnung.

Somit fällt den Sozialisten die schwere, mühsame Aufgabe zu, gleich-

zeitig zwei Kriege zu führen, die sowohl nach ihrem Charakter als auchnach ihren Zielen und nach der Zusam me nsetzung der zur entscheidendenTeilnahme an dem einen oder anderen Krieg geeigneten sozialen Kräfteäußerst verschiedenartig sind. Diese schwierige Aufgabe hat die Sozial-demokratie klar gestellt und fest entschieden, und zwar dank dem Um-stand, daß sie ihrem ganzen Programm den wissenschaftlichen Sozialis-mus, d. h. den Marxismus, zugrunde legte und daß sie sich als ein Truppder Armee der internationalen Sozialdemokratie anschloß, die an Handder Erfahrung einer langen Reihe demokratischer und sozialistischer Be-

wegungen in den verschiedenen europäischen Ländern die Grundsätzedes Marxismus geprüft, bestätigt, erläutert und detaillierter entwickelthat .

Die revolutionäre Sozialdemokratie hat seit jeher und immer wiederden bürgerlichen Charakter des russischen Demokratismus, von seinerFormulierung durch die liberalen Volkstümler bis zur Formulierung durchdie Oswoboshdenzen, aufgedeckt. Sie hat stets auf die unvermeidlicheHalbschlächtigkeit, Beschränktheit und Engstirnigkeit des bürgerlichenDemokratismus hingewiesen. Sie hat dem sozialistischen Proletariat in

der Epoche der demokratischen Revolution die Aufgabe gestellt, die Masseder Bauernschaft auf seine Seite zu ziehen und, die W an ke lm ütig ke it derBourgeoisie paralysierend, die Selbstherrschaft zu brechen und zu ver-nichten. Der entscheidende Sieg der demokratischen Revolution ist nurmöglich in der Form der revolutionär-demokratischen Diktatur des Prole-tariats und der Bauernschaft. Doch je rascher und je vollständiger dieserSieg zur Wirklichkeit wird, um so rascher und tiefer werden sich neueWidersprüche und ein neuer Klassenkampf im Rahmen der vollauf demo-

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Sozialismus und Tlauernsdhaft 305

kratisierten bürgerlichen Ordnung entfalten. Je vollständiger wir die de-

mokrat ische Umwälzung verwirkl ichen werden, um so näher werden wirden Aufgaben der sozialistischen Um wä lzung von Angesicht zu A ngesichtgegenüberstehen, um so heftiger und schärfer wird der Kampf des Prole-tariats gegen die tragenden Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaftsein.

Gegen jede Abweichung von dieser Festsetzung der revolutionär-demo-kratischen und der sozialistischen Aufgaben des Proletariats muß dieSozialdemokratie einen beharrlichen Kampf führen. Es ist unsinnig, dendemokratischen, d. h. in seinen Grundzügen bürgerlichen Charakter der

gegenw ärtigen Revolution zu igno rieren, und es ist deshalb auch unsinnig,solche Losungen aufzustellen wie etwa die Gründung revolutionärer Kom-munen. Es ist unsinnig und reaktionär, die Aufgaben der Teilnahme, undzwar der führenden Teilnahme des Proletariats an der demokratischenRevolution herabzusetzen, indem man, sagen wir, vor der Losung derrevolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauern-schaft zurückscheut. Es ist unsinnig, die Aufgaben und die Bedingungender demokratischen und der sozialistischen Revolution, die, wir wieder-holen, sowohl nach ihrem Charakter als auch nach der Zusammensetzung

der an ihnen teilnehmenden sozialen Kräfte verschiedenartig sind, durch-einanderzuwerfen.

Gerade auf diesen letzten Fehler wollen wir etwas ausführlicher ein-gehen. Die mangelnde Entwicklung der Klassengegensätze im Volk über-haupt und in der Bauernschaft insbesondere ist in der Epoche der demo-kratischen Revolution, die erst die Grundlagen für eine wirklich breitekapitalistische Entwicklung schafft, eine unvermeidliche Erscheinung . D iesemangelnde ökonomische Entwicklung bewirkt das Weiterleben, ja in dereinen oder anderen Form das Wiederaufleben rückständiger Formen des

Sozialismus, der ein kleinbürgerlicher Sozialismus ist, weil er Umgestal-tungen idealisiert , die über den Rahmen kleinbürgerlicher Verhältnissenicht hinausgehen. Die Masse der Bauern ist sich nicht bewußt und kannsich nicht bewußt sein, daß auch die vollste „Freiheit" und die „gerech-teste" Aufteilung sogar des gesamten Grund und Bodens den Kapitalismuskeineswegs beseitigen, sondern im Gegenteil die Bedingungen für seinebesonders breite und machtvolle Entwicklung erzeugen werden. Und wäh-rend die Sozialdemokratie nur den revolutionär-demokratischen Inhalt

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306 "W. 1 Lenin

dieser bäuerlichen Bestrebungen hervorhebt und unterstützt, macht der

kleinbürgerliche Sozialismus aus der mangelnden Einsicht der Bauern eineTheorie, verwechselt oder vermengt er die Bedingungen und Aufgaben derwirklichen demokratischen und einer von der Phantasie vorgegaukeltensozialistischen Um wälzung.

Am anschaulichsten bringt diese unklare kleinbürgerliche Ideologie dasProgramm, richtiger gesagt, der Programmentwurf der „Sozialrevolutio-näre" zum Ausdruck, die es um so eiliger hatten, sich als Partei zu pro-klamieren, je weniger bei ihnen die Formen und Voraussetzungen für dieExistenz als Partei entwickelt waren. Als wir ihren Programmentwurf

analysierten (siehe „Wperjod" Nr. 3 *) , wiesen wir bereits darauf hin,daß die Anschauungen der Sozialrevolutionäre ihre Wurzeln in der altenrussischen Volkstümlerrichtung haben. Da indes die ganze ökonomischeEntwicklung Rußlands, der ganze Gang der russischen Revolution derreinen Volkstümlerideologie rücksichtslos und unbarmherzig täglich undstündlich den Boden unter den Füßen wegzieht, müssen die Anschauungender Sozialrevolutionäre unvermeidlich eklektisch werden. Die schadhaftenStellen in der Volkstümlerideologie bemühen sie sich mit den Flicken derin Mode gekommenen opportunistischen „Kritik" des Marxismus aus-

zubessern, doch das fadenscheinige Zeug wird dadurch nicht fester. Imgroßen und ganzen ist ihr Programm etwas absolut Lebloses, innerlichWiderspruchsvolles, das in der Geschichte des russischen Sozialismus ledig-lich eine Etappe des Weges vom fronherrlichen zum bürgerlichen Ruß-land, des Weges „von der Volkstümlerrichtung zum Marxismus" dar-stellt. Unter diese Definition, die für eine ganze Reihe mehr oder wenigerseichter Rinnsale des heutigen revolutionären Denkens zutrifft, fällt auchder neueste Entwurf des Agrarprogramms der Polnischen SozialistischenPartei (PPS), der in Nr. 6-8 des „Przedswit"** veröffentlicht ist.

Der Entwurf teilt das Agrarprogramm in zwei Hälften. Teil I behan-delt die „Reformen, für deren Durchführung die gesellschaftlichen Ver-hältnisse schon herangereift sind"; Teil II „formuliert die Krönung undIntegration der Agrarreformen, die in Teil I behandelt worden sind".Teil I ist seinerseits in drei Abschnitte gegliedert: A. Arbeitsschutz — For-

* Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 64-70, russ. Die Red.** Die Morgenröte. Die Red.

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Sozialismus und Bauernsdhaft 307

derungen im Interesse des landwirtschaftlichen Proletariats; B. Agrarrefor-

men (im engeren Sinne, sozusagen Bauernforderungen) und C. Schutzder Landbevölkerung (Selbstverwaltung usw.).

Ein Schritt zum Marxismus ist in diesem Programm der Versuch, soetwas wie ein Minimalprogramm vom Maximalprogramm abzutrennen,sodann die völlig selbständige Aufstellung von Forderungen rein prole-tarischen Charakters, ferner bei der Begründung des Programms die Fest-stellung, daß es für einen Sozialisten absolut unzulässig ist, „den Eigen-tümerinstinkten der Bauernmassen zu schmeicheln". Würde die in dieserletzten These enthaltene Wahrheit völlig durchdacht und logisch zu Ende

entwickelt, so käme eigentlich unweigerlich ein streng marxistisches Pro-gramm heraus. Aber das ist ja das Unglück, daß die PPS keine konse-quent proletarische Partei ist und ihre Ideen ebenso gern aus dem Brun-nen der opportunistischen Kritik am Marxismus schöpft. „Da die Tendenzzur Konzentration des Grundeigentums", lesen wir in der Motivierungdes Programms, „nicht bewiesen ist, kann man unmöglich für diese Wirt-schaftsform mit voller Aufrichtigkeit und Sicherheit eintreten und dieBauern davon überzeugen, d aß die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe un -vermeidlich verschwinden."

Das ist nichts anderes als ein Nachhall der bürgerlichen politischenÖkonomie. Die bürgerlichen Ökonomen geben sich die größte Mühe,dem Kleinbauern weiszumachen, daß sich der Kapitalismus m it dem W ohl-stand des bäuerlichen Kleineigentümers vereinbaren lasse. Deshalb ver-schleiern sie die allgemeine Frage der Warenwirtschaft, der Unterjochungdurch das Kapital, des Rückgangs und des Niedergangs der kleinen Bauern-wirtschaft durch die besondere Frage der K onzen tration des Grundeigen-tums. Sie verschließen die Augen vor der Tatsache, daß sich die Groß-produktion in speziellen Handelszweigen der Landwirtschaft sowohl aufdem kleinen als auch auf dem mittleren Grundeigentum entwickelt unddaß dieses Eigentum sowohl infolge der steigenden Pachtpreise als auchunte r dem Druck der Hypo theken und des W uchers zerfällt. Sie lassen dieunleugbare Tatsache unbeachtet, daß der Großbetrieb in der Landwirt-schaft technisch überlegen ist und daß sich die Lebensbedingungen desBauern im Kampf gegen den Kapitalismus verschlechtern. Die PPS tutweiter nichts, als daß sie die bürgerlichen Vorurteile wiederholt, die vonden heutigen Davids90 zu neuem Leben erweckt werden.

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308 W.l£enin

Die Unklarheit der theoretischen Anschauungen zeigt sich auch im

praktischen Programm. N ehmen wir Teil I: die Agrarreformen im engerenSinne. Einerseits lesen wir in Punkt 5: „Aufhebung aller Beschränkungenbeim Kauf von Anteilland und 6. Abschaffung der Scharwerke91 undSpanndienste (Naturalleistungen)". Das sind rein marxistische Minimal-forderungen. Indem die PPS sie aufstellt (besonders Punkt 5), macht sieim Vergleich zu unseren Sozialrevolutionären, die im Verein mit den>,Moskowskije Wedomosti" eine Schwäche für die „Unveräußerlichkeitdes Anteillandes" haben, einen Schritt vorwärts. Indem die PPS dieseForderungen aufstellt, kom mt sie nahe heran an die marxistische Idee vom

Kampf gegen die Überreste der Leibeigenschaft als Grundlage und Inhaltder heutigen Bauernbewegung. Doch während die PPS an diese Idee naheherankom mt, ist sie weit davon entfernt, sie völlig und bew ußt zu akzep-tieren.

Die Hauptpunkte des hier von uns untersuchten Minimalprogrammslauten: „1. Nationalisierung der staatlichen, kirchlichen und Apanage-ländereien durch Konfiskation; 2. Nationalisierung des großen Grund-eigentums, wenn keine direkten Erben vorhanden sind; 3. Nationalisie-rung der Wälder, Flüsse und Seen." Diese Forderungen leiden an all den

Mängeln eines Programms, das für die Jetztzeit die Forderung der Natio-nalisierung des Grund und Bodens in den Vordergrund rückt. Solange dievolle politische Freiheit und die Herrschaft des Volkes nicht Tatsache ge-worden sind, solange es keine demokratische Republik gibt, ist die Forde-rung der Nationalisierung verfrüht und unklug, denn die Nationalisie-rung bedeutet den Übergang in den Besitz des Staates, der heutige Staataber ist ein Polizei- und Klassenstaat, und der morgige Staat wird aufjeden Fall ein Klassenstaat sein. Als Losung aber, die in der Richtung derDemokratisierung vorwärts führt, ist diese Forderung besonders untaug-

lich, denn sie legt das Schwergewicht nicht auf das Verhältnis der Bauernzu den Gutsbesitzern (die Bauern nehmen das Land der Gutsbesitzer),sondern auf das Verhältnis der Gutsbesitzer zum Staat. Eine solcheFragestellung ist grundfalsch für eine Zeit, in der die Bauern sowohlgegen die Gutsbesitzer als auch gegen den Staat der Gutsbesitzer aufrevolutionärem Wege um den Grund und Boden kämpfen. Revolu-tionäre Bauernkomitees zum Zweck der Konfiskation, als Werkzeugder Konfiskation — das ist die einzige Losung, die einer solchen Zeit ent-

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Sozialismus und Bauernsdbaft 309

spricht und den Klassenkampf gegen die Gutsbesitzer in engster Verbin-

dung mit der revolutionären Zerstörung des Gutsbesitzerstaates voran-treibt.

Die übrigen Punkte des minimalen Agrarprogramms im Entwurf derPPS sind folgende: „4. Einschränkung des Eigentumsrechts, insofern eszum Hindernis aller möglichen landwirtschaftlichen Verbesserungen (Me-lioration) wird, wenn diese Verbesserungen von der Mehrheit der Inter-essenten als notwendig anerkannt werden; ... 7. Nationalisierung derVersicherung des Getreides gegen Feuer und Hagel und des Viehs gegenSeuchen; 8. Förderung der Gründung von landwirtschaftlichen Arteis und

Genossenschaften durch den Staat auf gesetzgeberischem Wege; 9. land-wirtschaftliche Schulen."

Diese Punkte sind ganz im Geiste der Sozialrevolutionäre oder (wasdasselbe ist) ganz im Geiste des bürgerlichen Ref ormertums. Sie en thaltennichts Revolutionäres. Gewiß sind sie fortschrittlich, darüber ist nicht zustreiten, aber fortschrittlich im Interesse der Eigentümer. Werden sie vonSozialisten aufgestellt, so he ißt das eben den Eigentümerinstinkten schmei-cheln. Sie aufzustellen ist dasselbe, wie wenn man vom Staat die Förde-rung der Truste, Kartelle, Syndikate und Industriellenverbände fordern

wollte, die nicht weniger „fortschrittlich" sind als die Genossenschaften,Versicherungsgesellschaften usw. in der Landw irtschaft. Da s alles ist kap i-talistischer Fortschritt. Sich darum zu sorgen, ist nicht unsere Sache, son-dern Sache der bäuerlichen Unternehmer. Der proletarische Sozialismuszum Unterschied vom kleinbürgerlichen Sozialismus überläßt den Grafende Roquignie, den Gutsbesitzern vom Semstwo u. a. m. die Sorge um dieKooperationen der Groß- und Kleinbesitzer; er selbst sorgt sich einzigund allein um die Kooperation der Lohnarb eiXer für den Kampf gegen die'Unternehmer.

Sehen wir uns jetzt Teil II des Programms an. Er besteht aus dem einenPunkt: „Nationalisierung des großen Grundeigentums durch Konfiskation.Äcker und Wiesen, die das Volk auf diese Weise erwirbt, müssen in Par-zellen geteilt und den landlosen oder landarmen Bauern in langjährige,gesicherte Pacht übergeben werden."

Eine famose „Krönung", das muß man schon sagen! Eine Partei, diesich sozialistisch nennt, schlägt als „Krönung und Integration der Agrar-reformen" keineswegs eine sozialistische Struktur der Gesellschaft vor,

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310 W.J.£enin

sondern eine unsinnige kleinbürgerliche Utopie. Wir haben hier das an-

schaulichste Beispiel einer gänzlichen Verwechslung von demokratischernnd sozialistischer Umwälzung und eines gänzlichen Nichtverstehensihrer verschiedenartigen Ziele vor uns. D er Ü bergang des Grun d un d Bo-dens von den Gutsbesitzern an die Bauern kann ein Bestandteil der dem o-kratischen Umwälzung, eine Etappe der bürgerlichen Revolution sein —

und w ar es auch überall in Europa —, aber nur bürgerliche Radikale kön-nen ihn als Krönung oder Vollendung bezeichnen. Die Neuaufteilung desGrund und Bodens unter diese oder jene Kategorien von Eigentümern,unter diese oder jene Klassen von Hofbesitzern, kann im Interesse des

Sieges der Demokratie, im Interesse der völligen Ausmerzung aller Spu-ren der Leibeigenschaft, der Hebung der Lebenshaltung der Masse, derBeschleunigung der kapitalistischen Entwicklung usw. vorteilhaft und not-wendig sein, und dann wäre es die Pflicht des sozialistischen Proletariats,in der Epoche der demokratischen Revolution eine solche Maßnahme aufsentschiedenste zu unterstützen; aber „Krönung und Vollendung" kannnur die sozialistische Produktion und nicht die bäuerliche Kleinproduktionsein. Die „gesicherte" kleinbäuerliche Pacht unter Beibehaltung der Wa-renwirtschaft und des Kapitalismus ist eine reaktionäre kleinbürgerlicheUtopie un d weiter nichts.

W ir sehen jetzt, daß der Haup tfehler der PP S nicht nur ih r allein eigen,nicht vereinzelt, nicht zufällig ist. In ihm äußert sich klarer und deutlicher(als in der berüchtigten „Sozialisierung" der Sozialrevolutionäre, die vondiesen selbst nicht verstanden wird) der grundlegende Fehler der ganzenrussischen Volkstümlerrichtung, des gesamten russischen bürgerlichenLiberalismus und Radikalismus in der Agrarfrage, einschließlich dessen,was in den Debatten auf der letzten Tagung der Semstwoleute (im Sep-tember) in Moskau zum Ausdruck kam.

Diesen grundlegenden Fehler kann man folgendermaßen formulieren:In der Festsetzung der nächsten Ziele ist das Programm der PPS niditrevolutionär. Jn seinen Endzielen ist es nicht sozialistisch.

Anders gesagt: das Nichtverstehen des Unterschieds zwischen der de-mokratischen und d er sozialistischen U mw älzung fü hrt dahin, da ß bei dendemokratischen Aufgaben deren wirklich revolutionäre Seite nicht zur Gel-tung kommt, während in die sozialistischen Aufgaben die ganze Unklar-heit der bürgerlich-demokratischen Weltanschauung hineingebracht wird.

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Sozialismus und Bauernsdhaft 311

So entsteht eine Losung, die für den Demokraten ungenügend revolutionär,

für den Sozialisten aber unverzeihlich verworren ist.Dagegen wird das Programm der Sozialdemokratie allen Anforderun-gen gerecht, sowohl was die Unterstützung eines wahrhaft revolutionärenDemokratismus als auch was die Aufstellung eines klaren sozialistischenZiels betrifft. In der heutigen Bauernbewegung sehen wir den Kampfgegen die Leibeigenschaftsverhältnisse, den Kampf gegen die Gutsbesitzerund den Gutsbesitzerstaat. Diesen Kampf unterstützen wir bis zu Ende.Für diese Unterstützung ist die einzig richtige Losung: Konfiskation durchrevolutionäre Bauernkomitees. Was mit den konfiszierten Ländereien ge-

schehen soll, ist eine zweitrangige Frage, die nicht wir, sondern die Bauernlösen werden. Und bei ihrer Lösung wird eben der Kampf zwischen demProletariat und der Bourgeoisie unter der Bauernschaft entbrennen. Des-halb lassen wir diese Frage entweder offen (was den kleinbürgerlichenProjektemachern so sehr mißfällt) oder zeigen von uns aus nur den An-fang des Weges, der in der W egnahme der Bodenabschnitte besteht (wor-in denkfaule Leute, trotz der zahlreichen Erläuterungen durch die Sozial-demokratie, eine Schranke der Bewegung erblicken).

Damit sich die Agrarreform, die im heutigen Rußland unvermeidlich

ist, revolutionär-demokratisch auswirkt, gibt es nur ein Mittel: ihre Ver-wirklichung durch die revolutionäre Initiative der Bauern selbst, gegen dieGutsbesitzer und die Bürokratie, gegen den Staat, d. h. die Verwirk-lichung auf revolutionärem Wege. Auch die schlechteste Verteilung desGrund und Bodens wird nach einer solchen Umgestaltung in jeder Hinsichtbesser sein als die jetzige. Und diesen Weg zeigen wir, indem wir an dieSpitze unserer Forderungen die revolutionären Bauernkomitees stellen.

Zugleich aber sagen wir dem Landproletariat: „Der radikalste Sieg derBauern, zu dem du jetzt aus allen Kräften beitragen mußt, wird dich von

deiner Bettelarmut nicht befreien. Zu diesem Ziele führt nur ein Weg:der Sieg des gesamten Proletariats, sowohl des industriellen als auch deslandwirtschaftlichen, über die gesamte Bourgeoisie und die Errichtung dersozialistischen Gesellschaft."

Zusammen mit den bäuerlichen Eigentümern gegen die Gutsbesitzerund den Gutsbesitzerstaat, zusammen mit dem städtischen Proletariatgegen die gesamte Bourgeoisie und alle bäuerlichen Eigentümer — das istdie Losung des klassenbewußten ländlichen Proletariats. Und sollten die

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312 'W.J.Lenin

Kleinbesitzer diese Losung nicht sofort oder sogar überhaupt nicht an-

nehmen, so wird sie dafür zur Losung der Arbeiter werden, .wird sie un-weigerlich durch die ganze Revolution bestätigt werden, wird sie uns vorkleinbürgerlichen Illusionen bewahren und uns klar und bestimmt unsersozialistisches Ziel zeigen.

„Troktari" 5Vr. 20, flaö) dem lert des „Proletari"'.

iO. Oktober (27. September) 1905.

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D I E S A T T E B O U R G E O I S I E

U N D D I E L E C H Z E N D E B O U R G E O I S I E

„Le Temps" ist eines der einflußreichsten Presseorgane der konservati-ven französischen Bourgeoisie. Gegen den Sozialismus führt er den er-bittertsten Feldzug, und es gibt selten einen Tag, an dem man in seinenSpalten nicht die Namen Marx , Bebel, Guesde und Jaures mit den böswil-ligsten Kommentaren und A usfällen findet. Oh ne Schaum vor dem Mundekann „Le Temps" nicht über den Sozialismus schreiben.

Die Zeitung verfolgt äußerst aufmerksam die russische „Krise", wiesich die loyalen Europäer ausdrücken, wobei sie la nation amie et alliee —

„die befreundete und verbündete Nation" — nie ohne ihre erbaulichenRatschläge läßt. So hat sie auch jetzt der letzten Semstwotagung einenLeitartikel gewidmet. Sie erinnert darin an die vorige Tagung im Juliund kann sich sogar nachträglich nicht enthalten,'ihre r UnzufriedenheitAusdruck zu geben. Das war, so schreibt sie, „ein Schauspiel absoluterVerworrenheit des Denkens und völliger Unbestimmtheit der Absichten";das Projekt Bulygins war bereits bekannt, und nichtsdestoweniger be-schränkten sich die Delegierten auf „feurige Reden", ohne die Frage, obBoykott oder Beteiligung, entscheiden zu können. Das Organ der herr-schenden französischen Bourgeoisie wirft den Semstwoleuten in ihrer Ge-

reiztheit sogar vor, daß sie keine Mandate hatten!Wie freudig lächelt dafür jetzt der mit politischer Macht gesättigte

Bourgeois! Wie liebenswürdig beeilt er sich, die edle Rechte seines Mit-bruders zu drücken, der zwar erst nach politischer Macht lechzt, aberschon seine „Reife" beweist! Der Boykott ist verworfen, und das Fehlenvon Mandaten wird nicht mehr erwähnt. „Der Beschluß der Semstwo-vertreter", schreibt „Le Temps", „macht ihnen Ehre. Er beweist, daß die

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politische Erziehung der aufgeklärtesten Elemente des russischen Volkes

Fortschritte macht, daß sie sich von den nebelhaften Plänen politischerGaukelei lossagen und mutig den Weg der notwendigen Evolution be-schreiten."

Der Bourgeois, der mit politischer Macht gesättigt ist und aus eigenerAnschauung weiß, wohin wirkliche Siege des Volkes, der Arbeiter undBauern, in Revolutionen führen, schwankt keine Sekunde, die September-tagung der liberalen Gutsbesitzer und Kaufleute für einen Sieg der Evo-lution über die Revolution zu erklären.

Er lobt die „Mäßigung" der Tagung. Er weist mit sichtlicher Genugtu-

ung auf die Ablehnung der Resolutionen über die „Parzellierung der Län-dereien" und über das Wahlrecht der Frauen hin. „Die Weisheit undMäßigung dieser Beschlüsse zeigt klar, daß die Ansichten der extremenParteien auf dieser Tagung nicht die Oberhand gewonnen haben. DasProgramm, auf das sich alle geeinigt haben, ist genügend demokratisch,um die Revolutionäre zu entwaffnen. Un d da die Semstwotagung die Ver-wirklichung ihrer Pläne ausschließlich von der Anwendung gesetzlicherMittel erwartet, so können sich ihrem Programm auch jene Reformer an-schließen, die von den Mitgliedern der Semstwotagung nicht durch per-

sönliche Differenzen getrennt sind."Der satte Bourgeois klopft dem lechzenden Bourgeois ermunternd aufdie Schultern: ein „genügend demokratisches" Programm aufstellen, umdem Volk Sand in die Augen zu streuen, um die Revolutionäre zu ent-waffnen, und den legalen W eg beschreiten — das heißt, in gutem ehrlichemRussisch gesagt, mit den Trepow und Romanow handelseins werden —

das ist die wahre Staatsklugheit.Daß indes die Hoffnungen des scharfsinnigen Bourgeois auf die einfäl-

tigen Revolutionäre nicht ganz unbegründet sind, haben unsere Weisen

von der neuen „Iskra" bewiesen. Sie sind Hals über Kopf in die Falle ge-rannt, indem sie um die Wette vorschlugen, den gemäßigten Bourgeois,die jetzt von ganzem Herzen bereit sind, jedes beliebige Versprechen zumachen und jede beliebige Verpflichtung einzugehen, demokratische Ver-pflichtungen abzuverlangen. Nicht nur im Kampf zwischen feindlichenParteien, sondern auch im Kampf innerhalb der sozialistischen Parteiengehen (wovon wir uns nach dem II . Parteitag durch eigene Erfahrung über-zeugt haben) alle Versprechungen zum Teufel, sobald halbwegs wesent-

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T)ie satte Bourgeoisie und die lechzende 'Bourgeoisie 315

liehe Interessen der Kämpfenden berührt werden. The promises like pie-

crust are made to b e broken , sagt ein englisches Sprichwort. „Versprechun-gen und Kuchenrinde werden gemacht, um sie zu brechen."Worauf lief die Taktik der „Iskra" gegenüber der Duma hinaus? Auf

die ideologische und taktische Entwaffnung der Revolutionäre. Die Weisenvon der opportunistischen „Iskra" arbeiteten an dieser Entwaffnung, in-dem sie die Idee des aktiven Boykotts verrissen, an Stelle des aktiven Boy-kotts (ganz im Geiste des „Nowoje Wremja" sa und fast mit denselbenWorten) den passiven unterschoben, Vertrauen und Vertrauensseligkeitgegenüber den sich in den Armen liegenden Miljukow und Stachowitschpredigten und die revolutionäre Losung des Aufstands durch bürgerlichesOswoboshdenzen-Gewäsch wie die „revolutionäre Selbstverwaltung derBürger" ersetzten.

Nur Blinde können je tzt noch nicht sehen, in welchen Sumpf die „Iskra"geraten ist. In der illegalen Presse steht sie ganz allein da, auf ihrer Seitesteht nur das „Oswoboshdenije". Der „Bund", den nicht einmal Martowund Axelrod der Sympathie für das „Arsenal des ,Wperjod"' verdächti-gen werden, ist entschieden für den aktiven Boykott eingetreten. In derlegalen Presse haben sich alle Gesinnungslumpen und alle gemäßigtenLiberalen zum Kampf gegen die radikalen Bourgeois vereinigt, die ihreSympathien für den Boykott ausgesprochen haben und der Bauernschaftfreundschaftlich gesinnt sind.

Nun, hat Lenin in seinen „Zwei Taktiken", als er die neuiskristischenResolutionen analysierte, etwa zu Unrecht gesagt, daß die „3skra" zu denliberalen Qutsbesitzern hinabsinkt, während der „Proletari" bestrebt ist,die revolutionären Bauern emporzuheben?

Wir haben das „Nowoje Wremja" erwähnt. Nicht nur dieses Reptilien-blatt, sondern auch die „Moskowskije Wedomosti" führen einen erbitter-ten Kampf gegen die Boykottidee, wodurch sie jedermann die reale politi-sche Bedeutung der Duma zeigen. Hier als Musterbeispiel ein bezeichnen-der Ausfall des „Nowoje Wremja", bei dem wir um so lieber verweilen,als er auf die ganze abgrundtiefe bürgerliche N iedertracht selbst eines sol-chen „ehrenwerten" liberalen Organs wie der „Russkije Wedomosti"neues Licht wirft.

D er b ekann te Berliner Korrespondent dieser Zeitung, H er r Jollos, gehtin Nr. 247 auf den Jenaer Parteitag ein. Seine Spießbürgerseele ist vor

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316 W.J.Lenin

allem davon entzüdct, daß sich ein wackerer und rechtdenkender liberaler

Bürger, der reiche Ab be, gefunden hat, der die Stadt J ena mit einem Volks-haus für freie Versammlungen aller Parteien, darunter sogar der Sozial-demokraten, beschenkte. Und Herr Jollos zieht daraus die Moral: „Mankann dem Volke auch außerhalb bestimmter Parteirahmen Nutzen brin-gen." Das stimmt natürlich. Aber was soll man von einem Publizistensagen, der in der Periode des erbitterten Parteienkampfes in Rußland an-fängt, die Parteilosigkeit zu preisen? Versteht Herr Jollos denn nicht, daßer damit die größte politische Taktlosigkeit begeht und den Leuten vom„Nowoje Wremja" Trümpfe in die Hand spielt? Der wahre Sinn dieser

kleinbürgerlichen Begeisterung für die Parteilosigkeit wird dem Leser in-des aus folgendem Satz des H err n Jollos klar :

„Ich will schon gar nicht davon reden, daß es politische Verhältnissegibt, unte r denen es nützlich ist, die Endziele vorübergehend in die laschezu stecken und an die nächsten Aufgaben zu denken, die dem Sozialismusund dem Liberalismus gleichermaßen gemeinsam sind."

Das nennt man offenherzig! Ein Dankeschön wenigstens für die Klar-heit, Herr Jollos! Uns bleibt nur übrig, solche Erklärungen stets und beijeder Gelegenheit, bei jedem Auftreten vor den Arbeitern auszunützen,

um den bürgerlichen Charakter des russischen Liberalismus zu enthüllen,um den Arbeitern die Notwendigkeit einer selbständigen Partei des Pro-letariats auseinanderzusetzen, einer Partei, die der Bourgeoisie, selbst derliberalsten, unbeirrt feindlich gegenübersteht.

Doch alle diese Tiraden unseres „Demokraten" sind erst die Blüten. DieFrüchte kommen noch. Herr Jollos beschränkt sich nicht darauf, dem Pro-letariat zu raten, „die Endziele vorübergehend in die Tasche zu stecken",d. h. sich vom Sozialismus loszusagen, nein, er rät außerdem davon ab,die gegenwärtige politische Revolution zu Ende zu führen. Herr Jollos

zitiert Bebeis Rede und rückt jene Stelle dieser Rede in den Vordergrund,wo Bebel Zweifel äuß erte , ob es uns „in der nächsten Ze it" gelingen w erde,Rußland in einen Kulturstaat zu verwandeln, wobei er gleichzeitig er-klärte, daß das alte, absolutistische Regime nicht wiederkehren werde,„daß das alte Rußland jedenfalls unmöglich ist" . Über diese Stelle schreibtHerr Jollos:

„Ich betrachte Bebel nicht als Autorität in russischen Dingen, muß aberbemerken , daß er sich in diesem Teil seiner Rede von Kautsky u nd einigen

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Die satte Bourgeoisie und die lechzende Bourgeoisie 317

anderen Doktrinären, die der Revolution in Permanenz (der ununter-

brochenen Revolution) das Wort reden, vorteilhaft unterscheidet. Als klu-ger Mensch und Po litiker, der weiß, was für konk rete Formen ein Zus tan dständiger Anarchie im Leben eines Volkes anzunehmen pflegt, sieht Bebelden Erfolg vor allem in der Verwirklichung der kulturellen Aufgaben, undaus seinen Worten geht ganz klar hervor, daß er zwischen der russischenIntelligenz und dem russischen Proletariat, wenigstens bis zur Erlangungder elementaren Menschenrechte, keine Demarkationslinien zieht undschon ganz gewiß keine Ma uern errichtet."

Erstens ist das eine Verleumdung Bebels, eine echte „Nowoje W rem ja"-

Verleumdung. Bebel zieht zwischen dem bürgerlichen und dem proletari-schen Dem okratism us stets un d unbedingt eine „Dem arkationslinie",- H er rJollos m uß das wissen . Bebel tre nn t aufs entschiedenste die bürgerliche vonder sozialdemokratischen Intelligenz. Dem russischen Leser zu versichern,daß Bebel, während er für die „Kultur" kämpft, die Verlogenheit und denVerrat der bürgerlichen Demokratie einerseits und die sozialistischenZiele der Arbeiterklasse anderseits auch nur vorübergehend außer achtlasse — heißt über den Führer der revolutionären deutschen Sozialdemo-kratie eine monströse Lüge verbreiten.

Zw eitens ge ht aus Bebeis Rede absolut nicht hervo r, da ß er die russischeRevolution anders betrachtet als Kautsky. Daß sich Bebel in dieser Hin-sicht von Ka utsky „vorteilhaft u ntersc heide t", ist eine Erfindung des H err nJollos, der aus Bebeis Rede ein Stück herausreißt und entstellt, eine ganzeReihe seiner Erklärungen, die eindeutig für die russische Revolution undihren entscheidenden Sieg Stellung nehmen, aber verschweigt.

Dri t tens — und darin besteht für uns die interessanteste Besonderheitder Stellung der „Russkije Wedomosti" — zeigt Herr Jollos durch seinenAusfall, daß er gerade den entscheidenden Sieg der Revolution in Ruß-

land fürdhtet. Die „Revolution in Permanenz" bezeichnet Herr Jollos als„Anarchie in Perm anen z". Das zu sagen heißt die Revolution zu einem blo-ßen Aufruh r stem peln, das zu sagen heißt zum Verräter an der Revolution

werden. Die Diplomaten des „Oswoboshdenije", die so gern beteuern, siehätten keine Feinde von links, sollen uns nicht einreden, das sei nur einfalscher Zungenschlag der „Russkije Wedomosti-". Das stimmt nicht. Esist der 'Ausdruck der tiefsten Gefühle und der ureigensten Interessen desliberalen Gutsbesitzers und des liberalen Fabrikanten. Es ist dasselbe wie

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318 W.J.Lenin

der Ausspruch des Herrn Winogradow / der aufruft, dagegen zu kämpfen,

daß die russische Revolution den Weg des Jahres 1789 beschreitet. Es istdasselbe wie die Knechtseligkeit des Herrn Trubezkoi, der zum Zarensagte, er sympathisiere nicht mit dem Aufruhr. Das ist kein Zufall. Es istdie einzig wahrheitsgemäße Formulierung in Worten der zahllosenschändlichen Taten unserer bürgerlichen Demokraten, die der „Anarchiein Permanenz" überdrüssig werden, die sich nach Ruhe und Ordnung zusehnen beginnen, die des „Kämpfens" schon müde sind (obzwar sie nie-mals gekämpft haben) und die von der Revolution bereits abschwenken,nu r weil sie sehen, d aß sich die Arbeiter un d Bauern, die sich schlagen u nd

nicht nur geschlagen werden wollen, wirklich zum wirklichen Kampf er-heben. Die bürgerlichen Demokraten sind bereit, bei den Exzessen derTrepo w, bei der Niedermetzelung Wehrlo ser ein Auge zuz udrück en; nichtdiese, sondern eine andere „Anarchie" schreckt sie, nämlich wenn nichtTrepow und nicht Petrunkewitsch mit Roditschew an der Macht sein wer-den, sondern wenn der Aufstand der Bauern und Arbeiter siegen wird.Die bürgerlichen Demokraten gehen ja gerade deshalb so gern in dieDuma, weil sie in ihr die Gewähr für den Verrat an der Revolution sehen,die Gewähr für die Verhinderung des vollen Sieges der Revolution, dieser

furchtbaren „Anarchie in Permanenz".Daß wir diese Bedeutung der liberalen Mentalität richtig gezeigt haben,

dafür b ürgt das „Now oje W remja". Diese gerissenen Lakaien der Trepowhaben sofort die ganze Niedertracht der „Russkije Wedomosti" begriffenund sich beeilt, ihre Mitbrüder ans Herz zu drücken. In der Nummervom 13. (26.) September zitiert das „Nowoje Wremja" zustimmend ge-rade diese Unwahrheit des Herrn Jollos, wonach sich Bebel von Kautsky„vorteilhaft unterscheidet", und bemerkt von sich aus:

„Somit werden unsere radikalen ,Absentisten' also auch Bebel aus der

Zah l ihrer Verbündeten streichen m üssen."Die Schlußfolgerung ist durchaus berechtigt. Die berufsmäßigen Ver-

räter vom „Nowoje Wremja" haben Wesen und Sinn des „falschen Zun-genschlags" der „Russkije Wedomosti" richtig eingeschätzt. Damit nichtgenug, zog das politisch durchtriebene „Nowoje Wremja" die Schlußfol-gerung in Anwendung auf die Duma. Obwohl Herr Jollos kein Wort überBebeis Auffassung vom Boykott gesagt hatte, betitelte das „NowojeWremja" doch gerade die Anhänger des Boykotts als „Absentisten". Das

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Die satte Bourgeoisie und die ledhzende Bourgeoisie 319

„Nowoje Wremja" ergänzte die Verleumdung gegen Bebel durch eine

Verleumdung gegen die „Radikalen", wobei es immerhin den völlig rich-tigen Gedanken aussprach, daß für d ie Taktik der „radikalen A bsentisten"eben die Idee des vollen Sieges der Revolution, die Idee der Revolution inPermanenz maßgebend ist, während sich die in die Duma gehenden Libe-ralen von der Angst vor der „Anarchie in Permanenz" leiten lassen. Das„Nowoje Wremja" hat recht. Trepows Lakai hatte allen Grund, HerrnJollos beim W ort zu nehmen und ihm zu sagen: Wenn du nicht die „An-archie in Permanenz" willst, dann bist du mein Verbündeter, und keinedemokratische Schönrednerei wird mich von meiner Meinung abbringen.

Unser Streit ist ein kleiner Familienzwist — gegen die „Doktrinäre", dieAnhänger der „Anarchie in Permanenz", werden wir gemeinsame Sachemachen!

W ird die „Iskra" wenigstens jetzt begreifen, daß sie, als sie die Anhän-ger des Boykotts der Enthaltung, d. h. des A bsentismus, bezichtigte, imSinne des „Nowoje Wremja" sprach? Wird sie begreifen, daß dieses Zu-sammenfallen ihrer Losungen mit denen des „Nowoje Wremja" beweist,wie grundfalsch ihre Stellung ist?

Die satte europäische Bourgeoisie lobt die nach der Macht lechzende

russische Bourgeoisie ob ihrer Mäßigung. Die Lakaien Trepows lobenHerrn Jollos von den „Russkije Wedomosti" dafür, daß er die Idee der„Anarchie in Permanenz" tadelt. Die Leute vom „Nowoje W remja" unddie Neuiskristen machen sich lustig über den „Absentismus" ...

„Troletari" 7ir. 20, N adi dem 7ext des „Proletari".10. Oktober (27. September) 1905.

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D I E G U T S B E S I T Z E R

Ü BE R D E N D U M A B O Y K O T T

In Nr. 76 des „Oswoboshdenije" sind die gekürzten Protokolle derJulitagung der Semstwoleute veröffentlicht worden. Jetzt, da die Frage derTaktik gegenüber der Reichsduma die allgemeine Aufmerksamkeit auf sichlenkt, ist es höchst wichtig, von diesem in seiner Ar t einzigartigen Material,das zeigt, wie gerade die Semstwoleute und Oswoboshdenzen den Boykottbeurteilt haben, Notiz zu nehmen. Niemand zweifelt natürlich daran, daßsie vor dem Friedensschluß, vor dem Erscheinen des Gesetzes über dieDuma revolutionärer als heute waren oder zu scheinen strebten. Trotz -dem ist die Art ihrer Argumentation für die Prüfung unserer Einschätzung

der Frage außerordentlich lehrreich. Denn es ist wohl die erste Frage inder politischen Geschichte Rußlands, bei welcher die konkreten politischenSchritte sowohl von den oppositionellen als auch von den revolutionärenParteien gleichzeitig erörtert werden.

Es ist ganz natürlich, daß die bürgerlichen Demokraten nicht durch dasallgemeine Programm ihres Kampfes, nicht durch die Interessen bestimm-ter Klassen dazu gedrängt wurden, die Frage des Boykotts zu stellen, son-dern vor allem durch ein vages Gefühl der Peinlichkeit, der Scham an-gesichts der widerspruchsvollen, schiefen Lage, in die sie geraten sind.

„Wie können wir uns denn an einer Sache beteiligen, die wir in Grund undBoden kritisiert haben?" fragte Herr Schischkow. „Das Volk wird dochdenken, wir seien mit dem Projekt solidarisch.". Wie man sieht, verknüp-fen sich bei diesem Liberalen gleich die ersten Gedanken über den Boy-kott mit der Frage nach dem Volk; er fühlt instinktiv, daß die Teilnahmean der Duma hieße, gerade hinsichtlich des Volkes etwas Ungehöriges zutun. Er kann sich von den Anwandlungen des frommen Wunsches, mitdem Volke zusammenzugehen, nicht frei machen. Ein anderer Redner,

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"Die Qutsbesitzer über den Dumaboykott 321

Herr Rajewski, stellt die Frage abstrakter: „Wir standen immer auf prin-

zipiellem Boden, in der Taktik aber gehen wir ein Kompromiß ein. Eswird so aussehen, als hätten wir zwar das Bulyginsche Projekt verurteilt,wollten aber doch sehr gern Volksvertreter werden. Wir werden diesengefährlichen Weg nicht beschreiten." Das ist natürlich eine kleine Über-treibung des Herrn Rajewski, denn die Oswoboshdenzen standen niemalsauf prinzipiellem Boden. Falsch ist es auch, die Frage auf die nackte Ver-neinung des Kompromisses zu reduzieren : Revolutionäre Sozialdemokra-ten, die sich den Geist des Marxismus angeeignet haben, würden natür-lich nicht verfehlen, den Redner darauf hinzuweisen, daß es lächerlich ist,

vom Leben aufgezwungene Kompromisse absolut zu verneinen, und daßes nicht darauf ankommt, sondern darauf, die Kampfziele klar zu erken-nen und unter allen Umständen konsequent zu verfolgen. Doch, wir wie-derholen, einem bürgerlichen Demokraten ist die materialistische Frage-stellung von Grund aus fremd. Seine Zweifel sind lediglich ein Symptomdes tiefen Zwiespalts innerhalb der verschiedenen Schichten der bürger-lichen D emok ratie.

Der Schönredner Herr Roditschew, der nach Herrn Rajewski sprach,löst die Frage einfach: „Wir haben seinerzeit gegen die neue Semstwo-

ordnung protestiert, sind aber in die Semstwos gegangen... Hätten wirdie Kraft, den Boykott zu verwirklichen, so würden wir ihn erklären müs-sen" („fehlt die Kraft" nicht eben deshalb, Verehrtester, weil die Inter-essen der Eigentümer dem unwiderruflichen Kampf gegen die Selbstherr-schaft feindlich, weil sie den Arbeitern und der Bauernschaft feindlichsind?)... „Die erste Regel der Kriegskunst ist-, beizeiten fliehen..."(W ahrhaftig ! genauso sprach der Held des Tw erer Liberalismus! Un d dieLiberalen machen sich noch über Kuropatkin lustig.) „Der Boykott wirddann kommen, wenn wir nach dem Eintritt in die Duma als erstes be-schließen: ,Wir entfernen uns. Das ist keine wirkliche Vertretung, ohne

die ihr immerhin nicht mehr auskommen könnt. Gebt uns eine wirkliche.'Das wird ein wirklicher ,Boykott' sein." (Aber natürlich! Kann es für dieSemstwo-Balalaikins93 etwas geben, das „wirklicher" wäre als dieses„Gebt!"? Nicht umsonst lachten sie so herzlich, als Herr Golowin ihnenerzählte, wie er die Befürchtungen des Moskauer Gouverneurs, die Sem-stwotagung werde sich als konstituierende Versammlung ausrufen, „mühe-los zerstreut" habe.)

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322 "W. 1 Lenin

Herr Koljubakin sagte: „Die Vorredner haben die Frage so gestellt:

,Entweder in die Bulyginsche Duma gehen oder überhaupt nichts tun'."(Die „Iskra" stellt die Frage genauso wie diese „Vorredner" des rechtenFlügels der monarchistischen Bourgeoisie.) „Man m uß sich an die Bevölke-rung wenden, die in ihrer Gesamtheit gegen die Bulyginsche Duma seinwird... Wendet euch an das Volk, verwirklicht in der Tat die Rede- undVersammlungsfreiheit. Geht ihr dagegen in die nichtswürdige Institution,so richtet ihr euch zugrunde. Ihr werdet dort eine Minderheit sein, unddiese wird in den Augen der Bevölkerung völlig abwirtschaften." In dieserRede spürt man wieder den Zusammenhang der Idee des Boykotts mit

dem Appell an die Bauernschaft, die Bedeutung dieser Idee als eine Wen-dung vom Zaren zum Volk.Und Herr Schtschepkin beeilt sich, auf die vonihm sehr wohl verstandene Rede des Herrn Koljubakin mit rühmenswer-ter Offenherzigkeit zu entgegnen: „Es schadet nichts, wenn wir in denAugen des Volkes einen Fehler machen, dafür werden wir die Sache ret-ten." (... die Sadhe der Bourgeoisie, hätten dem Redner wahrscheinlich dieArbeiter zugerufen, wenn sie an dieser hohen Versammlung teilgenommenhätten.) „Ich bestreite nicht, daß wir vielleicht bald den revolutionärenWeg beschreiten werden müssen. Doch der Entwurf des Büros (der Ent-

wurf der Resolution gegen den Boykott) will das vermeiden, weil wir so-wohl unserer Erziehung als auch unseren Sympathien nach" (der Klassen-erziehung und den Klassensympathien) „nicht revolutionär sind."

Weise urteilt Herr Schtschepkin! Er versteht besser als alle Neuiskri-sten zusammengenommen, daß der springende Punkt hier nicht die W ahlder Mittel, sondern die Verschiedenheit der Z iele ist. Man muß „die Sacheretten", nämlich die Sache der Ordnung; das ist der Kern. Man darf denrevolutionären W eg nicht riskieren, denn der kann zum Siege der Arbei-ter und der Bauernschaft führen. ^

Dafür äußert sich der Schönredner und Kannegießer Herr De-Robertiganz, ganz wie ein Neuiskrist. „Was tun, wenn das Projekt dank seinerUntauglichkeit zum Gesetz wird? Aufstand mit der Waffe in der Hand?"(Was fällt Ihnen ein, Herr Roberti, wie kann man den „Aufstand mit derDum a verknüpfen"!? W ie schade, daß Sie unseren „Bund" nicht kennen,er würde Ihnen erklären, daß man das nicht verknüpfen darf.) „Er wird,glaube ich, mit der Zeit unweigerlich kommen. Heute jedoch kann derWiderstand nur entweder rein passiv sein oder passiv, aber stets bereit, in

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Die Qutsbesitzer über den Dumaboykott 323

einen aktiven überzugehen." (Ach, welch reizender Radikaler! Er sollte

die Losung der neuen „Iskra" aufgreifen: „revolutionäre Selbstverwal-tu ng " — er wäre gew iß der rechte Man n, da rüber A rien zu singen, oh,herrliche A ri en . . . ) „ . . . M and ate sind nur jenen zu geben, die entschlos-sen sind, um jeden Preis die Umwälzung zu vollbringen." Mit solchenHe lden hab en w ir es zu tun ! H atten wir nach alledem unrecht, als wir sag-ten, Parvus habe sich mit dieser Sorte Oswoboshdenzen gefunden undverbrüdert? und die neue „Iskra" habe sich von den schönen Worten derschönrednerischen Gutsbesitzer einfangen lassen?

„Vroletari" 2tfr. 20, JVacfe dem 7ext des „Vroletari".iO . Oktober (27. September] i905.

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Z U R V E R E I N I G U N G D E R P A R T E I 9 4

Wir können unserseits die völlig klare und bestimmte Fragestellung desZentralkomitees nur begrüßen. Entweder Verschmelzung mit der Parteiauf der Grundlage der Beschlüsse des III. Parteitags oder ein Vereinigungs-parteitag. Die Organisationskommission hat nun die endgültige Wahl zutreffen. Lehnt sie den Eintritt in die Partei auf der Grundlage der Be-schlüsse des III. Parteitags ab, so muß man sofort darangehen, den Ver-einigungsparteitag vorzubereiten und die Bedingungen dafür auszuarbei-ten. Dazu müßten 1. beide Seiten mit eindeutiger Klarheit formell er-

klären, daß die Einberufung zweier Parteitage zur selben Zeit und amselben Ort im Prinzip als notwendig anerkannt wird; 2. müßte, gleich-' falls formell, bestimmt werden, daß alle Organisationen beider Teile derPartei sich den Beschlüssen des Parteitags ihres Teils unbedingt fügen.Beide Parteitage sollen, mit anderen Worten, für den betreffenden Teilder Partei beschließenden und nicht nur beratenden Charakter haben;

3. muß im voraus eindeutig festgelegt werden, auf welcher Basis die Par-teitage einberufen werden, d. h. genau von welchen Organisationen undwieviel Delegierte mit beschließender Stimme diese haben (Punkt 2 und 3

sind für jenen Teil der Partei, der den III. Parteitag anerkannt h at, durchdas auf dem III. Parteitag angenommene Statut der SDAPR bestimmt) ;

4. müssen unverzüglich Verhandlungen über Zeit und Ort des Parteitagsaufgenommen werden (die Bedingungen der Verschmelzung und der Ze it-punkt der Verschmelzung der zwei Parteitage zu einem werden schon vonden Parteitagen selbst beschlossen werden); 5. ist es äußerst wichtig, so-fort an die Ausarbeitung eines sehr genauen und detaillierten Projekts derVereinigung heranzutreten, das beiden Parteitagen zur Beschlußfassung

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Zur Vereinigung der Partei 325

vorgelegt werden soll . Diese Sache ist dringend notwendig: Die Erfah run-

gen sowohl anderer Parteien als auch unserer Partei zeigen klar, daß ohneein im voraus ausgearbeitetes, veröffentlichtes und allseitig erörtertes Pro-jekt der Vereinigung ode r oh ne einige solche Projekte die Parteitage keineMöglichkeit haben werden, eine so schwierige Frage zu entscheiden.

Die Reihe ist mithin an der Organisationskommission, deren Beschlüssealle Anhänger der Vereinigung mit Ungeduld erwarten werden.

„Proletari" "Nr. 20 , Jiadn dem 7ext des „Proletari".10. Oktober (.21. September) 1905.

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EINE ZORNIGE ANTWORT

Unser Artikel „D ieTheorie der Selbstentstehung" („Proletari" Nr. 16) *

hat eine höchst zornige Antwort des „Bund" hervorgerufen. Sein eigenerVorrat an zornigen Worten reichte sogar nicht aus, so daß er sie noch beiPlechanow, dem bekannten Gegner grober Polemik, entlehnen mußte.Worum handelt es sich? Worüber ärgert sich der „Bund"? Darüber, daßwir einerseits die Möglichkeit von Ironie im Lob des „Bund" an dieAdresse der „Iskra" zugelassen, anderseits aber die Solidarität des „Bund"

mit der „Iskra" in einer ganzen Reihe von Punkten verspottet haben.Diese Zwiespältigkeit wälzt der „Bund" auf uns ab, indem er uns derTaschenspielerei usw. beschuldigt und unsere ganze Analyse der zweifel-los nicht ironisch gemeinten und ebenso zweifellos falschen Argumentedes „Bund" vollständig totschweigt. Weshalb hat der „Bund" diese Ana-lyse des Kerns der von ihm selbst aufgeworfenen Frage totgeschwiegen?Weil aus dieser Analyse die zwiespältige "Haltung des „Bund" selbst her-vorgeht, der sich einerseits von der iskristischen „Duma"taktik losgesagt,anderseits aber allen Ernstes eine Reihe iskristischer Fehler wiederholt hat.

Was der erzürnte „Bund" mit unserer Heuchelei erklären will, erklärtsich in Wirklichkeit mit der heuchlerischen Haltung des „Hund" in derFrage, ob wir die Losung der Einberufung einer konstituierenden Ver-sammlung durch eine provisorische revolutionäre Regierung oder durchden Zaren oder durch die Reichsduma, oder aber die Losung der Selbst-entstehung dieser konstituierenden Versammlung aufstellen sollen. Wir

* Siehe den vorliegenden Band, S. 241—246. Die Red.

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Eine zornige Antwort 327

haben gezeigt, daß sich der „Bund" in dieser frage verheddert bat. D er

„Bund" hat darauf bis heute noch keine direkte Antwort gegeben. U ndwenn jetzt der „Bund" darüber schimpft, da ß wir ihm den Spiegel vor-gehalten haben, so antworten wir mit dem Sprichwort: „Schilt den Spie-gel nicht, w en n. .."

„Troletari" SVr. 20, Na di dem 7ext des „Proktari".10 . Oktober (27. September) 19 05.

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E I N E N E U E

M E N S C H E W I S T I S C H E K O N F E R E N Z

Es sind uns hektographierte Resolutionen der „Südrussischen konstitu-ierenden (!?) Konferenz" der Menschewiki95 zugestellt worden. Auf diewichtigste Resolution (über die Reidisduma) werden wir noch zurück-kommen. Vorläufig wollen wir bemerken, daß die Konferenz von denzwei Hauptpunkten der iskristischen „Duma"taktik den „Druck, damit indie Reichsduma entschlossene Leute gewählt werden" (im Sinne Martows,Tscherewanins, Parvus"), hinausgeworfen, dagegen die „Organisierungallgemeiner Volks wählen zur konstituierenden Versammlung" angenommen

hat. Was die Zusammensetzung der Redaktion der „Iskra" betrifft, sowurden drei Resolutionen angenommen, aber die Frage ist trotzdemnicht gelöst. Die eine Resolution bittet Axelrod, nicht aus der Redaktionauszuscheiden; die andere bittet Plechanow, in die Redaktion zurück-zukehren (wobei die Konferenz — vermutlich ohne die Absidit, einenWitz zu machen — ihr „Erstaunen" über Plechanows Aussdieiden aus-drückt); die dritte dankt der „Iskra", spricht ihr das volle Vertrauen ausu. dgl. m., doch „die endgültige Beschlußfassung" über die Zusammenset-zung der Redaktion „wird der gesamtrussischen konstituierenden Kon-ferenz übertragen". Die „erste gesamtrussische Konferenz übertrug" be-kanntlich die Beschlußfassung über diese Frage den örtlichen Organisatio-nen. Die örtlichen Organisationen „übertragen" die Beschlußfassung derkonstituierenden Konferenz... Das nennt man wohl den Bürokratismusund Formalismus absdaaffen... Und solange die Sadie nicht entsdiiedenist, trägt die „Iskra" den Namen Zentralorgan — einen Namen, den ihrnicht einmal ihre Anhänger gegeben haben. Eine bequeme Position, dasmuß man schon sagen!

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Sine neue mensdhewistisdhe "Konferenz 329

Das Organisationsstatut der Südrussischen Konferenz ist ein Abklatsch

des bereits bekannten Statuts, immerhin mit kleinen Änderungen; hinzu-gefügt ist der Paragraph: „Die oberste Instanz der Partei sind die Partei-tage, die nach Möglichkeit einmal im Jahr zusammentreten." W ir begrü-ßen diese Verbesserung aufs wärmste. In Verbindung mit dem neuen undausgezeichneten Punkt „das Zentralkomitee wird vom Parteitag gewählt"und m it dem vortrefflichen Wu nsch, auch über die Zusammensetzung derRedaktion auf dem Parteitag zu entscheiden (wenn auch in Zukun ft), zeugtdiese Verbesserung von einem Schritt in Richtung der Beschlüsse desIII. Parteitags. W ir wollen hoffen, daß nach etwa weiteren vier Monatendie nächste „konstituierende" K onferenz auch den Modus für die Einberu-fung der Parteitage, dieser obersten Instanzen der Partei, festlegen wird...W as die Vereinigung betrifft, so geht die Konferenz um diese Frage leiderherum wie die Katze um den heißen Brei, anstatt offen zu sagen: Wolltihr euch auf der Grundlage des III. Parteitags vereinigen? Wenn nicht,wollt ih r zwei Parteitage zur selben Zeit und am selben O rt vorbereiten?Wir möchten hoffen, da ß die nächste „konstituierende" Konferenz (mög-lichst früher als in vier Mo naten!) diese Frage entscheiden wird.

„Troletari" 9Vr. 20 , Tiaäi dem 7ext des „Proktari"'.10. Oktober (27. September) 1 905.

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D I E V E R T R E T U N G D E R S D A P R I M

I N T E R N A T I O N A L E N S O Z I A L I S T I S C H E N B Ü R O

Die „Südrussische konstituierende Konferenz" der Menschewiki hathierzu folgende Resolution angenommen: „Nach Kenntnisnahme der Do-kumente, aus denen hervorgeht, daß Gen. Lenin, ohne hinsichtlich derVertretung der SDAPR im Internationalen Büro irgendwelche Schritte zurVerständigung mit der ,Minderheit' unternommen zu haben, diese Fragedort zum Kampfobjekt der beiden Teile der Partei gemacht und belang-lose fraktionelle Meinungsverschiedenheiten in den Vordergrund gerückthat, drückt die Konferenz der Südrussischen Organisationen ihr tiefes Be-

dauern darüber aus, bittet gleichzeitig Gen. Plechanow, unseren Teil derPartei im Internationalen Büro weiterhin zu vertreten, und wendet sich analle Organisationen der ,Mehrheit' mit dem Vorschlag, sich sofort zu die-ser Frage zu äußern und im Interesse der von uns angestrebten Einheitwie auch zur Wahrung des uns allen gleich teuren Ansehens der SDAPRin den Augen aller anderen sozialistischen Parteien aller anderen LänderGen. Plechanow ihrerseits mit dieser Vertretung zu betrauen."

Diese Resolution macht es dem Endesunterzeichneten zur Pflicht, eineDarstellung der faktischen Sachlage zu geben: 1. Den Menschewiki kann

nicht unbekannt sein, daß jedwedes Abkommen von dem in Rußland be-findlichen ZK abhängt. Indem sie absichtlich nur von „Gen. Lenin" spre-chen, sagen sie die Unwahrheit. 2. Sofort nach dem III. Parteitag wandtensich zwei aus Rußland gekommene ZK-Mitglieder persönlich an Plecha-now und drückten den Wunsch aus, ihn als Vertreter der SDAPR imInternationalen Büro wie auch als Redakteur des wissenschaftlichen Or-gans zu sehen. Plechanow lehnte ab. Der Satz „ohne... irgendwelcheSchritte..." weicht also von der Wahrheit ab. 3. Als Plechanow nach

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Die Vertretung der SVJPR im Internationalen Sozialistisdhen Büro 331

dieser Ablehnung aus der Redaktion der „Iskra" austrat, erklärte er (am

29. Mai), ohne sidb an das ZK der SDAPR zu wenden, in der Presse, daßer nur beide Teile der SDAPR zu vertreten bereit sei, und ersuchte, eben-falls durch die Presse, die den III. Parteitag anerkennenden Genossen umihre Zustimmung. 4. Die Redaktion des „Proletari" druckte PlechanowsErklärung sofort (in N r. 5 vom 26. (13.) Juni) ab und fügte hinzu, daß dieFrage dem ZK zur Entscheidung vorgelegt worden sei. 5. Bis zur Entschei-dung der Frage durch das Zentralkomitee hielt ich im Namen des ZK mitdem Internationalen Büro die Verbindung aufrecht, um das InternationaleBüro über den III. Parteitag und das ZK über die Arbeit des Internatio-nalen Büros zu informieren, wobei ich erklärte, daß die Frage der Ver-tretung der SDAPR im Internationalen Büro noch nicht entschieden sei.*Mit anderen Worten: das ZK hielt mit dem Internationalen Büro durchseinen ausländischen Vertreter die Verbindung aufrecht, bis die Frageeines besonderen Vertreters im Büro entschieden sein würde . 6. Als ich dasInternationale Büro über den provisorischen Charakter meiner Beziehun-gen zu ihm klar und eindeutig informierte, berührte ich keinerlei Fragedes „Kampfes" und der „Meinungsverschiedenheiten", sondern teiltelediglich die Beschlüsse des III. Parteitags mit, wozu ich unbedingt ver-pflichtet war. 7. Plechanow schickte dem Internationalen Büro am i6.~juni

einen Brief, in dem er a) irrtümlich versicherte, daß er bereits von beidenFraktionen bevollmächtigt sei, sie zu vertreten, und b) die Geschichte derSpaltung seit dem II. Parteitag schilderte, und zwar abweichend von derWahrheit, ganz im menschewistischen Geist, indem er die Einberufungdes III. Parteitags durch das Zentralkomitee als einen „völlig eigenmäch-tigen Akt" bezeichnete, die Versöhnler in unserer Partei für den „Sumpf"erklärte und behauptete, auf dem Parteitag sei „nur etwa die Hälfte der,vollberechtigten' Organisationen" vertreten gewesen, der Parteitag sei eine„Vereinigung der Ultrazentralisten und des Sumpfes" gewesen usw.

8. Dieser Brief Plechanows wurde von mir in dem Brief an das Interna-tionale Büro vom 24. JHI» i905** Punkt für Punkt widerlegt (von Plecha-nows Brief erfuhr ich erst etwa einen Monat nach der Absendung durchPlechanow, als mir nämlich das Internationale Büro eine Abschrift seinesBriefes sandte), über den „Sumpf" schrieb ich in meinem Brief: „Es ist

*~Slehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 422, russ. Die Red.** Siehe den vorliegenden Band, S. 132-136. Die Red.

22*

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332 W.llenin

richtig, daß es in unserer Partei einen ,Sumpf' gibt. Die Mitglieder dieses

,Sumpfes' sind während des innerparteilichen Kampfes ständig von einerSeite auf die andere übergegangen. Einer der ersten Überläufer war Ple-chanow, der im November 1903 von der Mehrheit zur Minderheit über-ging und am 29. Mai 1905 durch seinen Austritt aus der Redaktion der,Iskra' die Minderheit verließ. Wir billigen dieses Hin- und Herpendelnnicht, sind aber der Meinung, daß man es uns keineswegs als Schuld an-rechnen darf, wenn unentschlossene Leute, Genossen vom ,Sumpf, nachlangem Schwanken dazu neigen, sich uns anzuschließen." Was die Situa-tion nach der Spaltung betrifft, so wies ich in demselben Brief darauf hin,

daß das Internationale Büro unbedingt „eine vollständige Übersetzungaller Resolutionen der Konferenz" haben müsse. „Wenn die ,Iskra' demBüro eine solche Übersetzung nicht zustellen will", fügte ich hinzu, „sosind wir bereit, diese Arbeit auf uns zu nehmen."

Mögen jetzt die Leser darüber urteilen, ob Plechanows Verhalten alsunvoreingenommen und die Darstellung der Sachlage durch die neue Kon-ferenz als wahrheitsgemäß bezeichnet werden kan n. W er ist schuld an derSchädigung des Ansehens der SDAPR? Wer hat die Initiative zur Infor-mierung des Internationalen Büros über die Geschichte der Spaltung nach

dem II. Parteitag ergriffen? Wer hat die „fraktionellen Meinungsverschie-denheiten" in den Vordergrund gerückt??"N. Lenin

PS. Gemäß dem Wunsch der Südrussischen Konferenz, die Meinungder Organisationen der Mehrheit zu erfahren, veröffentlichen wir nach-stehend die uns im August 1905 zugegangene Resolution des KostromaerKomitees der SDAPR96 . Andere Resolutionen zu dieser Frage sind derRedaktion nicht zugegangen.

„Proletari" 9Jr. 20, Nadn dem Text des „Proletari".10. Oktober (27. September) i9O5.

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AUS GESPRÄCHEN MIT LESERN97

Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge aus dem Brief eines Genossen,Mitglied eines Komitees unserer P artei. Dieser Genosse ist einer der weni-gen, die dem Zentralorgan nicht nur Korrespondenzen schicken, sondernauch ihre Auffassung von der Taktik, ihre Anwendung der Taktik dar-legen. Ohne solche Gespräche, die keineswegs speziell für die Pressebestimmt sind, ist es unmöglich, gemeinsam eine übereinstimmende Partei-taktik auszuarbeiten. Ohne einen solchen Meinungsaustausch mit Prak-tikern kann die Redaktion einer im Ausland erscheinenden Zeitung nie-

mals wirklich das Sprachrohr der gesamten Partei sein. Wir veröffentlichendeshalb die Meinung des Genossen, der nur einen kleinen Teil der neuestenParteiliteratur kennt, um möglichst viel praktisch tätige Genossen zu ähn-lichen Gesprächen und Meinungsäußerungen über alle Parteifragen an-zuregen.

„Troletari" 5Vr. 20, T^adj dem 7ext des „Troletari".10. Oktober (27. September) i905.

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B L U T I G E T A G E I N M O S K A U 9*

Genf, 10. Oktober (27. IX.) 1905

Ein neuer Ausbruch des Arbeiteraufstands — Massenstreik und Stra-ßenkampf in Moskau. Am 9. Januar erdröhnte in der Hauptstadt der ersteDonner der revolutionären Aktion des Proletariats. Das Grollen diesesDonners ging durch ganz Rußland und rüttelte mit noch nie dagewesenerSchnelligkeit mehr als eine Million Proletarier zu einem gigantischenKampfe auf. Auf Petersburg folgten die Randgebiete, wo die nationale

Unterdrückung das ohnehin unerträgliche politische Joch noch verschärfte.Riga, Polen, Odessa, der Kaukasus wurden der Reihe nach zu H erden desAufstands, der mit jedem Monat, mit jeder Woche an Breite und Tiefegewann. Jetzt ist Zentralrußland davon ergriffen worden, das Herz der„echt russischen" Gebiete, deren Stabilität die Reaktionäre bis zuletzt mitRührung erfüllte. Eine ganze Reihe von Umständen erklärt diese verhält-nismäßige Stabilität, d.h. Rückständigkeit Zentralrußlands: sowohl dieweniger entwickelten Formen der Großindustrie, die zwar gewaltige Ar-beitermassen erfaßt, sidi aber weniger vom flachen Lande gelöst und dieProletarier weniger in den Zentren des Geisteslebens konzentriert hat, alsauch die große Entfernung vom Ausland und das Fehlen nationalen Ha-ders. Die Arbeiterbewegung, die in diesem Gebiet schon in den Jahren1885 und 1886 mit gewaltiger Kraft aufgetreten war, schien für langeZeit erstorben zu sein, und die Anstrengungen der Sozialdemokratenscheiterten dutzende- und hundertemal am Widerstand der besondersschwierigen örtlichen Arbeitsbedingungen.

Doch schließlich ist auch das Zentralgebiet in Bewegung geraten. Der

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'Blutige Jage in Moskau 335

Streik in Iwanowo-Wosnessensk" hat eine überraschend hohe politische

Reife der Arbeiter gezeigt. Die Gärung im ganzen zentralen Industrie-gebiet hat sich nach diesem Streik unaufhörlich verstärkt und ausgebreitet.-Jetzt hat diese Gärung begonnen, cxffen zutage zu treten und in den Auf-stand umzuschlagen. Ohne Zweifel wurde der Ausbruch noch durch dierevolutionäre Moskauer Studentenschaft verschärft, die eben erst eine derPetersburger völlig analoge Resolution angenommen ha t, in der die Reichs-duma gebrandmarkt und zum Kampf für die Republik, zur Errichtungeiner provisorischen revolutionären Regierung aufgerufen wird. Die „libe-ralen" Professoren, die eben erst einen höchst liberalen Rektor, den satt-

sam bekannten Herrn Trubezkoi, gewählt hatten, schlössen unter demDruck der polizeilichen Drohungen die Universität; sie fürchteten, wiesie sagten, die Wiederho lung des Tifliser Gemetzels10 0 in den Mauern derUniversität. Sie beschleunigten dadurch nur das Blutvergießen auf denStraßen, außerhalb der Universität.

Soweit wir nach den kurzen telegrafischen Berichten der ausländischenZeitungen urteilen können, war der Gang der Ereignisse in Moskau der„gewohnte", nach dem 9. Januar sozusagen zur Norm gewordene. Es be-gann mit dem Streik der Setzer, der rasch um sich griff. Am Sonnabend,

dem 24 . September (7. Ok tob er) , hatten die Druckereien, elektrischenStraßenbahnen und Tabakfabriken die Arbeit bereits eingestellt. Es er-schienen keine Zeitungen. Man erwartete den Generalstreik der Fabrik-und Eisenbahnarbeiter. Am Abend fanden große Demonstrationen statt,an denen außer den Setzern auch die Arbeiter anderer Berufe, Studentenu. a. teilnahmen. Kosaken un d Gendarmen trieben die Demonstrantenviele Male auseinander, doch diese versammelten sich immer wieder. VielePolizisten wurden verwundet. Die Demonstranten warfen Steine undfeuerten aus Revolvern. Der Offizier, der die Gendarmen befehligte,

wurd e schwer verw undet. Ein Kosakenoffizier, ein Gendarm usw . wurdengetötet.Am Sonnabend schlössen sich die Bäcker dem Streik an.Am Sonntag, dem 25. September (8 . Oktober), nahmen die Ereignisse

plötzlich eine bedrohliche Wendung. Von 11 Uhr morgens an begannenAnsammlungen der Arbeiter auf den Straßen, besonders auf dem StrastnoiBoulevard und an anderen Stellen. Die Menge sang die Marseillaise.Die Druckereien, die sich weigerten zu streiken, wurden demoliert. Die

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336 W.-l Lenin

Dem onstranten ko nnten von den Kosaken erst nach ä ußerst hartnäckigem

Widerstand zerstreut werden.• Vor der Großbäckerei von Filippow, in der Nähe des Hauses des Gene-ralgouverneurs, versammelte sich eine Menge von etwa 400 Personen,hauptsächlich Bäckergesellen. Die Kosaken attackierten die Menge. DieArbeiter drangen in die Häuser ein, stiegen auf die Dächer und warfenvon dort aus Steine auf die Kosaken . Die Kosaken schössen auf das Dacheines Hauses und nahmen, da sie die Arbeiter nicht vertreiben konnten,ihre Zuflucht zu einer regelrechten Belagerung. Das Haus wurde umzin-gelt, eine Polizeiabteilung und zwei Kompanien Grenadiere machten ein

Umgehungsmanöver, drangen von hinten in das Haus ein und besetztenschließlich auch das Dach. Es wurden 192 Gesellen verhaftet. Acht Ver-haftete sind verwundet; zwei Arbeiter wurden getötet (wir wiederholen,daß das alles ausschließlich telegrafische Meldungen ausländischer Zei-tungen sind, die natürlich von der Wahrheit weit entfernt sind und nureine annähern de Vorstellung vom Ausm aß der Schlacht geben). Eine solidebelgische Zeitung berichtet, daß die Hauswarte eifrig damit beschäftigtwaren, die Stra ßen von den Blutspuren zu reinigen,- dieses kleine Detail —

schreibt sie — zeugt m ehr als lange Berichte vom Ernst des Kampfes.

Wie es scheint, war es den Petersburger Zeitungen erlaubt, über dasGemetzel auf der Twerskaja zu schreiben. Doch schon am nächsten Tagfürchtete die Zensur die Veröffentlichung. Am Montag, dem 26. Septem-ber (9 . Ok tob er) , berichteten die offiziellen Depeschen, es habe in Moskaukeine ernsten Unruhen gegeben. Doch telefonisch liefen bei den Redak-tionen der Petersburger Zeitungen andere Nachrichten ein. Die Mengehatte sich, wie sich herausstellte, von neuem in der Nähe des Hauses desGeneralgouverneurs versammelt. Es kam zu heftigen Zusammenstößen.Die Kosaken feuerten mehr als einmal. Als sie zum Feuern absaßen, wur-

den viele Menschen von ihren Pferden niedergetreten. Gegen Abend über-fluteten die Arbeitermassen unter revolutionären Rufen und mit wehen-den roten Fahnen die Boulevards. Die Menge erbrach Bäckereien undWaffenläden. Schließlich wurde sie von der Polizei zerstreut. Es gab vieleVerwundete. Das Zentrale Telegrafenamt wird von einer KompanieSoldaten bewacht. Der Streik der Bäcker ist allgemein geworden. DieGärung unter den Studenten verstärkt sich noch immer, die Versammlun-gen werden immer zahlreicher und revolutionärer. De r Petersburger Korre-

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Blutige Jage in Moskau 337

spondent der „Times" berichtet von Flugblättern in Petersburg, die zum

Kampf aufrufen, von der Gärung unter den dortigen Bäckern, von derAnsetzung einer Demonstration auf Sonnabend, den 1. (14.) Oktober,und von der äußerst alarmierenden Stimmung der Bevölkerung.

Wie spärlich diese Nachrichten auch sein mögen, so erlauben sie doch,die Schlußfolgerang zu ziehen, daß der Ausbruch des Aufstands in Mos-kau, verglichen mit den anderen Aufständen, keine höhere Stufe der Be-wegung darstellt. Weder traten rechtzeitig vorbereitete und gut bewaff-nete revolutionäre Kampfabteilungen in Aktion noch ging wenigstens eingewisser Teil der Truppen auf die Seite des Volkes über, und auch die

„neuen" Arten der Volksbewaffnung, die Bomben (die am 26. September(9 . Oktober) in Tiflis den Kosaken und Soldaten einen solchen Schreckeneingejagt hatten), kamen nicht umfassend zur Anwendung. Fehlte aberauch nur eine dieser Bedingungen, so konnte weder mit der Bewaffnungeiner großen Zahl von Arbeitern noch mit dem Sieg des Aufstands ge-rechnet werden. Die Bedeutung der Moskauer Ereignisse ist, wie wir be-reits festgestellt haben, eine andere: ein großes Zentrum hat dadurch dieFeuertaufe erhalten, ein riesiges Industriegebiet ist in den ernsten Kampfeinbezogen worden.

Das Anwachsen des Aufstands in Rußland verläuft natürlich nicht ineinem gleichmäßigen und geradlinigen Aufschwung und kann auch nichtso verlaufen. Am 9. Januar war in Petersburg das vorherrschende Merk-mal die rasche und einmütige Bewegung gigantischer Massen, die unbe-waffnet waren und nicht in den Kampf traten, aber eine große Kampfes-lehre erhielten. In Polen und im Kaukasus zeichnet sich die Bewegungdurch eine ungeheure Hartnäckigkeit und eine verhältnismäßig häufigereAnwendung von Waffen und Bomben seitens der Bevölkerung aus. InOdessa bestand das besondere Merkmal im Übergang eines Teils derTruppen zu den Aufständischen. In allen Fällen und immer war die Be-wegung in ihrem Kern proletarisch und unlösbar mit dem Massenstreikverbunden. In Moskau verlief die Bewegung in demselben Rahmen wiein einer ganzen Reihe anderer, weniger großer Industriezentren.

Vor uns taucht jetzt naturgemäß die Frage auf: Wird die revolutionäreBewegung auf diesem bereits erreichten, „gewohnt" und vertraut gewor-denen Entwicklungsstadium stehenbleiben oder wird sie sich auf einehöhere Stufe erheben ? W enn man sich übe rhaupt auf das Gebiet der Ein-

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Schätzung so komplizierter und unübersichtlicher Ereignisse wagen kann,

wie es die Ereignisse der russischen Revolution sind, so gelangen wir un-vermeidlich zu der ungleich größeren Wahrscheinlichkeit der zweiten Ant-wort auf diese Frage. Gewiß, auch die gegebene, bereits erlernte, wennman sich so ausdrücken darf, Kampf form— Partisanenkrieg, unaufhörlicheStreiks, Erschöpfung der Kräfte des Feindes durch Überfälle und Straßen-kämpfe bald an dem einen, bald an dem anderen Ende des Landes — auchdiese Kampfform ergab und ergibt die ernsthaftesten Resultate. Kein Staathält a. la longue* diesen hartnäckigen Kampf aus, der das industrielleLeben lahmlegt, in d ie Bürokratie und in die Armee völlige Demoralisation

hineinträgt und in allen Volkskreisen Unzufriedenheit mit der Lage derDinge sät. Um so weniger ist die russische absolutistische Regierung im-stande, einen solchen Kampf auszuhalten. Wir können völlig überzeugtsein, daß die beharrliche Fortsetzung des Kampfes, auch wenn er sich inden Formen hält, die von der Arbeiterbewegung bereits hervorgebrachtworden sind, unweigerlich zum Zusammenbruch des Zarismus führenwird.

Es ist jedoch im höchsten G rade unw ahrscheinlich, daß die revolu tionäreBewegung im heutigen Rußland auf der Stufe stehenbleiben wird, die sie

gegenwärtig bereits erreicht hat. Im Gegenteil, alle Tatsachen sprecheneher dafür, daß dies nur eine der ersten Stufen des Kampfes ist. Nochhaben sich alle Folgen des schmachvollen und verderblichen Krieges imVolk bei weitem nicht ausgewirkt. Die Wirtschaftskrise in den Städtenund die Hungersnot auf dem Lande steigern die Erbitterung ungeheuer.Die mandschurische Armee ist, nach allen Informationen zu urteilen,äußerst revolutionär gestimmt, und die Regierung fürchtet sich, sie zurück-zurufen; aber es ist unmöglich, diese Armee nicht zurückzurufen, denn esdrohen sonst neue und noch ernstere Aufstände. Die politische Agita-tion unter den Arbeitern und der Bauernschaft war in Rußland noch nieso umfassend, so planmäßig und so tiefgehend wie jetzt. Die Komödieder Reichsduma wird der Regierung unvermeidlich neue Niederlagen brin-gen und in der Bevölkerung neue Erbitterung hervorrufen. Der Aufstandist vor unseren Augen in knapp zehn Monaten ungeheuer angewachsen,und es ist weder ein Hirngespinst noch ein frommer Wunsch, sonderneine direkte und unbedingte Schlußfolgerung aus den Tatsachen des Mas-

* anf die Dauer. Die Red.

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'Blutige Jage in Moskau 339

senkampfes, wenn man feststellt, daß sich der Aufstand binnen kurzem

auf eine neue, höhere Stufe erheben wird, auf eine Stufe, wo die Kampf-abteilungen der Revolutionäre oder meuternde Truppenteile der Volks-menge zu Hilfe kommen werden, wo sie den Massen helfen werden, sichWaffen zu verschaffen, wo sie in die Reihen der „zaristischen" (nochzaristischen, doch schon bei weitem nicht mehr völlig zaristischen) Trup-pen die größten Schwankungen hineintragen werden, wo der Aufstand zueinem ernsthaften Sieg führen wird, von dem sich der Zarismus nicht mehrerholen kann.

Die zaristischen Truppen haben in Moskau den Sieg über die Arbeiter

davongetragen. Doch dieser Sieg hat die Besiegten nicht entkräftet, son-dern sie nu r fester zusammengeschweißt, ihren H a ß vertieft und sie denpraktischen Aufgaben des ernsten Kampfes nähergebracht. Dieser Siegist einer von jenen, die unweigerlich die Reihen der Sieger ins Wankenbringen. Die Truppen beginnen erst jetzt zu erkennen, und zwar nichtnur an Hand der Gesetze, sondern auch aus eigener Erfahrung, daß siejetzt einzig und allein zum Kampf gegen den „inneren Feind" mobilisiertwerden. D er Krieg mit Japan ist zu Ende. Doch die Mobilmachung dauertfort, die Mobilmachung gegen die Revolution. W ir fürchten eine solSeMobilmachung nicht, wir stehen nicht an, sie zu begrüßen, denn je größerdie Zah l der Soldaten sein wird, die man zum systematischen Kampf gegendas Volk einberuft, desto rascher wird die politische und revolutionäreAufklärung dieser Soldaten vor sich gehen. Durch die Mobilmachungimmer neuer Truppenteile zum Krieg gegen die Revolution schiebt derZarismus die Entscheidung auf, aber dieser Aufschub ist von größtemVorteil für uns, denn in diesem langwierigen Partisanenkrieg lernen dieProletarier kämpfen, während die Truppen unvermeidlich ins politischeLeben hineingezogen werden. U nd der Ruf dieses Lebens, der Kampfrufdes jungen Rußlands, dringt sogar durch die dicksten Kasernenmauern,

weckt die Unaufgeklärtesten, die Rückständigsten und die Eingeschüch-tertsten.

Der Ausbruch des Aufstands ist noch einmal unterdrückt w orden. N ocheinmal: Es lebe der Aufstand!

Zuerst veröffentlicht 1926 7>)'adb dem Manuskript,im Lenin-Sammelband V.

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D I E S C H L A F E N D E

U N D D I E E R W A C H T E B O U R G E O I S I E

Thema für einen Artikel

Man stelle sich vor, daß eine kleine Anzahl von Menschen ein himmel-schreiendes, scheußliches Übel bekämpft, während die Masse der Men-schen schläft und dieses Übel nicht erkennt oder ihm gleichgültig gegen-übersteht. W orin besteht die Hauptaufgabe der Kämpfenden? 1. möglichstviele Schlafende zu wecken; 1. sie über die Aufgaben und Bedingungenihres Kampfes aufzuklären; 3. sie zu einer Kraft zu organisieren, die zusiegen imstande ist; 4. sie die richtige Ausnutzung der Früchte des Sieges

zu lehren.Natürlich muß 1 den Aufgaben 2 bis 4 vorangehen, die ohne 1 unmög-

lich sind.Und nun weckt eine kleine Anzahl von Menschen alle, rüttelt alle und

jeden auf!Ihre Bemühungen sind, auch dank der Entwicklung des Lebens selbst,

von Erfolg gekrönt. Die Masse ist geweckt. Da stellt sich allmählich her-aus, daß ein Teil der Geweckten an der Erhaltung des Übels interessiertund willens ist, es entweder bewußt zu unterstützen öder solche Seiten,

solche Teile des Übels beizubehalten, die für diese Gruppen der Erwach-ten vorteilhaft sind.Ist es da nicht natürlich, daß sich die Kämpfer, die Verkünder des

Kampfes, die alle geweckt und die Sturmglocken der Revolution geläutet,gegen diese Erwachten wenden, die sie dodh selbst geweckt haben? Ist esnicht natürlich, daß die Kämpfer dann ihre Kräfte nicht mehr darauf ver-geuden werden, „alle und jeden" aufzurütteln, sondern den Schwerpunktauf jene richten werden, die sich als fähig erwiesen haben, 1. zu er-

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"Die sdblafende und die erwadhte Bourgeoisie 341

wachen — eins; 2. die Idee des konsequenten Kampfes zu erfassen — zwei;

3. ernstlich und bis zu En de zu kämp fen — drei .Derart ist das Verhältnis der russischen Sozialdemokraten zu den Libe-ralen-. 1900—1902 (wurde geweckt), 1902—1904 (wurden die Erwachtenvoneinander abgegrenzt) und 1905 (wurde gegen die erwachten. . . Ver-räter gekämpft).

Qesäarieben Ende September 1905.

Zuerst veröffentlidht 1926 Nadh dem Manuskript.im £,enin-Samme\band V.

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A N D E N K A M P F A U S S C H U S S

D E S S T . P E T E R S B U R G E R K O M I T E E S

16. Oktober 1905

Liebe Genossen! Ich bin sehr dankbar für die Zusendung 1. des Be-richts des Kampfausschusses und 2. der Notizen über die organisatorischeVorbereitung des Aufstands + 3. des Schemas der Organisation. Nach-dem ich diese Dokumente gelesen habe, halte ich es für meine Pflicht,mich zwecks kameradschaftlichen Meinungsaustauschs unmittelbar an denKampfausschuß zu wenden, überflüssig zu sagen, daß ich mir kein Urteilüber die praktische Seite der Sache anmaße. Daß alles geschieht, was

unter den schwierigen russischen Verhältnissen möglich ist, darüber kannkein Zweifel bestehen. Aber nach den Dokumenten zu schließen, drohtdie ganze Sache in eine bürokratische Angelegenheit auszuarten. Allediese Schemas, alle diese Pläne der Organisation des Kampfausschussesmachen den Eindruck papiernen Formelkrams — ich bitte meine Offenheitzu entschuldigen, aber ich hoffe, ihr werdet mich nicht der Nörgelsuchtverdächtigen. In einer solchen Sache sind Schemas und weitschweifige Dis-kussionen über die Funktionen des Kampfausschusses und seine Rechteam allerwenigsten angebracht. Hier braucht man schäumende Energie und

nochmals Energie. Ich sehe mit Entsetzen, wahrhaftig mit E ntsetzen, daßman schon länger als ein halbes Jahr von Bomben spricht und nochkeine -einzige hergestellt hat! Und die davon sprechen, sind hochgelehrteLeute... Geht zur Jugend, Herrschaften! Das ist das einzige Allheil-mittel. Sonst werdet ihr, weiß Gott, zu spät kommen (ich ersehe das ausallem) und mit allen euren „gelehrten" Entwürfen, Plänen, Zeichnungen,Schemas und großartigen Rezepten, aber ohne Organisation, ohne leben-

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An den Kampfaussdhuß des St. Petersburger Komitees 343

dige Tat dasitzen. Geht zur Jugend. Gründet sofort Kampfgruppen, über-

all und allerorts, sowohl bei den Studenten als auch besonders bei denArbeitern usw. usf. Trupps von 3 bis 10, bis zu 30 usw. M ann sollen sichunverzüglich formieren. Sie sollen sich unverzüglich selber bewaffnen, sogut jeder kann, mit Revolvern, Messern, petroleumgetränkten Lappen,um Feuer anzulegen usw. Diese Kampfabteilungen sollen sich unverzüg-lich Führer wählen und sich nach Möglichkeit mit dem Kampfausschußdes Petersburger Komitees in Verbindung setzen. Verlangt keinerlei For-malitäten, pfeift um Himmels willen auf alle Schemas, schickt um Gotteswillen alle „Funktionen, Rechte und Privilegien" zum Teufel. Besteht nichtauf dem Beitritt zur SDAPR — das wäre für den bewaffneten Aufstandeine absurde Forderung. Weigert euch nicht, mit jedem Zirkel in Ver-bindung zu treten, auch wenn er nur aus drei Personen besteht, unter dereinzigen Bedingung, daß er in bezug auf die Polizei unverdächtig undbereit ist, gegen die zaristischen Truppen zu kämpfen. Sollen die Grup-pen, die das wünschen, der SDAPR beitreten oder sich der SDAPR an-sdhließen, das wäre ausgezeichnet; aber ich würde es unbedingt für einenFehler halten, das zu fordern.

Die Rolle des Kampfausschusses beim Petersburger Komitee soll darinbestehen, diesen Abteilungen der revolutionären Armee zu helfen, ihnenals Verbindungs„büro" zu dienen usw. Jede Abteilung wird eure Dienstegern annehmen, aber wenn ihr in einer soidben Saäoe mit Schemas und mitReden über die „Rechte" des Kampfausschusses ankommt, werdet ihr dasGanze zugrunde richten, glaubt mir, unwiederbringlich zugrunde richten!

Hier muß man durch breite Propaganda w irken. Sollen 5—10 Menschenin einer Woche Hunderte von Arbeiter- und Studentenzirkeln aufsuchen,überall eindringen, wo es nur irgend möglich ist, und überall den klaren,kurzen , direkten und einfachen Plan vorschlagen: Bildet sofort eine Kampf -abteilung, bewaffnet euch, so gut ihr könnt, arbeitet aus allen Kräften,

wir werden euch soweit möglich helfen, aber erwartet niöits von uns,arbeitet selber.

Der Schwerpunkt bei einer solchen Sache liegt in der Initiative derMasse der Ideinen Zirkel. Sie schaffen alles. Ohne sie ist euer ganzerKampf ausschuß nichts. Ich neige dazu, die Arbeitsproduktivität des Kampf -ausschusses nach der Anzahl solcher Abteilungen zu messen, mit denener in Verbindung steht. Wenn der Kampfausschuß in ein bis zwei

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Monaten nicht minimum 200—300 Abteilungen in Petersburg hat, dann

ist er ein toter Kampf ausschuß. D an n m uß ma n ihn beg rabe n. W er bei dergegenwärtigen Siedehitze nicht Hunderte von Kampfabteilungen auf dieBeine bringt, der steht außerh alb des Lebe ns.

D ie Propagan disten sollen jeder Abteilung kur ze un d einfache Bomben-rezepte und eine elementare Erläuterung der ganzen Arbeitsart geben,dann aber die ganze Tätigkeit ihr selbst überlassen. Die Abteilungen sol-le n jetzt gleich, unverzüglich ihre militärische Ausbildung mit praktischenKampfhandlungen beginnen. Die einen werden sofort einen Spitzel tötenoder ein Polizeirevier in die Luft sprengen, andere werden eine Bank

überfallen, um Geldmittel für den Aufstand zu konfiszieren, wieder an-dere werden eine Ubungveranstalten oder Kartenskizzen anfertigen usw.Jedenfalls muß man gleich von Anfang an in der Praxis lernen, darf sichvor diesen versuchsweisen Überfällen nicht fürchten. Sie können natür-l ich ins Extrem ausarten, doch das ist eine Ge fahr von morgen, die Ge fahrvon heute aber l iegt in unserer Trägheit , in unserem Doktrinarismus, inder gelehrten Schwerfälligkeit und senilen Angst vor der Initiative. JedeAbteilung soll selbständig lernen, sei es auch durch Verprügelung vonPolizisten: Die Dutzende von Opfern werden reichlich aufgewogen durchdie Hunderte erfahrener Kämpfer, die morgen Hunderttausende in den

Kampf führen werden.

Ich drücke Ihnen fest die Hände, Genossen, und wünsche Ihnen Erfolg.Meine Ansicht will ich keineswegs aufdrängen, aber ich halte es für meinePflicht, meine beratende Stimme abzugeben.

Ihr Lenin

Zuerst veröffentlicht i926 9Jad> dem Manuskript,im Lenin-Sammelband V.

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POLITISCHER STREIKUND STRASSENKAMPF IN MOSKAU

Die revolutionären Ereignisse in Moskau sind der erste Gewitterblitz,der das neue Schlachtfeld erhellt hat. Der Erlaß des Gesetzes über dieReichsduma und der Friedensschluß kennzeichneten den Beginn einesneuen Zeitabschnitts in der Geschichte der russischen Revolution. Die libe-rale Bourgeoisie, bereits erschöpft durch den hartnäckigen Kampf der Ar-beiter und beunruhigt durch das Gespenst der „ununterbrochenen Revo-lution", atmete erleichtert auf und griff mit Freuden nach dem ihr hin-geworfenen Gnadengeschenk. Auf der ganzen Linie setzte ein Kampf

gegen die Idee des Boykotts ein, begann eine offene Schwenkung des Libe-ralismus nach rechts. Leider fanden sich sogar unter den Sozialdemokratenschwankende Gestalten (im Lager der Neuiskristen), die bereit waren,diese bürgerlichen Verräter an der Revolution unter bestimmten Bedin-gungen zu unterstützen und die Reichsduma „ernst zu nehmen". Mandarf hoffen, daß die Ereignisse in Moskau die Kleingläubigen beschämenund den Zweiflern helfen werden, die Lage auf dem neuen Schlachtfeldrichtig zu beurteilen. Sowohl die Träumereien blutarmer Intellektuellervon der Möglichkeit allgemeiner Volkswahlen unter der Selbstherrschaft

als auch die Illusionen stumpfsinniger Liberaler von der zentralen Bedeu-tung der Reichsduma sind gleich bei der ersten großen revolutionärenAktion des Proletariats in alle W inde zerstoben.

Unsere Informationen über die Moskauer Ereignisse sind heute (am12. Oktober n. St.) noch sehr kärglich. Sie beschränken sich auf kurze undvielfach widerspruchsvolle Meldungen ausländischer Zeitungen und aufdie durch die Zensur gesiebten Berichte der legalen Presse über den Be-ginn der Bewegung. Sicher ist das eine: Der Kampf der Moskauer Arbeiter

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hat in seinem Anfangsstadium den gleichen Weg eingeschlagen, der im

Laufe des letzten Revolutionsjahres schon üblich geworden ist. Die Arbei-terbewegung hat der ganzen russischen Revolution ihren Stempel aufge-drückt. M it vereinzelten Streiks beg inne nd, entwickelte sie sich rasch einer-seits bis zu Massenstreiks, anderseits bis zu Straßendemonstrationen. ImJahre 1905 erscheint der politische Streik bereits als voll entwickelte Formder Bewegung und schlägt vor unseren Augen in den Aufstand um. Undhat die gesamte Arbeiterbewegung in Rußland zehn Jahre gebraucht, umdie gegenwärtige (selbstverständlich bei weitem noch nicht letzte) Stufezu erreichen, so erhebt sich jetzt die Bewegung in einzelnen Gebieten des

Landes binnen wenigen Tagen vom einfachen Streik zum gigantischenrevolutionären Ausbruch.

Den Streik der Setzer in Moskau haben, wie uns mitgeteilt wird, un-aufgeklärte Arbeiter begonnen. Jedoch entgleitet die Bewegung sogleichihren Händen und wird zu einer Bewegung des gesamten Berufszweiges.Arbeiter anderer Berufe schließen sich an. Das unvermeidliche Hinaus-gehen der Arbeiter auf die Straße, sei es auch nur, um die über den Streiknoch nicht unterrichteten Kollegen zu verständigen, verwandelt sich ineine politische Demonstration mit revolutionären Liedern und Reden. Die

lange zurückgehaltene Erbitterung über die niederträchtige Komödie der„Volks"wahlen zur Reichsduma kommt zum Durchbruch. Der Massen-streik geht über in eine Massenmobilmachung der Kämpfer für die wahreFreiheit. Auf der Bildfläche erscheint die radikale Studentenschaft, dieauch in Moskau kürzlich eine der Petersburger ganz analoge Resolutionangenommen hat. Diese Resolution brandmarkt ungeschminkt, in derSprache freier Bürger und nicht kriecherischer Beamten, die Reichsdumaals eine freche Verhöhnung des Volkes, ruft zum Kampf auf für die Repu-blik, für die Einberufung einer wirklich vom ganzen Volke gewählten und

wirklich konstituierenden Versammlung durch eine provisorische revolu-tionäre Regierung. Es beginnt der Straßenkampf des Proletariats und derfortgeschrittenen Schichten der revolutionären Demokratie gegen die zari-stische Soldateska und Polizei.

So und nicht anders entwickelte sich die Bewegung in Moskau. AmSonna bend, dem 2 4. September (7. Ok tob er), befanden sich außer denSetzern bereits die Tabakfabriken und die elektrischen Straßenbahnen imAusstand; der Streik der Bäcker begann. Am Abend fanden große Demon-

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Politisdier Streik und Straßenkampf in Moskau 347

strationen statt, an denen neben Arbeitern und Studenten große Massen

„Fernstehender" teilnahmen (revolutionäre Arbeiter und radikale Studen-ten betrachten einander bei öffentlichen Volkskundgebungen schon nichtmehr als fernstehend). Kosaken und Gendarmen trieben die Demonstran-ten fortwährend auseinander, aber diese sammelten sich immer wiederaufs neue. Die Menge leistete der Polizei und den Kosaken Widerstand,es fielen Revolverschüsse, und viele Polizisten wurden verwundet.

Am Sonntag, dem 25. September (8. Oktober), nahmen die Ereignisseplötzlich eine bedrohliche Wendung. Von 11 Uhr morgens an begannenAnsammlungen der Arbeiter auf den Straßen. Die Menge singt die Mar-

seillaise. Revolutionäre Kundgebungen finden statt. Druckereien, die sichweigern zu streiken, werden demoliert. Das Volk stürmt Bäckereien undWaffenläden: Die Arbeiter brauchen Brot, um zu leben, und Waffen, umfür die Freiheit zu kämpfen (ganz so, wie es im französischen Revolu-tionslied heißt). Erst nach hartnäckigem Widerstand können die Demon-stranten von den Kosaken zerstreut werden. Auf der Twerskaja, in derNähe des Hauses des Generalgouverneurs, findet eine wahre Schlachtstatt. Vor der Großbäckerei von Filippow versammelt sich ein Haufe vonBäckergesellen. Wie die Geschäftsleitung dieser Bäckerei später angab,

traten die Arbeiter friedlich auf die Straße, nachdem sie aus Solidaritätmit den übrigen Streikenden die Arbeit eingestellt hatten. Eine Kosaken-abteilung attackiert die Menge. Die Arbeiter dringen in ein Haus ein,steigen auf das Dach, auf den Boden und bewerfen die Soldaten mit Stei-nen. Es kommt zu einer regelrechten Belagerung des Hauses. Die Trup penschießen auf die Arbe iter. Alle Verbindungen werden abgeschnitten. Z weiKompanien Grenadiere machen ein Umgehungsmanöver, dringen vonhinten in das Haus ein und erobern die feindliche Stellung. 192 Gesellenwerden verhaftet, darunter acht Verwundete. Zwei Arbeiter sind tot. Auf

der Seite der Polizei und der Truppen gibt es Verwundete; ein Gendar-merierittmeister ist tödlich verwundet.

Natürlich sind diese Nachrichten äußerst lückenhaft. Nach Privattele-grammen, die von einigen ausländischen Zeitungen veröffentlicht wurden,kannten die Grausamkeiten der Kosaken und Soldaten keine Grenzen . DieGeschäftsleitung der Filippowschen Bäckerei erhebt Protest gegen diedurch nichts hervorgerufenen Ausschreitungen der Truppen. Eine solidebelgische Zeitung berichtet, daß die Hauswarte damit beschäftigt waren,

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die Straßen von den B lutspuren zu reinigen; dieses kleine Detail, schreibt

sie, zeugt mehr als manche lange Berichte vom Ernst des Kampfes. Der„Vorwärts" 10 1 berichtet auf Grund von privaten Informationen, die andie Zeitungen gelangt sind, daß auf der Twerskaja 10 OOO Streikendegegen ein Bataillon Infanterie gekämpft haben. Die Truppen gaben meh-rere Salven ab. Die Ambulanzwagen waren mit Arbeit überbürdet. DieZahl der Getöteten wird auf mindestens 50, die der Verwundeten auf600 geschätzt. Man berichtet, daß die Verhafteten in eine Kaserne ab-geführt und unbarmherzig, viehisch geschlagen wurden, daß sie Spieß-ruten laufen mußten. Man berichtet, daß sich die Offiziere während des

Straßenkampfes durch unmenschliche Grausamkeit sogar Frauen gegen-über auszeichneten (Telegramm des Sonderberichterstatters des konser-vativ-bürgerlichen „Temps" aus Petersburg vom 10. Ok tober (27. Sep-tember)).

über die Ereignisse der folgenden Tage werden die Nachrichten immerspärlicher. Die Erbitterung der Arbeiter ist ungeheuer gestiegen, die Be-wegung wächst. Die Regierung ist auf jede Weise bemüht, alle Nachrich-ten zu verbieten und zu unterbinden. Die ausländischen Zeitungen wiesenunverhüllt auf den Widerspruch hin zwischen den beruhigenden Nach-

richten der Regierungsagenturen (denen sie eine Zeitlang glaubten) undden telefonisch nach Petersburg übermittelten Nachrichten. Gaston Lerouxtelegrafierte der Pariser Zeitung „Matin", die Zensur vollbringe Wunder,um die Verbreitung auch nur irgendwie alarmierender Nachrichten zu ver-hindern. Montag, der 26. September (9. Oktober) — schreibt er — wareiner der blutigsten Tage in der Geschichte R ußlands. In allen Haup tstra-ßen, sogar vor dem Haus des Generalgouverneurs, wird gekämpft. DieDemonstranten haben eine rote Fahne gehißt. Es gibt viele Tote und Ver-wundete.

Die Mitteilungen anderer Zeitungen sind widersprechend. Sicher ist nur,daß sich der Streik ausbreitet. Die Mehrzahl der Arbeiter in den Groß-betrieben und sogar in kleineren Fabriken schließt sich ihm an. Es streikendie Eisenbahner. Der Streik wird allgemein (Dienstag, den 10. Oktober(27. September), und Mittwoch).

Die Lage ist äußerst ernst. Die Bewegung greift nach Petersburg über:die Arbeiter von San-Galli haben die Arbeit bereits niedergelegt.

Damit enden im Augenblick unsere Informationen. Sie genügen natür-

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PoUtisdher Streik und Straßenkampf in Moskau 349

lieh nicht, um an eine erschöpfende Beurteilung der Moskauer Ereignisse

auch nu r zu denken . Es läßt sich noch nicht sagen, ob sie die Generalprobefür den entscheidenden proletarischen Ansturm auf die Selbstherrschaftoder schon den Beginn dieses Ansturms darstellen; ob sie nur die Ausdeh-nung der von uns oben skizzierten „üblichen" Kampfmethoden auf einneues Gebiet Zentralrußlands darstellen, oder ob sie bestimmt sind, denBeginn einer höheren Kampfform und eines entschlosseneren Aufstandszu bilden.

Eine An twort auf diese Fragen wird allem Anschein nach die nahe Zu -kunft geben. Sicher ist das eine: das Anwachsen des Aufstands, die Aus-

weitung des Kampfes, die Verschärfung seiner Formen vollziehen sich un-unterbrochen vor unseren Augen. Das Proletariat ganz Rußlands bahntsich in heroischen Anstrengungen seinen W eg , bald hier, bald dort andeu-tend, in welcher Richtung sich der bewaffnete Aufstand entwickeln kannund zweifellos entwickeln wird. Gewiß, auch die jetzige Form des Kamp-fes, die durch die Bewegung der Arbeitermassen bereits herausgebildetworden ist, versetzt dem Zarismus die ernstesten Schläge. Der Bürgerkrieghat die Form eines erbittert-hartnäckigen und allerorts vor sich gehendenPartisanenkrieges angenommen. Die Arbeiterklasse gönnt dem Feindkeine Ruhepause, sie unterbricht jäh das industrielle Leben, bringt dauernd

die ganze Maschinerie der lokalen Verwaltung zum Stillstand, schafft imganzen Land einen Zustand der Unsicherheit und mobilisiert immer neueKräfte für den Kampf. Kein Staat wird einem solchen Ansturm auf dieDauer standhalten, um so weniger kann das die verfaulte zaristische Re-gierung, deren frühere Anhänger einer nach dem andern von ihr abfallen.Und erscheint der liberalen monarchistischen Bourgeoisie der Kampf mit-unter zu hartnäckig, erschrickt sie vor dem Bürgerkrieg und dem Zustandder beängstigenden Unsicherheit, in der das Land lebt, so ist für das revo-lutionäre Proletariat die Fortdauer dieses Zustandes, die Fortdauer des

Kampfes eine dringende Lebensnotwendigkeit. Beginnen unter den Ideo-logen der Bourgeoisie Leute aufzutauchen, die den revolutionären Branddurch ihre Predigten vom friedlichen, legalen Fortschritt zu löschen ver-suchen und die bemüht sind, die politische Krise abzustumpfen und nichtzu verschärfen — so wird das klassenbewußte Proletariat, das an der ver-räterischen Natur der bürgerlichen Freiheitsliebe nie gezweifelt hat, unbe-irrt vorwärtsschreiten, die Bauernschaft mit sich reißen und in die Reihen

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350 IV . 3. Lenin

der zaristischen Truppen Zersetzung h ineintragen. Der hartnäckige Kampf

der Arbeiter, die andauernden Streiks, Demonstrationen und Teilauf-stände, alle diese sozusagen probeweisen Schlachten und Zusammenstößeziehen das Heer unweigerlich in das politische Leben, damit aber auch inden Kreis der revolutionären Fragen hinein. Die Erfahrungen des Kamp-fes klären rascher und gründlicher auf, als unter anderen VerhältnissenJahre der Propaganda tun könnten. Der äußere Krieg ist zu Ende, aber dieRegierung fürchtet offensichtlich die Rückkehr der Kriegsgefangenen unddie Rückkehr der mandschurischen A rmee. Die Nachrichten über die revo-lutionäre Stimmung dieser Armee häufen sich. Die Projekte über landwirt-

schaftliche Kolonien in Sibirien für Soldaten und Offiziere der mandschuri-schen Armee müssen die Gärung zwangsläufig verstärken, selbst wenn dieseProjekte nur Projekte bleiben sollten. Die Mobilmachung wird trotz desFriedensschlusses nicht eingestellt.Es wird immer deutlicher, daß die Armeeeinzig und allein gegen die Revolution benötigt wird. Unter diesen Umstän-den haben wir Revolutionäre gegen die Mobilmachung nicht das geringsteeinzuwenden, ja , wir stehen nicht an, sie zu begrüßen. Indem die Regierungum den Preis der Einbeziehung immer neuer Truppenteile in den Kampf dieEntscheidung aufschiebt, indem sie eine immer größere Truppenzahl für den

Bürgerkrieg einsetzt, beseitigt sie nicht den Ursprung aller Krisen, sondernverbreitert im Gegenteil ihre Basis. Die Regierung erlangt den Aufschubum den Preis einer unausbleiblichen Erweiterung des Kampffeldes undeiner Verschärfung des Kampfes. Sie mobilisiert die Rückständigsten undUnwissendsten, die Eingeschüchtertsten und politisch Indolentesten zumKampf — und der Kampf wird sie aufklären, aufrütteln und beleben. Jelänger dieser Zustand des Bürgerkriegs andauern wird, um so unvermeid-licher wird sich aus der konterrevolutionären Armee eine Masse von neu-tralen Elementen und ein Kern von Kämpfern für die Revolution heraus-schälen.

Der ganze Verlauf der russischen Revolution in den letzten Monatenzeugt davon, daß die gegenwärtig erreichte Stufe nicht die höchste Stufeist und es auch nicht sein kann. Die Bewegung wird noch höher ansteigen,wie sie bereits seit dem 9. Januar angestiegen ist. Damals sahen wir zumerstenmal eine Bewegung, welche die Welt durch die Einmütigkeit und Ge-schlossenheit gewaltiger Arbeitermassen, die sich im Namen politischerForderungen erhoben, in Erstaunen setzte. Doch diese Bewegung war

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T'olitisdher Streik und Straßenkampf in Moskau 351

noch äußerst unbewußt in revolutionärer Beziehung und völlig hilflos im

Sinne der Bewaffnung und militärischen Bereitschaft. Polen und der Kau-kasus gaben schon das Beispiel eines Kampfes höherer Ordnung, denndort griff das Proletariat teilweise zu den Waffen, und der Krieg nahmlangwierigen Charakter an. Der Odessaer Aufstand zeichnete sich dadurchaus, daß hier eine neue und wichtige Bedingung für den Erfolg hinzukam:der Übergang eines Teils des Militärs auf die Seite des Volkes. Aller-dings wurde noch nicht sofort ein Erfolg erzielt; die schwierige Aufgabedes „Zusammenwirkens der See- und Landstreitkräfte" (eine der schwie-rigsten Aufgaben sogar für die reguläre Truppe) wurde noch nicht gelöst.Aber sie wurde gestellt, und alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Odes-saer Ereignisse kein Einzelfall bleiben werden. Der Moskauer Streik zeigtuns die Ausdehnung des Kampf es auf ein „echt russisches" Gebiet, dessenStabilität die Reaktionäre so lange erfreut ha tte. Die revolutionäre Aktionin diesem Bezirk ist schon deshalb von gewaltiger Bedeutung, weil dortProletariermassen die Feuertaufe erhalten, die am unbeweglichsten undzugleich auf einem verhältnismäßig kleinen Raum in solcher Anzahlkonzentriert sind wie nirgendwo sonst in Rußland. D ie Bewegung begannin Petersburg, erfaßte die Randgebiete ganz Rußlands, mobilisierte Riga,Polen, Odessa, den Kaukasus, und jetzt ist der Brand auf das innerste

„Herz" Rußlands übergesprungen.

Die schändliche Komödie der Reichsduma erscheint angesichts dieserwirklich revolutionären Aktion der kampfentschlossenen und wahrhaftfortgeschrittenen Klasse noch verächtlicher. Die Vereinigung des Proleta-riats mit der revolutionären Demokratie, von der wir schon des öfterengesprochen haben, wird zur Tatsache. Die radikale Studentenschaft, diein. Petersburg und in Moskau die Losungen der revolutionären Sozial-demokratie aufgegriffen hat, ist die Avantgarde aller demokratischenKräfte, die die Niedertracht der in die Reichsduma gehenden „konstitu-tionell-demokratischen" Reformer verabscheuen und sich zum wirklichentscheidenden Kampf gegen den verfluchten Feind des russischen Volkeshingezogen fühlen, nicht aber zum Kuhhandel mit der Selbstherrschaft.

Man betrachte sich alle diese liberalen' Professoren, Rektoren, Prorek-toren und die ganze Gesellschaft dieser Trubezkoi, M anuilow u. a. mDas sind doch die besten Leute des Liberalismus und der Konstitutionell-Demokratischen Partei, die idealistischsten, die gebildetsten, die uneigen-

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nützigsten, die vom unmittelbaren D ruck der Interessen un d de r Einflüsse

des Geldsacks am wenigsten abhängigen Leute. Und wie verhalten sichdiese besten Leute? W ie haben sie die erste Macht, die ihnen durch W ah-len in die Hand gegeben wurde, die Macht der Universitätsverwaltungausgenützt? Sie zittern schon vor der Revolution, sie fürchten die Ver-schärfung und Ausweitung der Bewegung, sie löschen schon den Brandund bemühen sich um die Beschwichtigung der Gemüter, wofür sie dievollauf verdiente Ohrfeige, nämlich das Lob der Fürsten Meschtscherskierhalten.

Und sie wurden gebührend bestraft, diese Philister der bürgerlichen

Wissenschaft. Sie schlössen die Universität in Mo skau , weil sie ein Gem et-zel in der Universität befürchteten. Sie riefen dadurch nur noch rascherein viel größeres Gemetzel auf der Straße hervor. Sie wollten die Revo-lution in der Universität ersticken und entfachten nur die Revolution aufder Straße. Sie sind gehörig in die Klemme geraten, zusammen mit denHerren Trepow und Romanow, die sie jetzt händeringend von der Not-wendigkeit der Versammlungsfreiheit zu überzeugen suchen: schließt mandie Universität, so eröffnet man den Straßenkampf; öffnet man die Uni-versität, so eröffnet man eine Tribüne für revolutionäre Volksversamm-

lungen, die neue und noch entschlossenere Freiheitskämpfer hervorbrin-gen werden.

W ie unendlich lehrreich ist das Beispiel dieser liberalen P rofessoren fürdie Beurteilung unserer Reichsduma! Ist es jetzt, nach der Erfahrung mitden Hochschulen, nicht klar, daß die Liberalen und die Kadetten um das„Schicksal der Duma" ebenso bangen werden, wie diese traurigen Rittervon der Dreigroschenwissenschaft um das „Schicksal der Universitäten"bangen? Ist es jetzt nicht klar, daß die Liberalen und die Kadetten dieDuma zu nichts anderem ausnutzen können als zu einem noch breiteren

und noch widerlicheren Predigen des friedlichen, legalen Fortschritts? Istes jetzt nicht klar, wie lächerlich die Hoffnungen auf die Umwandlungder Duma in eine revolutionäre Versammlung sind? Ist es nicht klar,daß es nur eine Methode gibt, nicht speziell auf die Duma, nichtspeziell auf die Universitäten, sondern auf die ganze alte autokratischeOrdnung „einzuwirken", nämlich die Methode der Moskauer Arbeiter,die Methode des Volksaufstands? Er allein wird nicht nur bewirken, daßdie Manuilow in den Universitäten um Versammlungsfreiheit bitten und

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Politisier Streik und Straßenkampf in M oskau 353

die Petrunkewitsch in der Duma um Volksfreiheit bitten; er wird dem

Volk die wirkliche Freiheit erkämpfen.Die Moskauer Ereignisse haben die wirkliche Gruppierun g der gesell-

schaftlichen Kräfte gezeigt: Die Liberalen sind von der Regierung zu denRadikalen gerannt, um diesen den revolutionären Kampf auszureden. DieRadikalen hab en in den Reihen des Proletariats gekämpft. Vergessen wirdiese Lehre nicht: sie bezieht sich auch unm ittelbar auf die Reichsduma.

Mögen sich die Petrunkewitsch und die sonstigen Kadetten im Rußlandder Selbstherrschaft mit Parlamentsspielerei abgeben — die Arbeiter wer-den den revolutionären Kampf für die wahre Volksherrschaft führen.

W ie der Ausbruch des Aufstands in Moskau auch enden mag, die revo -lutionäre Bewegung wird jetzt jedenfalls noch kraftvoller auftreten, einnoch breiteres Gebiet umfassen und neue Kräfte sammeln. Selbst an -genommen, daß die zaristischen Truppen in Moskau jetzt einen vollenSieg feiern — noch einige solcher Siege, und der völlige Zusammenbruchdes Zarismus wird zur Tatsache. Un d das wird dann ein wirklicher, wah-rer Zusammenbruch alles dessen sein, was die Leibeigenschaft, die Selbst-herrschaft und die schwarze Reaktion hinterlassen haben, und nicht jenesschwächliche, feige und heuchlerische Flicken von faulendem Plunder, mitdem d ie liberalen Bourgeois sich und andere täuschen. Selbst angenommen,daß d ie morgige Post die schwere Nachricht bringt: der Ausbruch des Auf-stands ist noch einmal unterdrückt worden. W ir werden dann ausrufen:Noch einmal — es lebe der Aufstand!

„Proletari" N r. 21, Nach dem 7ext des „Proletari".17. (i.) Oktober i9O5.

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DAS LETZTE WORT DER „ISKRISTISCHEN" TAKTIKODER EINE WAHLKOMÖDIE ALS NEUER IMPULS,

DER ZUM AUFSTAND ANREGT

Wir haben schon wiederholt von der Unhaltbarkeit der iskristischenTaktik in der „Duma"kampagne gesprochen. Unhaltbar sind die beidenHauptpunkte dieser Tak tik: einmal das Bestreben, die in die Duma gehen-den Oswoboshdenzen auf G rund bestimmter revolutionärer Verpflichtun-gen zu unterstützen, zum andern die Verkündung der Losung „revolutio-näre Selbstverwaltung der Bürger" und die Aufforderung, allgemeineVolkswahlen zur konstituierenden Versammlung unter der Selbstherr-schaft vorzunehmen. Jetzt haben wir endlich in der Resolution der „Süd-russischen konstituierenden (?) Konferenz" der Menschewiki einen Ver-

such, die iskristische Taktik genau und authentisch zu formulieren. Aufdieser Konferenz waren die besten Kräfte der Neuiskristen in Rußlandvertreten. Die Resolution versucht, rein praktische Ratschläge an das Pro-letariat sachlich darzulegen. Eben deshalb ist eine gründliche Analyse die-ser Resolution sowohl vom Gesichtspunkt der Herausbildung einer be-stimmten Praxis als auch für die Beurteilung der gesamten taktischen Po-sition der „Iskra" als Ganzes dringend notwendig.

Hier der volle Wortlaut der Resolution:

Resolution der konstituierenden Konferenz der Süd russisdben Organ isa-tionen über die Heidbsduma. Da die Konferenz als einzigen, den Interessen desganzen Volkes entsprechenden Ausweg aus der gegenwärtigen schweren Lagedie Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund des allge-meinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zur Liquidierung desabsolutistischen Regimes und zur Errichtung einer demokratischen Republiksieht, die vor allem vom Proletariat im Interesse seines Kampfes gegen alleGrundlagen der bürgerlichen Ordnung und für die Verwirklichung des Sozia-lismus gebraucht wird, und in der Erwägung,

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Das letzte W ort der „iskristisdien" 7aktik 355

1. daß das System der Wahlen zur Reichsduma nicht dem ganzen Volk die

Möglichkeit bietet, daran teilzunehmen, wobei das Proletariat infolge des hohenVermögenszensus für die Stadtbewohner des Wahlrechts völlig beraubt ist,während die Bauernschaft, tmd auch das nur zum Teil, auf Grund eines Vier-stufenwahlsystems stimmen wird, das dem administrativen Druck auf dieBauern weitesten Spielraum gibt;

2. daß ganz Rußland nach wie vor alle notwendigen bürgerlichen Freiheitenentbehrt, ohne die eine Wahlagitation und folglich die Durchführung auch nureinigermaßen korrekter Wahlen unmöglich ist, und daß im Gegenteil die ad-ministrative Willkür jetzt überall mehr denn je herrscht und über ein großesGebiet nach dem anderen der Belagerungszustand verhängt wird;

und schließlich 3. da ß für alle Randgebiete ein noch karika turenhafteres Ver-tretungssystem ausgearbeitet wird —

schlägt die Konferenz allen Organisationen vor, die energischste Agitationzu entfalten, um den ganzen karikaturenhaften Charakter dieser Vertretungaufzudecken, mit der die absolutistische Regierung das Volk zu betrügen ge-denkt, und erklärt jeden für einen bewußten Verräter am Volk, der bereit ist,sich mit der Reichsduma zufriedenzugeben, und sich nicht die Aufgabe stellt,im gegenwärtigen entscheidenden Augenblick durch seine Handlungen undseine Taktik die Forderung des revolutionären Volkes nach Einberufung einerkonstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten

und geheimen Wahlrechts zu unterstützen.Zwecks raschester Verwirklichung der erwähnten Forderungen empfiehlt dieSüdrussische Konferenz den Parteiorganisationen folgende Taktik:

1. Unter dem Arbeiterproletariat und der Bauernmasse ist eine energischeAgitation einzuleiten für die Schaffung breiter demokratischer Organisationenund ihre Vereinigung in einer gesamtrussischen Organisation zum energischenKampf gegen die Reichsduma und für die Verwirklichung einer vom ganzenVolk gewählten konstituierenden Versammlung bei ungesäumter Einführungder Rede-, Presse-, Versamm lungs-, Koalitions- und Streikfreiheit. — Die Schaf-fung dieser gesamtrussischen Volksorganisation soll erfolgen auf dem Wege

der Bildung von Agitationskomitees, die von den Arbeitern einzelner Fabrikenund Werke gewählt werden, und der Vereinigung dieser Agitationskomitees;der Gründung entsprechender Agitationskomitees unter der Bauernschaft; derHerstellung einer engeren Verbindung zwischen den städtischen und den bäuer-lichen Komitees; der Bildung von Gouvernementskomitees und der Herstellungvon Verbindungen zwischen ihnen.

2. Wenn diese Organisation.genügend Kraft hat und in der Arbeitermassedie entsprechende Stimmung vorhanden ist, soll bei Eröffnung der Wahlkam-

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356 TV. 3. Centn

pagne an die Organisierung allgemeiner Volkswahlen zur konstituierenden

Versammlung gegangen werden, wobei zu beachten ist, daß die auf die Ver-wirklichung dieser Wahlen gerichtete organisierte Volksbewegung als natür-licher Obergang zum allgemeinen Volksaufstand gegen den Zarismus dienenkann, da dessen unvermeidlicher Widerstand und der Zusammenstoß mit ihmauf Grund der Durchführung der Wahlen neue Impulse, die zum Aufstandanregen, schaffen und die vorausgegangene Organisation des Volkes ihm all-gemeine Verbreitung und Einheitlichkeit sichern wird.

3. Zugleich schlägt die Konferenz vor, die Freiheit der Wahlversammlungenzu erkämpfen, und empfiehlt eine energische Einmischung in die Wahlkam-pagne, die Einmischung des Volkes in die Versammlungen der Wahlmänner

und die Erörterung jener Aufgaben, die vor den in die Reichsduma z u w ählen-den Vertretern stehen, durch die W ahlm änner in großen Volksversamm lungen.Dabei muß die sozialdemokratische Partei danach trachten, die wahlberechtig-ten Bevölkerungsschichten auf den revolutionären Weg zu bringen, was ent-weder in ihrem Anschluß an den von den demokratischen Organisationen desVolkes geleiteten Aufstand oder, falls ein solcher ausbleibt, in dem Bestrebenzum Ausdruck kommen kann, die sich formierende Reichsduma in eine revo-lutionäre Versammlung zur Einberufung einer vom ganzen Volk gewähltenkonstituierenden Versammlung umzuw andeln, oder aber bei deren Einberufungdurch die demokratischen Organisationen des Volkes mitzuwirken.

4. Es ist nötig, sich zur Ausübung eines Drucks in derselben Richtung aufdie Reichsduma vorzubereiten, wenn bis zu ihrer endgültigen Einberufung dieVolksbewegung nicht zum Sturz der Selbstherrschaft und zur Organisierungeiner konstituierenden Versammlung führen sollte — sich darauf vorzubereiten,der Reichsduma ein Ultimatum über die Einberufung einer konstituierendenVersammlung und die sofortige Einführung der Rede-, Presse-, Versammlungs-und Koalitionsfreiheit sowie der Volksbewaffnung zu stellen — sich auf dieUnterstützung dieses Ultimatums durch einen politischen Streik und anderebreite Volksaktionen vorzubereiten.

5. Diese ganze Taktik muß von großen Volksversammlungen gebilligt wer-

den, die vor und während der Wahlkampagne unter dem Proletariat und derBauernschaft zu organisieren sind.

Wir wollen uns bei den redaktionellen Mängeln der Resolution, die anWeitschweifigkeit leidet, nicht aufhalten, und uns direkt den grundlegen-den Fehlern zuwend en.

1. Im einleitenden Teil ist von dem einzigen Ausweg aus der gegen-wärtigen Lage die Rede. Dabei wird das ganze Schwergewicht auf den

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Das letzte Wort der „iskrististhen" Taktik 357

Begriff der konstituierenden Versammlung verlegt und kein W ort darüber

verloren, von wem diese einberufen werden soll, damit dieser „Ausweg"nicht nur in W orten, sondern in der 7at zu einem Ausweg gemacht wird .Dieses Verschweigen bedeutet, daß die Sozialdemokraten vor den Oswo-boshdenzen die Segel streichen. W ir haben schon wiederholt darauf hin-gewiesen, daß gerade die Interessen der monarchistischen liberalen Bour-geoisie die Oswoboshdenzen zwingen, sich auf die Einberufung einer all-gemeinen konstituierenden Versammlung zu beschränken und dabei zuverschweigen, von wem sie einberufen werden soll. W ir haben w iederholtdarauf hingewiesen, daß gerade diese Frage von der sich entwickelndenRevolution bereits in den Vordergrund gerückt worden ist und daß geradedarin jetzt der grundlegende Unterschied zwischen der opportunistischen(„Vereinbarungs"-)Taktik der Bourgeoisie und der revolutionären Taktikdes Proletariats besteht. Die Neuiskristen haben jetzt m it ihrer Resolutionden dokumentarischen Beweis geliefert, daß sie in den grundlegenden Fra-gen der Taktik an unheilbarer Blindheit leiden und auf das Niveau derLosungen der Oswoboshdenzen hinabsinken.

Durch den weiteren Inhalt der Resolution wird die Frage der Einberu-fung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlungnoch mehr verwirrt.Die Predigt,wonach man diesbezüglich auf die Reichs-duma hoffen solle, ist direkt eine reaktionäre Predigt, und die Einberufungder konstituierenden Versammlung durch eine „demokratische Organi-sation des Volkes" hat die gleiche Bedeutung, als schlügen wir vor, diekonstituierende Versammlung durch ein Komitee von Volksfreunden ein-zuberufen, die auf dem Mars wohnen. — Die Neuiskristen haben auf ihrergesamtrussischen Konferenz den unverzeihlichen Fehler gemacht, die Ein-berufung einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versamm-lung durch eine revolutionäre Regierung mit ihrer Einberufung durch eineVertretungskörperschaft auf die gleidbe Stufe zu stellen. Jetzt sind die

Neuiskristen noch weiter zurückgegangen: sie haben sich über die provi-sorische revolutionäre Regierung überhaupt ausgeschwiegen. Warum?Aus welchem Grund? W orin haben sich ihre Ansichten g eändert? All dasbleibt ein Geheimnis. Anstatt taktische Direktiven auszuarbeiten, gebendie Menschewiki auf ihren Konferenzen nur Musterbeispiele von Sprün-gen und Schwankungen bald nach rechts, bald nach links.

2. „Jeden für einen bewußten V erräter am Volk erklären, der bereit ist,

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358 W. J.Lenin

sich mit der Reichsduma zufriedenzugeben" usw. — das ist gerade ein sol-

cher Sprung angeblich nach links, und dabei ein Spru ng nicht zum wirklichrevolutionären Weg, sondern zur revolutionären Phrase. Erstens, wozudieses starke Wort vom „bewußten" (Verräter) ? W ar Johann Jacobi, der1847 als bürgerlicher Liberaler in die Reichsduma, nämlich in den Ver-einigten Landtag ging und nach dem Krieg von 1870/71 zu den Sozial-demokraten übertrat, ein bewußter Verräter am Volk? Wird jeder Bauer,der in die Duma geht und „bereit" ist, sich mit sehr, sehr wenigem zu-friedenzugeben, ein bewußter Verräter sein? Zweitens, ist das hier auf-gestellte Kriterium des V errats: wer bereit ist, sich zufriedenzugeben, wer

sich nicht die Aufgabe stellt usw., vernünftig? Wodurch wird d ie „Bereit-schaft" und die „Aufgabenstellung" bewiesen, durch Worte oder durchTaten? Wenn durch Worte, dann muß man von den in die Reichsdumagehenden Kadetten (den „konstitutionellen Demokraten", wie sich dieOswoboshdenzen jetzt nennen) einen Revers oder eine revolutionäre Ver-pflichtung verlangen (Parvus, Tscherewanin, Martow). Dann muß die Re-solution diesen Gedanken klar zum Ausdruck bringen und darf nicht Sandin die Augen streuen. Wenn aber die „Bereitschaft" durch Taten bewiesenwird , warum sagt dann die Resolution nicht klipp und k lar, was für „Hand-lungen" in ihren Augen die Bereitschaft beweisen? W eil sich in der Reso-

lution der Grundfehler der neuen „Iskra" widerspiegelt, die es nicht ver-steht, die Grenzlinie zwischen der revolutionären Demokratie und dermonarchistisch-liberalen Demokratie zu ziehen. Drittens, ist es von einerkämpfenden Partei vernünftig, allgemein von Personen („jeder, der") undnicht konkret von Richtungen oder Parteien zu sprechen? Für uns ist esjetzt besonders wichtig, eine bestimmte Richtung, nämlich die Partei derKadetten, die uns bereits durch ihre „Handlungen" gezeigt hat, welcheForderungen sie unterstützt und wie sie das tut, vor dem Proletariat zuentlarven. Sich im Namen der sozialdemokratischen O rganisationen an die

Arbeiter zu w enden, ihnen von denen, die in die Duma gehen, von den en,die zur D uma w ählen u. a. m. zu reden und sich dabei über die Partei derKadetten (oder die Oswoboshdenzen, was dasselbe ist) auszuschwei-gen, das heißt entweder unwürdige Winkelzüge und Kniffe anwenden(während man hinter den Kulissen mit den Oswoboshdenzen ein Ab-kommen über ihre Unterstützung zu den von Parvus oder Tscherewaninaufgestellten Bedingungen trifft) oder aus Unvernunft die Reihen d er

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T)as letzte Wort der Jskristisdben" 7ak.Uk 359

Arbeiter demoralisieren und auf den Kampf gegen die Kadetten ver-

zichten.Die historischen Tatsachen über die Tätigkeit des „Oswoboshdenije",der Oswoboshdenzen, Semstwoleute und sonstigen Kadetten, sind das ein-zige ernsthafte Material, auf Grund dessen wir die „Bereitschaft" derDemokraten aus der Bourgeoisie, gemeinsam mit dem Volk zu kämpfen,beurteilen können. Die Neuiskristen schieben dieses Material beiseite undziehen sich mit inhaltslosen Phrasen aus der Affäre. Und da will uns Ple-chanow noch weismachen, da ß die organisatorische Verschwommenheit inden Ansichten der „Iskra" nicht durch taktische Verschwommenheit er-

gänzt w ird!Die Iskristen haben ja in Wirklichkeit nicht nur die Augen verschlossenvor der „Bereitschaft" der Kadetten, Verrat zu begehen, die durch dereneindeutige, von allen vermerkte Rechtswendung zwischen der Semstwo-tagung im Juli und der im September bewiesen worden ist, sie haben die-sen Kadetten durch ihren Kampf gegen den Boykott sogar geholfenl Denhypothetischen O swoboshdenzen („jeder, der bereit ist" usw.) drohen dieIskristen mit „furchtbar schrecklichen" Worten, den realen Oswoboshden-zen aber helfen sie durch ihre Taktik. Das ist durchaus im Geiste desHerrn Roditschew, eines Führers der Kadetten, der donnert: „Wir neh-men die Freiheit nicht aus Händen, die vom Blute des Volkes gerötet sind!"(diese Phrase, von Herrn Roditschew in einer privaten Zusammenkunftgegen W. Stead gebraucht, macht jetzt die Runde durch alle ausländischenZeitungen) — zur gleichen Zeit aber die Einberufung einer vom ganzenVolk gewählten konstituierenden Versammlung gerade durch diese Händefordert.

3. Der nächste fundamentale Fehler der Resolution besteht in der Lo-sung „Schaffung breiter demokratischer Organisationen und ihre Vereini-gung in einer gesamtrussischen Organisation". Der Leichtsinn von Sozial-demokraten, die eine solche Losung aufstellen, ist geradezu erstaunlich. W asbedeutet das: Schaffung von breiten demokratischen Organisationen? Daskann nur eines von zweien bedeu ten: entweder das Aufgehen der Organi-sation der Sozialisten (der SDAPR) in einer Organisation der Demokra-ten (das können die Neuiskristen nicht bewußt wollen, denn das wärevölliger Verrat am Proletariat) oder die zeitweilige Vereinigung der So-zialdemokraten mit bestimmten Schichten der bürgerlichen Demokraten.

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360 W. 1 Lenin

Wenn die Neuiskristen eine solche Vereinigung predigen wollen, warum

sagen sie es dann nicht direkt und offen? Wozu verstecken sie sich hinterdem Wörtchen „Schaffung"? Weshalb geben sie nicht genau die Richtun-gen oder Gruppen innerhalb der bürgerlichen Demokratie an, von denensie wünschen, daß sich die Sozialdemokratie mit ihnen vereinigt? Ist dasetwa nicht ein neues Musterbeispiel unverzeihlicher taktischer Verschwom-menheit, die in Wirklichkeit die Arbeiterklasse unvermeidlich in ein An-hängsel der bürgerlichen Demokratie verwandelt?

Der Charakter dieser „breiten demokratischen Organisationen" wird inder Resolution einzig und allein durch den Hinweis auf ihre beiden Ziele

bestimmt, nämlich den Kampf 1. gegen die Reichsduma und 2. für einevom ganzen Volk gewählte konstituierende Versammlung. Das zweiteZiel haben die Kadetten in der lendenlahmen iskristischen Formulierung,d. h. ohne den Hinweis darauf, wer diese konstituierende Versammlungeinberufen soll, vollauf anerkannt. Also predigen die Iskristen die Ver-einigung der Sozialdemokraten mit den Kadetten, schämen sich aber, dasoffen zu sagen?? Das erste Ziel ist so unklar formuliert, wie wir es sonstnur bei den russischen Gesetzen gewöhnt sind, die das Publikum absicht-lich irreführen. Was bedeutet Kampf gegen die Reichsduma? Buchstäb-

lich verstanden und angenommen, daß sich die Urheber der Resolutionnicht zweideutig ausdrücken wollen, bedeu tet das den Dumaboykott; denngegen eine Einrichtung kämpfen, die noch nicht besteht, heißt sich ihrerEntstehung widersetzen. Wir wissen aber, daß die Iskristen gegen denBoykott sind, wir ersehen aus der Resolution selbst, daß sie weiter untenschon nicht mehr vom Kampf gegen die Reichsduma sprechen, sondern voneinem Druck auf die Reichsduma, von dem Bestreben, die Reichsduma ineine revolutionäre Versammlung umzuwandeln, u. dgl. m. Die W orte„Kampf gegen die Reichsduma" sind demnach nicht buchstäblich, nicht im

engeren Sinne zu verstehen. Ist dem aber so, in welchem Sinne sind siedann zu verstehen? Vielleicht im Sinne des Herrn M. Kowalewski, derReferate m it einer Kritik an der Reichsduma hält? W as soll man eigentlichals Kampf gegen die Reichsduma bezeichnen?? Das bleibt ein Geheimnis.Unsere Wirrköpfe haben absolut nichts Bestimmtes darüber gesagt. Da siedie Stimmung der klassenbewußten Arbeiter, ihre unbedingt feindseligeEinstellung zur Taktik von Abkommen mit den Kadetten, zur Taktik derUnterstützung der Duma unter bestimmten Bedingungen kennen, haben

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Das letzte Wort der „iskristisdben" Jaktik 361

unsere Neuiskristen feige den Mittelweg gewählt: einerseits wiederholen

sie die im Proletariat populäre Losung „Kampf gegen die Reichsduma",anderseits nehme n sie dieser Losung jeden präzisen Sinn, streuen sie Sandin die Augen, legen sie den Kampf gegen die Duma im Sinne eines Drucksauf die Dum a aus u. dgl. m. U n d dieser jämm erliche W irrw arr wird vonden einflußreichsten Orga nisationen der Iskristen zu einem Zeitpu nkt p ro-pagiert, da die Osw obos hden zen, sich in die Brust werfend, in ganz Europaausposa unen, da ß sie nur u m des Kampfes willen, einzig un d allein um, desKampfes willen in die Reichsduma gehen und zum völligen Bruch mit derRegierung „bereit" sind!

Wir fragen die Leser: Hat man schon jemals eine schmählichere Wan-kelmütigkeit in der Taktik der Sozialdemokratie gesehen? Kann man sichetwas vorstellen, das verhängnisvoller für die Sozialdemokratie wäre alsdiese Predigt der „Schaffung breiter demokratischer Organisationen" ge-

meinsam mit den Oswobosbdenzen (denn die Kadetten sind mit den vonden Iskristen dargelegten Zielen solcher Organisationen einverstanden),ohne dabei die Oswoboshdenzen direkt zu nennen??

Und Plechanow, der sich mit seiner fast zweijährigen Verteidigung deriskristischen „organisatorischen Verschwommenheit" in den Augen aller

russischen revolutionären Sozialdemokraten diskreditiert hat, wird unsjetzt versichern, die neuiskristische Taktik sei gut!. . .

4. Weiter. Es ist äußerst unvernünftig, die Vereinigung von breiten(und verschwommenen) demokratischen Organisationen als „gesamtrussi-sche Volksorganisation" oder „demokratische Organisation des Volkes"zu bezeichnen. D as ist vor allem theoretisch falsch. Die Ö kon om isten sün-digten bekanntlich darin, d aß sie Partei un d K lasse verwechselten. Di e Is-kristen erwecken die alten Fehler zu neuem Leben, indem sie jetzt dieSumme der demokratischen Parteien oder Organisationen mit der Orga-

nisation des Volkes verwechseln. Das ist eine hohle, verlogene, schädlichePhrase. Sie ist hohl, denn sie enthält keinen bestimmten Sinn, weil in ihrder Hinweis auf bestimmte demokratische Parteien oder Richtungen fehlt.Sie ist verloge n, de nn in de r kapitalistischen Gesellschaft ist selbst die fo rt-geschrittenste Klasse, das Proletariat, nicht imstande, eine Partei zu schaf-

fen, welche die ganze Klasse umfa ßt, vom ganze n Volk gar nicht zu red en.Sie ist schädlich, denn sie verwirrt die Köpfe mit einem lauten Schlagwort,anstatt die reale Arbeit zur Klarstellung der wirklichen Bedeutung der

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wirklich demokratischen Parteien, ihrer Klassengrundlage, ihrer loseren

oder engeren Verbindung mit dem Proletariat usw. in den Vordergrundzu stellen. Gerade jetzt, in der Epoche der demokratischen Revolution, dieihre m gesellschaftlich-ökonomischen Inha lt nach bürge rlich ist, zeigt sicheine besonders starke Neigung der bürgerlichen Demokraten, aller dieserKadetten usw. bis zu den Sozialrevolutionären einschließlich, „breitedemokratische Organisationen" zu propagieren und überhaupt die Partei-losigkeit, d. h. das Nichtvorhandensein strenger Teilungen unter den De-mokraten direkt oder indirekt, offen oder geheim zu begünstigen. Die poli-tisch bewußten Vertreter des Proletariats müssen diese Tendenz entschie-

den und rücksichtslos bekämpfen, denn sie ist ihrem Wesen nach durchund durch bürgerlich. Wir müssen die genauen Parteiunterschiede in denVo rdergru nd rücken, jede Konfusion bloßstellen und die Verlogenheit derPhrasen von einem angeblich einheitlichen, solidarischen, breiten Demo-kratismus aufdecken, von denen es in unserer liberalen Presse wimmelt.Schlagen wir die Vereinigung mit bestimmten Schichten der Demokratiefür bestimmte Aufgaben vor, so dürfen wir, besonders in einer Zeit wiejetzt, nur die revolutionäre Demokratie dafür auswählen, und wir müssendie Merkmale zeigen, nach denen man diejenigen, die „bereit" sind zu

kämpfen (jetzt schon in den Reihen der revolutionären Armee), am klar-sten von jenen abgrenzen kann, die „bereit" sind, mit der Selbstherrschaftzu feilschen.

Um den Iskristen ihren Fehler anschaulicher vor Augen zu führen, wol-len wir ein einfacheres Beispiel nehmen. Unser Programm spricht vonBau ernkom itees. Die Resolution des III. Parteitag s der SDA PR definiertihre Bedeutung genauer und bezeichnet sie als revolutionäre Bauern-komitees. (In dieser Hinsicht stimmte im Grunde auch die neuiskristischeKonferenz mit dem III. Parteitag überein.) W ir stellten diesen K omitees

die Aufgabe, die demokratischen Umgestaltungen im allgemeinen und dieagrarischen im besonderen , einsdiUeßUäi der Konfiskation des Großgrund-besitzes, auf revolutionärem IVege zu verwirklichen. Jetzt empfehlen dieIskristen in der Resolution noch neue „Agitationskomitees unter derBauernschaft". Das ist ein Rat, der nicht sozialistischer Arbeiter, sondernliberaler Bourgeois würdig ist. Solche „bäuerliche Agitationskomitees"würden, wenn man sie schüfe, ausschließlich den Oswoboshdenzen in dieHände arbeiten, denn ihr revolut ionärer Charakter würde durch einen

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Das letzte Wort der „iskristisdben" 7aktik 363

liberalen ersetzt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß der Inhalt

der Agitation dieser Agitationskomitees, wie er von den Iskristen definiertwird (Kampf „gegen" die Reichsduma und für eine vom ganzen Volk ge-wählte konstituierende Versammlung), nicht über den Rahmen des Pro-gramms der Oswoboshdenzen hinausgeht. Ist es den Neuiskristen jetztklar, daß sie, wenn sie die Losung der revolutionären Bauernkomiteesdurch die Losung der „bäuerlichen Agitationskomitees" ergänzen, die so-zialdemokratischen Losungen in Oswoboshdenzen-Losungen verwandeln?

5. Schließlich kommen wir zur Hauptaufgabe dieser „gesamtrussischenVolksorganisation" — zur Organisierung allgemeiner Volkswahlen in die

konstituierende Versammlung. Allgemeine Volkswahlen — unte r Beibehal-tung der Selbstherrschaft! Und „Zusammenstöße" mit der Selbstherr-schaft schaffen „neue Impulse, die zum Aufstand anreg en" . . . Das ist für-wahr eine Wahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt!

Die Losung der „revolutionären Selbstverwaltung" und die Theorievon der „Selbstentstehung" der konstituierenden Versammlung haben un-vermeidlich zu diesem Unsinn geführt, dem es bestimmt ist, klassisch zuwerden. Von allgemeinen Volkswahlen unter der Herrschaft der Trepow,d. h. vor dem Sieg des Aufstands, vor dem faktischen Sturz der Zaren-

macht zu sprechen, ist schlimmste Manilowerei, die nur geeignet ist, inden Köpfen der Arbeiter eine heillose politische Verwirrung zu erzeugen.Nur Leute, die sich unter dem Einfluß der neuen „Iskra" an die Herr-schaft der Phrase gewöhnt haben, können solche Losungen hinnehmen,die bei der ersten Berührung mit nüchterner Kritik in alle Winde zerstie-ben. Man braucht nur ein klein wenig darüber nachzudenken, was all-gemeine Volkswahlen in der ernsten Bedeutung dieser Worte sind, manbraucht sich nur zu erinnern, daß sie sowohl Agitationsfreiheit erfordernals auch die Unterrich tung der gesamten Bevölkerung und die Zustimmung

der gesamten Bevölkerung hinsichtlich einer solchen Zentralstelle odersolcher lokaler Zentren, die Listen der gesamten Bevölkerung aufstellenund eine Befragung wirklich aller ohne Ausnahme durchführen — manbraucht darüber nur ein ganz klein wenig nachzudenken, um in den vonder „Iskra" projektierten „allgemeinen Volkswahlen" eine allgemeineVolksbelustigung oder einen allgemeinen Volksbetrag zu sehen. Nicht eineinziger Deputierter, der auch nur halbwegs den Namen eines „vom gan-zen Volk Gewählten" verdient, d. h. der 50000 bis 100000 wirklich frei

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und bewußt abgegebene Stimmen auf sich vereinigt, nicht ein einziger sol-

cher Deputierte r kann irgendwo in Rußland „bei. Eröffnung der W ahl-kampagne" gewählt werden.

Die iskristische Resolution rät dem Proletariat, eine Komödie aufzu-führen, und keine Klauseln und keine Ausflüchte ändern den Sinn dieserkomödiantenhaften Resolution. Man sagt uns, daß man die Wahlen nurdann durchführen werde, wenn „die Organisation genügend Kraft hat",und nur dann, wenn „die vorausgegangene Organisation ihm" (dem Auf-stand) „allgemeine Verbreitung und Einheitlichkeit sichern wird". Wirantworten: Kraft wird durch Taten und nicht durch W orte bewiesen. Vor

dem Sieg des Aufstands ist es einfach lächerlich, von einer Kraft zu reden,die imstande wäre, ohne Spott herauszufordern, „allgemeine Volks-wahlen" auch nur zu verkünden, geschweige denn durchzuführen. DenSieg des Aufstands kann keinerlei allgemeine Verbreitung und Einheitlich-keit einer .Organisation „sichern", wenn 1. diese Organisation nicht ausLeuten besteht, die wirklich zum A ufstand fähig sind (wir haben aber ge-sehen, daß die Resolution einfach „bre ite", d. h. in Wirklichkeit Oswobosh-denzen-Organisationen predigt, die den Aufstand, falls er begänne, un-bedingt verraten würden) und wenn 2. die Kraft für den Sieg des Auf-

stands nicht ausreicht (und für den Sieg ist außer der moralischen Kraftder öffentlichen Meinung, des Volkswohls u. a. m. die materielle Krafteiner revolutionären Armee erforderlich). Die moralische Kraft, diese lau-ten Worte vom „ganzen Volk" in den Vordergrund zu rücken und ineinem Kampfaufruf von der unm ittelbaren m ateriellen Kraft zu schwei-gen, das heißt die revolutionären Losungen des Proletariats zur bürgerlich-demokratischen Phrase herabwürdigen.-

Eine Wahlkomödie bildet eben nicht einen „natürlichen", sondern einenkünstlichen Übergang zum Aufstand, einen Übergang, der von einer

Handvoll Intellektueller ersonnen ist. Solche künstlichen Übergänge aus-zudenken, ist eine Beschäftigung, die aufs Haar der alten BeschäftigungNadeshdins gleicht: dem Austüfteln des „exzitierenden" Terro rs. Die Neu-iskristen wollen das Volk ebenfalls künstlich zum Aufstand „exzitieren"oder aufrütteln — eine Idee, die grundfalsch ist. Eine wirkliche Organisa-tion des ganzen Volkes können w ir nicht schaffen; sollte es uns einfallen,unter der Selbstherrschaft Wahlen anzusetzen, so müßten diese un-weigerlich eine Komödie bleiben, und einen solchen ausgedachten Anlaß

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Das letzte W ort der „iskristisöben" Jaktik 365

zu einem Aufstand ausnützen ist das gleiche, als wollte man den Auf-

stand in einem Augenblick dekretieren, da es im Volk keine wirkliche Er-regung gibt. Nur Leute, die nicht an die revolutionäre Aktivität des Pro-letariats glauben, nur Intellektuelle, die sich von Schlagworten blendenlassen, konnten im September 1905 „neue Impulse, die zum Aufstand an-regen ", ersinnen. Als gäbe es bei uns in R ußland wenig wirklidhe und nichtkomödiantenhafte Anlässe zu einem Aufstand, als gäbe es wenig Fällewirklicher und nicht inszenierte r, nicht verfälschter Erregung der Massen!Eine Wahlkomödie wird die M assen nie erregen. Ab er ein Streik oder eineDemonstration, eine Militärrevolte oder ernste Studentenunruhen, eine

Hungersnot oder eine Mobilmachung, ein Konflikt in der Reichsdumausw. usw . usf. — das alles kann die Massen täglich und stündlich wirklich er-regen. Nicht allein der Gedanke, man könne „neue Impulse, die zum Auf-stand anregen", erfinden, ist eine Riesendummheit, sondern bereits derGedanke, man könne im vorhinein sagen, daß nur dieser und nicht auchjener Anlaß die Massen erregen wird, ist unvernünftig. Leute mit einwenig Selbstachtung, die ihre eigenen Worte halbwegs ernst nehmen, w er-den sich nie erlauben, „neue Impulse, die zum Aufstand anregen", zu er-sinnen.

Nicht an „neuen Impulsen" mangelt es, meine verehrten Manilows,sondern an militärischer Kraft, an der militärischen Kraft des revolutionä-ren Volkes (und nicht des Volkes schlechthin), und diese besteht: 1. ausdem bewaffneten Proletaria t und der bewaffneten Bauernschaft, 2. aus denorganisierten Vortrupps der Vertreter dieser Klassen, 3. aus den Truppen-teilen, die bereit sind, auf die Seite des Volkes überzugehen . Das alles machtzusammen die revolutionäre Armee aus. Vom Aufstand, von seiner Kraft,vom natürlichen Übergang zu ihm zu sprechen und nichts übe r die revolutio-näre Armee zu sagen, ist Unsinn und Konfusion, und zwar um so mehr,

je besser mobilisiert die konterrevolutionäre Armee ist. Sich in der Zeitder Aufstände im Kaukasus, am Schwarzen Meer, in Polen und Riga „neueImpulse, die zum Aufstand anregen", auszudenken heißt sich vorsätzlichabkapseln und von der Bewegung fernhalten. Wir sind Zeugen einer ge-waltigen Gärung unter den Arbeitern und Bauern. Wir sind Zeugen einerReihe von Aufständen , die seit dem 9. Januar ausgebrochen sind und un-ablässig und mit zunehmender Schnelligkeit an Breite, Stärke und Hart-näckigkeit gewinnen. Niemand kann dafür bürgen, daß sich diese Aus-

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366 IV . 1. Lenin

bräche nicht morgen in einer beliebigen Großstadt, in einem beliebigen

Militärlager, in einem beliebigen Dorf wiederholen werden. Im Gegenteil,alle Anzeichen sprechen dafür, daß solche Ausbrüche wahrscheinlich, nahebevorstehend, unvermeidlich sind. Ihr Erfolg hängt ab 1. von den Erfolgender revolutionären Agitation und Organisation — wohlgemerkt der revo-lutionären und nicht der „breiten demokratischen", von der die „Iskra"schwatzt, denn unter den D emokraten gibt es eine Menge von Nichtrevo-lutionären. Ihr Erfolg hängt ab 2. von der Kraft und Bereitschaft der revo-lutionären Armee. Die erste Bedingung ist längst allgemein anerkannt undwird in ganz Rußland von allen Revolutionären buchstäblich in jeder Zir-

kel- und Gruppenversammlung, in jeder Zusammenkunft und Massen-kundgebung verwirklicht. Die zweite Bedingung ist noch viel zuwenig an-erkannt. Die liberale Bourgeoisie will und kann sie kraft ihrer Klassenlagenicht anerkennen. Von den Revolutionären ignorieren sie nur jene, diehoffnungslos im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie einher-trotten.

Aufstand — das ist ein sehr großes W ort . Die Aufforderung zum Auf-stand ist eine äußerst ernste Aufforderung. Je komplizierter die Gesell-schaftsordnung wird, je höher die Organisation der Staatsmacht und je

vollkommener die Militärtechnik ist, desto unzulässiger ist es, eine solcheLosung leichtsinnig auszugeben. Und wir haben mehr als einmal gesagt,daß die revolutionären Sozialdemokraten die Aufstellung dieser Losungseit langem vorbereitet, sie aber als direkte Aufforderung erst dann aus-gegeben haben, als es keinen Zw eifel mehr geben konnte über den Ernst,die Breite und die Tiefe der revolutionären Bewegung, keinen Zweifel dar-über, daß die Dinge im wahren Sinne dieses Wortes ihrer Entscheidungzutreiben. Mit großen W orten muß man behutsam umgehen. Die Schwie-rigkeiten, sie in große Taten umzusetzen, sind kolossal. Doch eben des-

halb wäre es unverzeihlich, wollte man über diese Schwierigkeiten mitPhrasen hinweggehen, vor den ernsten Aufgaben ins Reich ManilowscherHirngespinste flüch ten und sich die Scheuklappen holder Träume von an-geblich „natürlichen Übergängen" zu diesen schwierigen Aufgaben auf-setzen.

Revolutionäre Armee — das ist auch ein sehr großes Wort. Sie zu schaf-fen ist ein schwieriger, komplizierter und langwieriger P rozeß. W enn wiraber sehen, daß dieser Prozeß schon begonnen hat und überall abschnitt-

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Das letzte W ort der „ iskristischen " 7aktik 367"

weise, stückweise vor sich geht, wenn wir wissen, daß ohne eine solche

Armee ein wirklicher Sieg der Revolution unmöglich ist , dann müssen wireine entschiedene und direkte Lo sung aufstellen, sie propagieren un d zumPrüfstein der aktuellen politischen Aufgaben machen. Es wäre falsch zuglauben, daß die revolutionären Klassen immer über genügend Kraft ver-fügen, um einen Umsturz zu bewerkstelligen, wenn dieser auf Grund dergesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung vollauf herangereift ist. Nein,die menschliche Gesellschaft ist nicht so vernünftig eingerichtet und nichtso „bequem" für die fortgeschrittenen Elemente. Der Umsturz kann her-angereift sein, allein die Kräfte der revolutionären Schöpfer dieses Um-

sturzes können sich als ungenügend erweisen, ihn zu bewerkstelligen —dann fault die Gesellschaft, und diese Fäulnis kann Jahrzehnte hindurchandauern. Daß der demokratische Umsturz in Rußland herangereift ist ,steht außer Zweifel. Ob jedoch jetzt schon die Kräfte der revolutionärenKlassen ausreichen, um ihn zu bewerkstelligen, wissen wir nicht. Das wirdder Kampf entscheiden, dessen kritischer Augenblick, wenn nicht eineganze Reihe direkter und indirekter Anzeichen trügt, sich mit Riesen-schritten nähert. D as moralische Üb ergewicht ist unzweifelhaft, die mora -lische Kraft ist schon überwältigend groß; ohne sie könnte natürlich vonkeinerlei U m stu rz auch nu r die Rede sein. Diese Bedingung ist unerläßlich,aber noch nicht ausreichend. Und ob sie in eine materielle Kraft umschla-gen wird, die ausreicht, um den sehr, sehr ernsten (wir wollen uns dasnicht verhehlen) Widerstand der Selbstherrschaft zu brechen — das wirdder Ausgang des Kampfes zeigen. Die Losung des Aufstands bedeutet,daß die Frage durch materielle Kraft entschieden wird — eine solche istaber in der mo dernen europäischen Ku ltur n ur die militärische Kraft. DieseLosung darf nicht ausgegeben werden, solange die allgemeinen Bedingun-gen des Umsturzes nicht herangereift sind, solange die Erregung und dieBereitschaft der Massen zur Tat nicht klar zutage getreten sind und so-

lange die äußeren Umstände nicht zu einer offenkundigen Krise geführthaben. Ist aber eine solche Losung erst einmal aufgestellt, so wäre es ge-radezu schmählich, vor ihr wieder zurückzuschrecken und sich wieder mitder moralischen Kraft, mit einer der Bedingungen, die dem Aufstand denBoden bereiten, mit einem der „möglichen Obergänge" usw. usf. zu be-gnügen. Nein, sind die Würfel einmal gefallen, so muß man alle Aus-flüchte beiseite lassen, so mu ß man den breitesten M assen d irekt un d offen

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"368 W. 1 Lenin

erklären, welches jetzt die praktischen Bedingungen des erfolgreichen Um-

sturzes sind.

Wir haben noch lange nicht alle Fehler der iskristischen Resolution er-schöpft, die für denkende und nicht „nach dem Augenblick haschende"Menschen auf lange Zeit ein trauriges Denkmal der Vulgarisierung dersozialdemo kratischen Au fgaben bleiben w ird. U ns scheint es wichtiger, denHauptquellen der Fehler nachzugehen, als alle, sogar die relativ gering-fügigen Erscheinungen des grundlegenden Fehlers aufzuzählen. Deshalberwähnen wir nur nebenbei das Unsinnige und Reakt ionäre der Idee ,

„Ultimaten" (ein kriegerisches Wort, das nach abgeschmackter Prahlereiklingt, wenn keine vorbereitete militärische Kraft dahinter steht) an dieDuma zu stellen, danach zu streben, diese Duma in eine revolutionäreVersammlung u mzuw andeln* — und gehen zu r a llgemeinen Bedeutungder Losung „revolutionäre Selbstverwaltung des Volkes" über.

In dieser Losung, richtiger gesagt, in ihrer Verw andlung in die zentraleLosung, l iegt die Wurzel aller Schwankungen der „Iskra". Die „Iskra"versuchte diese Losung zu rechtfertigen, indem sie sich auf die „Dialektik"berief, auf dieselbe Plechanowsche Dialektik, dank der die „organisatori-

sche Verschwommenheit" der „Iskra" von Plechanow zuerst in Schutz ge-nomm en und nachher bloßgeste l lt w urd e!

Die revolutionäre Selbstverwaltung des Volkes ist nicht der Prolog desAufstands, sagten wir, nicht der „natürliche Übergang" zum Aufstand,sondern sein Epilog. Ohne den Sieg des Aufstands kann man von einerwirklichen u nd vollen Selbstverw altung des Volkes nicht im Ernst sp rechen.

* Werden wir uns im bevorstehenden Entscheidungskampf gegen den Zaris-mus als stark erweisen, so wird die Reichsduma unausbleiblich nach links ab-schwenken (wenigstens ihr liberaler Teil, vom reaktionären sprechen wir nicht),

aber der Versuch, die Reichsduma ernstlich zn beeinflussen, ohne die Machtdes Zaren zu brechen, ist ebenso dumm, wie wenn Japan „Ultimaten" anChina stellen oder der Hilfe Chinas eine ernste Bedeutung beimessen wollte,ohne die militärische Macht Rußlands zu brechen. Nach dem 18. März 1848hat die preußische Reichsduma (der Vereinigte Landtag) im Nu einen Wischüber die Einberufung einer konstituierenden Versammlung unterzeichnet; bisdahin aber waren alle „Ultimaten" der Revolutionäre, alle ihre Bestrebungen,die Reichsduma zu beeinflussen, alle ihre Drohungen für die in der Reichs-duma sitzenden Petrunkewitsch, Roditschew, Miljukow usw. leere Worte.

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Das letzte Wort der „iskristisdhen" Taktik 369

Und wir fügten hinzu, daß schon allein der Gedanke, das Schwergewicht

auf die Staatsverwaltung und nicht auf die Staatsordnung zu legen, reak-tionär ist, daß es der größte Unsinn ist, die revolutionäre Selbstverwal-tung mit der revolutionären Armee gleichzusetzen, daß der Sieg der revo-lutionären Armee unbedingt von der Schaffung einer revolutionären Selbst-verwaltung begleitet ist, während die revolutionäre Selbstverwaltung nochnicht unbedingt eine revolutionäre Armee einschließt.

Die „Iskra" versuchte die Verworrenheit ihrer bewußten Losungen mitdem Hinweis auf die „Dialektik" des unbewußten, elementaren Prozesseszu rechtfertigen. Das Leben kenne eben keine scharfen Grenzen. Arbeits-

börsen gebe es auch jetzt („Sozialdemokrat"

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Nr. 12), hier habe mandie Elemente der Selbstverwaltung. Prolog und Epilog verflöchten sich imdialektischen Entwicklungsprozeß oft miteinander.

Das letztere ist durchaus richtig. Ja, der Prozeß der wirklichen Ent-wicklung ist immer verwickelt, er schiebt Stückchen des Epilogs vor deneigentlichen Prolog. Bedeutet das aber, daß es dem Führer einer bewußtenPartei gestattet ist, die Aufgaben des Kampfes durcheinanderzuwerfen,den Prolog mit dem Epilog zu verwechseln? Kann die Dialektik des ver-wickelten elementaren Prozesses eine Verwirrung in der Logik bewußter

Sozialdemokraten rechtfertigen? Bedeutet das nicht, die Marxsche Dialek-tik durch die Plechanowsche Dialektik zu ersetzen?

W ir wollen unseren Gedanken an Hand eines Beispiels veranschaulichen.Nehmen wir an, daß nicht von einer demokratischen, sondern von einersozialistischen Umwälzung die Rede ist. Die Krise reift heran, die Epocheder Diktatur des Proletariats nähert sich. Und nun stellen die Opportuni-sten die Losung Konsumgenossenschaften, die Revolutionäre die LosungEroberung der politischen Macht durch das Proletariat in den Vorder-grund. Die Opportunisten argumentieren: Die Konsumgenossenschaftensind eine reale Kraft der Proletarier, die Eroberung einer realen ökonomi-schen Position, ein wirkliches Stückchen Sozialismus; ihr Revolutionäreversteht nicht die dialektische Entwicklung, dieses Hinüberwachsen desKapitalismus in den Sozialismus, dieses Eindringen sozialistischer Zellenins tiefste Innere des Kapitalismus, diese Aushöhlung des Kapitalismusdurch einen neuen, einen sozialistischen Inhalt.

Ja, antworten die Revolutionäre, wir sind damit einverstanden, daß dieKonsumgenossenschaften im gewissen Sinne ein Stückchen Sozialismus

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370 "W.O. Lenin

sind. Erstens ist die sozialistische Gesellschaft eine einzige große Konsum-

genossenschaft mit planmäßig organisierter Produktion für die Konsum-tion; zweitens kann man den Sozialismus ohne eine mächtige, vielseitigeArbeiterbewegung nicht verwirklichen, und eine dieser vielen Seiten bil-den unbedingt die Konsumgenossenschaften. Aber das ist nicht das Ent-scheidende. Solange die Macht in den Händen der Bourgeoisie bleibt, so-lange bleiben die Konsumgen ossenschaften ein klägliches Stückchen, daskeine ernsten Änderungen verbürgt, keine entscheidenden Änderungenbewirkt, ja manchmal sogar vom ernsten Kampf für den Umsturz ablenkt.Die von den Arbeitern in den Konsumgenossenschaften gewonnenen Er-

fahrungen sind unbestreitbar sehr nützlich. Aber Spielraum für eine ernst-hafte Verwertung dieser Erfahrungen kann nur der Übergang der Machtin die Hände des Proletariats schaffen. Dann wird das System der Kon-sumgenossenschaften auch über den Mehrwert verfügen können, währendjetzt die Möglichkeit, von dieser nützlichen Einrichtung Gebrauch zumachen, durch die kärglichen Arbeitslöhne auf einen äußerst dürftigenRahmen beschränkt ist. Dann wird das ein Konsumverband wirklich freierArb eiter sein, wä hren d es jetzt ein Verb and von Lohn sklaven ist, die vomKapital, niederge halten un d erdrückt we rde n. Ja, die Konsum genossen-schaften sind ein Stückchen Sozialismus. Der dialektische Prozeß der Ent-wicklung bringt wirklich schon im Schöße des Kapitalismus Elemente derneuen Gesellschaft hervor, sowohl materielle als auch geistige Elemente.Doch die Sozialisten müssen es verstehen, die Stückchen vom Ganzen zuunterscheiden, müssen das Qanze und nicht die Stückchen als Losung auf-stellen. Sie müssen jenem Flickwerk, das die Kämpfer nicht selten vomwahrhaft revolutionären Weg abbringt, die Grundbedingungen des wirk-lichen Umsturzes entgegenstellen.

Was meint die „Iskra" dazu, wer hat in diesem Streit recht?

So ist es auch mit der Losung „revolutionäre Selbstverwaltung" in derEpoche der demokratischen Umwälzung. Wir sind nicht gegen die revo-lutionäre Selbstverwaltung, wir haben ihr längst den ihr zukommendenbescheidenen Platz in unserem Minimalprogramm eingeräumt (siehe denParagraphen über eine breite örtl iche Selbstverwaltung). Wir sind damiteinverstanden, da ß das ein Stückchen demokratischer U mw älzun g ist , wieschon in Nr. 15 des „Proletari"* unter Hinweis auf die Smolensker Duma

* Siehe den vorliegenden Band, S. 215/216 . Die Red.

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Das letzte Wort der „iskristisdben" Jaktik 371

festgestellt wurde. Die demokratische Umwälzung wäre unmöglich ohne

eine machtvolle und vielseitige demokratische Bewegung, und eine dieservielen Seiten ist die Bewegung auf dem Gebiet der Selbstverwaltung. Diedemokratische Umwälzung wäre aber z. B. auch ohne die revolutionärenLehranstalten unmöglich, die ein ebenso unzweifelhaftes Anzeichen fürdie faktische Zersetzung des Zarismus sind wie die gegen den Willen derPolizei gegründeten Arbeitsbörsen, wie die Gärung unter der Geistlichkeit,wie die gesetzwidrige örtliche Selbstverwaltung und anderes mehr. Wel-cher Schluß folgt daraus? überlegt euch das, Genossen von der „Iskra"!De r, daß man alle diese Stückchen der Zersetzung zur Gesamtlosung des

Aufstands zusammenfassen muß? Oder der, daß man die Losung desAufstands verstümmeln muß, indem man sie mit einem dieser Stückchen,mit der Selbstverwaltung, verknüpft?

. „Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung oder, was das-selbe ist, Organisierung der Volkskräfte für den Aufstand", schrieb dietapfere „Iskra" (N r. 109, S. 2, Spalte 1). Das ist dasselbe, als wollte mansagen: die Organisierung der revolutionären Bewegung in den Lehranstal-ten ist die Organisierung der Kräfte für den Aufstand; die Organisierungder Gärung unter der Geistlichkkeit ist die Organisierung der Kräfte fürden Aufstand; die Organisierung von Konsumgenossenschaften ist die Or-ganisierung der Kräfte für die sozialistische Umwälzung. Nein, schlechteDialektiker seid ihr, Genossen von der „Iskra". Ihr könnt nicht dialektischdenken, obwohl ihr euch ausgezeichnet drehen und wenden könnt, wie esPlechanow in der Frage der organisatorischen und taktischen Verschwom-menheit eurer Ansichten getan hat. Ihr habt übersehen, daß alle dieseStückchen der Umwälzung, wenn der Aufstand siegt, unweigerlich zueinem einheitlichen, in sich geschlossenen „Epilog" des Aufstands ver-schmelzen werden, während die Stückchen, wenn der Aufstand nicht siegt,eben Stückchen bleiben, klägliche Stückchen, die nichts ändern und nur

Philister zufriedenstellen.Die Moral des Ganzen: 1. Die Opportunisten der Sozialdemokratie

haben sowohl am Vorabend der sozialistischen als auch am Vorabend derdemokratischen Umwälzung die üble Gewohnheit, um ein kleines Stück-chen des großen Prozesses viel Aufhebens zu machen, dieses Stückchen inden Rang des Ganzen zu erheben, diesem Stückchen das Ganze unter-zuordnen und damit das Ganze zu verstümmeln, wodurch sie sich selbst

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372 IV . 1. Lenin

in Trabanten der inkonsequenten und feigen Reformer verwandeln. 2. Die

Dialektik des elementaren Prozesses, der immer und unbedingt verwickeltist, rechtfertigt nicht die Verworrenheit der logischen Schlußfolgerungenund politischen Losungen, die oft genug verworren sind (es aber nicht un-bedingt zu sein brauchen).

PS. Der Artikel war schon umbrochen, als wir die ausländische „Iskra"-Ausgabe der Resolutionen der Südrussischen konstituierenden Konferenzerhielten. Der Text der Resolution über die Reichsduma unterscheidet sichetwas von dem in Rußland herausgegebenen, den wir oben abgedruckt

haben. Dieser Unterschied ist aber nicht wesentlich und berührt unsereKritik nicht im geringsten.

„Proletari" Nr. 21, Tiaöi dem 7ext des „Vroletari".17. (4.) Oktober 1905.

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A N M E R K U N G Z U D E M A R TI K E L

V O N M . B O R I S S O W

„Ü B ER D I E G E W E R K S C H A F T S B E W E G U N G

U N D D I E A U F G A BE N D E R S O Z I A L D E M O K R A T I E " 1 0 3

Wir veröffentlichen mit Vergnügen diesen Artikel eines in Rußlandtätigen Genossen, denn die allseitige Erörterung der Gewerkschaftsfragesteht jetzt auf der Tagesordnung. Nur die von der marxistischen Theorieständig beleuchtete Erfahrung der gesamten P artei kann uns dazu verhel-fen, die für die russischen Verhältnisse geeignetsten Formen der sozial-demokratischen Gewerkschaften zu finden. Man muß ferner die Lehrenverwerten, die uns von den Feinden erteilt werden. Die Bourgeoisie derganzen Welt frohlockte über die „zünftlerischen" Tendenzen des Kölner

Kongresses, in der Hoffnung, die Arbeiter vom Sozialismus zum „reinen",d. h. bürgerlichen Trade-Unionismus hinüberzuziehen. In Rußland habenjetzt sogar die „Moskowskije Wedomosti" gelernt, ein ähnliches Lied zusingen. Und wenn die Bourgeoisie erst anfängt, einen von uns wegen sei-ner „Erleuchtung" oder seines „Eifers" auf dem Gebiet der „vernünftigen"Gewerkschaftsbewegung zu loben, so wird das ein sicheres Zeichen dafürsein, daß es in unserer Arbeit Mängel gibt. Genosse M. Borissow stellt dieFrage denn auch so, daß wir unsere sozialistische Pflicht in jeder Hinsichterfüllen müssen, ohne derartige Mängel aufkommen zu lassen.

„Troletari" 5Vr. 21, Tiadb dem Jext des „Proletari".17. (4.) Oktober 1905.

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AUS ANLASS DES TODES TRUBEZKOIS

Die liberale „Frankfurter Zeitung" ist schrecklich empört über die kon-sequent revolutionäre Resolution der Moskauer Studenten, die die Ein-berufung einer konstituierenden Versammlung weder durch den Zarennoch durch die Reichsduma und nicht einmal (Genossen von der neuen„Iskra", ärgert euch nicht!) durch eine „demokratische Organisation desVolkes", sondern durch eine provisorische revolutionäre Regierung for-dern. Die deutschen liberalen Börsianer erhoben aus diesem Anlaß einGeschrei ob der „Unreife" der Studenten usw. Und jetzt bemerkt dieselbe

Zeitung (Abendblatt vom 13. X.) zu dem Telegramm über den Tod Tru-bezkois: „Vielleicht hat man ihm (Trubezkoi) im Ministerium für Volks-aufklärung eine Szene gemacht."

Armer Trubezkoi! Nach Volksfreiheit streben und an einer „Szene"im Vorzimmer eines zaristischen Ministers sterben... Wir geben gern zu,daß das sogar für einen russischen Liberalen eine allzu grausame Strafeist. Aber dennoch, meine Herren, wäre es nicht besser und eines Anhän-gers der Volksfreiheit würdiger, auf jederlei Beziehung zu der Regierungder Henker und Spione zu verzichten? W äre es nicht besser, im direkten,

ehrlichen, offenen, das Volk aufklärenden und erziehenden Straßenkampfgegen dieses Geschmeiß, ohne dessen Vernichtung eine wirkliche Freiheitnicht möglich ist, zu fallen, als an „Szenen" bei Gesprächen mit Trepowund seinen verächtlichen Lakaien zu sterben?

Qesdhrieben Mitte Oktober 1905.

Zuerst veröfientlidht 1926 "Nach dem Manuskript,im Cenin-Sammelband V.

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D I E L E H R E N

D E R M O S K A U E R E R E I G N I S S E

Der revolutionäre Aufschwung des Moskauer Proletariats, der im poli-tischen Streik und im Straßenkampf so augenfällig zum Ausdruck gekom-men ist, hat noch nicht nachgelassen. Der Streik dauert fort. Er hat teil-weise auf Petersburg übergegriffen, wo die Setzer aus Sympathie mit ihrenMoskauer Kollegen streiken. Man kann noch nicht sagen, ob die gegen-wärtige Bewegung bis zur nächsten Flutwelle abebben oder ob sie lang-wierige Formen annehmen wird. Aber einige und dabei äußerst lehrreicheErgebnisse haben die Moskauer Ereignisse bereits gezeitigt, und es lohnt

sich, bei diesen Ergebnissen zu verweilen.Im großen und ganzen ist die Bewegung in Moskau nicht bis zu einem

entscheidenden Kampf der revolutionären Arbeiter mit den Streitkräftendes Zarismus gelangt. Das waren nur kleinere Vorpostengeplänkel, teil-weise vielleicht eine militärische Demonstration im Bürgerkrieg, aber keinejener Schlachten, die den Ausgang des Krieges bestimmen. Von den beidenMutmaßungen, die wir vor einer Woche äußerten, scheint sich die erstezu bestätigen, nämlich daß wir es nicht mit dem Beginn, sondern nur miteiner Probe des entscheidenden Ansturms zu tun haben. Doch diese Probe

hat immerhin alle Mitwirkenden des historischen Dramas in voller Größegezeigt und so auf den wahrscheinlichen, teilweise sogar unvermeidlichenVerlauf des Dramas selbst ein helles Licht geworfen.

Ausgelöst wurden die Moskauer Ereignisse durch Vorgänge, die auf denersten Blick rein akademischen Charakter trugen. Die Regierung beschenktedie Universitäten mit einer teilweisen „Autonomie", vielmehr einerScheinautonomie. Die Herren Professoren erhielten die Selbstverwaltung.Die Studenten erhielten das Versammlungsrecht. Damit wurde in das

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376 TV. 1 Lenin

allgemeine System der absolutistisch-leibeigenschaftlichen Unterdrückung

eine kleine Bresche geschlagen. Durch diese Bresche ergossen sich sofortmit unerwarteter Kraft neue revolutionäre Ströme. Ein elendes Zugeständ-nis, eine winzige Reform, die gewährt wurde, um die politischen Wider-sprüche abzustumpfen und die Ausgeraubten mit den Räubern zu „ver-söhnen", rief in Wirklichkeit eine gewaltige Zuspitzung des Kampfes undZunahme der daran Beteiligten hervor. In die Studentenversammlungenfluteten Arbeiter. Es kam zu revolutionären Kundgebungen des Volkes,auf denen die im Freiheitskampf führende Klasse, das Proletariat, über-wog. Die Regierung tobte. Die „soliden" Liberalen, die eine professorale

Selbstverwaltung erhalten hatten, wußten nicht mehr ein noch aus undrannten von den revolutionären S tudenten zur knutenschwingenden Poli-zeiregierung. Die Liberalen benutzten die Freiheit, um sie zu verra ten, umdie Studenten von der Ausdehnung und Verschärfung des Kampfes zurück-zuhalten und um — angesichts der Gendarmerieschergen und Schwarzhun-derter, der H erren Trepow und Romanow — „Ordnung" zu predigen! DieLiberalen benutzten die Selbstverwaltung, um als Sachwalter der Henkerdes Volkes die Universität zu schließen, dieses reine Heiligtum der von denHelden der Knute erlaubten „Wissenschaft", das die Studenten besudelt

hatten, weil sie den „gemeinen Mob" zur Erörterung von Fragen hinein-ließen, die von der absolutistischen Bande „verboten" waren. Die sich selbstverwaltenden Liberalen verrieten das Volk und verrieten die Freiheit, weilsie vor einem Blutbad in der Universität Angst hatten. U nd sie wurden fürihre niederträchtige Feigheit gebührend bestraft. Indem sie die revolutio-näre Universität schlössen, eröffneten sie die Revolution auf der Straße.Die erbärmlichen Pedanten wollten schon um die Wette mit den nichts-würdigen Subjekten, mit den Glasow jubeln , daß es ihnen gelungen sei, denBrand in einer Hochschule zu löschen. In Wirklichkeit entfachten sie aber

nur den Brand in einer großen Industriestadt. Diese aufgeblasenen Wichteverboten den Arbeitern, zu den Studenten zu gehen; sie trieben damit bloßdie Studenten zu den revolutionären Arbeitern. Sie beurteilten alle politi-schen Fragen aus der Perspektive ihres von jahrhundertealtem Bürokraten-geist erfüllten Hühnerstalls und flehten die Studenten an, diesen H ühner-stall zu schonen. Der erste frische Windhauch, die Regung des freien undjungen revolutionären Elements genügte, um alle den Hühnerstall gründlichvergessen zu machen; denn der Wind schwoll an und wurde zum Sturm,

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Die Zehren der Moskauer Ereignisse 377

der sich gegen die Wurzel des ganzen Bürokratismus und der ganzen

Schmach des russischen Volke s, gegen die zaristische Selbstherrschaft rich-tete. Un d sogar jetzt, nachdem die erste Ge fahr vorüber ist und der Sturmsich offensichtlich gelegt hat, schlottern die Lakaien der Selbstherrschaftnoch vor Angst bei dem bloßen Ged anken an den A bgrun d, der sich in denblutigen Moskauer Tagen vor ihnen geöffnet hat. „Vorläufig ist das nochkein Brand, aber zweifellos schon eine Brandstiftung", murmelt HerrMenschikow in seinem Lakaienblatt „Nowoje Wremja" (vom 30. Septem-ber ) . „Vorläufig ist das noch keine Revolution.. . aber schon der Prologeiner Revolution. ,Sie ist auf dem W eg e', wie ich (nämlich H err Me nschi-

kow) im April bewiesen habe, und welch furchtbaren Fortschritt hat ,sie 'seither gemacht!. . . Das Volkselement ist bis auf den Grund aufgewühlt."

Ja, die Trepow und Romanow samt den verräterischen liberalen Bour-geois sind gehörig in die Klemme geraten, öffnet man die Universität, sogew ährt man eine Tr ibü ne für revolutionäre Volksversamm lungen und er-weist der Sozialdemokratie einen unschätzbaren Dienst. Schließt man dieUniversität, so eröffnet man den Straßenkampf. Und so drehen und wen-den sie sich zähneknirschend, unsere Ritter von der Knute: Sie öffnen dieMoskauer Universität wieder, sie tun so, als wollten sie es den Studenten

selbst überlassen, während der Straßendemonstrationen die Ordnung auf-rechtzuerhalten. Sie sehen durch die Finger auf die revolutionäre Selbst-verwaltung der Studenten, die sich jetzt nach Parteien in Sozialdemokra-ten, Soz ialrevolutionäre u sw. teilen und sich im Studenten „parlam ent"eine richtige politische Vertretung schaffen (wobei sie sich, dessen sind wirgewiß, nicht auf die revolutionäre Selbstverwaltung beschränken, sondernsofort und ernstlich an die Organisation und Bewaffnung von Abteilungender revolut ionären Armee gehen werden) . Und zusammen mit Trepowdrehen und wenden sich auch die liberalen Professoren in dem eifrigen Be-

mühen, heute die Studenten zu überreden, sie sollen doch bescheidenersein, und morgen die Ritter von der Knute anzuflehen, sie mögen dochmilder sein. Zu sehen, wie sich die einen wie die andern drehen und wen-den, bereitet uns das größte Vergnügen; denn es muß ein recht frischerrevolutionärer Wind wehen, wenn die politischen Kommandeure und diepolitischen Überläufer solche Bocksprünge auf dem Oberdeck machen.

Doch außer berechtigtem Stolz und berechtigtem Vergnügen müssenwirkliche Revolutionäre aus den M oska uer Ereignissen noch' etwas m ehr

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378 W. jf. Lenin

schöpfen: Klarheit darüber, welche sozialen Kräfte in der russischen Revo-

lution wirksam sind und wie sie wirksam sind — eine präzisere Vorstellungvon den Formen ihrer Wirksamkeit. Man braucht sich nur die politischeAufeinanderfolge der Moskauer Ereignisse zu vergegenwärtigen, um einklassenmäßig außerordentlich typisches und charakteristisches Bild derganzen Revolution zu erhalten. Hier diese Aufeinanderfolge: in die alteOrdnung wird eine kleine Bresche geschlagen; die Regierung versucht dieBresche mit dem Flickwerk kleiner Zugeständnisse, trügerischer „Refor-men" usw. zu schließen; anstatt Beruhigung zeigt sich eine neue Verschär-fung und Ausdehnung des Kampfes; die liberale Bourgeoisie schwankt, sie

dreht und wendet sich, um den Revolutionären die Revolution und denPolizisten die Reaktion auszureden; das revolutionäre Volk, an seinerSpitze das Proletariat, trit t auf den Plan, und der offene Kampf schaffteine neue politische Situation; auf dem eroberten höheren und weiterenSchlachtfeld wird eine neue Bresche in die befestigten Stellungen des Fein-des geschlagen, und die Bewegung steigt auf demselben Wege höher undhöher. Vor unseren Augen erfolgt auf der ganzen Linie ein Rückzug derRegierung, wie die „Moskowskije Wedomosti" unlängst mit Recht be-merkten. Und eine liberale Zeitung10 4 fügte nicht ohne Scharfsinn hinzu:

ein Rückzug mit Nachhutgefechten. Der Petersburger Korrespondent derBerliner liberalen „Vossischen Zeitung" telegrafierte am 3. (16.) Oktoberüber eine Unterhaltung mit dem Kanzleichef Trepows. „Von der Regie-rung", sagte die Polizeiratte dem Korrespondenten, „sei ein konsequentdurchgeführter Plan nicht zu erwarten, da jeder Tag Erscheinungen bringe,die nicht vorauszusehen seien. Sie müsse lavieren, mit Gewalt sei dieheutige Bewegung nicht zu unterdrücken; sie könne zwei Monate, auchzwei Jahre dauern."

Jawohl, die Taktik der Regierung ist völlig klargeworden. Es ist zwei-

fellos ein Lavieren und ein Rückzug mit Nachhutgefechten. Und das isteine ganz richtige Taktik vom Standpunkt der Interessen der Selbstherr-schaft. Es wäre ein großer Irrtum, eine verhängnisvolle Illusion, wenn dieRevolutionäre vergäßen, daß die Regierung noch lange, sehr lange zurück-weichen kann, ohne das Wesentliche aufzugeben. Das Beispiel der unvoll-endeten, halbschlächtigen Revolution in Deutschland vom Jahre 1848 —

ein Beispiel, auf das wir in der nächsten Nummer des „Proletari" nocheinmal zurückkommen und an das zu erinnern wir niemals ermüden w er-

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Die Lehren der Moskauer Ereignisse 379

den — zeigt, daß die Regierung, sogar wen n sie bis zur E inberufung einer

konstituierenden (in Worten) Versammlung nachgibt, genügend Kräfte fürden Sieg über die Revolution im letzten, entscheidenden Kampf behaltenwird. Und deshalb müssen wir beim Studium der Moskauer Ereignisse,dieser jüngsten Schlacht in der langen Reihe der Schlachten unseres Bür-gerkriegs, den Gang der Dinge nüchtern beurteilen, müssen wir uns mitgrößter Energie und mit größter Ausdauer auf einen langen, erbittertenKampf vorbereiten, müssen wir uns vor jenen Verbündeten hüten, die be-reits überlaufen. Zu einer Zeit, da noch rein gar nichts Entscheidendes er-kämp ft ist, da der Feind noch übe r gewaltig viel Ra um für w eitere, vorteil-

hafte und ungefährliche Rückzüge verfügt, da immer ernstere Schlachtenstattfinden— zu einer solchen Ze it kan n sich Vertrauen sseligkeit gegenüb ersolchen Verbündeten, können sich Versuche, mit ihnen eine Vereinbarungzu treffen oder sie einfach unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen,nicht nur als Du mm heit, sondern sogar als Ve rrat am Proletariat erweisen.

In der Ta t, ist denn die Haltun g der liberalen Professoren vor den Mo s-kauer Ereignissen und während dieser Ereignisse ein Zufall? Ist das fürdie ganze Konstitutionell-Demokratische Partei eine Ausnahme oder dieRegel? Äu ßern sich in dieser Haltun g die besond eren Z üge dieser G rupp e

der liberalen Bourgeoisie oder kommen darin die grundlegenden Interessendieser Klasse als Ganzes überhaupt zum Ausdruck? Unter Sozialistenkann es über diese Frage keine zwei Meinungen geben, allein nicht alleSozialisten verstehen es, konsequent eine wahrhaft sozialistische Taktikdurchzuführen.

Um den Kern der Frage klarer herauszuschälen, nehmen wir die Dar-legung der liberalen Taktik durch die Liberalen selbst. In den Spalten derrussischen Presse vermeiden sie es, sich direkt gegen die S ozialdem okratenund sogar direkt über die Sozialdemokraten zu äußern. Doch hier haben

wir einen interessanten Artikel der Berliner „Vossischen Zeitung", derzweifellos die Ansichten der Liberalen offener zum Ausdruck bringt:

„Die Studentenunruhen, die trotz — allerdings sehr verspätet — gewährterAutonomie an den Universitäten und Hochschulen in Petersburg wie in Mos-kau gleich zu Beginn des Semesters so stürmisch eingesetzt haben und inMoskau außerdem von einer ausgedehnten Arbeiterbewegung begleitet wer-den, deuten auf den Beginn einer neuen Phase der russischen revolutionärenBewegung hin. Der Verlauf der Studentenversammlungen sowohl wie auch

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380 W. 3. Lenin

deren Resolutionen zeigen, daß die Studentenschaft der Parole de r sozialdemo-

kratischen Führer gefolgt ist, die Universitäten zu Volksversammlungsplätzenzu machen und auf solche Weise die Revolution in die breiten Bevölkerungs-schichten zu tragen. Wie das verwirklicht wird, haben die Moskauer Studentenbereits gezeigt: sie riefen in das Universitätsgebäude Arbeiter und andereLeute, die mit der Universität sonst nichts zu tun haben, in solcher Masse her-bei, daß die Studenten selbst in Minderheit blieben. Selbstverständlich istdieses Verfahren unter den bestehenden Verhältnissen auf die Dauer undurch-führbar. Die Regierung wird es vorziehen, die Universitäten zu schließen, alssolche Versammlungen zu dulden. Das ist so klar, daß es auf den ersten Blickunbegreiflich zu sein scheint, daß die sozialdemokratischen Führer eine solche

Parole ausgeben konnten. Sie wußten auch ganz genau, wohin es führen würde,sie strebten aber gerade die Schließung der Universität durch die Regierungan. Und weshalb? Einfach aus dem Grunde, weil sie der liberalen Bewegungmit allen möglichen Mitteln Hindernisse zu bereiten trachten. Sie geben zu,daß sie eine große politische Aktion aus eigener Kraft durchzuführen nichtimstande sind, deshalb dürfen auch die Liberalen und Radikalen nichts tun,weil das angeblich dem sozialistischen Proletariat nur schaden würde. Es sollesich seine Rechte selbst erobern. Die russische Sozialdemokratie möge aufdiese .unbeugsame' Taktik sehr stolz sein, jedem unbefangenen Beobachtermuß sie aber sehr kurzsichtig erscheinen, und sie wird die russische Sozial-

demokratie auch kaum zu Siegen führen. Was sie bei der im Falle der Fort-setzung solcher Taktik unvermeidlichen Schließung der Universitäten gewin-nen kann, ist unerfindlich. Der Fortbestand der Universitäten und Hochschulenist aber von größter Wichtigkeit für alle Fortschrittsparteien. Die langwierigenStudenten- und Professorenausstände haben der russischen Kultur schonschwere Wunden geschlagen. Wiederaufnahme des akademischen Lehrbetriebstut dringend not. Die Autonomie hat die freie Ausübung des Lehrberufs durchdie Professoren ermöglicht. Deshalb sind die Professoren sämtlicher Univer-sitäten und Hochschulen darüber einig, daß der Lehrbetrieb energisch wiederaufgenommen werden muß. Sie setzen ihren ganzen Einfluß ein, um die Stu-

denten zu veranlassen, auf die Durchführung der sozialdemokratischen Parolezu verzichten."

Damit ist der Kampf zwischen dem bürgerlichen Liberalismus (denkonstitutionellen Demokraten) und den Sozialdemokraten hinreichendum rissen. Stört die liberale Bewegung nicht! das ist die L osung , die in d emangeführten Artikel trefflich zum Ausdruck kommt. Und worin bestehtdiese liberale Bewegung? — In einer Rüdkwärtsbewegung, denn die Pro-

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Die Lehren der Moskauer Ereignisse 381

fessoren nutz en die akademische Freiheit, und zw ar ganz bew ußt, nicht für

die revolutionäre, sondern für die gegenrevolutionäre Propaganda aus; sienutzen sie nicht aus, um den Brand zu entfachen, sondern um ihn zulöschen, nicht um das Kampffeld auszuweiten, sondern um vom entschie-denen Kampf in der Richtung einer friedlichen Zusammenarbeit mit denTre pow abzu lenken. Die „liberale Bew egung" w urd e bei der Verschärfungdes Kampfes (wir sahen das in der Praxis) zu einem Abschwenken vonden Revolutionären zu den Re aktionären . Die Liberalen bringen uns natü r-lich einen gewissen N utz en , insofern sie in die Reihen de r Trepow und deranderen Diener der Romanows Unsicherheit hineintragen; dieser Nutzen

wird jedoch von dem Schaden, den sie dadurch verursachen, daß sie inunsere Reihen Schwankungen hineintragen, nur dann nicht überwogenwerde n, we nn wir uns von den konstitutionellen Dem okrate n unwiderruf-lich abgrenzen und jeden inkonsequenten Schritt dieser Leute rücksichtslosanprangern. Die Liberalen, die ihre beherrschende Stellung in der gegen-wärtigen Wirtschaftsordnung kennen, vielmehr zumeist ahnen, streben da-nach, auch die Revolution zu beherrschen, und bezeichnen jede Fortset-zung, Ausweitung und Verschärfung der Revolution über das gröbsteFlickwerk hinaus als eine „Störung" der liberalen Bewegung. Aus Angst

um das Schicksal der von Trepow erlaubten akademischen Scheinfreiheitkämpfen sie heute gegen die revolutionäre Freiheit. Aus A ngst um die ge-setzliche „Versammlungsfreiheit", welche die Regierung morgen in poli-zeilich verunstalteter Form gewähren wird, werden sie uns davon zurück-halten, diese Versammlungen für die wahrhaft proletarischen Ziele aus-zunutzen. Aus Angst um das Schicksal der Reichsduma zeigten sie schonauf der Septembertagung weise Mäßigung und zeigen sie auch jetzt, in-dem sie die Boykottidee bekämpfen; hindert uns nicht/in der Reichsdumaunser Werk zu tun! wollen sie damit sagen.

Und zur Schande der Sozialdemokrat ie muß zugegeben werden, daßsich in ihrer Mitte Opportunisten fanden, die infolge doktrinär-lebens-fremder Entstellung des M arxism us auf diesen Kö der anbisse n! Es ist einebürgerliche Revolution, urteilen sie, deshalb.. . deshalb müssen wir indem Maße zurückweichen, in dem es der Bourgeoisie gelingt, Zugeständ-nisse vom Zarismus zu erlangen. Wenn die Neuiskristen die reale Bedeu-tung der Reichsduma bis heu te nicht sehen, so eben deshalb, weil sie, da sieselber zurückweichen, auch die Rückwärtsbewegung der konstitutionellen

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382 W.llenin

Demokraten natürlicherweise nicht sehen. Und daß die Iskristen schonseit dem E rlaß des Gesetzes über die Reichsduma zurückgewichen sind, isteine unbestreitbare Tatsache. Vor der Reichsduma dachten sie nicht daran ,die Frage eines Abkommens m it den konstitutionellen D emokraten auf dieTagesordnung zu setzen. Nach der Reichsduma stellten sie (Parvus,Tscherewanin und Martow) diese Frage, und zwar nicht nur theoretisch,sondern auch unmittelbar praktisch. Vor der Reichsduma stellten sie denDemokraten ziemlich strenge Bedingungen (bis zur Mitwirkung bei derVolksbewaffnung usw.). Nach der Reichsduma milderten sie sogleich dieBedingungen und beschränkten sich auf das Versprechen, die Duma derSchwarzhunderter oder der Liberalen in eine revolutionäre Duma umzu-wandeln. Vor der Reichsduma gaben sie in ihrer offiziellen Resolution aufdie Frage, wer die vom ganzen Volk gewählte konstituierende Versamm-lung einberufen soll, die Antwort: entweder die provisorische revolutio-näre Regierung oder eine der Vertretungskörperschaften. Nach der Reichs-duma strichen sie die provisorische revolutionäre Regierung und sagennun: entweder die „demokratischen (vom Schlage der konstitutionellenDemokraten?) Organisationen des Volkes" (?) oder... oder die Reichs-duma. So sehen wir in der Praxis, wie sich die Iskristen von ihrem groß-

artigen Prinzip leiten lassen: es ist eine bürgerliche Revolution, gebt alsoacht, Genossen, daß die Bourgeoisie nicht von ihr abschwenkt!

Die M oskauer Ereignisse, die zum erstenmal nach dem G esetz über dieReichsduma gezeigt haben, wie die Taktik der konstitutionellen Demo-kraten in ernsten politischen Augenblicken in Wirklidbkeit aussieht, habenauch gezeigt, daß der von uns gekennzeichnete opportunistische Troß derSozialdemokratie sich unvermeidlich in ein bloßes G efolge der Bourgeoisieverwandelt. Wir sagten soeben: die Reichsduma der Schwarzhunderteroder der Liberalen.- Einem Neuiskristen würden diese Worte ungeheuer-lich erscheinen, denn er hält den Unterschied zwischen einer Reichsdumader Sehwarzhunderter und der Liberalen für sehr wichtig. Aber gerade dieMoskauer Ereignisse haben enthüllt, wie falsch diese „Parlaments"idee ist,die in der vorparlamentarischen Epoche ganz unangebracht in den Vorder-grund gerückt wird. Gerade die Moskauer Ereignisse haben auch gezeigt,daß der liberale Überläufer faktisch die Rolle Trepow s spielte. Die Schlie-ßung der Universität, die gestern Trepow verfügt hätte, haben heute dieHerren Manuilow und Trubezkoi durchgeführt. Ist es nicht klar, daß auch

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Die Zehren der Moskauer Ereignisse 383

die „Duma"liberalen ebenso zwischen Trepow und Romanow einerseits

und dem revolutionären Volk anderseits hin und her pendeln werden? Istes nicht klar, daß man selbst die geringste Unterstützung der liberalenÜberläufer nur politischen Einfaltspinseln zutrauen kann?

Im parlamentarischen System ist es häufig notwendig, die liberalere Par-tei gegen die weniger liberale zu unterstützen. Im.revolutionären Kampffür eine parlamentarische Ordnung die liberalen Überläufer zu unter-stützen, die Trepow mit der Revolution „vereinbaren" wollen, ist jedochVerrat.

Die Moskauer Ereignisse haben in der Praxis jene Gruppierung der

sozialen Kräfte gezeigt, von der im „Proletari" schon so oft geschriebenwurde. Das sozialistische Proletariat und die Vorhut der revolutionärenbürgerlichen Demokratie haben gekämpft. Die liberale monarchistischeBourgeoisie hat verhandelt. Studiert doch, Genossen Arbeiter, studiertaufmerksamer die Lehren der Moskauer Ereignisse! So, gerade so undnicht anders werden sich die Dinge auch in der ganzen russischen Revo-lution gestalten. Wir müssen uns fester zusammenschließen zu einer wirk-lich sozialistischen Partei, die bewußt die Interessen der Arbeiterklassezum Ausdruck bringt und nicht spontan hinter den-Massen einhertrottet.

Wir dürfen im Kampf nur auf die revolutionäre Demokratie rechnen, nurmit ihr allein Abkommen zulassen und diese Abkommen nur auf demSchlachtfeld gegen die Trepow und Romanow verwirklichen. Wir müssenmit allen Kräften danach streben, außer der Vorhut der revolutionärenDemokratie, der Studentenschaft, auch die breiten Volksmassen zu mobi-lisieren, deren Bewegung nicht nur eine allgemein demokratische (heutenennt sich jeder Überläufer Demokrat), sondern eine wirklich revolutio-näre Bewegung ist, nämlich die Bauemmassen. Wir müssen stets darandenken, daß die Liberalen und die konstitutionellen Demokraten zur sel-

ben Zeit, da sie in die Reihen der Anhänger der Selbstherrschaft Un-sicherheit hineintragen, m it jedem Schritt, den sie tun, unweigerlich danachstreben werden, auch in unsere Reihen Schwankungen hineinzutragen.Von ernster Bedeutung, von entscheidender Bedeutung wird nur der offenerevolutionäre Kampf sein, der alle liberalen Hühnerställe und alle libe-ralen Dumas in die Rumpelkammer werfen wird. Daher bereitet euch,ohne einen Augenblick zu verlieren, zu neuen, immer neuen Kämpfenvor! Bewaffnet euch, jeder womit er kann , stellt sofort Abteilungen von

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384 "W. 7. Lenin

Kämpfern auf, die bereit sind, mit hingebungsvoller Energie gegen dieverfluchte Selbstherrschaft zu kämpfen! Denkt daran, daß die Ereignisseeuch auf jeden Fall und unvermeidlich morgen oder übermorgen zum Auf-stand herausfordern werden! Die Frage ist nur, ob ihr dann gerüstet undvereinigt auftreten oder ob ihr verwirrt und zersplittert sein werdet.

Die Moskauer Ereignisse haben noch einmal, zum hundertstenmal dieKleingläubigen widerlegt. Sie haben gezeigt, daß wir immer noch dazuneigen, die revolutionäre Aktivität der Massen zu unterschätzen. Sie wer-den viele von denen, die schon zu schwanken begonnen, die nach demFriedensschluß und dem Dumageschenk den Glauben an den Aufstand

verloren hatten, eines anderen belehren. Nein, der Aufstand wächst understarkt gerade jetz t mit unglaublicher Schnelligkeit. Möge der kommendeAusbruch, mit dem verglichen der 9. Januar und die denkwürdigen Tagevon Odessa als ein Kinderspiel erscheinen werden, uns alle auf dem Postenfinden!

„Proletari" Nr. 22, !Nadj dem Jext des „Proletari".24. Ca.) Oktober 1905.

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P j cc n u -k c o a i u u u i s x p a m i i a-b n t u i v » u na u eu f » STOHlBÄsiK opBioAHioci iecra loftBj jxe «t pas* c-k «enwrt-ÄOiaTfi J tioerno Uipaja iMaro laO ep un iu . U sn oi i am , ba-opHMtpv. nx \ aaixuuv- r. CrpjB« CBD» e i o ö o i u j » 'anceusfpu j taTUkaocTb s t uiec TB t no iar nec iaro (hipua sa

„W BoOoaaenie" Poetin . OBV saiaiv «i DpemeiOBieM-v n^ i D B c r t " BBTTO. rjit fiun BUCTHMBV coMpm»H0 _li]«-noBesia* (roBopa aiuxoirw Hun-iuinRivDOJirTMecod-k x ti e -•ift) lüijHrt: „opÄBB n B«CTBO« IOKCTBO*. Coutaxkjteuo-KpsTi« j oca sua ua ecn orcraf locri , ecn Bertn wrt . tea

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CTUM „icpftfiumiii** a yomerv oo iaa ai te j, n o Taiix «c r>pxueria copftsn a i i* iexaB iaro aponuara, sa i i t xu c t l -u » ofttun, • e j u t e m u . afc » or rr w u i t n a s a uo r o or<lomeHU n U B O H J , f ljpioaj • •ero me Kj. Uo aro K ni enn o i a » T i c i am h a& o e peua a a r i n i . K o a e w o. v a i l t « n j i r a .n h i ipt ju ne uB M «ö pi ai «. BoeofiaieB, npnro« • paaaasnöHpBTun« apaao e i Taf laot aoxutt r o j o c o n (BUCT*B-asaaue J I U I O • p u u n w r b n M s J a i u t M o ap u a u t \ mDipTlf lao» nporpaurt) m u o6 m i« xoeroaf l ian. Bpaai tuBucrufcR- .OeBoOosjt ta im", BOBUI n Bporpamj . C O D UOrtoO ca«eiU" ,cTiu ao>jarai» ae wt an . BOaTopamca u »e im u l e r a ii B o t u e w » . Q p or pe cc i p j e c i v o f is

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H i n o co Bu i i c n u peEoiouiefl ; a i ir tcT» c ratu i> opo>TSiopt^Et M«XAJ ea «xoaaxi R i- tia in , tteair jl«uupaTua*M an n opB BitH Bti jtfiioicp&TUKOtrk n . p e u k a a l D o m -Tirt" aapoauanrca BOBUI oponBOptii i . xOo poen peao>i « m i i BCB Boauma«r\ t noBiimaen TpafiOBiBia vn AHO-aparfB. Eypxjaaaas st l euocparix . Boaumaa c i « J M J B » ,Bcerjta werae t* oV* coOuri t. aee r» n^ ar ej n iBoert .» e o na f opx j ja py BT* a n i M j i r H a s a t e a u » « r pa x yw a *B I M , \txi no ro rp ed ytn xtftcri irri ihgo peBaaunjoaaaaitltCTBRTMfcSU iOpVfia U itlOTBBT BXkB ja «BOÖOJly.

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Erste Seite der Zeitung „Borba Proletariata" Nr. 2mit W . I. Lenins A rtikel

„Die demokratischen Aufgaben des revolutionären Proletariats"1905

Verkleinert

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387

„ B O R B A P R O L E T Ä R I A T A " 1» 5

Hinsichtlich des Artikels „Antwort an den Sozialdemokrat'" vermer-ken wir die ausgezeichnete Fragestellung über das berühmte „Hinein-tragen des Bewußtseins von außen" . Der Verfasser g liedert diese Frage invier selbständige Teile: 1. Die philosophische F rage nach dem Verhältnisdes Bewußtseins zum Sein: das Sein bestimmt das Bewußtsein. Entspre-

chend dem Bestehen zweier Klassen wird auch ein zweifaches Bewußtseinherausgearbeitet: das bürgerliche und das sozialistische. Der Lage desProletariats entspricht das sozialistische Bewußtsein. 2. „Wer arbeitetdieses sozialistische Bewußtsein (den wissenschaftlichen Sozialismus) her-aus, wer hat die Möglichkeit, es herauszuarbeiten?" „Das moderne sozia-listische Bewußtsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicherEinsicht" (Kautsky), d. h., seine Herausarbeitung „ist die Sache einigerweniger sozialdemokratischer Intellektueller, die hierzu sowohl die Zeitals auch die Möglichkeiten haben". 3. Wie dringt dieses Bewußtsein insProletariat ein? „Hier tritt nun die Sozialdemokratie auf (und nicht nursozialdemokratische Intellektuelle), die das sozialistische Bewußtsein indie Arbeiterbewegung hineinträgt." 4. Was findet die Sozialdemokratieim Proletariat selbst vor, wenn sie ihm den Sozialismus propagiert? Eininstinktives Streben zum Sozialismus. „So entstehen naturnotwendig zu-gleich mit dem Proletariat sozialistische Tendenzen bei den Proletariernselbst wie bei jenen, die sich auf den Standpunkt des Proletariats stel-len . . . Das e rk lä rt .. . das Aufkommen der sozialistischen Bestrebungen"

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388 TV. 3. Lenin

(Kautsky). Der M enschewik zieht hieraus die lachhafte Schlußfolgerung:

„Daher ist es klar, daß der Sozialismus nicht von außen in das Proletariathineingetragen wird, sondern im Gegenteil aus dem Proletariat hervor-geht und in die Köpfe derjenigen eingeht, die sich die Anschauungen desProletariats zu eigen machen"!

„Proletari" ?ir. 22 , Na dh dem Jext des „Proletari".24. Ca.) Oktober 1905.

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DIE JUGEND IM AUSLANDUND DIE RUSSISCHE REVOLUTION

Zu dem Brief aus der Provinz 10 6, der alle im Ausland Lebenden nachRußland ruft („Proletari" Nr. 19), nahm unter dem Decknamen „Revo-lutionär" ein Genosse Stellung, der aus Bern an die Redaktion des „Pro-letari" einen Brief sandte. Der Gen. „Revolutionär" schreibt, er sei derMeinung, daß die Theorie für die Bewegung große Bedeutung habe, daßein ernsthaftes Studium notwendig sei usw. Wir sind natürlich hierinvöllig mit ihm einverstanden, und das war ja auch der Sinn unserereinschränkenden Bemerkung zu dem Brief aus der Provinz. Der Gen.

„Revolutionär" empfiehlt der Partei, irgendwo, beispielsweise in Genf,eine Art Universität einzurichten, damit die Jugend ernsthaft studierenkönne. Derartige Pläne sind wiederholt erwogen worden, aber ihre Ver-wirklichung stößt auf allzu viele praktische Schwierigkeiten.

„Troletari" "Nr. 22, Nadh dem Text des „Proletari".24. (lij Oktober 1905.

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BRIEF AN DAS INTERNATIONALESOZIALISTISCHE BÜRO

Genf, den 27. Ok tober 1905

Werter Genosse!

Sie haben uns am 28 . Juni einen Vorschlag des Genossen Bebel wegender Differenzen in unserer Partei geschickt.

A m 24 . Juli schrieb ich Ihnen*, daß ich der Entscheidung des Zentral-komitees unserer Partei nicht vorgreifen könne, da ich nur eines der Mit-glieder des Komitees sei , und bat das Büro um einige Erläuterungen. Als

Antwort erhielt ich einen Brief von Huysmans vom 5. August , in dem erschreibt, daß die Einmischung des Exekutivkomitees nur moralischen Ein-fluß haben solle. Ich habe dem Zentralkomitee unserer Partei sofort mit-geteilt, welches der genaue Sinn des von Bebel gemachten Vorschlags ist.Jetzt hat mir das Zentralkomitee geantwortet , daß es den Vorschlag an-nimm t und die Genossen Wassi ljew, Sch midt 1 07 und Lenin zu seinen Ver-tretern ernennt. Genosse Schmidt befindet sich in Rußland. Deshalb müs-sen wir den für die Zusammenkunft bestimmten Tag rechtzeit ig (minde-stens drei Wochen vorher) erfahren.

Die beiden anderen Delegierten sind in der Schweiz.

Genehmigen Sie usw.W. Vljanow (Lenin)

PS . Soeben erhielt ich einen zweiten Brief mit der Mitteilung, daß Ge-nosse Schmidt bald (wahrscheinlich im November) ins Ausland kommenwird, um verschiedene Angelegenheiten unserer Partei zu regeln. Es wäre

* Siehe den vorliegenden Band, S. 132—136. Die Red.

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"Brief an das Internationale Sozialistische "Büro 391

daher für mich außerordentlich wichtig, baldmöglichst die Antwort der an-

deren Fraktion unserer Partei über den Tag der Einberufung der Konferenzzu erfahren. Für die in Rußland tätigen Mitglieder unserer Partei sind Aus-landsreisen äußerst schwierig, und es ist daher erwünscht, daß der Zeit-

punkt der Einberufung der Konferenz sofort festgelegt wird, d. h., daß

die andere Fraktion und die Mitglieder des Internationalen Büros uns

möglichst bald mitteilen, wann sie diese Konferenz einberufen wollen.

Zuerst veröffentlicht 1929 "Nach dem 7ext der 2 . - 3 . Ausgabein der 2.-3. Ausgabe der Werke, verglichen mit dem

der Werke W.T.Lenins, Durchschlag des französischenBand VIII. Sdhreibmasdhinentextes.

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392

D E R P O L I T I S C H E G E N E R A L S T R E I K

I N R U S S L A N D .

Genf, den 26. (13.) Oktober

Das Barometer steht auf Sturm! So kommentieren die heutigen aus-ländischen Zeitungen die telegrafischen Nachrichten über das machtvolleAnwachsen des politischen Generalstreiks in "Ruß land.

Und nicht nur das Barometer steht auf Sturm, sondern alles, aber auchalles ist von dem g igantischen W irbe lstur m des solidarischen proletarischenVorstoßes bereits mitgerissen worden. Die Revolution schreitet mit un-

glaublicher Schnelligkeit vorwärts, sie bringt eine erstaunliche Fülle vonEreignissen mit sich, und wollten wir unseren Lesern eine ausführlicheGeschichte der letzten drei, vier Tage geben, so müßten wir ein ganzesBuch schreiben. Eine ausführliche Geschichte zu schreiben, wollen wirindes den künftigen Geschlechtern überlassen. Atemberaubende Szeneneines der größten Bürgerkriege, eines der größten Freiheitskriege, den dieMenschheit jemals erlebt hat, sehen wir vor uns, und man muß raschleben, um diesem Krieg alle seine Kräfte widmen zu können.

Der Sturm ist losgebrochen — und wie nichtig erscheinen jetzt die libe-

ra len und dem okratischen Reden, Vermutungen, W eissagungen un d Pläneüber die D um a! W ie veraltet sind bereits — nach wenigen Tage n, nachwenigen Stunden — al le unsere Auseinandersetzungen über die D um a!Einige von uns bezweifelten, ob das revolutionäre Proletariat imstandesein w erd e, diese niederträchtige Komöd ie der Polizeiminister zunichte zumachen, einige von uns fürchteten sich, mit aller Kühnheit von einemWahlboykott zu sprechen. Und was sehen wir? Die Wahlen haben nochnicht überall bego nne n, und schon ist das Kartenha us ins W an ken geraten,

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Der politisäie Qeneralstreik in Rußland 393

weil ein Arm sich erhoben hat. Ja, das bloße Heben eines Arms hat nichtnur die Liberalen und die feigen Oswoboshdenzen, sondern auch HerrnWitte, das Haupt der neuen „liberalen" zaristischen Regierung, gezwun-gen, von Reformen zu sprechen (allerdings vorerst nur zu sprechen), diealle Spitzfindigkeiten der Bulyginschen Farce über den Haufen werfen.

Dieser Arm, der sich nur zu erheben brauchte, um eine Umwälzung inder Dumafrage hervorzurufen, ist der Arm des russischen Proletariats.„Alle Räder stehen still, wenn dein starker A rm es will", heißt es in einemdeutschen sozialistischen Lied. Jetzt hat sich dieser starke Arm erhoben.Unsere Hinweise und Voraussagen über die große Bedeutung des poli-

tischen Massenstreiks für den bewaffneten Aufstand haben sich glänzendbewahrheitet. Der politische Qeneralstreik in Rußland erfaßt diesmal tat-sächlich das ganze Land und vereinigt in der heroischen Erhebung derunterdrücktesten und fortgeschrittensten Klasse alle Völker des verfluchtenRussischen „Reiches". Die Proletarier aller Völker dieses Reiches derKnechtschaft und Gewalt formieren sich jetzt zur einigen großen Armeeder Freiheit, zur Armee des Sozialismus. Moskau und Petersburg habensich in die Ehre der revolutionären proletarischen Initiative geteilt. DieHauptstädte sind in den Streik getreten. Finnland streikt. Die Ostsee-

provinzen, an ihrer Spitze Riga, haben sich der Bewegung angeschlossen.Das heldenmütige Polen ist erneut in Reih und Glied der Streikenden ge-treten, als wolle es über die ohnmächtige Wut der Feinde spotten, dieglaubten, es durch ihre Schläge niederwerfen zu können, aber seine revo-lutionären Kräfte nur noch fester geschmiedet haben. Es erheben sich dieKrim (Simferopol) und der Süden. In Jekaterinoslaw errichtet man Barri-kaden, und es fließt Blut. Es streikt das W olgagebiet (Saratow, Simbirsk,Nishni-Nowgorod), sowohl in den zentralen landwirtschaftlichen Gou-vernements (Woronesh) als auch im Industriezentrum (Jaroslawl) ent-

brennt der Streik.Und an die Spitze dieser vielsprachigen, viele Millionen zählenden Ar-

beiterarmee trat die bescheidene Delegation des Eisenbahnerverbandes.Auf die Bühne, wo sich die politischen Komödien der Herren Liberalenmit ihren hochtrabend-feigen Reden an den Zaren und mit ihrem affek-tierten Getue Witte gegenüber abspielten — auf diese Bühne stürmte derArbeiter und präsentierte dem neuen Haupt der neuen „liberalen" zari-stischen Regierung, Herrn Witte, sein Wtimatum. Die Delegation der

26 Lenin, W erke, Bd. 9

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394 W.l Lenin

Eisenbahnarbeiter wollte die Reichsduma, dieses rechtlose „Bürgerkolle-gium", nicht abwarten. Die Arbeiterdelegation dachte auch nicht daran,ihre kostbare Zeit an die „Kritik" dieser Puppenkomödie zu vergeuden.Die Arbeiterdelegation bereitete zuerst die Kritik durdb die 7at — denpolitischen Streik — vor und erklärte dann dem Ministerclown: Es kannnur eine Lösung geben — die Einberufung einer konstituierenden Ver-sammlung auf Grund des allgemeinen und direkten Wahlrechts.

Der Ministerclown sprach, wie die Eisenbahnarbeiter treffend bemerk-ten, „wie eine echte Beamtenseele und machte wie immer Ausflüchte, ohnesich auf etwas Bestimmtes festzulegen". Er verspricht Erlasse übe r Presse-freiheit und lehnt das allgemeine Wahlrecht ab; eine konstituierende Ver-sammlung sei „jetzt unmöglich", äußerte er nach ausländischen Tele-grammen.

Und die Arbeiterdelegation verkündete den Generalstreik. Die Arbei-terdelegation begab sich vom Minister zur Universität, wo politischeVersammlungen mit Zehntausenden von Teilnehmern stattfinden. DasProletariat verstand es, die Tribüne auszunutzen, die ihm die revolutio-näre Studentenschaft zur Verfügung gestellt hatte. In den ersten syste-matisch organisierten, freien politischen Massenversammlungen Ruß lands,die in allen Städten, in den Lehranstalten, in den Fabriken, auf den Stra-ßen stattfinden, wird über die Antwort des Ministerclowns diskutiert,wird von der Aufgabe gesprochen, einen entschlossenen bewaffnetenKampf zu führen, der die Einberufung einer konstituierenden Versamm^lung „möglich" und notwendig machen wird. Die bürgerliche Presse desAuslands, selbst die liberalste, spricht mit Entsetzen von den „terrori-stischen und aufrührerischen" Losungen, die von den Rednern in denfreien Volksversammlungen verkündet werden, als hätte die Regierungdes Zaren durch ihre ganze Politik der Unterdrückung nicht selbst die

Notwen digkeit und Unvermeidlichkeit des Aufstands hervorgerufen.Der Aufstand naht, er erwächst vor unseren Augen aus dem gesamt-

russischen politischen Streik. Die Ernennung des Ministerclowns, der denArbeitern versicherte, eine vom ganzen Volk gewählte konstituierendeVersammlung sei „jetzt" unmöglich, zeigt klar den Aufschwung der revo-lutionären Kräfte und den Zerfall der Kräfte der zaristischen Regierung.Die Selbstherrschaft hat nicht mehr die Kraft, offen gegen die Revolutionvorzugehen. Die Revolution hat nodo nicht die Kraft, dem Feinde den

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Der politisdie Qeneralstreik in Rußland 395

entscheidenden Schlag zu versetzen. Dieses Schwanken der Kräfte, die

sich fast die Waage halten, erzeugt bei der Staatsmacht unvermeidlichKopflosigkeit und bewirkt, daß sie von Repressalien zu Zugeständnissen,zu Gesetzen über Presse- und Versammlungsfreiheit übergeht.

Vorwärts denn zum neuen, noch umfassenderen und beharrlicherenKampf, damit der Feind nicht zur Besinnung kom m e! D as P role taria t h atbereits Wunder vollbracht für den Sieg der Revolution. Der politischeGeneralstreik in Rußland hat den Feind gezwungen, sich in Todesangstzu winden, und den Sieg der Revolution gewaltig näher gerückt. Wirhaben jedoch noch lange, noch lange nicht alles getan, was wir tun können

und für den endgültigen Sieg tun müssen. Der Kampf nähert sich immermehr der eigentlichen Entscheidung, aber er ist noch nicht soweit ge^diehen. G erad e jetzt erheb t sich die Arb eiterklasse, mobilisiert ihre Kräfteun d bewaffnet sich in einem bisher ungeahn ten A usm aß. U nd sie wird zuguter Letzt die verhaßte Selbstherrschaft völlig hinwegfegen, alle Mini-sterclowns davonjagen, ihre eigene provisorische revolutionäre Regierungeinsetzen und allen Völkern Rußlands zeigen, wie es „möglich" und wiees gerade „jetzt" notwendig ist, eine wirklich vom ganzen Volk gewählteund wirklich konstituierende Versammlung einzuberufen.

„Proletari" 3Vr. 23, 9Jad> dem lext des „Proletari".31. (18.) Oktober 1905.

26 *

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D I E E R S T E N E R G E B N I S S E

D ER P O L I T I S C H E N G R U P P I E R U N G

Der in der letzten Nummer veröffentlichte Bericht über die Konferenzder sozialdemokratischen Parteien und Organisationen Rußlands bietetdie Möglichkeit, einige wenn auch nur anfängliche Ergebnisse der gegen-wärtigen politischen Gruppierung festzuhalten. Die Konferenz der sozial-demokratischen Parteien und Organisationen (SDAPR — ZK, „Bund",Lettische SDAP , Polnische SD und revolutionäre Ukrainische Partei) hathinsichtlich der Reichsduma einstimmig die Taktik des aktiven Boykottsgutgeheißen. Die Notwendigkeit einer verstärkten Agitation, im direkten

Sinne des Wortes, gegen die Reichsduma, die Notwendigkeit, gegen alleParteien zu agitieren, die für eine Beteiligung an der Reichsduma sind,und schließlich die Pflicht, den bewaffneten Aufstand vorzubereiten, — alldies ist jetzt, das darf man ohne Übertreibung sagen, von der ganzenrevolutionären Sozialdemokratie ohne Unterschied der Nationalität an-erkannt worden. Die Grundlage jener Taktik, die das ZK der SDAPRbeschloß und die wir im „Proletari" von N r. 12 an, d. h. schon seit zwei-einhalb Monaten, vertraten, ist jetzt zur Grundlage der Taktik fast derganzen Sozialdemokratie in Rußland geworden — mit einer einzigen t rau -

rigen Ausnahm e.Diese Ausnahme bilden, wie der Leser weiß, die „Iskra" und die „Min-

derheit", die sich von der SDAPR abgespalten hat. Die „Organisations-kommission" — ihre praktische Zentralstelle — war auf der Konferenzvertreten. Wie ihr Delegierter gestimmt hat, wissen wir nicht. Tatsacheist aber, daß die Organisationskommission es ablehnte, die Resolutionder Konferenz zu unterzeichnen. Das war nicht anders zu erwarten, nach-dem die Neuiskristen auf der Südrussischen „konstituierenden" Konfe-

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Die ersten Ergebnisse der politischen Qruppierung 397

renz die äußerst unkluge und ihrer prinzipiellen Bedeutung nach oppor-tunistische Resolution über die Reichsduma beschlossen hatten, die wirin Nr . 21 des „Proletari"* ausführlich behandelt haben.

Somit hat sich die politische Gruppierung deutlich abgezeichnet. DieFrage des Verhaltens zur Reichsduma hat wohl zum erstenmal eine ge-meinsame Diskussion der oppositionellen und der revolutionären Parteien,der legalen und der illegalen Presse über die politische Taktik hervor-gerufen. Im Vergleich zur vorangegangenen Periode der Bewegung ist dasein riesiger Schritt vorwärts. Vorher trennte ein wahrer Abgrund dieOpposition von den Revolutionären, die legale Arbeit von der illegalen.

Jetz t ist die Bewegung in kna pp zehn M ona ten derart gigantisch vorw ärts-geschritten, daß der Abgrund zum wesentlichen Teil ausgefüllt ist: Die„legale" Opposition wurde durch den revolutionären Kampf auf den Wel-lenkamm gehoben, so daß sie die Tatsache der Revolution beinahe an-erkannte. Früher konnten wir mit den Vertretern der legalen Oppositionüber die Taktik, über die Haltung der politischen Parteien eigentlich garnicht polemisieren, denn außer den revolutionären, illegalen Parteien gabes ja keine Parteien, und die gesamte „politische Tätigkeit" erschöpfte sichin der Tätigkeit „politischer Verbrecher", wenn man von der „Tätigkeit"

der Selbstherrschaft und ihrer Diener absieht. Jetzt ist die Reichsdumaganz natürlich und unausweichlich zum Gesprächsgegenstand der ganzenVolksmasse, aller Schattierungen, Richtungen und P arteien gew orden. D errevolutionäre Kampf hat der revolutionären Diskussion sowohl in derlegalen Presse und in den Versammlungen der Semstwos als auch in denZusammenkünften der Studenten und in den Massenkundgebungen derArbeiter den Weg gebahnt .

Die Diskussion darüber, wie man sich zur Reichsduma verhalten soll,haben fast als erste die Semstwoleute und die radikalen Intellektuellenbegonnen, die an der Gabe des Zaren unmittelbar am meisten interessiertund über sie schon vor dem Manifest vom 6. Aug ust am besten informiertwaren. Nachher griff diese Diskussion auf die gesamte politische PresseRußlands über, sowohl die freie, d. h. illegale, die alle ihre Argumenteund alle ihre Losungen unumwunden bis zu Ende aussprach, als auch dielegale, die in äsopischer Sprache für den Boykott und offen gegen denBoykott schrieb.

*~Sfehe den vorliegenden Band, S. 354—372. Die Red.

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398 W.l£enin

Die politische Gruppierung, dieser Vorbote der Scheidung zwischenden politischen Parteien und den Klassen aller Völker Rußlands, begannsich gerade in der Boykottfrage herauszubilden. Soll man in die Dumagehen oder nicht? Soll man die Duma vereiteln oder billigen? Soll manin der Duma, auf dem Boden der Duma, oder außerhalb der Duma, un-abhängig von der Duma, gegen die Duma kämpfen? So stand die Frageunausweichlich sowohl vor dem privilegierten Häufchen der Wähler alsauch vor der „rechtlosen" Volksmasse. Und zu dieser Frage, die natür-lich von tausenderlei verschiedenen Standpunkten aus und mit tausender-lei Varianten und „besonderen Meinungen" beantwortet wurde, liegenjetzt die zusammenfassenden Ergebnisse jener „Befragung" der öffent-lichen Meinung vor, die sich aus der gesamten Presse, aus der Summe derErklärungen aller politischen Organisationen, politischen Versammlungen,Zusammenkünfte usw. ergibt.

Diese zusammenfassenden Ergebnisse sind:Drei Grundtypen von Ansichten über die Duma zeichnen sich deutlich

ab, und zwar in voller Übereinstimmung mit den drei sozialen Grund-und Hauptkräften in der Revolution: die Ansicht der Sdhwarzbunderter(der Selbstherrschaft), die der Liberalen (der Bourgeoisie) und die derRevolutionäre (des Proletariats). Die Schwarzhunderter klammerten sichan die Duma als das beste und wohl einzig mögliche, ja einzig denk-bare Mittel, die Selbstherrschaft zu behaupten. Die Liberalen kritisier-ten die Duma und akzeptierten sie, denn es zog sie mit unwidersteh-licher Kraft zu den legalen Wegen und zur Vereinbarung mit dem Zaren.Das revolutionäre Volk, das Proletariat an seiner Spitze, brandmarkte dieDuma, verkündete den aktiven Boykott gegen sie und zeigte bereits durchdie Ta t das Bestreben, diesen aktiven Boykott in den bewaffneten Auf-stand zu verwandeln.

Auf diese drei Grundtypen lohnt es sich etwas ausführlicher einzu-gehen.

Von den Schwarzhundertern hätte man erwarten können (und solcheErwartungen äußerten Leute, die geneigt sind, die Duma ernst zu nehmen,unter ihnen sogar, wenn wir nicht irren, die Iskristen), daß diese An-hänger der Selbstherrschaft direkt oder indirekt mit dem Boykott oderdem Absentismus, wie unsere Lakaienpresse sich nicht selten ausdrückt,sympathisieren würden: Sollen sie boykottieren, um so besser für uns,

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Die ersten Ergebnisse der politisdben Qruppierung 399

die reaktionäre Zusammensetzung der Duma wird dann geschlossener

und reiner sein. Und da es in R ußland konservative O rgane gibt, die fähigsind, die zaristischen Minister des übermäßigen Liberalismus zu bezich-tigen und gegen die „allzu schwächliche" Regierung zu frondieren, sohätte eine solche Ansicht einen ebenso klaren oder sogar noch klarerenAusdruck finden können als viele Ansichten der Konstitutionalisten. Hieraber offenbarte sich der Fehler der Leute, die die Duma ernst nahmenund vom Kampf auf dem Boden der Duma, von der Unterstützung desKampfes in der Duma usw. usf. faselten. Hier zeigte sich sofort, daß dieSelbstherrschaft eine legale Dumaopposition sehr nötig braucht und den

Boykott schrecklich fürchtet. Warum? Sehr einfach: weil sich einwandfreiherausgestellt hat, daß es völlig unmöglich ist, das Land zu regieren, ohnewenigstens mit einem Teil der Bourgeoisie als Klasse einen Pakt zu schlie-ßen. Ohne einen Pakt mit dem rechten Flügel der Bourgeoisie kann mandas Land nicht regieren, kann man kein Geld auftreiben, kann man nichtlänger leben. So asiatisch wild unsere Selbstherrschaft auch ist, sovielvorsintflutliche, Jahrhunderte hindurch in ungewöhnlich reiner Form kon-servierte Barbarei sie auch aufweist, so ist die absolutistische Regierungdennoch die Regierung eines kapitalistischen Landes, das durch Tausende

unzerreißbarer Fäden mit Europa, mit dem internationalen Markt, mitdem internationalen Kapital verbunden ist. Die Abhängigkeit der Selbst-herrschaft von der Bourgeoisie, ganz Rußlands ist die denkbar stärkstematerielle Abhängigkeit. Diese Abhängigkeit kann durch hunderterlei mit-telalterliches Beiwerk verdeckt, durch millionenfache Korruption einzelneroder ganzer Gruppen seitens des Hofes (durch Titel, Posten, Konzessio-nen, Schenkungen, Vergünstigungen usw. usw. usf.) abgeschwächt wer-den, aber bei kritischen Wendungen im Leben der Nation muß sie sichmit entscheidender Kraft äußern.

Und wenn wir jetzt sehen, daß Herr Witte um die Gunst der Liberalenbuhlt, daß er liberale Reden schwingt, über die die legale Presse berich-tet, daß er „informelle Verhandlungen mit Herrn Hessen", dem Hauptder Kadetten, führt (Telegramm des Petersburger Korrespondenten der„Times"), daß die ausländische Presse mit Meldungen über die liberalenPläne des Zaren überschwemmt wird — so ist das alles kein Zufall. Na-türlich wird dabei unheimlich viel gelogen und intrigiert, aber die zari-stische Regierung wie überhaupt jede bürgerliche Regierung kann ja in

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400 W.I.Lenin

der Politik ohne Lügen und Intrigen keinen Schritt tun. Natürlich geht es

dabei nicht ohne gemeinste Gaunerei ab, was damit zusammenhängt, daßBevollmächtigte der französischen und deutschen Bankiers in Petersburgeingetroffen sind, um über die neue Anleihe von anderthalb MilliardenRubel zu verhandeln, die die zaristische Regierung braucht wie das liebeBrot. Aber das ganze System der Abhängigkeit der Regierungen von derBourgeoisie erzeugt ja bei allen Geschäften und Machenschaften, in denendiese Abhängigkeit verwirklicht wird, unvermeidlich derartige Gaunerei.

Die Selbstherrschaft muß sich mit der Bourgeoisie „aussöhnen" und istgezwungen, danach zu streben, wobei sie selbstverständlich die öffentliche

Meinung Europas und Rußlands irreführen möchte. Und die Reichsdumaist ein unübertreffliches Mittel für diesen Zweck. Eine legale Oppositionder Bourgeoisie in der Duma ist eben jenes Aushängeschild der von derBourgeoisie anerkannten Staatsordnung, das der Selbstherrschaft vielleichtnoch helfen könnte, sich herauszuwinden.

So betrachtet, ist es begreiflich, weshalb die „Moskowskije Wedo-mosti", dieses Organ der konservativen Opposition gegen die Regierung,vom Dumaboykott nicht mit Schadenfreude und nicht mit hämischemLächeln, sondern mit Schaum vor dem Munde, mit der Wut der Verzweif-

lung spricht. So betrachtet, ist es begreiflich, daß das Organ der Schwarz-hunderter, das „Nowoje Wremja", über die „Absentisten" herfällt undversucht, sogar Bebel zum Kampf gegen die Boykottidee heranzuholen(„Prole ta r i " Nr .20*) . Die Sdbwarzhu nderter fürchten den Boykott, undnur Blinde oder Leute, die daran interessiert sind, die Liberalen zu recht-fertigen, können jetzt leugnen, daß der Erfolg des Boykotts unbedingtgesichert wäre, wenn sich die Teilnehmer der Semstwo- un d Städtetagu n-gen für ihn ausgesprochen hätten.

Aber die Sache ist eben die, daß die liberale Bourgeoisie durch alle ihre

grundlegenden Klasseninteressen zur Mo narchie, zum Z weikam mersy stem,zur Ordnung, zur Mäßigung, zum Kampf gegen die „Schrecken" einer„Revolution in Permanenz", gegen die „Schrecken" einer Revolutionnach französischem Muster getr ieben wird. . . Die Wendung der l iberalenBourgeoisie, der Oswoboshdenzen und der konstitutionellen Demokratenvon der radikalen Phrase über den Boykott zum entschlossenen Kampfgegen den Boykott ist der erste wichtige politische Schritt der gesamt-

*~STehe den vorliegenden Band, S. 318/319. Die Red.

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Die ersten Ergebnisse der politischen Qruppierung 401

russischen Bourgeoisie als Klasse, ein Schritt, der von ihrer verräterischen

Natur zeugt, von ihrer „Vorbereitung zu dem Verbrechen", das Verratan der Revolution heißt. Und das ist nicht eine bloße Vorbereitung (dienach keinerlei G esetz strafbar ist, wie uns sicher irgendein W itzbold unterden Oswoboshdenije-Juristen entgegenhalten würde), sondern ein An-schlag, und zwar ein schon ausgeführter Anschlag. Wir leben jetzt rasch.Schon längst sind jene (nach der gewöhnlichen Zeitrechnung, die aber aufRevolutionen nicht anwendbar ist, gar nicht fernen) Zeiten vorüber, daes unsere P/Iicbt war, das politische Bewußtsein der Bourgeoisie überhaup terst zu wecken. Sogar jene Zeiten sind schon vorüber, da es unsere P/Iicfot

war, der Bourgeoisie zu helfen, sich als politische Opposition zu organi-sieren. Jetzt ist sie erwacht, hat sich organisiert, und auf der Tagesord-nung steht eine ganz andere große Aufgabe, die nur dank den Sieben-meilenschritten der Revolution möglich und real geworden ist — die Auf-gabe, sich mit dem Zaren zu verständigen (die Aufgabe des Kapitals),und die Aufgabe, das verräterische Kapital zu neutralisieren (die Aufgabeder Arbeit).

Und das revolutionäre Proletariat, das an der Spitze des revolutionärenVolkes marschiert, hat diese Aufgabe auf sich genommen, getreu seiner

Pflicht, seine „Gefährten" im Kampf gegen die mittelalterlichen und leib-eigenschaftlichen Zustände zu wecken, aufzurütteln und anzutreiben undsich dabei von den weniger revolutionären Gefährten abzuwenden undden mehr revolutionären zuzuwenden. Das von der Sozialdemokratie ge-führte revolutionäre Proletariat hat nicht die Duma, sondern jene Worte,Versprechungen und Losungen vom Dumaboykott „ernst genommen",die den radikalen Schönrednern der Bourgeoisie aus Leichtfertigkeit, ju-gendlicher Unerfahrenheit und Übereifer entschlüpft waren. Aus der Boy-kottphrase machte das Proletariat eine Realität, und zwar dadurch, daßes direkt und offen das Banner des bewaffneten Aufstands entrollte; da-durch, daß es nicht nur die breiteste Agitation entfaltete, sondern auchden unmittelbaren Straßenkampf (in Moskau) eröffnete; dadurch, daß essich mit der radikalen Jugend verbrüderte, dieser Avantgarde der breiten,klassenmäßig noch nicht völlig bestimmten, aber unsäglich unterdrücktenund ausgebeuteten Volksmasse, besonders der Bauernmasse. Das sozia-listische Proletariat hat sich ohne jedes Abkommen und ohne jeden Ver-trag in einer praktischen Kampfaufgabe mit den erwachten Schichten der

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402 W.lCenin

revolutionären bürgerlichen Demokratie vereinigt. In den großen Mos-kauer Tagen (groß als Vorzeichen und nicht als einzelnes Ereignis) habendas Proletariat und die revolutionäre Demokratie gekämpft, während dieLiberalen, die Oswoboshdenzen und die konstitutionellen Demokratenmit der Selbstherrschaft verhandelten.

Die politische Gruppierung hat sich abgezeichnet: für die Duma, umdie Selbstherrschaft zu erhalten; für die Duma, um die Selbstherrschafteinzuschränken,- gegen die Duma, um die Selbstherrschaft zu vernichten.Mit anderen Worten: für die Duma, um die Revolution niederzuschlagen;für die Duma, um die Revolution zum Stillstand zu bringen; gegen die

Duma, um die Revolution zum siegreichen Ende zu führen.Eine Ausnahme, eine traurige und peinliche Ausnahme, die das ein-

heitliche Bild der klaren Klassengruppierung störte (und bestätigte, wiejede Ausnahme die allgemeine Regel bestätigt), bildete der opportuni-stische Flügel der Sozialdemokratie in Gestalt der neuen „Iskra". Aberauch in dieser Ausnahme zeigte sich im engen Bereich der illegalen Aus-landsorganisationen eine von uns schon vorausgesagte sehr wichtige undsehr aufschlußreiche Gesetzmäßigkeit. Die Konferenz, die wir oben er-wähnten, vereinigte die revolutionäre Sozialdemokratie. Die „Iskra" blieb,

nicht kraft eines Abkommens, sondern kraft des Ganges der Ereignissemit dem „Oswoboshdenije" vereinigt. In der illegalen Presse traten fürden aktiven Boykott die revolutionären Sozialdemokraten und die äußersteLinke der revolutionären bürgerlichen Demokratie ein. Gegen den Boy-kott traten die opportunistischen Sozialdemokraten und die äußersteRechte der bürgerlichen Demokratie auf.

So bestätigte sich, was in der Analyse der wichtigsten taktischen Reso-lutionen der Neuiskristen („Zwei Taktiken" von Lenin)* gezeigt wordenwar, nämlich daß die „Iskra" auf das Niveau der liberalen Gutsbesitzer

hinabsinkt, der „Proletari" aber die Bauernmassen auf sein Niveau empor-hebt; daß die „Iskra" auf das Niveau der liberalen Bourgeoisie hinab-sinkt, der „Proletari" aber das revolutionäre Kleinbürgertum emporhebt.

Wer mit der sozialdemokratischen Literatur vertraut ist, kennt den vonder „Iskra" vor längerer Zeit in Umlauf gesetzten Satz: Die Bolsdiewikiund der „Proletari" haben eine Schwenkung in der Richtung der Sozial-revolutionäre, in der Richtung der extremen bürgerlichen Demokratie

* Siehe den vorliegenden Band, S. 34. Die Red.

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Die ersten Ergebnisse der politischen Qruppierung 403

gemacht. Dieser Satz enthä lt , wie jeder Gem einplatz, ein Kö rndien W ah r-

heit. Er widerspiegelt nicht bloß den Ärger der Iskristen, er widerspiegelteine wirkliche Erscheinung, aber er widerspiegelt sie so, wie ein Hohl-spiegel einen Gegenstand zurückwirft. Diese wirkliche Erscheinung ist die7atsadhe r daß die Menschewiki den opportunistischen und die Bolschewikiden revolutionären Flügel der russischen Sozialdemokratie bilden. Da nundie Iskristen zum Opportunismus abgeschwenkt sind, mußten sie unver-meidlich zu der Schlußfolgerung kommen, daß die Bolschewiki (um in derSprache der politischen Gruppierungen des 18. Jahrhunderts zu sprechen)„Jakobiner" sind. Diese Beschuldigungen bestätigen nur unsere Ansicht

vom rechten und linken Flügel der heutigen Sozialdemokratie. Diese Be-schuldigungen seitens der Opportunisten sind für uns ebenso schmeichel-haft, wie es für uns 1900 schmeichelhaft war, von der „Rabotschaja Mysl"des „Narodowolzentums" beschuldigt zu werden. Die wirkliche polit ischeGruppierung aller politischen Richtungen ganz Rußlands in der wichtig-sten taktischen Frage hat jetzt in der Praxis die Richtigkeit unserer Ein-schätzung der gan zen iskristischen Position seit dem II. Parteita g derSDAPR bewiesen.

Die Gruppierung der i l legalen Parteien, die mit der Konferenz aller

Sozialdemokraten zum A bschluß gekommen ist , ergänzt somit ganz natür -lich die Gruppierung aller Parteien in der Dumafrage. Und haben sich dieIskristen als eine peinliche Ausnahme erwiesen, so gibt uns die Tatsache,daß sie eben eine Au snahm e sind, neuen G lauben an die Kraft der Regel,an den Sieg der revolutionären Sozialdemokratie, an die Verwirklichungihrer konsequenten Losungen durch die russische Revolution. Scheint esin Augenblicken der Verzagtheit, als wäre die Niedertracht der Liberalenund die Verflachung des Marxismus durch manche Marxisten ein schlim-mes Vorzeichen, daß auch die Revolution bei uns trivial, halbschlächtig

und unvollendet sein wird, wie es die deutsche Revolution von 1848 war,so schöpft man dafür aus der Lebenskraft der Prinzipien der revolutio-nären Sozialdemokratie ermutigenden Glauben, und das heldenhafte Auf-treten der Arbeiterklasse bestärkt diesen Glauben. Die Revolution bringteine reinliche Scheidung der politischen Richtungen und führt die falschenMeinungen vortrefflich ad absurdum. Die Revolution in Rußland verläuftso, daß sie bis jetzt jene Hoffnungen auf ihren vollen Sieg rechtfertigt,die durch die äußere und innere Lage, wie sie sich gegenwärtig gestaltet

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404 IV . 1. Lenin

hat, geweckt worden sind. Und angesichts der Verwirrung der Selbstherr-schaft, der Kopflosigkeit der Liberalen, angesichts der frischen revolutio-nären Energie des Proletaria ts, das die Bauernschaft mit sich zieht, möchteman glauben, daß „unser Zug ganz anders fährt, als der deutschefuhr"10 8.

„Proletari" SVr. 23, Tiadb dem 7ext des „J> ro\etari".31. (18.) Oktober 1905.

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H Y S T E R I E D ER U N T E R L E G E N E N

Unser Artikel „Die ersten Ergebnisse der politischen Gruppierung" warschon geschrieben, als wir Nr. 112 der „Iskra" mit einem reichlich ner-vösen, von Wutausbrüchen, Tränen, Geschrei und Ausflüchten strotzen-den Artikel „Die Früchte des Zirkelwesens" erhielten. Anders als Hysterieläßt sich das nicht nennen. In diesem hysterischen Gezeter ist es ganzunmöglich, auch nur die Spur eines Arguments zu finden. Was hat dasmit Zirkelwesen zu tun, teure Genossen von der „Iskra", wo ihr selbst

aus freien Stücken zu der Konferenz der verschiedenen sozialdemokra-tischen Parteien und Organisationen Rußlands gegangen seid? D enkt dochein klein wenig nach, wenn ihr die Denkfähigkeit noch nicht ganz ver-loren habt; denkt wenigstens dann nach, wenn euer hysterischer Anfallvorübergegangen sein wird! Denn wenn ihr zugestimmt habt, zur Kon-ferenz zu gehen, wenn euer Delegierter dort w ar, so hab t ihr doch selberdiese Konferenz als eine ernste, das Proletariat verpflichtende Parteisacheangesehen. Ihr verliert doch nur den letzten Rest von Achtung bei alleneinigermaßen denkenden Arbeitern, wenn ihr zu schimpfen anfangt, nadb-

dem ihr auf einer Konferenz, die ihr durch die Tatsache eurer freiwilligenTeilnahme als eine ernste und notwendige Sache anerkannt habt, unter-legen seid!

Ihr seid damit unzufrieden, daß die Konferenz, nach eurer Meinung,eure Taktik zu scharf verurteilt hat, indem sie die Teilnahme an der Dumaals einen Verrat an der Sache der Freiheit bezeichnete? Aber habt ihr dennnicht gewußt, liebe Genossen von der „Iskra", daß ihr zu einer Konferenzmit dem ZK der SDAPR geht und daß das Organ dieses ZK, der „Prole-

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406 W.lCenm

tari", schon seit langem in Broschüren und in Artikeln eure Verwandlungin ein Anhängsel der monarchistischen liberalen Partei nachgewiesen hat?Ihr wußtet das sehr wohl, werte Genossen von der „Iskra", und wenn ihreuch jetzt bis zur Besinnungslosigkeit ärgert, so können wir euch wirklichnicht helfen. Denn es ist eine Tatsache, eine nicht wegzuleugnende undunbestreitbare Tatsache, daß ihr unter allen illegalen Parteien, Organisa-tionen, Richtungen und Organen sämtlicher Völker Rußlands allein in derGesellschaft des „Oswoboshdenije" geblieben seid. Diese Jatsadx ist dieschärfste Anklage gegen euch, eine in ihrer Schärfe, in der Geschichte un-gewöhnliche Anklage, ihr aber bildet euch ein, die Quelle der Schärfe sei

in den Worten „Verrat an der Sache der Freiheit" zu suchen!Ihr habt so sehr den Kopf verloren, daß ihr nach eurer Niederlage auf

der Konferenz ein wildes Geheul über die Schädlichkeit des vom „Bund"und anderen nationalen sozialdemokratischen Gruppen gehätschelten Fö-deralismus in der Organisation anstimmt. W ie unvernünftig ist das eurer-seits, werte Genossen von der „Iskra". Damit unterstreicht ihr doch nurdie Größe eurer Niederlage. In der Tat, überlegt einmal, werte Genossenvon der „Iskra": Wer hat die organisatorische Verschwommenheit undUnklarheit, die Prinzipien der Vereinbarung und Dezentralisation zwei

Jahre lang verteidigt und verteidigt sie bis heute? Gerade ihr, gerade dieNeuiskristen. Und gerade die Föderalisten des „Bund", der Lettischen undder Polnischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei haben seinerzeit alleeure desorganisatorischen Schlagworte gegen den angeblich auf die Spitzegetriebenen Zentralismus usw. usf. in der Presse aufgegriffen. Es ist dochwiederum eine Tatsache, eine nicht wegzuleugnende und unbestreitbareTatsache, daß alle Föderalisten der genannten Parteien Artikel im Geisteder Minderheit geschrieben und veröffentlicht haben! Begreift doch, werteGenossen von der „Iskra", wie unangebracht eure Erwähnung des Föde-

ralismus ist: Ih r hab t damit unterstrichen, da ß eure gestrigen wohlwollen-den Freunde, die Sozialdemokraten vom „Bund", von der Lettischen undder Polnischen Sozialdemokratischen Partei, gezwungen waren, euch zu ver-lassen, weil sie die Abgeschmacktheit eurer D umataktik einfach nicht mehrertragen konnten! N ein, werte Genossen von der „Iskra", wenn ihr , nach-dem ihr euch beruhigt habt, ein klein wenig nachdenkt, so werdet ihr auchselber sehen, was alle sehen: Nicht die „M ehrheit" ist zum Föderalismus,sondern der „Bund", die lettischen und die polnischen Sozialdemokraten

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"Hysterie der tlnterkgenen 407

sind unter dem Einfluß der objektiven Logik der revolutionären Ereignissezu dem Standpunkt gekommen, den die „Mehrheit" stets verteidigt hat.Eure Niederlage ist schwer, werte Genossen von der „Iskra", das steht

fest. Aber ihre Ursache liegt nicht in der Arglist der Mehrheit oder derSozialdemokraten Polens usw., sondern in jener hoffnungslosen Konfu-sion, die sich schon in den taktischen Resolutionen der gesamtrussischenKonferenz der Menschewiki gezeigt hat. Solange ihr auf dem Boden die-ser Resolution stehenbleibt, werdet ihr unausweichlich „selbander" mitdem „Oswobosbdenije" gegen alle Sozialdemokraten und sogar gegenalle revolutionären Demokraten stehen.

„ProUtari" 3Vr. 23, "Nado dem 7ext des „Proletari".3i. (.18.) Oktober 1905.

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EIN ULTIMATUMDES REVOLUTIONÄREN RIGA

Die deutschen Zeitungen, die den Ereignissen in den Ostseeprovinzengroße Aufmerksamkeit zu widmen pflegen, berichten über folgenden lehr-reichen Fall. Am Rigaer Polytechnikum geht es ebenso zu wie an anderenHochschulen: die Studentenversammlungen verwandeln sich in politischeKundgebungen. Die Studenten organisieren sich zu einer Streitmacht derRevolution. Die liberalen Größen rümpfen die Nase und brummein etwasin den Bart über die Schwäche der Regierung. Aber in Livland wurde dieLage für die Herren Gutsbesitzer so schlimm, daß sie entschlossen an die

Organisierung einer bewaffneten Schutzgarde für ihre Güter gingen, ohnesich auf die Regierung zu verlassen, die weder mit den Bauern noch mitden Arbeitern, noch auch mit den Studenten fertig werden kann. Diebaltischen Barone organisieren den Bürgerkrieg allen Ernstes: Sie dingenkurzerhand ganze Abteilungen, rüsten sie mit guten Repetiergewehrenaus und verteilen sie auf ihre weitläufigen Güter. Und nun stellt sich her-aus, daß ein Teil der deutschen Korpsstudenten in den Ostseeprovinzendiesen Abteilungen beigetreten ist! Die lettische und die russische Studen-tenschaft erklärte selbstverständlich nicht nur den Boykott gegen diese

Schwarzhunderter in der Studentenuniform, sondern setzte auch eine be-sondere Kommission zur Untersuchung der Teilnahme von Studenten anden von den Gutsbesitzern organisierten Schwarzhundertschaften ein.Zwei Mitglieder dieser Kommission wurden in die Dörfer geschickt, umbei den Bauern Erhebungen anzustellen. Die Regierung ließ die beidenDelegierten verhaften und in das Rigaer Gefängnis bringen.

Da erhoben sich die lettischen und russischen Studenten. Es kam eineriesige Versammlung zustande. Eine energische Resolution wurde ange-

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Ein "Ultimatum des revolutionären Riga 409

nommen. Von dem herbeigerufenen Rektor des Polytechnikums forderte

man sofortige Maßnahmen zur Befreiung der Verhafteten. Die Resolutionschloß mit einem eindeutigen Ultimatum: Wenn die Verhafteten in dreiTagen zu bestimmter Stunde nicht freigelassen werden, dann werden dieStudenten mit Hilfe der Rigaer Arbeiter ihre Freilassung unter Anwen-dung aller Mittel durchsetzen.

Der Gouverneur befand sich zu jener Zeit nicht in Riga, er war nachPetersburg gereist, um sich die Vollmachten eines Generalgouverneurs zuverschaffen. Der Stellvertreter des Gouverneurs bekam es mit der Angstzu tun und half sich diplomatisch „aus der Patsche". Er ließ (so berichtet

die „Vossische Zeitung" vom 20. Oktober) den R ektor und die beidenVerhafteten zu sich kommen und fragte diese, ob sie sich der Ungesetz-lichkeit ihrer Handlungen bewußt seien. Die Studenten antworteten na-türlich, sie sähen in ihren Handlungen nichts Ungesetzliches. Darauf emp-fahl ihnen — das soll eine Rigaer Zeitung berichtet haben — der Stellver-treter des Gouverneurs dringend, sich derartiger gesetzwidriger Hand-lungen zu enthalten, und — setzte die beiden in Freiheit.

„In den Augen der Studentenschaft", fügt der den baltischen Baronenzugetane Korrespondent betrübt hinzu, „und der hinter ihnen stehenden

Masse hat die Regierung sich dem Ultimatum gebeugt. Auch der Unpar-teiische hat diesen Eindruck."

„Proletari" ?ir. 23. Nach dem Text des „Vroletari".31 . (18.) Oktober 1905.

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DIE PLÄNE DES MINISTERCLOWNS

Um die Politik von heute besser zu verstehen, empfiehlt es sich zu-weilen, auch einen Blick auf die von gestern,zu werfen. Folgendes tele-

grafierte der meist gut informierte Korrespondent der Londoner „Times"

am 10. (23.) Oktober aus Petersburg:

„Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, daß die Regierung beschlossen hat,die vier von den Reformern geforderten Freiheiten zu gewähren, diese Frei-heiten jedoch mit Einschränkungen zu versehen. Man hofft, daß dieses Zu-

geständnis die Gemäßigten veranlassen wird, sich der Regierung anzuschlie-ßen. Graf Witte hatte gestern eine lange Besprechung darüber mit dem Zaren.Herr Goremykin arbeitet einen Gesetzentwurf über die Zuteilung von Staats-ländereien an die Bauern aus. Dieser Entwurf wird der Duma nach ihremZusammentritt vorgelegt werden. Auf diese Weise hofft man die Bauernstim-men zu gewinnen.

Das ist in Kürze der Plan der Regierungskampagne. Er schließt offenbardie freiwillige Gew ährung einer Verfassung vor dem Z usam men tritt der Dum aaus, obwohl die konstitutionellen Demokraten noch einige Hoffnung daraufhegen. Eine der Hauptfragen, die auf ihrer am Mittwoch stattfindenden Kon-

ferenz erörtert werden soll, ist die Frage, wie sich die Partei verhält, wenn beider Eröffnung der Duma oder noch vorher eine Verfassung gewährt wird: Sollsich die Partei in diesem Falle zur Arbeit in der Duma bereit erklären, odersoll sie auf der Einberufung einer auf Grund des allgemeinen Stimmrechts ge-wählten konstituierenden Versammlung bestehen?

Die Anhänger der Selbstherrschaft hoffen, daß die von der Regierung be-absichtigten Zugeständnisse die konstitutionelle Bewegung endlich zum Still-stand bringen werden, ohne daß man das Wahlrecht erweitert oder der Dumagesetzgeberische Rechte gewährt; aber alle Anzeichen sprechen dagegen."

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Die Pläne des Ministerclowns 411

Ja, der „Plan der Regierungskampagne" ist klar. Klar ist auch für alle

nicht Verblendeten die „Kampagne" der Herren konstitutionellen Demo-kraten, die mit der Regierung feilschen. Nur eines ist schlimm: die Arbei-terklasse rührt sich, und sie rührt sich dermaßen, daß alle spitzfindigenPläne sowohl der Herren Witte als auch der Herren konstitutionellenDemokraten daran zerschellen.

„Proletari" SVr. 23, %ach dem Jex t des „Proletari".31 . Ci8.) Oktober 19 05.

27*

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DIE ZUSPITZUNG DER LAGEIN RUSSLAND

Unter dieser Überschrift veröffentlicht das liberale Berliner Blatt „Vos-sische Zeitung" folgenden bemerkenswerten Bericht:

„Mit unaufhaltsamer Gewalt schreiten die Ereignisse im Zarenreich fort.Jedem unbefangenen Beobachter muß es klar sein, daß weder die Regierungnoch irgendeine oppositionelle oder revolutionäre Partei die Zügel in der Handhat. Vergeblich hat der so jäh vom Tode hinweggeraffte Fürs t Trub ezkoi, ver-geblich haben die Lehrer der russischen Hochschulen versucht, die russische

' Studentenschaft von dem gefährlichen Wege abzulenken, auf den sie der Be-schluß geführt hat, die Universitäten in Plätze für politische Volksversamm-lungen zu verwandeln. Die Studenten feiern enthusiastisch das Andenken desFürsten Trubezkoi, geben ihm in Massen das Geleit und gestalten die Trauer-feierlichkeiten zu einer großen politischen Kundgebung, seinen Rat aber, diefremden Elemente von der Universität fernzuhalten, befolgen sie nicht. In derPetersburger Universität, in der Bergakademie, im Polytechnikum finden be-reits riesige Volksversammlungen statt, in denen die Studenten oft nur dieM inderheit bilden und die vom frühen Morgen bis zum späten A bend dau ern.Es werden dabei zündende, leidenschaftliche Reden gehalten und revolutionäre

Lieder gesungen. Außerdem wird ab und zu tüchtig auf die Liberalen ge-schimpft, wegen ihrer ,Halbheit' nämlich, die dem russischen Liberalismus,nicht etwa zufällig, anhaftet, sondern durch eherne historische Gesetze bedingtsein soll.

Es liegt eine tiefe Tragik in diesen Vorwürfen, die trotz ihrer historischenBegründung schon deshalb völlig unhistorisch sind, weil die Liberalen in Ruß-land ja überhaupt noch nicht Gelegenheit haben, irgendwelche Halbheiten zuoffenbaren, die das für alle Parteien so wichtige Befreiungswerk irgendwie ge-fährden könnten. Nicht ihre Taten, sondern nur ihre Leiden hemmen ihren

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Die Zuspitzung der Lage in Rußland 413

Lebensgang. Die Regierurig ist allen diesen Vorgängen gegenüber ebenso rat-

los (hervorgehoben im Original), wie sie es den Arbeiterunruhen und der all-gemeinen Gärung gegenüber ist. Es ist wohl möglich, daß sie wieder einenstarken Aderlaß plant und nur auf den Moment wartet, wenn die Bewegungzu Kosakenattacken reif geworden ist. Aber selbst, wenn das der Fall wäre,so weiß doch keiner der G ewa lthaber, ob das nicht zu einem noch stürmischerenAufbrausen der Unzufriedenheit führen wird. Nicht einmal General Trepowselbst ist seiner Sache sicher. Seinen Freunden gegenüber verhehlt er es nicht,daß er sich als dem Tode geweiht betrachtet und daß er keinerlei positivesErgebnis seines Waltens erwartet. ,Ich tue nur', sagt er, ,was ich für meinePflicht halte, und ich werde diese Pflicht bis zu Ende erfüllen.'

Es muß sehr traurig um den Zarenthron bestellt sein, wenn der Leiter desPolizeiressorts zu derartigen Schlüssen gelangt ist. In der Tat kann man nichtumhin, anzuerkennen, daß trotz aller Bemühungen Trepows, trotz aller fieber-haften Tätigkeit der zahllosen Kommissionen und Konferenzen die Spannungseit dem vorigen Ja hre nicht nur nicht abgenommen, sondern sich vielmehr ver-stärkt hat. Wohin man auch blickt, überall ist die Lage schlimmer und gefähr-licher geworden, überall haben sich die Zustände merklich zugespitzt."

Diese Einschätzung der Lage enthält viel Wahres, aber auch viel libe-rale Schwachköpfigkeit. „Die Liberalen hatten noch keine Gelegenheit,

Halbheiten zu offenbaren, die das Befreiungswerk gefährden könnten."So, wirklich? Warum konnten sich aber diese armen Liberalen dennochoffener und freier äußern als andere Parteien? Nein! Die Studenten sind,wenn sie sich von den konstitutionellen Demokraten eifrig abgrenzenund diese konstitutionellen Demokraten in den Augen des Volkes diskre-ditieren, von einem gesunden revolutionären Instinkt geleitet, der durchihren Umgang mit dem Proletariat geschärft ist. Der morgige Tag bringtuns große, welthistorische Freiheitskämpfe. Es ist möglich, daß die Kämp-fer für die Freiheit noch mehr als eine Niederlage erleiden werden. Aber

diese Niederlagen werden die Arbeiter und Bauern nur noch tiefer auf-rütteln, die Krise nur noch mehr zuspitzen, den unausbleiblichen Endsiegder Freiheitssache nur noch gewaltiger machen. Und wir werden alle Kräfteaufbieten, damit sich die bürgerlichen Blutegel des monarchistischen, guts-herrlichen Liberalismus nicht an diesem Siege festsaugen, dam it dieser Siegnicht vor allem von den Herren Großbourgeois ausgenutzt wird, wie esschon so oft in Euro pa der Fall w ar. W ir w erden alle Kräfte aufbieten,damit dieser Sieg der Arbeiter und Bauern zu Ende geführt wird, bis zur

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414 IV. 1 Centn

restlosen Vernichtung all der verhaßten Einrichtungen der Selbstherr-schaft, der Monarchie, der Bürokratie, des Militarismus und der Leib-eigenschaft. Nur ein solcher Sieg wird dem Proletariat wirkliche Waffenin die Hand geben — und dann werden wir Europa in Brand setzen, umaus der russischen demokratischen Revolution einen Prolog der euro-päischen sozialistischen Umwälzung zu machen.

„Proktari" 3Vr. 23, Tiaäj dem Jext des „Proletari".31. ( i 8 j Oktober 1905.

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B E M E R K U N G E N Z U M A R T I K E L

„ D IE B R I T I S C H E A R B E I T E R B E W E G U N G

U N D D E R K O N G R E S S D E R T R A D E - U N I O N S " 1 0 8

1

Es handelte sich um folgendes. Die Eisenbahnverwaltung von Taff-Vale* verklagte den Eisenbahnerverband wegen der Verluste, die derEisenbahngesellschaft durch den Streik entstanden waren. Ungeachtet deserbitterten Widerstands der Arbeiter erkannten die bürgerlichen Richterden Kapitalisten eine Entschädigung zu! Die Arbeiterverbände dazu ver-urteilen, den Herren Kapitalisten die durch einen Streik entstandenen

Verluste zu ersetzen, bedeutet faktisch, die Streikfreiheit abzuschaffen.Die vor der Bourgeoisie katzbuckelnden Richter können also sogar dieverfassungsmäßigen Freiheiten zunichte machen, wenn es sich um denKampf zwischen Arbeit und K apital handelt.

Es sieht so aus, als ob die englische Arbeiterbewegung leider noch recht

lange das traurige Beispiel dafür sein wird, wie die Trennung der Arbeiter-bewegung vom Sozialismus unweigerlich zu Verflachung und Verbürge-rung führt.

„7>ro\etan" 7Jr. 23, Nad} dem Jext des „Proletari".31. (i8.) Oktober 1905.

* Taff-Tal. Die Red.

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GLEICHGEWICHT DER KRÄFTE110

1. Das bisherige (30. (17.) Oktober, Montag) Ergebnis ist: Gleich-gewicht der Kräfte, wie wir schon in 3Vr. 23 des „Proletari" gezeigt haben.

2. Der Zarismus hat nicht mehr die Kraft, die Revolution noch nidhtdie Kraft zu siegen.

3. Daher die kolossalen Schwankungen. Ungeheures, gigantisches An-wachsen revolutionärer Erscheinungen (Streiks, Meetings, Barrikaden,Komitees der öffentlichen Sicherheit, völlige Lähmung der Regierung etc:)

— anderseits das Ausbleiben entschlossener Repressalien. Die Jruppen

sdhwanken.4. Der Hof schwankt („Times" und „Daily Telegraph"xl1 ): Diktatur

oder Verfassung.Der Hof schwankt und wartet ab. Das ist seitens dieser Kreise im

Grunde eine ichtige Ta ktik: das Gleichgewicht der Kräfte zwingt sie, ab-zuwarten, denn die Macht ist in ihren "Händen.

Die Revolution ha t einen Punkt erreicht, wo es für die Konterrevolutionunvorteilhaft ist, vorzugehen und anzugreifen.

Für uns, für das Proletariat, für die konsequenten revolutionären De-

mokraten, genügt das noch nicht. Wenn wir nicht noch eine Stufe höhersteigen, wenn wir die Aufgabe des selbständigen Angriffs nicht bewältigen,wenn wir die Kräfte des Zarismus nicht brechen, seine faktische Machtnicht zerstören, dann wird die Revolution halbschlächtig sein, dann wirddie "Bourgeoisie die Arbeiter nasführen.

5. Gerüchte, die Verfassung sei schon beschlossen. Wenn ja, dann be-herzigt der Zar also die Lehren des Jahres 1848 und anderer Revolutio-nen: ohne die konstituierende Versammlung, vor der konstituierenden

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Qleidbgewidot der Kräfte 417

Versammlung, unter TAmgehtmg der konstituierenden Versammlung eine

Verfassung zu gewähren. Was für eine? Im besten Falle (für den Zaren):eine kadettische.

Der Sinn der Sache: Verwirklichung des Ideals der konstitutionellenDemokraten, überspringen der Revolution. Ein Betrug am Volk, dennvollständige und reale W ahlfreiheit wird es trotzdem nidht geben.

Sollte nicht die Revolution diese huldvoll gewährte Verfassung über-spr ingen?

geschrieben am 47. (30J Oktober i905. Tiadb dem Manuskript.

Zuerst veröjfentUdbt i926im Lenin-Sammelband V.

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E I N S O Z I A L D E M O K R A T I S C H E S L I E B C H E N

Vom „Oswoboshdenije" begrüßt, fährt Genosse Starower in der neuen„Iskra" fort, die Sünden zu bereuen, die er (aus Unverstand) durch seineMitarbeit an der alten „Iskra" begangen hat. Gen. Starower gleicht sehrder Heldin in Tschechows Erzählung „Das Liebchen". Das Liebchen lebtezuerst mit einem Entrepreneur, da sagte sie: Ich und Wanitschka bringenernste Theaterstücke. Dann lebte sie mit einem Holzhändler, d a sagte sie:Ich und Wassitsdhka sind empört über die hohen Holztarife. Schließlichlebte sie mit einem Tierarzt, da sagte sie: Ich und Kolitschka kurierenPferde. So auch Gen. Starower. „Ich und Lenin" haben Martynow aus-geschimpft. „Ich undMartynow" schimpfen Lenin aus. Teures sozialdemo-kratisches Liebchen! In wessen Umarmung wirst du dich morgen befinden?

Qesdhrieben im Oktober i905. Tiado dem Manuskript.

Zuerst verö ffentlicht 1926im Lenin-Sammelband V.

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Ü B E R D I E B R O S C H Ü R E

„ V O L K S D U M A U N D A R B E I T E R K O N G R E S S "

V O N P - B . A X E L R O D

Plan einer Broschüre112

über die Broschüre „Volksduma und Arbeiterkongreß" von P. B. Axel-rodist zu bemerken:

Das ist die Quintessenz aller iskristischen Dummheiten: sowohl einesparallelen Parlaments als auch einer Verständigung mit den konstitutio-nellen Demokraten.

Im großen und ganzen echte Parlamentsspielerei in allem: sowohl inder Volksduma — und in der Verständigung mit den Kadetten — wie auchin der parlamentsmäßigen Behandlung des „Arbeiterkongresses", mit Bei-spielen „aus Lassalle" (der gewirkt hat, als es eine Verfassung gab, mehrals zehn Jahre nach ihrer Erkämpf ung durch die Revolution).

Ein Haufen Kuriositäten: „die erste und wichtigste Grundlage" (S. 13)„ernsthafter Verhandlungen und Abkommen zwischen unserer Partei undden liberalen Organisationen"... sind Aktionen. Und was für welche?

Gen. P. B. Axelrod kommt um (1) materielle M it te l. ..drei Jahre zu spät! Das soll ein Ab- (2) U nte rkü nfte...kommen mit einer politischen ( 3 ) Waffen I „Beschaffung""

Partei sein? Das sind Dienstlei-stungen, vor allem technische, die (4) Einflußnahme auf öffentlichevor 3 Jahren ausreichend waren. Institutionen,

(5) Ausnutzung bürokratischer undmilitärischer Verbindungen imInteresse des offenen politi-schen Auftretens.

„Schulbankpädagogik": wenn es nicht gelingt, die Volksduma und

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420 W.l Centn

den Arbeiterkongreß einzuberufen (S. 12), so „wird die agitatorische undorganisatorische Arbeit nidbt umsonst gewesen sein".

Mit dem Aufstand vergleichen — kann dabei die organisatorische Arbeit„umsonst gewesen sein'"? Nein. Die agitatorische Arbeit? Nein, denn derAufstand ist da, er ist eine Realität. Die Volksdutna dagegen ist eineKomödie, ein Phantom, eine Phrase.

Ammenhafter Jon gegenüber den Arbeitern.S. 7 : „einer konstituierenden 'Polfesversammlung, d. h . einer wirklichen

,Volksduma'"

| durchaus nicht „d. h." und durchaus nicht einer „wirklichen" }(S.7) „Pflichten" der Volksduma1° 1) „die Forderung an die Reichsduma stellen, eine konstituierende

Versammlung einzuberufen2) — „ — und zu erklären (? — und ?), daß sie

inkompetent ist, kein Recht hat, zu funk-tionieren"

!! Haha! und das „Recht", einekonstituierende Versammlung ein-

zuberufen?

11° 3) „als Samm elpunkt und Sprachrohr des Willens aller demokra-tischen (S.7) Schichten der Bevölkerung und als Organisator der Ver-teidigungs- und Angriffsaktionen dieser Schichten gegen die Regierungund ihre Verbündeten zu dienen".

Diesen Blödsinn mit der provisorischen revolutionären Regierung alsOrgan des Aufstands vergleichen.

Ein Wortschwall ohne Sinn und revolutionäre Rea-lität.

Die Schwierigkeit des Aufstands = die Schwierig-keit, den Montblanc zu Fuß zu besteigen.

Die Schwierigkeit der „Volksduma" unter derSelbstherrschaft = die „Schwierigkeit", auf den Mont-blanc durch die Luft zu fliegen.

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Tiber die "Broschüre von ? . B. Jxelrod 421

Vermerken, daß unser ZK seine Meinung, wonach der Plan der „Iskra"

ein rein ausländisches Hirngespinst ist, in seinem Blatt erhärtet. Axelrodmöchte seinen Korrespondenten umstimmen, der a) (S. 6) bezweifelt, daßdie Losungen der Volksduma und des Arbeiterkongresses breite Massenerfassen werden; b) (S. 14) die Politik des „aktiven Boykotts" motivierte(S. 15 und S. 14infine*).

Die Politik des aktiven Boykotts hält Axelrod für„reaktionär und utopisch"

— Reaktion? — diese Frage haben die Konferenz der Sozialdemokraten+ das „Oswoboshdenije" entschieden. Koalition mit den Schwarzhunder-

tern? — Angst vor den „Moskowskije Wedomosti" und dem „NowojeWremja".— Utopie? Zwei „Utopien": der bewaffnete Aufstand

und die Parlamentsspielerei.

Welche „Utopie" verwirklicht wird, zeigt der Generalstreik und derStraßenkampf in ganz Rußland.

Völlig chaotische Ideen über „Verständigung" und „Abkommen" (S. 7)„mit den zentralen Organisationen der liberalen Demo-

kratie".Volles Unvermögen, die revolutionäre Demokratie auszusondern

und konkrete Losungen eines politischen Abkommens m it ihr zu geben.Bei P . B. Axelrod gibt es nur Oswoboshdenzen-Losungen.

Betreffend den „Arbeiterkongreß".III. Parteitag: Ausnutzung des offenen Auftretens für die Schaffung von

Stützpunkten der Partei11 3.

(Klar und deutlich.)

Bei P . B. Axelrod herrscht ein wüstes Durcheinander.Gesamtrussischer Arbeiterkongreß sans phrase**

(S. 3) - oder eine „Phrase"!Quid est?***

* am Schluß. Die Red.

** keine Phrase. "Die "Red.*** W as ist das? Die Red.

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422 W. J. Lenin

Am besten zwei Kongresse 1) „Allgemeiner Kongreß" (S. 4)

2) „sozialdemokratischer Kongreß"(„aus Teilnehmern des allgemei-nen Kongresses, die unser Pro-

gramm teilen, plus Vertreter unserer Parteiorganisationen zwecksUmgestaltung der ganzen Partei". S. 4).

Unsinnigkeit des Vergleichs mit Lassalles Wirken: 1) damals gab es

schon eine Verfassung .2) Damals wurde offen an Lassalle herange-getreteri, und er trat offen auf. 3) Damals bot die Gründung des Allgemei-

nen Deutschen Arbeiter-Vereins * Anlaß, die „proletarische Selbsttätigkeit"

gegen die sozialdemokratische Arbeiterpartei zu mißbrauchen. I

Qeschrieben im O ktober 1905.

Zuerst veröffentlicht i926 Jiach dem Ma nuskript,im Lenin-Sammelband V.

* Name der Organisation bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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423

D I E A U F G A B E N D ER A B T E I L U N G E N

D E R R E V O L U T I O N Ä R E N A R M E E

1. Selbständige militärische Aktionen.2. Leitung der M enge.Die Abteilungen können beliebig stark sein, von zwei bis drei Mann an.Die Abteilungen müssen sich selbst bewaffnen, jeder womit er kann

(Gewehr, Revolver, Bombe, Messer, Schlagring, Knüppel, mit Petroleumgetränkte Lappen, um Feuer anzulegen, Stricke oder Strickleitern, Schau-feln für den Bau von Barrikaden, Sprengpatronen, Stacheldraht, Nägel(gegen Kavallerie) usw. usf.). Unter keinen Umständen darf man vonanderer Seite, von oben oder von außen Hilfe erwarten, sondern muß

alles selbst beschaffen.Die Abteilungen müssen möglichst aus Personen gebildet werden, dienahe beieinander wohnen oder häufig, regelmäßig, zu bestimmten Stun-den zusammentreffen (am besten beides, denn das regelmäßige Zusam-mentreffen kann durch den Aufstand unterbrochen werden). Ihre Aufgabeist, es so einzurichten, daß sie in den kritischsten Augenblicken, in den un-vorhergesehensten Situationen zusammenkommen können. Jede Abteilungmuß daher im voraus Mittel und "Wege festlegen, um ein gemeinsamesVorgehen zu sichern: Zeichen an den Fenstern usw., um einander leichter

zu finden; verabredete Rufe oder Pfiffe, um den Genossen in der Mengezu erkennen; vereinbarte Zeichen für den Fall eines nächtlichen Zusam-mentreffens usw. usf. Jeder energische Mann kann mit zwei bis drei Ge-nossen eine ganze Reihe solcher Regeln und Methoden ausarbeiten, diezusammengestellt, auswendig gelernt und praktisch geübt werden müssen.Man darf nicht vergessen, daß die Ereignisse mit 99 Prozent Wahrschein-lichkeit überraschend eintreten werden und daß es nötig sein wird, unteraußerordentlich schwierigen Verhältnissen zusammenzukommen.

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424 W. 1 Lenin

Sogar unbewaffnete Abteilungen können eine sehr wichtige Rolle spie-

len, wenn sie 1. die Menge leiten; 2. bei günstiger Gelegenheit einen Poli-zisten oder einen zufällig von seinen Kameraden getrennten Kosaken über-fallen (ein Fall in Moskau) usw. und entwaffnen; 3. Verhaftete oder Ver-wundete retten, wenn die Polizeikräfte schwach sind; 4 . auf Hausdächer,in obere Stockwerke usw. steigen und die Truppen mit Steinen bewerfen,mit kochendem Wasser begießen usw. Eine organisierte, geschlossen undenergisch vorgehende Abteilung ist eine ungeheure Kraft. Unter keinenUmständen darf die Bildung einer Abteilung unter dem Vorwand desWaffenmangels verweigert oder aufgeschoben werden.

Die Abteilungen müssen die Funktionen möglichst im voraus verteilenund den Leiter, den Abteilungsführer, manchmal im voraus wählen. Eswäre natürlich unvernünftig, in eine Spielerei mit Rangbezeichnungen zuverfallen, man darf aber die kolossale Bedeutung einer einheitlichen Füh-rung, eines raschen und entschlossenen Vorgehens nicht vergessen. Ent-schlossenheit und kühner Angriff sind drei Viertel des Erfolgs.

Die Abteilungen m üssen sich sofort nach ihrer Bildung, also schon jetz t,an eine vielseitige Arbeit machen, und zwar keineswegs nur theoretische,sondern unbedingt auch praktische. Zu r theoretischen Arbeit rechnen wir

das Studium der Kriegswissenschaften, die Beschäftigung mit militärischenFragen, Referate über m ilitärische Fragen, Aussprachen mit Militärs (mitOffizieren, Unteroffizieren usw. usf., nicht zuletzt auch mit ehemaligenSoldaten aus der Arbeiterschaft); die Lektüre, Besprechung und Verarbei-tung illegaler Broschüren und Zeitungsartikel über den Straßenkampf usw.usf.

Wir wiederholen, mit den praktischen Arbeiten muß sofort begonnenwerden. Sie zerfallen in vorbereitende und in militärische Operationen.Zu den vorbereitenden gehört die Beschaffung jeder Art von Waffen und

Munition, die Auswahl günstig gelegener Wohnungen für den Straßen-kampf (die geeignet sind für den Kampf von oben, für die Lagerung vonBomben, Steinen usw. oder von Säuren zum Begießen der Polizisten usw.usf., sowie für das Stabsquartier, für den Nachrichtendienst, als Zufluchts-ort für Verfolgte, Unterkünfte für Verwundete usw. usf.). Zu den vorbe-reitenden Arbeiten gehört ferner rechtzeitige Aufklärung und Erkundung:Beschaffung von Plänen der G efängnisse, Polizeireviere, Ministerien usw.,Auskundschaftung der Arbeitseinteilung in den staatlichen Institutionen,

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Die Aufgaben der Abteilungen der revolutionären Armee 425

in den Banken usw., sowie ihrer Bewachung; Anknüpfung von Beziehun-

gen, die nützlich sein können (mit Polizei-, Bank-, Gerichts-, Gefängnis-,Post- und Telegrafenbeamten usw.), Feststellung von Waffenlagern, vonsämtlichen Waffenläden der Stadt usw. Es gibt hier massenhaft Arbeit,und zwar solche, bei der jeder größten Nutzen bringen kann, sogar derzum Straßenkampf völlig Untaugliche, sogar körperlich ganz schwächlicheMenschen, Frauen, Jugendliche, Greise u. a. Man muß bestreb t sein, schonjetzt unbedingt und ausnahmslos alle in den Abteilungen zusammenzu-schließen, die sich am Aufstand beteiligen wollen, denn es gibt keinenMenschen und kann keinen geben, der nicht den größten N utzen bräch te,

wenn er arbeiten will, auch wenn er keine Waffe hat, auch wenn er per-sönlich zum Kampf untauglich ist.

Sodann dürfen sich die Abteilungen der revolutionären Armee keines-falls nur auf vorbereitende Arbeiten beschränken, sie müssen sobald wiemöglich auch zu militärischen Aktionen übergehen, um: 1. ihre Kampf-kraft zu üben; 2. die schwachen Stellen des Feindes zu erkunden; 3. demFeind Teilniederlagen beizubringen; 4. Gefangene (Verhaftete) zu be-freien; 5. Waffen zu erobern; 6. Geldmittel für den Aufstand zu gewin-nen (Regierungsgelder zu konfiszieren) usw. usf. Die Abteilungen könnenund müssen unverzüglich jede Gelegenheit zu lebendiger Arbeit ergreifen,sie dürfen das keineswegs bis zum allgemeinen Aufstand verschieben,denn steh t man nicht schon vorher im 7euer, so erwirbt man die Tauglich-keit auch zum Aufstand nicht.

Gewiß ist jede Übertreibung von Übel; alles Gute und Nützliche kann,auf die Spitze getrieben, schlecht und schädlich werden, ja muß es sogar,wenn eine gewisse Grenze überschritten wird. Undisziplinierte, unvor-bereitete kleine Terrorakte können, auf die Spitze getrieben, die Kräftelediglich zersplittern und vergeuden. Das ist richtig und darf natürlichnicht vergessen werden. Aber anderseits darf man auch keinesfalls verges-sen, daß jetzt die Losung des Aufstands sdion ausgegeben ist, daß derAufstand schon begonnen hat. Mit Angriffsaktionen zu beginnen, wenndie Umstände günstig sind, ist nicht nur das Recht, sondern auch die direktePflicht eines jeden Revolutionärs. Tötung von Spitzeln, Polizisten undGendarmen, Sprengung von Polizeirevieren, Befreiung von Verhafteten,Konfiskation von Regierungsgeldern für die Erfordernisse des Aufstands —

solche Aktionen werden überall dort, wo sich der Aufstand ausbreitet, in

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4 2 6 • W.3. Lenin

Polen und im Kaukasus, bereits unternommen, und jede Abteilung der

revolutionären Armee muß jeden Augenblick zu solchen Aktionen bereitsein. Jede Abteilung muß daran denken, daß sie sich unverzeihlicher Ta-

tenlosigkeit, der Passivität schuldig macht, wenn sie die für eine Aktion

günstige Gelegenheit nicht heute schon ausnützt — und eine solche Schuld

ist in der Epoche des Aufstands das größte Verbrechen eines Revolutio-

närs, die größte Schmach für jeden, der nicht nur in Worten, sondern in

der Tat die Freiheit erstrebt.

über die Zusammensetzung dieser Abteilungen läßt sich folgendes

sagen: die zweckmäßigste Anzahl der Mitglieder und die Verteilung ihrer

Funktionen wird die Erfahrung lehren. Man muß selbst anfangen, sichdiese Erfahrung anzueignen, ohne Weisungen von außen abzuwarten.

Man soll natürlich die örtliche revolutionäre Organisation bitten, einen

militärisch geschulten Revolutionär für Vorträge, Aussprachen und Rat-

schläge zu schicken, aber falls sich ein solcher nicht rindet, muß man un-

bedingt selbst mit allem zurechtkommen.

Was die Parteigruppierungen betrifft, so werden die Mitglieder einer

Partei es natürlich vorziehen, sich in den gleichen Abteilungen zusammen-

zuschließen. Aber man soll Mitgliedern anderer Parteien nicht unbedingt

den Beitritt zu einer Abteilung verweigern. Gerade hier müssen wir denZusammenschluß, die praktische Verständigung (selbstverständlich ohne

jedwede Verschmelzung der Parteien) des sozialistischen Proletariats mit

der revolutionären Demokratie verwirklichen. Wer für die Freiheit kämp-

fen will und seine Bereitschaft durch die Tat beweist, der kann zu den

revolutionären Demokraten gerechnet werden, mit dem muß man gemein-

sam an der Vorbereitung des Aufstands zu arbeiten trachten (natürlich

nur dann, wenn zu der Person oder zu der Gruppe volles Vertrauen vor-

handen ist). Alle übrigen „Demokraten" müssen als Quasi-Demokraten,

als liberale Schwätzer scharf zurückgewiesen werden, denn es wäre vonRevolutionären unverzeihlich, sich auf sie zu verlassen, und verbrecherisch,

ihnen Vertrauen zu schenken.

Es ist natürlich wünschenswert, daß die Abteilungen sich miteinander

vereinigen, und außerordentlich nützlich, Formen und Bedingungen für

die gemeinsame Tätigkeit auszuarbeiten. Aber man darf dabei keinesfalls

in das Extrem verfallen, komplizierte Pläne, allgemeine Schemas usw.

zu erfinden und der lebendigen Sache durch pedantische Tüfteleien Ab'

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Die Aufgaben der Abteilungen der revolutionären Armee 427

bruch zu tun. Die Begleitumstände des Aufstands werden unweigerlich so

sein, daß die nichtorganisierten Elemente tausendfach zahlreicher sind alsdie organisierten; es wird sich nicht vermeiden lassen, daß man sofort, anOrt und Stelle, zu zweit oder allein handeln muß — und man muß sichdarauf vo rbereiten, auf eigene Faust zu handeln. Verzögerungen und D is-kussionen, Säumigkeit u nd Unentschlossenheit sind der T od des Aufstands.Mit größter Entschlossenheit und Energie vorgehen, jeden günstigenAugenblick unverzüglich ausnutzen, die revolutionäre Leidenschaft derMenge sofort entfachen, ihr die Richtung zu entschlosseneren und ent-schlossensten Aktionen weisen — das ist die erste Pflicht des Revolutionärs.

Eine ausg ezeichnete militärische IXbung für die Soldaten der revolutio-nären Armee, in der sie ihre Feuertaufe erhalten und durch die sie derRevolution un gehe uren N utz en bring en, ist der Kampf gegen die Schwarz*hund erter . Die Abtei lungen der revolutionären Armee müssen unverzüg-lich feststellen, von wem , w o und wie die Schwarzhundertschaften orga-nisiert w erd en , un d d ürfen sich dan n nicht auf Agitation allein besch ränke n(das ist nützlich, genügt aber nicht), sondern müssen auch mit Waffen-gewalt vorgehen, die Schwarzhunderter niederschlagen, sie töten, ihreStabsquartiere sprengen usw. usf. -

Qesdbrieben Ende Oktober 1905.

Zuerst veröffentlicht 1926 Na db dem Ma nuskript.im Lenin-Sammelband V.

28 *

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DIE LIBERALEN HOFFNUNGENAUF DIE DUMA

Die Liberalen bemühen sich, die Öffentlichkeit hinsichtlich der Zusam-mensetzung der Duma optimistisch zu stimmen. Der Korrespondent der„Frankfurter Zeitung" schreibt am 14. Oktober aus Petersburg :

„Wenn man die Ergebnisse all der Versammlungen betrachtet, diegegenwärtig, die Wahlen vorbereitend , stattfinden, so bietet sich einem einBild von der Reichsduma, das, was den Bestand derselben anbetrifft, langenicht so trübe ist, als es anfangs schien. Man kann bereits jetzt mit einergewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß das eigentliche konserva-

tive Element kaum die Hälfte der Reichsduma bilden wird. Am meistenAussichten, gewählt zu werden, haben die Qemäßigt-Liberalen und Libe-ralen, während die Aussichten der Radikalen bei weitem weniger günstigesind, aber doch im Vergleich zu dem Pessimismus, mit dem sie noch imAugust in die Zukunft sahen, als relativ gute bezeichnet werden können.Es unterliegt kaum einem Zweifel mehr, daß die Radikalen nicht allzuschwach in der Reichsduma vertreten sein werden. Es fragt sich nur, wie-weit es ihnen gelingen wird, die Liberalen und Gemäßigt-Liberalen insSchlepptau zu nehmen, denn nur wenn diese drei Elemente geschlossen

gegen den konservativen Kern vorgehen w erden, ist eine konstituierendeVersammlung gesichert."

Die Radikalen, das sind zweifellos die Kadetten. Ihre Kandidaten sindin Petersburg Nabokow, Kedrin und Winawer. Auf die „Gemäßigt-Libe-ralen" geht der Korrespondent nicht näher ein, aber unter ihren Kandida-ten werden Fjodorow („eigentlich" ein Konservativer, „den auch liberaleElemente unterstützen würden"!) und Nikitin (Kandidat der Rechten undzugleich Kandidat der gemäßigten Liberalen) genannt.

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Die liberalen Hoffnungen auf die T>uma 429

Somit ist also die konstituierende Versammlung „gesichert", wenn sich

sowohl die Liberalen als auch die gemäßigten Liberalen der Führung der„radikalen" Oswoboshdenzen unterordnen. . . Wahrhaft ig, die l iberalenOptimisten klam mern sich „an einen Stro hhalm ". Abe r das Kurioseste, siewollen nicht sehen, daß selbst dann, wenn die Mehrheit der Reichsdumafür diese Versammlung stimmt, in Wirklichkeit noch nicht die konstitu-ierende Versammlung „gesichert" ist, sondern lediglich der entschiedenerevolutionäre Kampf um sie. Die Herren Kadetten möchten gleich zweiEisen im Feuer haben: das eine bei der Selbstherrschaft (die legale Oppo-sition in der legalen Duma), das andere bei der Revolution („wir pflüg-ten" zum Wohle der konst i tuierenden Versammlung).

Qes&rieben Ende Oktober 1905.

Zuerst veröffentlicht 1931 Tiaöi dem Manuskript.im Lenin-Sammelband XVI.

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430

D E R E R S T E S I E G D E R R E V O L U T I O N

Genf, den 1. November (19. Oktober)

; Am Montag spätabends brachte der Telegraf Europa die Kunde vondem Zarenmanifest vom 17. Oktober. „Das Volk hat gesiegt. Der Zar hatkapituliert. Die Selbstherrschaft hat aufgehört zu bestehen", teilte derKorrespondent der „Jimes" mit. Anders drückten sich die fernen Freundeder russischen Revolution aus, die aus Baltimore (Nordam erika) ein Tele-gramm an den „Proletari" schickten: „Wir gratulieren zum ersten großen

Sieg der russischen Revolution."Diese letzte Einschätzung der Ereignisse ist zweifellos weitaus richtiger.Wir dürfen mit vollem Recht triumphieren. Das Zugeständnis des Zarenist in der Tat ein großer Sieg der Revolution, doch entscheidet dieser Siegnoch lange nicht das Schicksal der ganzen Sache der Freiheit. Der Zar hatnoch lange nicht kapituliert. Die Selbstherrschaft hat durchaus noch nichtaufgehört zu bestehen. Sie hat nur den Rückzug angetreten und dem Feinddas Schlachtfeld überlassen, sie hat in einer äußerst ernsten Schlacht denRückzug angetreten, aber sie ist noch lange nicht geschlagen, sie sammelt

noch ihre Kräfte, und das revolutionäre Volk muß noch viele ernste Kampf-aufgaben lösen, um die Revolution zum wirklichen und vollen Siege zuführen.

Der 17. Oktober wird als einer der großen Tage der russischen Revolu-tion in die Geschichte eingehen. Ein in der Welt noch nie dagewesenerStreik eines ganzen Volkes hatte seinen H öhepunkt erreicht. Der mächtigeArm des Proletariats, das sich in einer Aufwallung heldenmütiger Solida-rität an allen Enden Rußlands erhoben hatte, brachte das gesamte indu-

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Der erste Sieg der Revolution 431

strielle, kommerzielle und staatliche Leben zum Stillstand. Das Land

erstarrte vor dem Sturm. Bald aus der einen, bald aus der anderen Groß-stadt kamen Nachrichten, die eine alarmierender als die andere. Die Trup-pen schwankten. Die Regierung hielt mit Repressalien zurück, die Revolu-tionäre gingen nicht zu offenen und ernsthaften Angriffen über, aber derAufstand brach sich mit elementarer Wucht überall und allerorts Bahn.

Da entschloß sich die zaristische Regierung in letzter M inute zu einemZugeständnis, da sie erkann t ha tte, daß die Explosion unvermeidlich war,daß sie in keinem Fall und unter keinen Umständen mehr imstande seinwürde, einen vollen Sieg zu erringen, dagegen sehr, sehr wohl eine völligeNiederlage erleiden könnte. „Zuerst ein Blutbad und dann eine Verfas-sung", soll, wie man sagt, Trepow erklärt haben, über die Unvermeid-lichkeit einer Verfassung konnte selbst dann, wenn der A ufstand diesmalunterdrückt wurde, kein Zweifel mehr bestehen. Und die Regierung kal-kulierte, daß es besser wäre, kein ernstes und allgemeines Blutvergießenzu riskieren, w eil ein Sieg des Volkes d ie Zarenmacht restlos hinwegfegenwürde.

Wir kennen nur einen winzigen Bruchteil jener Nachrichten, die amMontag, dem 17 . Oktober, bei der Regierung einliefen und sie veranlaß-ten, einem Verzweiflungskampf auszuweichen und nachzugeben. Alle An-

strengungen der lokalen und zentralen Behörden waren darauf gerichtet,die Meldungen über das bedrohliche Anwachsen des Aufstands zurück-zuhalten oder zu verstümmeln. Aber selbst jenes spärliche, zufällige undverstümmelte Material, das in die europäische Presse gelangt ist, läßt kei-nen Zweifel darüber, daß es ein wirklicher Aufstand war, wohl geeignet,dem Zaren und den Zarenministern tödlichen Schrecken einzujagen.

Die Kräfte des Zarismus und der Revolution halten sich die Waage,schrieben wir vor einer Woche auf Grund der ersten Nachrichten über denpolitischen Generalstreik in Rußland. Der Zarismus hat nicht mehr die

Kraft, die Revolution zu unterdrücken. D ie Revolution hat noch nicht dieKraft, den Zarismus zu vernichten. Bei einem solchen Gleichgewicht derKräfte aber beschwor jedes Zögern die größte Gefahr für den Zarismusherauf, denn es mußte unvermeidlich dazu führen, daß die Truppenschwankten.. • . •

Der Aufstand breitete sich aus. An allen Enden Rußlands floß bereitsBlut..Von Reval bis Odessa, von-Polen bis Sibirien kämpfte das Volk auf

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432 W. 3. Lenin

den Barrikaden. Die Truppen waren in einzelnen kleinen Zusammenstö-

ßen siegreich, gleichzeitig aber kamen Nachrichten über eine neue, bisherbeispiellose Erscheinung, die klar von der militärisdben Ohnmacht derSelbstherrschaft zeugte. Nämlich Nachrichten über Verhandlungen derzaristischen Truppen mit dem aufständischen Volk (Charkow), Nachrich-ten über Zurückziehung der Truppen aus den Städten (Charkow, Reval)als das einzige Mittel, die Ruhe wiederherzustellen. Verhandlungen mitdem aufständischen Volk, Zurückziehung der Truppen — das ist der An-fang vom Ende. Das zeigt besser als alle Vernunftgründe, daß sich diemilitärischen Spitzen im höchsten Grade unsicher fühlten. Das zeigt, daß

die Unzufriedenheit unter den Truppen ein wahrhaft erschreckendes Aus-maß erreicht hatte. Vereinzelte Nachrichten und Gerüchte sind auch in dieAuslandspresse gedrungen. In Kiew wurden Soldaten verhaftet, die sichgeweigert hatten, zu schießen. In Polen gab es ähnliche Fälle. In Odessahielt man die Infanterie in den Kasernen zurück, weil man sich fürchtete,sie auf die Straße zu führen. In Petersburg begann eine offene Gärung inder Flotte, und man sprach von völliger Unzuverlässigkeit der Garde. Undwas die Schwarzmeerflotte betrifft, so ist es bisher nicht gelungen, wirklichdie Wahrheit zu erfahren. Schon am 17. Oktober meldeten Telegramme,daß sich das Gerücht von einer neuen Empörung dieser Flotte hartnäckigerhalte, daß von den Behörden, die alle Mittel aufböten, um die Verbrei-tung von Nachrichten über die Ereignisse zu verhindern, alle Telegrammeabgefangen würden.

Reiht man alle diese bruchstückhaften Nachrichten aneinander, sokommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß die Lage der Selbstherr-schaft sogar vom rein militärischen Standpunkt aus verzweifelt war. Zwarwurden noch einzelne Aufstände unterdrückt, zwar nahmen die Truppennoch hier und da Barrikaden, doch diese einzelnen Zusammenstöße ent-fachten nur die Leidenschaften, steigerten nur die Empörung, rückten nureine noch mächtigere allgemeine Explosion näher, und gerade davor fürch-tete sich die Regierung, da sie sich nicht mehr auf die Truppen verlassenkonnte.

Der Feind ist einer ernsten Schlacht ausgewichen. Der Feind hat sichzurückgezogen und das Schlachtfeld dem revolutionären Volk überlassen.Er hat sich in eine neue Stellung zurückgezogen, die ihm besser befestigterscheint und wo er hofft, zuverlässigere Kräfte zu sammeln, sie zusam-

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Der erste Sieg der Revolution 433

menzuschließen, sie zu ermutigen und einen günstigeren Zeitpunkt zum

Angriff zu wählen.Eine ganze Reihe verhältnismäßig „unparteiischer" Stimmen der bür-

gerlichen Presse Europas bestätigt diese Einschätzung des großen Tagesdes 17. Oktober.

Einerseits atmet die europäische Bourgeoisie erleichtert auf. D as Z aren-manifest verspricht direkt eine Verfassung: D ie Duma erhält gesetzgebe-rische Rechte, kein Gesetz kann ohne Zustimmung der Volksvertreter inKraft treten, Verantwortlichkeit der Minister wird zugebilligt, bürgerlicheFreiheiten, Unantastbarkeit der Person, Gewissens-, Rede-, Versamm-

lungs- und Koalitionsfreiheit werden gewährt. Und die Börse beeilt sich,größeres Vertrauen in die russischen Finanzen zu zeigen. Der in den letz-ten Tagen gesunkene Kurs der russischen Wertpapiere steigt. Die aus-ländischen Bankiers, die aus dem revolutionären Petersburg geflüchtetwaren, versprechen, in zwei Wochen zurückzukehren. D ie Verfassung er-scheint der europäischen Bourgeoisie als ein Unterpfand „friedlicher" klei-ner Zugeständnisse, welche die besitzenden Klassen vollauf zufrieden-stellen werden, gleichzeitig aber dem revolutionären Proletariat nicht ge-statten, sich „allzuviel" Freiheit zu erobern.

Anderseits müssen aber sogar die liberalen Bourgeois sehen, daß dasZarenmanifest lediglich Worte, lediglich Versprechungen enthält. Werwird indes jetzt bloßen Versprechungen glauben? Klingen alle diese Phra-sen von der Unantastbarkeit der Person und der Freiheit des W ortes nichtwie Hohn angesichts der Tatsache, daß die Gefängnisse immer noch mitsogenannten politischen Verbrechern überfüllt sind, da ß die Zensur nachwie vor unangetastet bleibt? Was für Männer werden das Versprechendes Zaren einlösen? Das Ministerium Witte, in das Gerüchten zufolgeKusmin-Karawajew, Kossitsch und Koni eintreten sollen? Das wäre nochnicht einmal ein Ministerium der liberalen Bourgeoisie. Das ist erst einMinisterium der liberalen "Bürokratie, mit der die reaktionäre Hofcliqueschon so oft fertig geworden ist. Soll das Volk wirklich sein Blut im Kampffür die Freiheit vergossen haben, um sich auf liberale Bürokraten zu ver-lassen, die sich mit bloßen W orten und V ersprechungen begnügen ?!

Nein, der Zarismus hat noch lange nicht kapituliert. Die Selbstherr-schaft ist noch lange nicht gestürzt. Dem revolutionären Proletariat stehtnoch eine Reihe großer Schlachten bevor, und der erste Sieg wird ihm

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434 TV. 1 Lenin

helfen, seine Kräfte zu sammeln und neue Verbündete für seinen Kampf

zu werben.„Schon allein der Erfolg der Freiheitssache", schrieb der K orrespondent

der „Times" am Tag der Veröffentlichung des Manifests, „wird die reak-tionären Elemente nur zu neuer Aktivität anspornen, und solange dieArmee unter der Befehlsgewalt ihrer alten Kommandospitzen bleibt, istRußland vor der Möglichkeit eines Pronunziamento* nicht gesichert." „Esfragt sich noch, wird das erzwungene Zugeständnis de r Regierung auf demHöhepunkt des revolutionären Aufschwungs nicht das Signal zu einerneuen Kraftanstrengung der Revolution sein?" „Man weiß nicht, ob die

Bürokratie aus ihrer Zitadelle hinausgeworfen worden ist oder ob sie nurihre vordersten Stellungen geräumt hat", sagen die bürgerlichen Optimi-sten, obgleich die Tatsachen klar beweisen, daß die „Zitadelle" der Selbst-herrschaft noch in ihrer ganzen Macht weiterbesteht.

Der erzwungene Charakter des Zugeständnisses erregt die gemäßigtenBourgeois am meisten. Das Organ des herrschenden französischen Geld-sacks, der „Temps", war schrecklich empört über die „Anarchie" und spieGift und Galle gegen die Urheber und Teilnehmer des politischen Gene-ralstreiks in Rußland. Jetz t aber bemerkt dieses Blatt, das an und für sich

mit den konstitutionellen Versprechungen des Zaren zufrieden ist, beun-ruhigt: „Der Zar hat, statt aus eigener Initiative zu handeln, einfach die,Befehle' der liberalen Opposition unterschrieben. Das ist ein schlechtesVerfahren, das den folgerichtigen Reformen einen erzwungenen Charak-ter, den Charakter des Fragmentarischen und Plötzlichen gibt. Dieses Ver-fahren bringt die Regierung in Widerspruch mit sich selbst und wirkt wieeine Prämie für die Gewalt. Leider ist es nur allzu kla r, daß die Dinge inder Tat weit gediehen waren und daß es einen anderen Ausweg aus derSackgasse, in die man die Regierung getrieben hatte, nicht gab. Vergessen

wir möglichst rasch den Charakter dieser Kapitulation — einer Kapitulationnicht nur vor den Konstitutionalisten, vor den Gemäßigten, auf die manvor allem hätte hören sollen, sondern auch einer Kapitulation vor demStreik, einer Kapitulation vor der Revolution."

Nein, meine Herren Bourgeois, die Arbeiter werden den erzwungenenCharakter der Kapitulation des Zaren niemals vergessen! Die Arbeiterwerden nie vergessen, daß sie dem Zarismus die Anerkennung der Freiheit

* Militärputsch. Die Red

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Der erste Sieg der Revolution 435

in dem papiernen Manifest nur durch Gewalt, nur durch die Macht ihrer

Organisation, ihrer Einmütigkeit, ihres Massenheroismus entrissen haben,und sie werden ihm auch die wirkliche Freiheit entreißen.Wir sagten oben, der Feind habe sich zurückgezogen und das Schlacht-

feld dem revolutionären Proletariat überlasseh. Wir müssen jetzt hinzu-fügen: der sich zurückziehende Feind wird energisch weiter verfolgt. M on-tag, den 17. Oktober, wurde das Manifest des Zaren erlassen. Dienstag,den 18., erschien laut Mitteilung des Wolffschen Telegrafenbüros einManifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, das in Peters-burg in einer riesigen Auflage verbreitet wurde. Dieses Manifest erklärt,

daß der Erlaß des Zarenmanifests dem Kampf des Proletariats keines-wegs ein Ende setze. Die Taktik des Proletariats müsse nun darin be-stehen, jene Rechte zu gebrauchen, die unter der W ucht seiner Schläge ge-währt worden sind, Arbeiterversammlungen zu veranstalten, die über dieFortsetzung des Streiks entscheiden, eine Miliz zum Schutz der revolutio-nären Rechte zu organisieren und die Forderung nach voller Amnestie auf-zustellen. Die sozialdemokratischen Redner in den Volksversammlungenfordern die Einberufung einer konstituierenden Versammlung. Das Streik-komitee11* fordert Telegrammen zufolge die Amnestie und die sofortigeEinberufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemei-

nen und direkten Wahlrechts.Der revolutionäre Instinkt hat den Arbeitern Petersburgs gleich die

richtige Losung dik tiert: energische Fortsetzung des Kampfes, Ausnützungder neueroberten Positionen, um den Angriff fortzusetzen und die Selbst-herrschaft tatsächlich zu vernichten. Und der Kampf geht weiter. Die Ver-sammlungen werden häufiger und zahlreicher. Die Freude und der berech-tigte Stolz über den ersten Sieg sind kein Hindernis für die neue Organi-sierung der Kräfte, um die Revolution zu Ende zu führen. Der Erfolg derRevolution hängt von der Gewinnung, Aufklärung und Organisierungnoch breiterer Schichten der Bevölkerung für die Sache der Freiheit ab. DieArbeiterklasse hat im gesamtrussischen politischen Streik ihre gigantischenKräfte bewiesen, aber unter den rückständigen Schichten des städtischenProletariats steht uns noch viel Arbeit bevor.. Während wir eine Arbeiter-miliz schaffen, dieses einzige feste Bollwerk der Revolution, während wiruns auf einen neuen und noch entschlosseneren Kampf vorbereiten, wobeiwir an unseren alten Losungen festhalten, müssen wir auch der Armee

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436 W. 1 Lenin

besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Das erzwungene Zugeständnis des

Zaren muß in ihren Reihen die größten Schwankungen hervorgerufenhaben, und wir müssen jetzt, indem wir die Soldaten zu den Arbeiterver-sammlungen heranziehen, die Agitation in den Kasernen verstärken undunsere Verbindungen mit den Offizieren ausbauen, neben der revolutio-nären Armee der Arbeiter auch einen Stamm bewußter Revolutionäre imHeer schaffen, das gestern noch ausschließlich ein Zarenheer war undheute vor seiner Umwandlung in ein Volksheer steht.

Das revolutionäre Proletariat hat in den großen Tagen des General-streiks die Truppen paralysiert und dadurch ihre Neutralisierung erreicht.

Es muß jetzt den vollständigen Übergang der Truppen auf die Seite desVolkes erreichen.

Das revolutionäre Proletariat hat die Revolution in den Städten zumersten großen Sieg geführt. Es muß jetzt ihre Basis erweitern und vertie-fen, indem es die Revolution auf das flache Land ausdehnt. Die Bauern-schaft für die bewußte Verteidigung der Freiheitssache gewinnen, ein-schneidende Maßnahmen zugunsten der Bauernschaft fordern, die länd-liche Bewegung vorbereiten, die in Gemeinschaft mit dem fortgeschrittenenstädtischen Proletariat die Selbstherrschaft endgültig vernichten und die

volle und wahre Freiheit erobern wird — das ist jetz t die nächste Aufgabeder russischen Sozialdemokratie.

Der Erfolg der Revolution hängt davon ab, wie groß die Massen desProletariats u nd der Bauernschaft sind, die sich zu ih rer Verteidigung undVollendung erheben werden. Der revolutionäre Krieg unterscheidet sichvon anderen Kriegen dadurch, daß er seine Hauptreserve aus dem Lagerder gestrigen Verbündeten seines Feindes schöpft, jener Leute, die demZarismus gestern noch anhingen oder blindlings folgten. Und der Erfolgdes politischen Generalstreiks in Rußland wird dem Verstand und dem

Herzen des Bauern mehr sagen als die unklaren Worte irgendwelcherManifeste oder Gesetze .

Die russische Revolution begann sich eben erst zu entfalten, als die libe-rale Bourgeoisie den ganzen Vordergrund der politischen Bühne einnahm,wie das vor einem Jah r der Fall war.

Die Revolution stellte sich auf eigene Füße, als die städtische Arbeiter-klasse am 9. Janu ar in Aktion tra t.

Die Revolution errang den ersten Sieg, als das Proletariat aller Völker

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"Der erste Sieg der Revolution 437

Rußlands sich wie ein Mann erhob und am Zarenthron rüttelte, von dem

alle Völker und vor allem die werktätigen Klassen aller Völker so unermeß-liches Unheil erduldet haben.

Die Revolution wird den Feind endgültig vernichten und den Thron desBlutzaren vom Angesicht der Erde vertilgen, wenn sich die Arbeiter nocheinmal erheben und die Bauernschaft mitreißen werden.

Und dann — dann gibt es noch eine Reserve der russischen Revolution.Die Zeiten sind vorüber, da Völker und Staaten abgesondert voneinanderleben konnten . Sdiaut um euch: Europa ist schon in Wallung. Seine Bour-geoisie ist bestü rzt un d be reit, Millionen und Milliarden herzugeben , n ur

um der Feuersbrunst in Rußland Einhalt zu tun. Die Herrscher der euro-päischen Militärmächte erwägen eine militärische Unterstützung des Za-ren. Wilhelm hat bereits einige Kreuzer und zwei Torpedoboots-Divisio-nen en tsandt, um eine direkte Verbindung zwischen der deutschen Solda-teska und Peterhof herzustellen. Die europäische Konterrevolution reichtder russischen Konterrevolution die Hand.

Versuchen Sie es, versuchen Sie es, Bürger Hohenzollern! Auch wirhaben eine europäische Reserve der russischen Revolution. Diese Reserveist das internationale sozialistische Proletariat, die internationale revolu-tionäre Sozialdemokratie. Die Arbeiter der ganzen Welt begrüßen mitglühender Begeisterung den Sieg der russischen Arbeiter, und im Bewußt-sein der engen Verbindung zwischen den Abteilungen der internationalenArmee des Sozialismus rüsten auch sie zum großen und entscheidendenKampf.

Ihr steht nicht allein, Arbeiter und Bauern ganz Rußlands! Und wennes euch gelingt, die Tyrannen des Rußlands der Leibeigenschaft, der Poli-zei, der Gutsbesitzer und des Zaren zu stürzen, zu schlagen und zu ver-nichten, dann wird euer Sieg das Signal sein zu m Kampf gegen die Ty ran -nei des Kapitals in der ganzen Welt, zum Kampf für die volle, nicht nurpolitische, sondern auch ökonomische Befreiung der Werktätigen, zumKampf für die Erlösung der Menschheit vom Elend und für die Verwirk-lichung des Sozialismus.

„Proletari" Nr. 24, Nadh dem Text des .Proletari".7. November (25. Oktober) i905.

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DIE NEUESTEN NACHRICHTEN

Genf, den 4. November (22. Oktober)

Auf das „konstitutionelle" M anifest Niko laus' des Blutigen folgten, vonTrepow und seiner Bande organisiert, zahllose neue M ordtaten. Das W ü-ten der Kosaken, die Judenpogrome, die Erschießungen von eben erst„amnestierten" Politischen auf offener Straße, die Plünderungen, von denSchwarzhundertern mit Unterstützung der Polizei veranstaltet — alles istaufgeboten worden, um den revolutionären Kampf niederzuschlagen.

Der Zar hat den Revolutionären eine vortreffliche Hilfestellung da-durch geleistet, daß er ihre Einschätzung des verlogenen Zugeständnisses,ihre Einschätzung der niederträchtigen Komödie des „liberalen" Mani-fests bestätigte. Der Z ar möchte selbst einen neuen entscheidenden Kampfherausfordern. Um so besser! Die ganze Arbeit der Sozialdemokratie, dieganze Energie des Proletariats wird jetzt darauf gerichtet sein, den näch-sten Ansturm vorzubereiten und das Ungeheuer des Zarismus zu vernich-ten, das, bereits im Sterben, noch einmal versucht, die niederen Instinkteder unaufgeklärten Menge aufzupeitschen. Je mehr sich jetzt Trepow er-eifert, um so sicherer ist der völlige Bankrott der ganzen Trepowbande undaller Romanows.

Zuerst veröftentlidht i925 in der Tlaöo dem Man uskript.Beilage zur VI. Tolge des N eudrucksder Zeitungen „Wperjod" und „Proletari",herausgegeben von der Komm ission fürVarteigesdiidhte beim ZK der XPdSUCB).

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N I K O L A I E R N E S T O W I T S C H B A U M A N

Der Telegraf brachte heute, am 3. November n. St., die Nachricht, daßin Moskau das Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ruß-lands, der Tierarzt N. E. Bauman, von den zaristischen Truppen ermor^det worden ist. An seinem Grabe kam es zu einer Demonstration, als dieWitwe des Ermordeten, die ebenfalls unserer Partei angehört, eine An-sprache an das Volk richtete und zum bewaffneten Aufstand aufrief. W irsind augenblicklich nicht in der Lage, ausführliche Angaben über denLebenslauf des gefallenen Genossen zu machen. Nur das Wichtigste sei hiererwähnt. Er begann seine Tätigkeit in der sozialdemokratischen Organisa-tion in Petersburg, in den neunziger Jahren. Er wurde verhaftet und, nach-dem er 22 Monate in der Peter-Pauls-Festung gesessen hatte, in das Gou-vernement Wjatka verbannt. Aus der Verbannung flüchtete er ins Auslandund beteiligte sich 1900 von Anfang an als einer der maßgebenden prak-tischen Leiter an der Organisierung der „Iskra". Wiederholt machte erillegale Reisen nach Rußland. Im Februar 1902 wurde er in Woronesh (aufdie Denunziation eines Arztes hin) in Sachen der „Iskra"-Organisationverhaftet und saß im Gefängnis von Kiew. Im August 1902 flüchtete erzusammen mit zehn sozialdemokratischen Genossen aus dem Gefängnis.

Er war (unter dem Decknamen Sorokin) Delegierter des Moskauer Komi-tees der SDAPR auf dem zweiten Parteitag und nahm (unter dem Deck-namen Sarafski) an der zweiten Konferenz der Auslandsliga teil. Danngehörte er demselben Moskauer Parteikomitee als Mitglied an. Am19. Juni 1904 wurde er wieder verhaftet und in die Taganka* gebracht,von wo er vermutlich erst dieser Tage entlassen wurde.

* Moskauer Gefängnis. Der übers.

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440 W. 3. Lenin

Ewiges Gedenken dem Kämpfer in den Reihen des russischen sozial-

demokratischen Proletariats! Ewiges Gedenken dem in den ersten Tagender siegreichen Revolution gefallenen Revolutionär! Mögen die Ehrungen,die das aufständische Volk seinen sterblichen Überresten erwiesen hat,zum Unterpfand für den endgültigen Sieg des Aufstands und die end-gültige Vernichtung des verfluchten Zarismus werden!

Die Ermordung N. E. Baumans zeigt deutlich, wie sehr die sozialdemo-kratischen Redner in Petersburg recht hatten, die das Manifest vom17. Oktober eine Falle und das Verhalten der Regierung nach dem M ani-

fest eine Provokation nannten. Was sind alle diese versprochenen Frei-heiten wert, solange die staatliche und bewaffnete Macht in den Händender Regierung verbleibt? Ist diese „Amnestie" nicht wirklich eine Falle,wenn die aus den Gefängnissen Kommenden von den Kosaken auf derStraße niedergeschossen werden?

„Proletari" 5Vr. 24, Nadb dem 7ext des .TroUtari".7. November (25. Oktober) 1905.

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K L E I N B Ü R G E R L I C H E R U N D P R O L E T A R I S C H E R

S O Z I A L I S M U S 1 "

In Europa hat heute unter den verschiedenen sozialistischen Lehren derMarxismus die volle Herrschaft erlangt, und der Kampf für die Verwirk-lichung der sozialistischen Ordnung wird fast ausschließlich als Kampf derArbeiterklasse unter der Leitung der sozialdemokratischen, Parteien ge-führt. Aber die volle Herrschaft des auf den Lehren des Marxismus fußen-den proletarischen Sozialismus hat sich nicht mit einem Mal durchgesetzt,sondern erst nach langem Kampf mit allerlei rückständigen Lehren, mitdem kleinbürgerlichen Sozialismus, mit dem Anarchismus usw. Vor et-lichen dreißig Jahren war der Marxismus noch nicht einmal in Deutsch-land vorherrschend, wo im Grunde genommen konfuse, eklektische, zwi-schen dem kleinbürgerlichen und dem proletarischen Sozialismus liegendeAnschauungen überwogen. In den romanischen Ländern aber, in Frank-reich, Spanien und Belgien, waren die unter den fortgeschrittenen Arbei-tern am meisten verbreiteten Lehren der Proudhonismus, der Blanquismusund der Anarchismus, die unverkennbar den Standpunkt des K leinbürger-tums, nicht aber des Proletariats zum Ausdruck brachten.

Was war nun die Ursache dieses raschen und vollen Sieges des Marxis-mus gerade in den letzten Jahrzehnten? Die gesamte Entwicklung dermodernen Gesellschaft, die ökonomische wie die politische, die gesamteErfahrung der revolutionären Bewegung und des Kampfes der unterdrück-ten Klassen haben die Richtigkeit der marxistischen Auffassungen mehrund mehr bestätigt. Der Verfall des Kleinbürgertums zog früher oder spä-ter unvermeidlich das Absterben der kleinbürgerlichen Vorurteile nachsich, das Anwachsen des Kapitalismus und die Verschärfung des Klassen-kampfes innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aber waren die besteAgitation für die Ideen des proletarischen Sozialismus.

29 Lenin, W erke , Bd. 9

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442 IV. 1 Lenin

Die Rückständigkeit Rußlands erklärt ganz natürlich, warum sich die

verschiedenen rückständigen Lehren des Sozialismus in unserem Lande solange halten konnten. Die ganze Geschichte des russischen revolutionärenDenkens im letzten Vierteljahrhundert ist die Geschichte des Kampfes desM arxism us gegen den kleinbürgerlichen Sozialismus der Volkstümler. U ndhaben das rasche Anwachsen und die erstaunlichen Erfolge der russischenArbeiterbewegung dem Marxismus auch in Rußland schon den Sieg ge-brach t, so hat anderseits die Entwicklung der unzw eifelhaft revo lutionäre nBauernbewegung — insbesondere nach den berühmten Bauernaufständenin Kleinrußland 1902 — eine gewisse Belebung der altersschwachen Volks-

tümlerrichtung zur Folge gehabt. Diese altväterliche, mit dem modischeneuropäischen Opportunismus (Revisionismus, Bernsteinianertum, Marx-kritik) aufgefrischte Volkstümlerideologie bildet das ganze originelle gei-stige Gepäck der sogenannten Sozialrevolutionäre. Deshalb steht auch dieBauernfrage im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen denM arxisten und den reinen Volkstüm lern wie auch den Sozialrevolutionären.

Die Volkstümlerrichtung vertrat bis zu einem gewissen Grade eine insich geschlossene und folgerichtige Lehre. Sie leugnete die Herrschaft desKapitalismus in Rußland, sie leugnete die Rolle der Fabrikarbeiter als der

Vorkämpfer des gesamten Proletariats, sie leugnete die Bedeutung derpolitischen Revolution und der bürgerlichen politischen Freiheit, sie pre-digte eine von der bäuerlichen Dorfgemeinde mit ihrem landwirtschaft-lichen Kleinbetrieb unmittelbar ausgehende sozialistische Umwälzung.Von dieser in sich geschlossenen Lehre sind jetzt nur noch Bruchstückeübriggeblieben; um sich aber in den gegenwärtigen Au seinandersetzungenwirklich zurechtzufinden und sie nicht in leeres Wortgeplänkel ausarten zulassen, müssen wir die allgemeinen un d in der Lehre der V olkstümler wu r-zelnden Grundlagen der Verirrungen unserer Sozialrevolutionäre stets im

Auge behal ten.Der Mensch der Zukunft ist in Rußland der Bauer, dachten die Volks-

tümler, und diese Ansicht entsprang zwangsläufig dem Glauben an densozialistischen Charakter der Dorfgemeinde, dem Unglauben an die Ge-schicke des Kapitalismus. D er Mensch der Z uku nft ist in Rußland der A r-beiter, dachten die Marxisten, und die Entwicklung des russischen Kapi-talismus sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie bestätigtihre Ansichten immer mehr. Die Arbeiterbewegung in Rußland hat sich

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Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus 443-

nunmehr selbst ihre Anerkennung erzwungen, hinsichtlich der Bauern-^

bewegung aber zeigt sich der ganze Abgrund zwischen der Volkstümler-lehre und dem Marxismus auch heute noch in der unterschiedlichen Auf-

fassung von dieser Bewegung. Für den Volkstümler wird der Marxismus,gerade du rch die Bauernbewegung widerlegt, denn sie ist in seinen Augen;eben die Bewegung für den unmittelbaren sozialistischen Umsturz, sie er-kennt eben keinerlei bürgerliche politische Freiheit an ; sie geht eben nichtvom G roß -, sondern vom Kleinbetrieb aus. Kurzu m, für den V olkstümlerist die Bauernbewegung eben die wirkliche, die wahre sozialistische undunmittelbar sozialistische Bewegung. Der Glaube der Volkstümler an die

bäuerliche Dorfgemeinde und der volkstümlerische Anarchismus erklären:vollauf die Zwangsläufigkeit solcher Schlußfolgerungen.

Für den M arx isten ist die Bau ernb ew egun g eben nicht eine-sozialistische,sondern eine demokratische Bewegung. Sie ist auch in Rußland, wie das inanderen Ländern der Fall war, die unvermeidliche Begleiterin der demo-kratischen, ihrem gesellschaftlich-ökonomischen Inha lt nach bürgerliche nRevolution. Sie richtet sich keineswegs gegen die Grundlagen der bürger-lichen O rdn un g, gegen die W arenw irtschaft, gegen das Kapital. Sie richtetsich vielmehr gegen die alten , leibeigenschaftlichen, vorkapitalistischen

Verhältnisse im Dorf und gegen den gutsherrlichen Grundbesitz als dieHauptstütze aller Überreste der Leibeigenschaft. Der volle Sieg dieserBauernbewegung wird den Kapitalismus also nicht beseitigen, sondernumgekehrt eine breitere Grundlage für seine Entwicklung schaffen, wirddie rein kapitalistische Entwicklung beschleunigen und verstärken. Dervolle Sieg des Bauernaufstands kann lediglich eine feste Stütze der demo-kratischen bürgerlichen Republik schaffen, in der sich der Kampf des Pro-letariats gegen die Bourgeoisie erstmalig in voller Reinheit entfalten wird.

Das sind also die zwei entgegengesetzten Auffassungen, die jeder ken-

nen muß, der sich über die Kluft zwischen den Prinzipien der Sozialrevo-lutionäre und der Sozialdemokraten klarwerden will . Nach der einen Auf-fassung ist die Bauernbewegung eine sozialistische, nach der andern einedemokratisch-bürgerliche Bewegung. Hieraus kann man ersehen, welcheUnw issenheit unse re Sozia lrevolut ionäre verra ten, wenn sie zum hu nd ert-sten M al (vergleiche z. B. N r . 75 de r „R ewo luzionnaja Rossija" [Das-revolutionäre Rußland]) wiederholen, daß die orthodoxen Marxisten-irgendwann einmal die Bauernfrage „ignoriert" hätten (von ihr nichts

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444 W. 0. Cenin

wissen wollten). Gegen so grobe Unwissenheit gibt es bloß ein M itte l: da s

A bc wiederho len, die alten folgerichtig volkstümlerischen Auffassungendarlegen, zum hundertsten und tausendsten Mal darauf hinweisen, daßder wirkliche Unterschied nicht darin besteht, ob man mit der Bauernfragerechnen oder nicht rechnen will, ob man sie anerkennt oder ignoriert, son-dern daß er in der untersdbiedlidben "Beurteilung der heutigen Bauern-bewegung und der heutigen Bauernfrage in Rußland besteht. Wer be-hauptet, daß die Marxisten die Bauernfrage in Rußland „ignorieren", isterstens ein ausgesprochener Nichtswisser,- denn alle wichtigen Werke derrussischen Marxisten, angefangen mit Plechanows „Unsere Meinungsver-

schiedenheiten" (vor mehr als zwanzig Jahren erschienen), befaßten sichhauptsächlich gerade damit, die Irrigkeit der volkstümlerischen Au ffassun-gen von der Bauernfrage in Rußland nachzuweisen. Und zweitens, wersich darauf versteift, daß die Marxisten die Bauernfrage „ignorieren", be-weist dam it nu r sein Bestreben, sich vor der erschöpfenden B eurteilung derwirklichen prinzipiellen Meinungsverschiedenheit zu drücken: Ist die heu-tige Bauembewegung eine demokratisch-bürgerliche Bewegung oder nicht?Richtet sie sich, ihrer objektiven Bedeutung nach, gegen die Überreste derLeibeigenschaft oder nicht?

Auf diese Frage haben die Sozialrevolutionäre niemals eine klare unddeutliche Antwort gegeben und können sie auch niemals geben, denn esherrscht bei ihnen ein heilloser Wirrwarr hinsichtlich der alten volkstüm-lerischen und der heutigen marxistischen Anschauungen über die Bauern-frage in Rußland. Eben deshalb erklären ja die M arxiste n, daß die Sozial-revolu tionäre auf einem kleinbürgerlichen Stand pun kt stehen (Ideologen desKleinbürgertums sind), daß sie sich von den kleinbürgerlichen Illusionen,den Phantasien der Volkstümler in der Beurteilung der Bauernbewegungnicht frei machen können.

U nd deshalb müssen wir wieder beim Abc anfangen. W onach stre bt dieheutige Bauernbewegung in Rußland? Nach Land und Freiheit. — WelcheBedeutung wird der volle Sieg dieser Bewegung haben? Nachdem sie dieFreiheit errungen hat, wird sie die Herrschaft der Gutsbesitzer und derBeamten in der Staatsverwaltung beseitigen. Nachdem sie Land erlangthat, wird sie die Gutsbesitzerländereien den Bauern übergeben. — W e r -den die vollständigste Freiheit und die vollständigste Expropriation derGutsbesitzer (die Wegnahme der Gutsländereien) die Warenwirtschaft

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Xkinbürgerlidher und proleiarisdber Sozialismus 445

beseitigen? Nein, sie werden sie nicht beseitigen. — Werden die vollstän-

digste Freiheit und die vollständigste Expropriation der Gutsbesitzer dieEinzelwirtschaft der Bauernhöfe auf dem Gemeindeboden oder auf dem„sozialisierten" Boden beseitigen? Nein, sie werden sie nicht beseitigen. —

Werden die vollständigste Freiheit und die vollständigste Expropriationder Gutsbesitzer den tiefen Abgrund zwischen dem reichen Bauern mitvielen Pferden und vielen Kühen und dem Landarbeiter, dem Tagelöhner,d. h. zwischen der Dorfbourgeoisie und dem Landproletariat beseitigen?Nein, sie werden ihn nicht beseitigen. Im Gegenteil: je vollständiger derhöchste Stand (der Gutsbesitzerstand) zerschlagen und vernichtet wird,um so mehr wird sich der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie undProletariat vertiefen. — Welche objektive Bedeutung wird der vollständigeSieg des Bauernaufstands haben? Dieser Sieg wird alle Überreste derLeibeigenschaft austilgen, aber er wird keineswegs die bürgerliche Wirt-schaftsweise, den Kapitalismus, die Trennung der Gesellschaft in Klassen,in Reiche und Arme, in Bourgeoisie und Proletariat aufheben. — W a r u mist die heutige Bauernbewegung eine demokratisch-bürgerliche Bewegung?Weil sie, indem sie die Macht der Beamten und der Gutsbesitzer ver-nichtet, eine demokratische Gesellschaftsordnung schafft, ohne die bürger-lichen Grundlagen dieser demokratischen Gesellschaft zu verändern, ohne

die Herrschaft des Kapitals zu vern ichten. — W ie soll sich der klassen-bewußte Arbeiter, der Sozialist , zur heutigen Bauernbewegung verhalten?Er soll diese Bewegung unterstützen, den Bauern auf das allerenergisdistehelfen, ihnen bis zu Ende helfen, sowohl die Macht der Beamten als auchdie Macht der Gutsbesitzer ein für allemal zu brechen. Zugleich aber soller den Bauern klarmachen, daß es noch nicht genügt, die Macht der Be-amten und der Gutsbesitzer zu brechen. W äh re nd m an diese Macht bricht,muß man sich gleichzeitig darauf vorbereiten, die Macht des Kapitals, dieMacht der Bourgeoisie zu brechen; zu diesem Zweck aber muß man un-

verzüglich in vollem U mf ang die sozialistische, d. h. die marxistische Lehr everkünden und die ländlichen Proletarier zum Kampf gegen die bäuer-liche Bourgeoisie und gegen die gesamte russische Bourgeoisie vereinigen,zusammenschließen und organisieren. — Kann der klassenbewußte A rbei-ter den demokratischen Kampf um des sozialistischen oder den soziali-stischen Kampf um des demokratischen willen vergessen? Nein, der klas-senbewußte Arbeiter nennt sich eben deshalb Sozialdemokrat, weil er die

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446 W. 1 Cenin

Beziehung des einen Kampfes zum andern begreift. Er weiß, daß es keinen

andern W eg zum Sozialismus gibt als den über den Demokratismus, überdie politische Freiheit. Er trachtet deshalb danach, den Demokratismusvollständig und konsequent zu verwirklichen, um das Endziel, den Sozia-lismus, zu erreichen. — Warum sind die Bedingungen des demokratischenKampfes und des sozialistischen Kampfes nicht die gleichen? Weil dieArbeiter in dem einen und in dem anderen Kampf unbedingt verschiedeneVerbündete haben werden. Den -demokratischen Kampf führen die Ar-beiter zusammen mit einem Teil der Bourgeoisie, besonders des Klein-bürgertums. Den sozialistischen Kampf führen die Arbeiter gegen die ge-

samte Bourgeoisie. Der Kampf gegen die Beamten und die Gutsbesitzerkann und muß zusammen mit allen Bauern, selbst mit den wohlhabendenund mittleren, geführt werden. Der Kampf gegen die Bourgeoisie, alsoauch gegen die wohlhabenden Bauern, kann n ur zusammen mit dem Länd-proletariat aussichtsreich geführt werden. . :

.Rufen wir uns alle diese Binsenwahrheiten des Marxismus, deren Ana :

lyse die Sozialrevolutionäre seit jeher lieber aus dem Wege gehen, insGedächtnis zurück, so wird es uns leichtfallen, die folgenden „allerneue-sten" Einwände der Sozialrevolutionäre gegen den Marxismus entspre-

chend zu würdigen.„W ozu", ruft die „Rewoluzionnaja Rossija" (Nr.75) aus, „ist es nötig,zuerst den Bauern schlechthin gegen den Gutsbesitzer zu unterstützen,dann aber (d. h. zur selben Zeit) das Proletaria t gegen den Bauern schlecht-hin zu unterstützen, anstatt sofort das Proletariat gegen den Gutsbesitzerzu un terstützen? W as das mit Marxismus zu tun h at, weiß Allah allein."

Das ist der Standpunkt des allerprimitivsten, eines kindlich naiven An-archismus. All und jede Ausbeutung „sofort" abzuschaffen, davon träumtdie Menschheit schon lange, schon viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende.

Doch diese Träume blieben Träume, solange die Millionen der Ausge-beuteten nicht begannen, sich in der ganzen Welt zum konsequenten, be-harrlichen und allseitigen Kampf für die Veränderung der kapitalistischenGesellschaft in der Richtung der eigenen Entwicklung dieser Gesellschaftzusammenzuschließen. Die sozialistischen Träume verwandelten sich erstdann in den sozialistischen Kampf von Millionen Menschen, als der wis-senschaftliche Sozialismus von Marx die Umgestaltungsbestrebungen mitdem Kampf einer bestimmten Klasse verknüpfte. Außerhalb des Klassen-

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Xleinbürgerliöher und proletarischer Sozialismus 447

kampfes ist der Sozialismus eine leere Phrase oder ein naiver Traum. Und

in Rußland haben wir zwei verschiedene Kämpfe zweier verschiedenersozialer Kräfte vor uns. Das Proletariat kämpft gegen die Bourgeoisieüberall dort, wo es kapitalistische Produktionsverhältnisse gibt (und diegibt es sogar — zur Kenntnisnahme unserer Sozialrevolutionäre — inner-halb der bäuerlichen Dorfgemeinde, d. h. auf dem ihrem Standpunkt nachvöllig „durchsozialisierten" Boden). Die Bauernschaft, als Schicht der klei-nen Grundbesitzer, der Kleinbourgeoisie, kämpft gegen alle Überreste derLeibeigenschaft, gegen die Beamten und die Gutsbesitzer. Daß das zweiverschiedene, ungleichartige soziale Kriege sind, können nur Leute nichtsehen, die von der politischen Ökonomie und der Geschichte der Revolu-tionen auf der ganzen Welt keine Ahnung haben. Die Augen vor derUngleichartigkeit dieser Kriege mit Hilfe des Wörtchens „sofort" verschlie-ßen heißt den Kopf in den Sand stecken und auf jede Analyse der Wirk-lichkeit verzichten.

Die Sozialrevolutionäre, denen die Geschlossenheit der alten volkstüm-lerischen Auffassungen verlorengegangen ist, haben sogar vieles von denLehren der Volkstümler selbst vergessen. „Indem Herr Lenin der Bauern-schaft hilft, die Gutsbesitzer zu expropriieren", schreibt die „Rewoluzion-naja Rossija" ebenda, „unterstützt er unbewußt die Einführung der klein-bürgerlichen Wirtschaft auf den Ruinen der schon mehr oder weniger ent-wickelten Formen der kapitalistischen Landwirtschaft. Ist das etwa vomStandpunkt des orthodoxen Marxismus nicht ein Schritt zurück?"

Ihr solltet euch schämen, Herrschaften! Habt ihr denn euren HerrnW. W. vergessen? Schlagt doch in seinen „Schicksalen des Kapitalismus",in den „Abhandlungen" des Herrn Nikolai-on'116 und in anderen Quelleneurer Weisheit nach! Dann werdet ihr euch erinnern, daß die Gutswirt-schaft in Rußland kapitalistische und leibeigenschaftliche Züge in sich ver-einigt. Dann werdet ihr erfahren, daß das Abarbeitssystem, dieses direkteÜberbleibsel der Fronarbeit, noch besteht. Werft ihr. dazu noch einenBlick in ein so orthodoxes marxistisches Buch, wie es der III. Band des„Kapitals" von Marx ist, so könnt ihr daraus lernen, daß die Entwicklungder Fronwirtschaft und ihre Umwandlung in die kapitalistische Wirtschaftnirgends anders als vermittels der kleinbürgerlichen Bauernwirtschaft vorsich ging und gehen konnte. Um den Marxismus zu widerlegen, geht ihrnach einer schon allzu simplen, längst entlarvten Methode vor: Ihr dichtet

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448 W. J. Lenin

dem Marxismus die karikaturenhaft-versimpelte Auffassung von einer

direkten Ablösung der großen Fronwirtschaft durch die großkapitalistischeWirtschaft an! Ihr urte ilt: die Gutsbesitzer haben höhere Ernteerträge alsdie Bauern, folglich bedeutet die Expropriation der Gutsbesitzer einenSchritt zurück. Das ist ein Schluß, würdig eines Q uartaners. W ar etwa —

denkt einmal nach, Herrschaften! — die Abtrennung des wenig ergiebigenBauernlandes von dem ertragreichen Gutsbesitzerland beim Fall der Leib-eigenschaft nicht „ein Schritt zurück"?

Die heutige Gutswirtschaft in Rußland vereinigt in sich kapitalistischeund leibeigenschaftliche Züge. Der heutige Kampf der Bauern gegen die

Gutsbesitzer ist seiner objektiven Bedeutung nach ein Kampf gegen dieÜberreste der Leibeigenschaft. Aber wollte man alle Einzelfälle aufzählenund jeden Einzelfall abwägen, mit der Genauigkeit einer Apothekerwaagefeststellen, wo die Leibeigenschaft aufhört und der reine Kapitalismusanfängt — das hieße den Marxisten die eigene Pedanterie zuschreiben.Wir können nicht ausrechnen, welcher Teil des Preises für beim Krämergekaufte Lebensmittel auf den Arbeitswert und welcher Teil auf denWucher usw. entfällt. He ißt das aber, meine Herren, daß man die Arbeits-werttheorie über Bord werfen soll?

Die heutige Guts Wirtschaft vereinigt in sich kapitalistische und le ib-eigenschaftliche Züge. Nur Pedanten können daraus den Schluß ziehen,daß wir verpflichtet seien, jeden kleinsten Zug in jedem Einzelfall nachseinem so oder anders gearteten sozialen Charakter abzuwägen, zu be-rechnen und zu registrieren. Nur Utopisten können daraus den Schlußziehen, daß es für uns „zwecklos" sei, die zwei ungleichartigen sozialenKriege voneinander zu unterscheiden. In Wirklichkeit ergibt sich darausder eine und nur der eine Schluß, daß wir sowohl in unserem Programmals auch in unserer Taktik den rein proletarischen Kampf gegen den Kapi-

talismus mit dem gesamtdemokratischen (und gesamtbäuerlichen) Kampfgegen die Leibeigenschaft vereinigen müssen.

Je stärker die kapitalistischen Züge in der heutigen halbleibeigenschaft-lichen G uts Wirtschaft entwickelt sind, um so dringender ist es nötig , dasLandproletariat schon jetzt selbständig zu organisieren, denn um so rascherwird bei jeder Konfiskation der rein kapitalistische oder rein proletarischeAntagonismus zutage treten. Je stärker die kapitalistischen Züge in derGutswirtschaft sind, um so rascher wird die demokratische Konfiskation

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Kleinbürcjerlidier und proletarischer Sozialismus 449

zum wirklichen Kampf für den Sozialismus drängen und um so gefähr-

licher ist folglich die falsche Idealisierung der demokratischen Umwälzungmit Hilfe des Schlagworts „Sozialisierung". Das ist die Schlußfolgerungaus der Verquickung von Kapitalismus und Leibeigenschaft in der Guts-wirtschaft.

Also den rein proletarischen Kampf mit dem gesamtbäuerlichen ver-einigen, sie aber nicht vermengen. D en gesamtdemokratischen und gesamt-bäuerlichen Kampf unterstützen, ohne sich mit diesem Kampf, der keinproletarischer Klassenkampf ist, zu identifizieren oder ihn durch falscheSchlagworte wie Sozialisierung zu idealisieren, ohne auch nur für einen

Augenblick zu vergessen, daß m an sowohl das städtische als audb das länd-liche Proletariat zur völlig selbständigen Klassenpartei der Sozialdemo-kratie organisieren muß. Diese Partei wird den konsequenten Demokra-tismus bis zu Ende un terstützen, aber sie wird sich nicht durch reaktionäreTräumereien und Versuche, „ausgleichende" Verhältnisse beim Bestehender W arenwirtschaft zu schaffen, von ihrem revolutionären Weg abbrin-gen lassen. Der Kampf der Bauern gegen die Gutsbesitzer ist jetzt revo-lutionär; die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien ist im gegebenenMoment der ökonomischen und politischen Entwicklung in jeder Beziehungrevolutionär, und wir unterstü tzen diese revolutionär-demokratische Maß-nahme. Diese Maßnahme aber als „Sozialisierung" zu bezeichnen, sichselbst und das Volk über die Möglichkeit einer „ausgleichenden" Boden-nutzung beim Bestehen der Warenwirtschaft zu täuschen, das ist bereitseine reaktionäre kleinbürgerliche Utopie, die wir den Sozialreaktionärenüberlassen.

„Vroletari" 7Jr. 24, Nach dem Text des „Vroletari".7. November (25. Oktober) 1905.

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DIE ENTSCHEIDUNG NAHT

Die Kräfte halten sich die Waage — schrieben wir vor zwei Wochen*

bei den ersten Nachrichten über den politischen Generalstreik in Rußland,als offenkundig wurde, daß die Regierung es nicht wagt, ihre militärischenMittel sofort einzusetzen.

D ie Kräfte h alten sich die W aag e — wiederh olten w ir vor einerW oche **, als das M anifest vom .17. Ok tob er, dieses „letzte W or t" derpolitischen Neuigkeiten, dem ganzen Volk und der ganzen Welt die Un-entschlossenheit des Zarismus u nd seinen Rückzug vor Au gen führte.

Aber das Gleichgewicht der Kräfte schließt den Kampf keineswegs aus,sondern macht ihn im Gegenteil noch schärfer. Der Rückzug der Regie-rung b edeu tet lediglich, wie wir schon sagten, daß sie eine neu e, von ihremStandpunkt aus günstigere Kampfstellung bezieht. Die Verkündung der„Freiheiten", die auf dem Wisch prangen, den man Manifest vom 17. Ok-

tober nennt, ist lediglich ein Versuch, die moralischen Voraussetzungenfür den Kampf gegen die Revolution zu schaffen, während Trepow zurselben Zeit an der Spitze d er allrussischen S chw arzhun derter d ie m ateriel-len V oraus setzun gen für diesen Kampf schafft.

Die Entscheidung naht. Die neue politische Lage zeichnet sich mit er-staunlicher, nur revolutionären Epochen eigener Schnelligkeit ab. Die Re-gierung gab in Worten nach und begann gleichzeitig durch Taten den An-griff vorzubereiten. Den Versprechungen, eine Verfassung zu gewähren,folgten die wildesten un d abscheulichsten G ew altakte , als wollte man dem

Volk die ganze reale Bedeutun g der realen M acht d er Selbstherrschaft noch* Siehe den vorliegenden Band, S. 395. Die Red.

** Siehe den vorliegenden Band, S. 431. Die Red.

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Die Entscheidung naht 451

anschaulicher vor Augen führen. Der Widerspruch zwischen Verheißun-

gen, Worten, papierenen Wischen tind — der Wirklichkeit wurde unend-lich fühlbarer. Die Ereignisse begannen glänzend jene Wahrheit zu be-stätigen, die wir unseren Lesern schon so oft gesagt haben und immerwiederholen werden: Solange die faktische Macht des Zarismus nichtgestürzt ist, solange sind alle seine Zugeständnisse, sogar einschließlichder „konstituierenden" Versammlung, nichts als Blendwerk, Lug undTrug.

Das haben die revolutionären Arbeiter Petersburgs mit bemerkenswer-ter Klarheit in einem jener täglichen Bulletins11 7 zum Ausdruck gebracht,

die noch nicht bei uns eingetroffen sind, über die aber die ausländischenZeitun gen, betroffen und erschreckt von der Macht des Proletariats, immerhäufiger zu berichten wissen. „Man hat uns Versammlungsfreiheit ge-währt", schrieb das Streikkomitee (wir übersetzen aus dem Englischen insRussische zurück, wodurch sich natürlich kleine Abweichungen vom W or t-laut ergeben), „aber unsere Versammlungen werden von Truppen um-zingelt. Man hat uns Pressefreiheit gewährt, aber die Zensur besteht wei-ter. Man hat uns Freiheit der Wissenschaft versprochen, aber die Univer-sität ist von Soldaten besetzt. Man hat uns Unantastbarkeit der Persongewährt, aber die Gefängnisse sind mit Verhafteten überfüllt. Man hatuns Witte beschert, aber Trepow ist nach wie vor da. Man hat uns eineVerfassung gewährt, aber die Selbstherrschaft besteht weiter. Man hat unsalles gegeben, aber wir haben nichts."

Das „Manifest" wird von Trepow aufgehoben. Die Verfassung wirdvon Trepow verschleppt. Die wahre Bedeutung der Freiheiten wird vondemselben Trepo w erläutert. Die Amnestie wird von Trepow verstümmelt.

Wer ist denn eigentlich dieser Trepow? Eine ungewöhnliche Persön-lichkeit, die unbedingt beseitigt werden muß? Nichts dergleichen. Das ist

ein ganz gewöhnlicher Polizist, der die ganz alltägliche Arbeit der Selbst-herrschaft besorgt und über Truppen und Polizei verfügt.Warum haben nun dieser höchst mittelmäßige Polizist und seine ganz

alltägliche „Arbeit" auf einmal eine so unermeßlich große Bedeutung ge-wonnen? Weil die Revolution einen unermeßlich großen Schritt vorwärtsgemacht und die wirkliche Entscheidung näher gebracht hat. Das vomProletariat geführte Volk reift politisch täglich und stündlich oder, wennman will, nicht von Jahr zu Jahr r sondern von Woche zu Woche. Und

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452 W.1.£enin

war Trepow für das Volk, das politisch noch schlief, ein ganz gewöhn-

licher Polizist, so wurde er für das Volk, das sich seiner politischen Kraftbewußt geworden war, schlechthin unmöglich, weil er die ganze Barbarei,Frevelhaftigkeit und Sinnlosigkeit des Zarismus verkörpert.

Die Revolution lehrt. Sie erteilt allen Klassen des Volkes und allen Völ-kern Rußlands ausgezeichneten Anschauungsunterricht über das Wesender Verfassung. Die Revolution lehrt dadurch, daß sie die zu lösendennächsten Aufgaben der Politik in ihrer augenfälligsten, greifbarsten Ak-tualität herausstellt, daß sie die Volksmassen zwingt, diese Aufgaben tiefinnerlich zu empfinden, daß sie die Existenz des Volkes direkt von der

Lösung dieser Aufgaben abhängig macht und die Untauglichkeit all undjeder Vertuschung, Ausflucht, Zusicherung un d Anerkennung in der Praxisentlarvt. „Man hat uns alles gegeben, aber wir haben nichts." Denn „ge-geben" hat man uns nur Zusicherungen, denn wirkliche Macht haben wirnicht. Wir sind dicht an die Freiheit herangekommen, wir haben alle undjeden, sogar den Zaren gezwungen, die Notwendigkeit der Freiheit an-zuerkennen. Aber wir brauchen nicht die Anerkennun g der Freiheit, son-dern die Freiheit selbst. Wir brauchen nicht einen Wisch, der den Volks-vertretern gesetzgeberische Rechte verspricht. Wir brauchen die tatsäch-

liche Herrschaft des Volkes. Je mehr wir uns ihr nähern, desto ärgerentbehren wir sie. Je verlockender die Zarenmanifeste sind, desto unmög-licher ist die Zarenmacht.

Der Kampf nähert sich der Entscheidung, der Lösung der Frage, ob diereale Macht in den Händen der zaristischen Regierung verbleibt. Was dieAnerkennung der Revolution betrifft, so ist diese jetzt schon von allenanerkannt. Sie ist schon ziemlich lange von Herrn Struve und den Oswo-boshdenzen anerkannt, sie ist jetzt von Herrn Witte anerkannt, sie istauch von Nikolaus Romanow anerkannt. Ich verspreche euch alles, was ihr

wollt, sagt der Zar, aber erhaltet mir meine Macht, gestattet mir, meineVersprechungen selbst zu erfüllen. Darauf läuft das Zarenmanifest hin-aus, un d es ist begreiflich, daß es den entschlossenen Kampf herausfordernmußte. Alles gewähre ich, außer der Macht — erklärt der Zarismus. Allesist Blendwerk, außer der Macht — erwidert das revolutionäre Volk.

Die wahre Bedeutung jenes scheinbaren Widersinns, zu dem die Dingein Rußland gekommen sind, besteht in dem Bestreben des Zarismus, dieRevolution zu betrügen, durch einen Pakt mit der Bourgeoisie zu umgehen.

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Die Entscheidung naht 453

Der Zar verspricht der Bourgeoisie von Tag zu Tag mehr, um zu son-

dieren, ob nicht endlich eine allgemeine Schwenkung der besitzenden Klas-sen in der Richtung zur „O rdnung" beginnt. Aber solange sich diese „Ord -nung" in den Exzessen Trepows und seiner Schwarzhundertschaften ver-körpert, läuft der Appell des Zaren Gefahr, die Stimme des Predigers inder Wüste zu bleiben. Der Zar braucht sowohl Witte als auch Trepow:Witte, um die einen zu ködern, Trepow, um die andern in Schach zu hal-ten; Witte für die Versprechungen, Trepow für die Taten; Witte für dieBourgeoisie, Trepow für das Proletariat. Und wieder entfaltet sich voruns, aber auf einer unvergleichlich höheren Entwicklungsstufe, das gleiche

Bild, das wir am Anfang der Moskauer Streiks sahen: die Liberalen ver-handeln, die Arbeiter kämpfen.

Trepow hat seine Rolle und seine wahre Bedeutung ausgezeichnet be-griffen. Er hat te es vielleicht nur allzu eilig — für den diplomatischenWitte —, aber er fürchtete eben, sich zu verspäten, als er sah, wie schnelldie Revolution voranschreitet. Trepow war sogar zur Eile gezwungen,denn er merkte, daß die ihm zur Verfügung stehenden Kräfte schwinden.

Zugleich mit dem Verfassungsmanifest der Selbstherrschaft begannenauch die Vorbeugungsmaßnahmen der Selbstherrschaft gegen die Verfas-

sung. Die Schwarzhundertschaften fingen so zu wüten an , wie es Rußlandnoch nicht erlebt hatte. Berichte von Massakern und Pogromen, von un-erhörten Bestialitäten kommen haufenweise aus allen Gegenden Rußlands.Es herrscht der weiße Terror, überall, wo nur irgend möglich, mobilisiertund organisiert die Polizei den Abschaum der kapitalistischen Gesellschaftzu Raub und Gewalttat, setzt sie die Hefe der städtischen Bevölkerungunter Alkohol, veranstaltet sie Judenpogrome, hetzt sie zu Mißhandlun-gen der „Studenten" und Rebellen auf, hilft sie die Semstwoleute „be-lehren ". Die Konterrevolution tobt sich aus. Trepo w „bewährt sich". Ma n

schießt mit Mitrailleusen (Odessa), sticht Augen aus (Kiew), wirft Men-schen vom fünften Stockwerk auf die Straße , stürmt ganze Häuser un dliefert sie der Plünderung aus, legt Feuer an und erlaubt nicht, die Brändezu löschen, schießt alle nieder, die es wagen, sich den Schwarzhundert-schaften zu widersetzen. Von Polen bis Sibirien, vom Finnischen Meer-busen bis zum Schwarzen Meer — überall ein und dasselbe Bild.

Aber neben diesem Wüten der Schwarzhunderter, dieser Orgie derSelbstherrschaft, diesen letzten Zuckungen des zaristischen Ungeheuers

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wird deutlich der immer neue Ansturm des Proletariats sichtbar, der wie

immer nach jeder Flutwelle der Bewegung scheinbar abflaut, während dasProletariat in Wirklichkeit Kräfte sammelt und sich auf den entscheiden-den Schlag vorbereitet. Die Exzesse der Polizei haben in Rußland jetztaus den obengenannten Gründen einen ganz anderen Charakter ange-nommen, als sie früher hatten. Gleichzeitig mit den Racheakten der Ko-saken und der „Revanche" Trepows schreitet die Zersetzung der Zaren-macht unaufhaltsam fort. Das sieht man sowohl in der Provinz als auchin Finnland und in Petersburg, das zeigt sich auch dort, wo das Volk ammeisten bedrückt und die politische Entwicklung am schwächsten ist, so-

wohl in den Randgebieten mit nichtrussischer Bevölkerung als auch in derHauptstadt, wo sich das größte Drama der Revolution abzuspielen ver-spricht.

In der Tat, man vergleiche folgende zwei Telegramme, die wir eineruns vorliegenden Wiener bürgerlich-liberalen Zeitung entnehmen 11 8: „In7wer wurde das Semstwoamt in Gegenwart des Gouverneurs Slepzowvom Mob überfallen und erobert. Das Haus wurde darauf an allen Eckenvom Pöbel angezündet. Die Feuerwehr weigerte sich, zu löschen, dasanwesende Militär stand untätig zur Seite" (wir bürgen natürlich nicht

für die Richtigkeit gerade dieser Nachricht, aber daß solche und hundert-mal schlimmere Dinge allenthalben geschehen, ist eine völlig unbestreit-bare Tatsache). „In Kasan wurde die Polizei vom Volke entwaffnet, dieWaffen an die Bevölkerung verteilt und eine Volksmiliz gebildet. Jetztherrscht dort völlige Ruhe und Ordnun g."

Ist es nicht lehrreich, diese beiden Bilder gegeneinander zu halten? HierRache, Exzesse, Pogrome. Dort Sturz der zaristischen Macht und Orga-nisierung des siegreichen Aufstands.

Finnland zeigt uns dieselben Erscheinungen in unvergleichlich größe-

rem Maßstab. Der Statthalter des Zaren ist vertrieben. Die lakaienhaftenSenatoren sind vom Volk abgesetzt. Die russischen Gendarmen werdenhinausgeworfen. Sie versuchen, sich durch Zerstörung der Eisenbahnver-bindung zu rächen (Telegramm aus Haparanda vom 4. November n. St.).Darauf werden Abteilungen bewaffneter Volksmiliz ausgesandt, um dietollgewordenen Gendarmen zu verhaften. Eine Versammlung der Bürgerin Torneä beschließt, die Einfuhr von Waffen und freiheitlicher Literaturzu organisieren. Tausende und aber Tausende melden sich in den Städten

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Die Sntsdheidung naht 455

und Dörfern zur finnischen Miliz. Es wird berichtet, daß die russische

Garnison einer starken Festung (Sveaborg) dem aufständischen Volk ihreSympathien ausgedrückt und die Festung der Volksmiliz übergeben hat.Finnland jubelt. Der Za r macht Zugeständnisse, er ist bereit, den Landtageinzuberufen, hebt das gesetzwidrige Manifest vom 15. Februar 1899auf, nimmt die „Demission" der vom Volk vertriebenen Senatoren an.Und zur selben Zeit rät das „Nowoje Wremja", alle innischen Häfen zublockieren und den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen. NachTelegrammen ausländischer Zeitungen wurden in Helsingfors viele rus-sische Truppen einquartiert (es bleibt dahingestellt, inwieweit sie für die

Unterdrückung des Aufstands geeignet sind). Russische Kriegsschiffe sol-len in den inneren Hafen von Helsingfors eingelaufen sein.

Petersburg. Trepow rächt sich für den Jubel des revolutionären Volkes(über die dem Zaren abgerungenen Zugeständnisse). Die Kosaken wüten.Immer öfter kommt es zu blutigen Zusammenstößen. Die Polizei organi-siert offen Schwarzhundertschaften. Die Arbeiter wollten am Sonntag,dem 5. November (23. Oktober), eine riesige Dem onstration veranstalten.Sie wollten das Andenken ihrer Genossen, der im Kampf für die Freiheitgefallenen Helden, öffentlich ehren. Die Regierung bereitete ihrerseits ein

riesiges Blutbad vor. Sie hielt für Petersburg dasselbe bereit, was sich inkleinerem Maßstab in Moskau abgespielt hatte (das Massaker bei derBeerdigung des Arbeiterführers Bauman). Trepow wollte den Momentausnützen, bevor er seine Truppen durch die Entsendung eines Teils da-von nach Finnland zersplittert hatte — den Moment, da die Arbeiter sichanschickten, zu demonstrieren und nicht zu kämpfen.

Die Petersburger Arbeiter durchschauten die Absicht des Gegners. DieDemonstration wurde abgesagt. Das Arbeiterkomitee beschloß, die letzteSchlacht nicht in dem Augenblick zu liefern, den Trepow dafür auszu-

suchen geruht hatte. Das Arbeiterkomitee kalkulierte richtig, daß eineganze Reihe von Ursachen (darunter der Aufstand in Finnland) einenAufschub des Kampfes für Trepow unvorteilhaft, für uns vorteilhaftmacht. Inzwischen aber wird die Bewaffnung energisch vorbereitet. DiePropaganda unter den Truppen macht ausgezeichnete Fortschritte. NachBerichten sind 150 Matrosen der 14. und der 18. Marinedivision verhaftetund in den letzten anderthalb W ochen 92 Anzeigen gegen Offiziere wegenSympathien für die Revolutionäre erstattet worden. Flugblätter, welche

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45 6 IV . J. Lenin

die Truppen auffordern, auf die Seite des Volkes überzugehen, werden

sogar an die Patrouillen verteilt, die Petersburg „bewachen". Der starkeArm des revolutionären Proletariats erweitert die von Trepow gezogenenGrenzen der versprochenen Pressefreiheit. Wie die ausländischen Zei-tungen berichten, sind am Sonnabend, dem 22. Oktober (4. November),nur jene Petersburger Zeitungen erschienen, die sich der Forderung derArbeiter fügten, die Zensur zu ignorieren. Zwei deutsche PetersburgerZeitungen, die „loyal" (knechtisch) zu bleiben wünschten, konnten nichterscheinen. Die „legalen" Zeitungen begannen in dem Augenblick, als dieGrenzen des Legalen nicht mehr von Trepow, sondern vom Verband der

Petersburger streikenden Arbeiter festgelegt wurden, eine ungewöhnlichmutige Sprache zu führen. „Der Streik, zeitweilig aufgeschoben", tele-grafiert man am 23. Oktober (5 . November) der „Neuen Freien Presse",„wird, wie erklärt wird, wieder eintreten, sobald die Zeit gekommen seinwerde, den letzten Schlag gegen das alte Regime zu führen. Auf das Pro-letariat machte keine der Konzessionen der Regierung Eindruck. Die Lageist sehr unklar und gefahrdrohend, da die Revolutionsidee weitergreiftund die Arbeiterschaft sich als Beherrscherin der Situation fühlt. Von hier(aus Petersburg) beginnt eine Massenflucht. Man besorgt eine Kata-

strophe."Die Entscheidung naht. Der Sieg des Volksaufstands ist nicht mehr

fern. Die Losungen der revolutionären Sozialdemokratie werden mit un-erwarteter Schnelligkeit in die Tat um gesetzt. Mag sidi Trepow noch eineWeile zwischen dem revolutionären Finnland und dem revolutionärenPetersburg, zwischen den revolutionären Randgebieten und der revolu-tionären Provinz abhetzen. Mag er versuchen, wenigstens einen einzigensicheren Ort für ungehinderte militärische Operationen zu finden. Mögedas Zarenmanifest noch weiter bekannt, möge die Nachricht von den Er-

eignissen in den revolutionären Zentren noch mehr verbreitet werden —das wird uns neue Anhänger zuführen, und das wird in die sich lichtendenReihen der Anhänger des Zarismus neues Schwanken, neue Zersetzunghineintragen.

Der politische Generalstreik in Rußland hat sein Werk ausgezeichnetgetan, denn er hat den Aufstand weitergetrieben, dem Zarismus furcht-bare Wunden geschlagen und die niederträchtige Komödie der nieder-trächtigen Reichsduma vereitelt. Die Generalprobe ist beendet. Wir stehen

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Die Entscheidung naht 457

allem Anschein nach am Vorabend des eigentl ichen Dramas. Witte

schwimmt in einem Strom von Worten. Trepow schwimmt in einem Stromvon Blut. Dem Zaren sind allzu wenig Versprechungen geblieben, die ernoch vergeben könnte. Trepow sind al lzu wenig Schwarzhunderter t rup-pen geblieben, die er noch in den letzten Kampf werfen könnte. Die Rei-hen des revolutionären Heeres aber wachsen, die Kräfte stählen sich ineinzelnen Gefechten, das rote Banner erhebt sich immer höher über demneuen Rußland.

„Proletari" Nr. 25, Nadb dem Text des „Proletdri".16. f 3 j November 1905.

30 Lenin, Werk e, Bd. 9

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458

E I N F Ü G U N G I N W . K A L I N I N S A R T I K E L

„ D E R B A U E R N K O N G R E S S " 1 1 9

W ir sehen also, daß die bewußten Sozialisten den revolutionären Kampfder Bauernschaft, sogar der w ohlhabenden, gegen die Beamten und G uts-besitzer unbedingt unterstützen müssen. Die bewußten Sozialisten müssenjedoch klipp und klar sagen, daß die für die Bauern erwünschte „schwarzeUmteilung" bei weitem noch kein Sozialismus ist. Der Sozialismus er-fordert, daß die Macht des Geldes, die Macht des Kapitals vernichtet,jedes Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben und dieWarenwirtschaft beseitigt wird. Der Sozialismus erfordert, daß sowohl

der Grund und Boden als auch die Fabriken in die Hände aller Werk-tätigen übergehen, die nach einem allgemeinen Plan eine Groß- (nichtaber eine zersplitterte Klein-) Produktion organisieren.

Der Kampf der Bauern für Land und Freiheit ist ein großer Schritt zumSozialismus, aber er ist noch lange, lange nicht der Sozialismus selbst.

„Troktari" JVr. 25, 9dadb dem 7ext des „Proletari".16. (3.) November 1905.

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45 9

ZWISCHEN ZWEI SCHLACHTEN

Genf, den 15. November n. St.

Die große Schlacht, die das Proletariat dem Zarismus geliefert hat, istzu Ende. Der politische Generalstreik in Rußland ist anscheinend fastüberall abgebrochen worden. D er Feind hat sich am weitesten an der einenFlanke (Finnland) zurückgezogen, sich dafür aber an der anderen (Be-lagerungszustand in Polen) fest eingegraben. Im Zentrum ist der Feindnur wenig zurückgewichen, hat jedoch eine starke neue Stellung bezogenund bereitet sich auf einen noch blutigeren und noch entschiedeneren

Kampf vor. Kleinere Gefechte finden ununterbrochen auf der ganzen Liniestatt. Beide Seiten beeilen sich, ihre Verluste aufzufüllen, ihre Reihen zuschließen, sich für die nächste Schlacht möglichst gut zu organisieren undzu bewaffnen.

So ungefähr ist im gegenwärtigen Augenblick die Lage auf dem Schau-platz des Freiheitskampfes. Der Bürgerkrieg unterscheidet sich seiner Na-tur nach von anderen Kriegen dadurch, daß die Kampfformen viel mannig-faltiger sind, die Zahl und die Zusammensetzung der Kämpfenden aufbeiden Seiten kaum berechnet werden können und stark schwanken, die

Versuche, Frieden oder auch nur Waffenstillstand zu schließen, nicht vonden Kämpfenden ausgehen und sich in der absonderlichsten Weise m it denKampfhandlungen verflechten.

Zeitweilige Pausen in den Kampfhandlungen spornen besonders dieUnternehmungslust der „Friedensstifter" an. Witte bemüht sich aus Lei-beskräften, sowohl direkt als auch durch die Reptilienpresse als ein solcher„Friedensstifter" zu erscheinen und seine Rolle als diplomatischer Lakai

3 0 *

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460 l/V. 1 Lenin

des Zarismus nach Möglichkeit zu verbergen. Eine Regierungsverlaut-

barung gibt — zur Genugtuung naiver Liberaler — zu, daß sich die Polizeian den Heldentaten der Schwarzhunderter beteiligt hat. Die vor der Re-gierung liebedienernde Presse (beispielsweise das „Nowoje W remja") tutso , als verurteile sie die Ausschreitungen der Reaktionäre und natürlichauch die „Ausschreitungen" der Revolutionäre. Die extremen Vertreterder Reaktion (Pobedonoszew, Wladimir, Trepow) ziehen sich zurück,unzufrieden mit dem kleinlichen Spiel. Teilweise begreifen sie in ihrerDum mheit nicht, wie vorteilhaft dieses Spiel ist, durch das man dem Zaris-mus die größtmögliche Macht erhalten will; teilweise spekulieren sie —

und spekulieren richtig — darauf, daß es für sie besser ist, völlig freieHand zu haben und sich an demselben Spiel zu beteiligen, aber in eineranderen Rolle, nämlich in der Rolle „unabhängiger" Kämpfer für dieMacht des Monarchen, in der Rolle „freier" Rächer für die (durch dieRevolutionäre) „entweihten nationalen Gefühle des russischen Volkes",einfacher gesagt, in der Rolle von Führern der Schwarzhunderter.

Witte reibt sich angesichts der „großartigen" Erfolge seines erstaun-lich schlauen Spiels vor Vergnügen die Hände. Er bewahrt die Unschulddes Liberalismus, bietet den Führern der Kadettenpartei (sogar Miljukow,laut Telegramm des Korrespondenten von „Le Temps") aufdringlich Mi-nisterportefeuilles an, schreibt Herrn Struve eigenhändig einen Brief mitdem Angebot, in die Heimat zurückzukehren, und bemüht sich, den „Wei-ßen" zu spielen, der den „Roten" wie den „Schwarzen" gleich fernsteht.Und gleichzeitig erwirbt er, während er die Unschuld bewahrt, auch nochKapital, denn er bleibt das Haupt der zaristischen Regierung, die alleMacht in ihren Händen behält und nur auf einen günstigen Augenblickwartet, um zum entscheidenden Angriff auf die Revolution überzugehen.

Die von uns im „Proletari" gegebene Charakteristik Wittes wird voll-auf bestätigt. Das ist ein Ministerclown seinen Methoden, seinen „Ta-lenten" und seiner Bestimmung nach. Das ist, nach den realen Kräften,über die er bis jetzt verfügt, ein Minister der liberalen Bürokratie, dennmit der liberalen Bourgeoisie konnte er noch nicht handelseins werden.Allerdings kommt dieses Handelsgeschäft trotz allem allmählich voran.Die Händler nennen ihren äußersten Preis, schlagen mit der Hand ein undverschieben den Abschluß des Geschäfts bis zu den Entscheidungen derdieser Tage bevorstehenden Semstwotagung. Witte bemüht sich, die bür-

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Ztvisdhen zwei Sdhladbten 461

gerliche Intelligenz zu bestechen, indem er das Wahlrecht zu den Duma-

wahlen erweitert, einen Bildungszensus gewährt, sogar den Arbeitern (diesich im indirekten Wahlsystem der „Arbeiterkurie" mit 21 Plätzen be-gnügen sollen!!) einen armseligen Brocken hinwirft und schwört, daß dieDuma nur zusammenzutreten und daß sie, oder wenigstens eine Minder-heit in ihr, sich nur für das allgemeine Wahlrecht auszusprechen brauche,damit seine, Wittes, Unterstützung dieser Forderung völlig, ja völlig ge-sichert se i.

Doch das Handelsgeschäft ist trotzdem bis jetzt nicht zustande gekom-men. Die Händler führen ihre Verhandlungen unter Umgehung derer, die

wirklich kämpfen, und das muß zwangsläufig die Anstrengungen unserer„ehrlichen Makler" paralysieren. Die liberale Bourgeoisie würde an undfür sich die Reichsduma gern akzeptieren — sie hat sie doch sogar in der„beratenden" Form akzeptiert, sie hat doch den aktiven Boykott bereitsim September verworfen. Aber der springende Punkt ist eben, daß in denzwei Monaten, die seitdem vergangen sind, die Revolution einen gewal-tigen Schritt vorwärts gemacht hat, daß das Proletariat eine ernste Schlachtgeliefert und zum erstenmal sofort einen großen Sieg errungen hat. DieReichsduma, diese verächtliche und niederträchtige Komödie einer Volks-

vertretung, ist begraben: Sie wurde vom ersten Stoß des mächtig anstür-menden Proletariats hinweggefegt. Die Revolution entlarvte in wenigenWochen die Kurzsichtigkeit derer, die in die Bulyginsche Duma gehenoder die in die Duma Gehenden unterstützen wollten. Die Taktik desaktiven Boykotts erhielt die glänzendste Bestätigung, die der Taktik poli-tischer Parteien in KampfSituationen zuteil werden kann: die Bestätigungdurch die Tat, die Erprobung durch den Gang der Ereignisse, die An-erkennung dessen als unbestrittene und unbestreitbare Tatsache, was ge-stern kurzsichtigen Leuten und feigen Krämerseelen ein allzu kühner

„Sprung ins Ungewisse" zu sein schien.Die Arbeiterklasse hat den „Duma"komödianten einen gehörigen

Schrecken eingejagt, einen solchen Schrecken, daß sie sich jetzt fürchten,ihren Fuß auf diese wacklige, baufällige Brücke zu setzen, sich sogarfürchten, an die Haltbarkeit der „neuesten", von den staatlichen „Handrwerkern" hastig ausgeführten Reparatur zu glauben. Die Rollen sindjetzt etwas anders verteilt. Gestern wollten die Genossen Parvus, Tschere-wanin und Martow denen, die diese Brücke betreten, eine revolutionäre

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462 W. 7. Lenin

-Verpflichtung abverlangen, nämlich die Verpflichtung, in der Duma die

Einberufung einer konstituierenden Versammlung zu fordern. Heutenimmt den Platz dieser Sozialdemokraten der Vorsitzende des Minister-rats, Graf Sergej Juljewitsch Witte ein, der bereits die „revolutionäre"Verpflichtung abgibt, die Forderung nach Einberufung der konstituieren-den Versammlung zu unterstützen, wenn sie auch nur von einem einzigenDumamitglied ausgesprochen wird.

Doch die liberalen Bourgeois, die Kadetten, haben sich beim erstenmalderart blamiert, daß sie die traurige Erfahrung nicht wiederholen möchten.Sie hatten die „Wahlkampagne" schon tadellos vorbereitet, unsere wacke-ren Parlamentarier aus dem „Oswoboshdenije" und den „Russkije Wedo-mosti"; sie hatten schon einen Zentralausschuß zur Leitung dieser Kam-pagne gewählt; sie hatten sogar eine Rechtsberatungsstelle eingerichtet, umdie Bevölkerung darüber aufzuklären, ob der Landeshauptmann das Rechthat, die Wahlmänner der Bauern selbst auseinanderzujagen, oder ob ervorher beim Gouverneur anfragen muß. Kurzum, sie waren schon dabei,sich auf dem allen russischen Oblomows geschenkten Sofa schlafen zulegen, als plötzlich... das Proletariat mit einer unhöflichen Schulterbewe-gung die Duma samt der „Dumakampagne" über den Haufen warf. Kein

Wunder, daß die liberalen Bourgeois jetzt nicht geneigt sind, dem freund-lichen Grafen „die revolutionären Verpflichtungen" zu glauben. KeinW under, daß sie jetzt weniger geneigt sind, in die ihnen dargebotene gräf-liche Hand einzuschlagen, daß sie öfter nach links schielen, obgleich ihnen•angesichts der prächtigen, mit neuem Zuckerguß verzierten Dumatortedas Wasser im Mund zusammenläuft.

- Wittes Verhandlungen mit den Führern der liberalen Bourgeoisiekom mt zweifellos sehr ernste politische Bedeutung zu, allerdings nur in derHinsicht, daß sie noch einmal die innere Verwandtschaft der sich liberal

gebärdenden Bürokratie mit den Verteidigern der Kapitalinteressen bestä-tigen, nur in der Hinsicht, daß sie noch einmal zeigen, wie und von wemdie russische Revolution begraben werden soll. Aber diese Verhandlungenun d Abmachungen können deshalb nicht von Erfolg gekrönt sein, weil dieRevolution noch lebt. Die Revolution lebt nicht nur, sie ist stärker denn jezuvor, sie hat noch lange, lange nicht ihr letztes Wort gesprochen, sie hateben erst begonnen, die Kräfte des Proletariats und der revolutionärenBauernschaft wirklich breit zu entfalten. Das ist der Grund, weshalb die

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Zwischen zwei Sdhladbten 463

Verhandlungen und Abmachungen des Ministerclowns mit der Bourgeoisie

so leblos wirken: Sie können während des heißen Kampfes, in dem sichdie feindlichen Kräfte zwischen zwei entscheidenden Schlachten gegen-überstehen, keine ernste Bedeutung gewinnen.

In einer solchen Zeit muß die Politik des revolutionären Proletariats,das sich seiner welthistorischen Ziele bewußt ist, das nicht nur diepolitische, sondern auch die ökonomische Befreiung der Werktätigen an-strebt, das nicht für einen Augenblick seine sozialistischen Aufgaben ver-gißt — m uß seine Politik besonders fest, klar u nd bestimm t sein. Denniederträchtigen Lügen des Ministerclowns, den bornierten konstitutionel-

len Illusionen der Liberalen und bürgerlichen Demokraten muß das Pro-letariat energischer denn je seine Losung — Sturz der Zarenmacht durchden bewaffneten Volksaufstand — entgegenstellen. Das revolutionäre Pro-letariat verabscheut jedwede Heuchelei und bekämpft schonungslos alleVersuche, den wirklichen Stand der Dinge zu vertuschen. In den jetzigenReden über das konstitutionelle Regime in Rußland ist jedes Wort eineHeuchelei, jeder Satz eine alte, abgeschmackte Lüge, die dem Ziel dient,diese oder jene Ü be rre ste des absolutistisdi-leibeigenschaftlichen Ru ßland szu re t ten.

Man schwatzt von Freiheit , faselt von Volksvertretung, schwingt Redenüber eine konstituierende Versammlung und vergißt dabei ständig, täglichund stündlich, daß all diese schönen Dinge ohne ernste Garantien hohlePhrasen sind. Eine ernste Garantie kann aber nur der siegreiche Volksauf-

stand sein, nur die volle Herrschaft des bewaffneten Proletariats und derbewaffneten Bauernschaft üb er alle V ertreter der Z arenm acht, die vor demVolk zwar einen Schritt zurückgewichen sind, aber dem Volk noch langenicht unte rgeo rdn et, vom Volk noch lange nicht gestürz t sind. Un d solangedieses Ziel nicht erreicht ist, kann es eine wirkliche Freiheit, eine w ahrh afte

Volksvertretung, eine tatsächlich konstituierende Versammlung, welchedie Kraft hätte, neue Zustände in Rußland einzuführen, nicht geben.

Was ist eine Verfassung? Ein Stück Papier, auf dem die Rechte desVolkes niedergeschrieben sind. Worin besteht die Garantie, daß dieseRechte tatsächlich anerkan nt w erden ? In der Stärke jener Klassen des Vol-kes , die sich dieser Rechte bewußt sind und sie erzwungen haben. Wirwerden uns nicht von Worten betören lassen — das steht allein den Sch ön 'redn ern der bürgerlichen D em okratie an —, wir werd en nicht auf eine

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464 IV. 1 L enin

Minute vergessen, daß sich die Starke nur im siegreichen Kampf erweistund daß wir bei weitem noch keinen vollen Sieg errungen haben. W ir wer-den schönen Phrasen nicht glauben, denn gerade jetz t durchleben w ir eineZeit, in der offen gekämpft wird , in der alle Phrasen und alle Versprechun-gen sofort an Taten überprüft werden, in der man das Volk mit Worten,Manifesten und Zusicherungen einer Verfassung hinters Lidht führt unddanach trachtet, seine Kräfte zu schwächen, seine Reihen zu zersplittern,es zur Warfenstreckung zu bewegen. Es gibt nichts Heuchlerischeres alsdergleichen Versprechungen und Phrasen, und wir können mit Stolz sagen,daß das russische Proletariat bereits reif genug ist, um sowohl gegen die

nackte Gewalt als auch gegen die liberal-konstitutionelle Lüge zu kämpfen.Ein Beweis dafür ist der Aufruf der Eisenbahnarbeiter, von dem die Aus-landspresse unlängst berichtet hat (das Original besitzen wir leider nicht).Sammelt Waffen, Genossen, sagt dieser Aufruf, organisiert euch unermüd-lich, mit verzehnfachter Energie zum Kampf. Nur wenn wir bewaffnetsind und fest zusammenstehen, werden wir das Erkämpfte behaupten unddie volle Verwirklichung unserer Forderungen erreichen können. Zu gege-bener Zeit werden wir uns wieder alle wie ein Mann erheben — zumneuen, noch hartnäckigeren Kampf für die volle Freiheit.

Seht, das sind unsere einzigen Garantien! Seht, das ist die einzige Ver-fassung eines freien Rußlands, die nicht illusorisch ist! Betrachtet doch ein-mal das Manifest vom 17. Oktober und die russische W irklichkeit: Kannetwas aufschlußreicher sein als diese Anerkennung der Verfassung äurdhden Zaren auf dem Papier und — die wirkliche „Verfassung", die wirk-liche Ausübung der Zarenmadht? Das Zarenmanifest enthält doch Ver-sprechungen von zweifellos konstitutionellem Charakter. Und nun sehteuch den Wert solcher Versprechungen an. Die Person ist für unantastbarerklärt worden. Diejenigen jedoch, die der Selbstherrschaft unbequem

sind, bleiben im Gefängnis, in der Verbannung, im Exil. Die Versamm-' lungsfreiheit ist verkündet worden. Aber die Universitäten, die zumerstenmal in Rußland die Versammlungsfreiheit praktisch durchgesetzthaben , sind geschlossen und ihre Eingänge werden von Polizei und Militärbewacht. Die Presse ist frei — und daher wird das Organ, das die Inter-essen der Arbeiter vertritt, die Zeitung „Nowaja Shisn"12 0, wegen derVeröffentlichung des sozialdemokratischen Programms konfisziert. An dieStelle der Schwarzhunderterminister sind Minister getreten, die eine

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Zwisdien zwei SchUdjten 465

Rechtsordnung proklamiert haben. Die Schwarzhunderter jedoch „arbei-

ten" m it Hilfe von Polizei und Militär noch stärker auf der S traße, und siedürfen die dem Zarismus unbequemen Bürger des freien Rußlands freiund ungestraft erschießen, mißhandeln und zu Krüppeln schlagen.

Man muß blind oder vom Klassenegoismus verblendet sein, um an-gesichts solch eindringlicher Lehren des Lebens heute noch dem wirklichernste Bedeutung beizumessen, ob Witte das allgemeine Wahlrecht ver-spricht oder ob der Zar ein Manifest über die Einberufung einer „konsti-tuierenden" Versammlung unterschreibt. Selbst wenn diese „Akte" voll-zogen würden, entschieden sie dennoch nicht den Ausgang des Kampfes,

schüfen sie dennoch keine wirkliche Freiheit der Wahlagitation, böten siedennoch keine Gewähr für eine vom ganzen Volk gewählte und wirklichkonstituierende Vertreterversammlung. D ie konstituierende Versammlungsoll die Lebensordnung im neuen Rußland juristisch verankern, ihr alsParlament rechtskräftige Form geben; bevor man jedoch den Sieg desNeuen über das Alte verankern kann und damit man diesem Sieg rechts-kräftige Form geben kann, m uß man wirklich siegen, muß man die Machtder alten Institutionen brechen, sie hinwegfegen, das alte Gebäude demErdboden gleichmachen und die Möglichkeit eines einigermaßen ernsthaf-ten W iderstands seitens der Polizei und ihrer Banden ausschalten.

Nur der volle Sieg des Aufstands, der Sturz der Zarenmacht und derenAblösung durch eine provisorische revolutionäre Regierung kann die volleFreiheit der Wahlen, die volle Macht der konstituierenden Versammlunggewährleisten. Darauf müssen alle unsere Anstrengungen gerichtet sein,die Organisierung und die Vorbereitung des Aufstands müssen unbedingtan erster Stelle stehen. Nur in dem Maße, wie der Aufstand siegreichund sein Sieg eine entscheidende Niederlage des Feindes sein wird — nurin dem Maße wird auch die Versammlung der Volksvertreter nicht nurauf dem Papier vom ganzen Volk gewählt und nicht nur in Worten kon-

stituierend sein.Nieder mit aller Heuchelei, aller Verlogenheit und allen Ausflüchten!

Der Krieg ist erklärt, der Krieg ist in vollem Gange, wir haben jetzt einekleine Atempause zwischen zwei Schlachten. Einen Mittelweg gibt es nicht.Eine Partei von „W eißen" ist glatter Betrug. W er nicht für die Revolutionist, der ist ein Schwarzhunderter. Das behaupten nicht nur wir. Das istkeine von uns erfundene Formulierung. Davon spricht zu allen und jedem

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466 W. 1 Lenin

das von Blut gerötete Straßenpflaster in Moskau und Odessa, in Kron-

stadt und im Kaukasus, in Polen und in Tomsk.Wer nicht für die Revolution ist, der ist ein Schwarzhunderter. Wer

nicht dulden will, daß die russische Freiheit eine Freiheit des Polizeiter-rors, de r Bestechung, der Verdummung durch Alkohol und des heimtücki-schen Überfalls auf Wehrlose ist, der muß sich selbst bewaffnen und un-verzüglich auf die Schlacht vorbereiten. W ir müssen nicht ein Versprechender Freiheit, nicht ein Stück Papier über die Freiheit, sondern die wirklicheFreiheit erkämpfen. Wir müssen nicht eine Demütigung der Zarenmacht,nicht eine Anerkennung der Volksrechte durch sie, sondern die Vernichtung

dieser Macht erreichen, denn die Zarenherrschaft ist die Herrschaft derSchwarzhunderter über Rußland. Und auch das ist durchaus nicht unsereSchlußfolgerung. Das ist die Schlußfolgerung des Lebens. Das ist dieLehre der Ereignisse. Das ist die Stimme jener, die bis jetzt jeder revolu-tionären Lehre fremd gegenübergestanden haben und die nicht wagen dür-fen, auf der S traße, in Versammlungen oder zu Hau se einen freien Schrittzu tun oder ein freies Wort zu sagen, ohne sich der unmittelbaren unddrohenden Gefahr auszusetzen, von der Bande der Zarenanhänger zer-treten, zerfleischt und zerrissen zu werden.

Die Revolution h at diese „Volkskräfte", die Kräfte der Zarenanhänger,endlich gezwungen, ans Tageslicht zu kommen. Sie hat die Zarenmachtgezwungen, vor aller Augen zu zeigen, auf wen sich diese Macht in W irk-lichkeit stützt, wer sie in Wirklichkeit unterstützt. Seht sie, seht dieseArmee der vertierten Polizisten, der bis zum Stumpfsinn gedrillten Sol-daten, der verkommenen Popen, der verrohten Ladenbesitzer, des unterAlkohol gesetzten Abschaums der kapitalistischen Gesellschaft. Seht, werjetzt in Rußland herrsdbt, unter der direkten und indirekten Mitwirkungvon neun Zehnteln aller unserer Regierungsinstitutionen. Seht sie, dierussische Ve ndee12 1, die der französischen Vendee ebenso gleicht wie der„gesetzmäßige" Monarch Nikolaus Romanow dem Emporkömmling Na-poleon. U nd unsere Vendee hat gleichfalls noch nicht ihr letztes W ort ge-sprochen — gebt euch keiner Täuschung darüber hin, Bürger. Sie ist eben-falls erst dabei, sich voll zu entfalten. Sie hat ebenfalls noch „Vorräte anZündstoff", angehäuft in den Jahrhunderten der Finsternis, der Rechtlosig-keit, der Leibeigenschaft, der Polizeiallmacht. Sie vereinigt in sich dieganze Barbarei des Asiatentunis m it all den widerwärtigen Seiten raffinier-

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Zwischen zwei SdoUdhten 467

ter Methoden zur Ausbeutung und Verdummüng all derer, die durch die

kapitalistische Zivilisation der Stadt am meisten zu Boden gedrückt undbis aufs Blut gequält werden, all derer, die schlimmer leben als Tiere.Diese Vendee wird weder durch Manifeste des Zaren noch durch Epistelndes Synods oder durch Veränderungen in der höheren oder niederen Büro-kratie verschwinden. Sie kann nur durch die Kraft des organisierten undaufgeklärten Proletariats gebrochen werden, denn nur das Proletariat,selbst ausgebeutet, ist imstande, alle tiefer Stehenden emporzuziehen, inihnen den Menschen und Bürger zu wecken, ihnen den W eg zur Befreiungvon jeglicher Ausbeutung zu zeigen. Nur das Proletariat kann den Kern

einer machtvollen revolutionären Armee schaffen, machtvoll sowohl durchihre Ideale als auch durch ihre Disziplin, sowohl durch ihre Organisationals auch durch ihren Heroismus im Kampf, alles Eigenschaften, denenkeine Vendee standzuhalten vermag.

Und das Proletariat hat, geführt von der Sozialdemokratie, schon über-all mit der Bildung dieser revolutionären Armee begonnen. Ihren Reihenmüssen sich alle anschließen, die nicht zur Armee der Schwarzhundertergehören wollen. Der Bürgerkrieg kennt keine Neutralen. Wer ihm fern-bleibt, der unterstützt durch seine Passivität die triumphierenden Schwarz-hunderter. Auch das Heer zerfällt in eine rote und eine schwarze Armee.Vor knapp zwei Wochen wiesen wir darauf hin, wie rasch es in den Frei-heitskampf einbezogen wird. Das Beispiel von Kronstadt zeigte das an-schaulich. Mag die Regierung des Schurken W itte den Aufstand in Kron-stadt besiegt haben12 2, mag sie jetzt Hunderte von Matrosen erschießen,die wieder einmal die rote Flagge gehißt haben — diese Flagge wird nochhöher wehen, denn sie ist das Banner aller Werktätigen und Ausgebeute-ten in der ganzen W elt. Mag die Reptilienpresse vom Schlage des „NowojeWremja" von der Neutralität des Heeres schreien — diese gemeine undheuchlerische Lüge zerstiebt wie Spreu vor jeder neuen Schandtat der

Schwarzhunderter. Das Heer kann nicht, war niemals und wird niemalsneutral sein. Es zerfällt gerade jetzt mit ungeheurer Schnelligkeit in dasHeer der Freiheit und das Heer der Schwarzhunderter. Wir werden diesenZerfall beschleunigen. W ir w erden alle Unentschlossenen und Schwanken-den anprangern, die vor dem Gedanken zurückscheuen, daß man unver-züglich eine Volksmiliz aufstellen m uß (die Moskauer D uma hat, nach denletzten Meldungen der Auslandspresse, das Projekt, eine Volksmiliz zu

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bilden, abgelehnt). W ir werden unsere Agitation unter den Massen, unsere

organisatorische Tätigkeit zur Bildung revolutionärer Abteilungen ver-zehnfachen. Die Armee des klassenbewußten Proletariats wird sich dannmit den roten A bteilungen des russischen Heeres verschmelzen — und dannwollen wir sehen, ob die Schwarzhundertschaften der Polizei das ganzeneue, das ganze junge, das ganze freie Rußland besiegen w erden!

„Proletari" Nr. 26, • Nadh dem Jext des „Proletari".25. (12.) Novem ber 1905.

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ANMERKUNGEN

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1 Das Werk „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischenRevolution" wurde von Lenin im Juni-Juli 1905 in Genf verfaßt und EndeJuli 1905 vom Zentralkomitee der SDAPR in Genf herausgegeben. Im glei-chen Jahr w urde das Wer k in Rußland zweimal neu aufgelegt, und zwar vomZentralkomitee der SDAPR und vom Moskauer Komitee der SDAPR ineiner Sonderauflage von 10000 Exemplaren.

Lenins Werk „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokrati-schen Revolution" wurde illegal im ganzen Lande verbreitet: in Petersburg,Moskau, Kasan, Tiflis, Baku und anderen Städten. Bei Verhaftungen und

Haussuchungen fand die Polizei in manchen Fällen zehn und mehr Exem-plare. Am 19. Februar 1907 ordnete das Petersburger Presseamt die Be-schlagnahme dieses W erke s an, und am 22. Dezem ber des gleichen Jahresverfügte das Petersburger Kammergericht seine Einstampfung.

1907 veröffentlichte Lenin die durch neue Fußnoten ergänzten „ZweiTak tiken" in dem Sammelband „12 Jah re" . Das Vorbereitungsmaterial zuden „Zwei Taktiken" — Lenins Entwürfe, Konzepte und Notizen — wurdein den Lenin-Sammelbänden V, S. 315—320, und XVI, S. 151—156, rnss.,veröffentlicht, i

2 „7>roletari" (Der Pro letarier) — illegale bolschewistische W ochenzeitung,Zentralorgan der SDA PR, gegründet auf Beschluß des III. Parteitags. D asPlenum des Zentralkomitees der Partei beschloß am 27. April (10 . M ai)1905 die Ernennung W . I. Lenins zum verantwortlichen Redakteur des Z O .

Der „Proletari" erschien vom 27. (14.) M ai bis zum 25. (12.) Novem ber1905 in Genf. Es kamen 26 Num mern h eraus. Ständige M itarbeiter derRedaktion waren W . W . Worowski, A. W . Lunatscharski und M . S. 01 -minski. Der „Proletari" setzte die Linie der alten, Leninschen „Iskra" unddes bolschewistischen „Wperjod" (Vorwärts) fort. Lenin schrieb für die

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472 Anmerkungen

Zeitung mehr als 50 Artikel and No tizen. Seine Artikel aus dem „Prole-

tari" wurden von den lokalen Presseorganen der Bolschewiki nachgedrucktund erschienen auch als Flugblätter.

Bald nachdem Lenin im November 1905 nach Rußland abgereist war,stellte der „Proletari" sein Erscheinen ein. Die letzten beiden Nummern(25 und 26) erschienen unter der Redaktion von W. W. Worowski. 3

s „Ostooboshdenije" (Die Befreiung) — Halbmonatsschrift der liberalen Bour-geoisie, die unter der Redaktion von P. B. Struve 1902—1905 im Auslanderschien. Von Januar 1904 ab wurde sie zum Organ des liberal-monarchi-stischen „Bundes der Befreiung". Später wurden die Oswoboshdenzen zumKern der Kadettenpartei. 5

4 Es handelt sich hier um die neue, die menschewistische „Iskra". Nach demII . Parteitag der SDAPR bemächtigten sich die Menschewiki mit Unter-stützung Plechanows der „Iskra". Seit November 1903, beginnend mitNummer 52, wurde die „Iskra" zum menschewistischen Organ und erschienbis Oktober 1905. 5

5 Die „Bufyginsdhe Kommission" wurde durch Erlaß des Zaren im Februar1905 unter dem Vorsitz des Innenministers A. G. Bulygin geschaffen. DieKommission bereitete einen Gesetzentwurf zur Einberufung einer beraten-den Reichsduma und eine Wahlordnung zur Duma vor, die zusammen mit

dem Zarenmanifest am 6. (19.) August 1905 veröffentlicht wurden. DieBolschewiki erklärten den aktiven Boykott gegen die Bulyginsche Duma.Der Regierung gelang es nicht, die Duma einzuberufen, sie wurde durchdie Kraft der Revolution hinweggefegt. Ober den Boykott der BulyginschenDuma siehe den vorliegenden Band, S. 172—180. 7

6 Die Xonstitutionell-Demokratisdhe "Partei (Kadetten) — stärkste bürgerlichePartei Rußlands, Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie, wurde imOktober 1905 gegründet. Indem sie einen verlogenen Demokratismus vor-täuschten und sich Partei der „Volksfreiheit" nannten, versuchten die Ka-detten, die Bauernschaft auf ihre Seite zu ziehen. Sie wollten den Zarismus

als konstitutionelle Monarchie erhalten. Später wurden die Kadetten zurPartei der imperialistischen Bourgeoisie. Nach dem Sieg der SozialistischenOktoberrevolution organisierten sie konterrevolutionäre Verschwörungenund Aufstände gegen die Sowjetrepublik. 7

7 Millerandismus — opportunistische Strömung, benannt nach dem französi-schen Sozialisten und ausgesprochenen Reformisten Millerand, der 1899 ineine reaktionäre bürgerliche Regierung eintrat, welcher auch General Gal-liffet, der Henker der Pariser Kommune, angehörte. 16

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Anmerkungen 473

8„'Neue Rbeinisdhe Zeitung" — wurde vom 1. Juni 1848 bis zum 19. M ai

1849 in Köln unter der Leitung von Karl Marx und Friedrich Engels her-ausgegeben. Ihr Chefredakteur war Marx. Ab Nr. 301, nach der Auswei-sung von Marx, mußte die Zeitung ihr Erscheinen einstellen. Über die„Neue Rheinische Zeitung" siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Aus-gewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, Berlin 1957, S. 305—313. 19

9 „Sozialdemokrat" — menschewistische Zeitung, die in georgischer Sprachevon April bis November 1905 in Tiflis erschien.

Der Artikel „Der Semski Sobor und unsere Taktik " stamm t von N. Shor-danija, dem Führer der kaukasischen Menschewiki. Lenin kritisiert diesenArtikel ausführlich im 7. Kapitel des Werkes „Zwei T aktiken der Sozial-

demokratie in der demokratischen Revolution". (Siehe den vorliegendenBand, S. 49 -5 3.) 22

1 0 Lenin m eint die „konstitutionelle" Plattform D . N . Schipows, eines F üh-rers der liberalen Semstwobewegung in den neunziger Jahren und um dieJahrhundertwende. Die Plattform lief darauf hinaus, die durch eine „vomZaren geschenkte" Verfassung leicht eingeschränkte zaristische Selbstherr-schaft aufrechtzuerhalten. 24 •

1 1 „Russkaja Starina" (Das alte Rußland) — Monatsschrift für Geschichte, dievon 1870 bis 1918 in Petersburg erschien. 29

1 2 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bän-den, Bd. II, Berlin 1957, S. 37 6-3 78 . 30

1 3 Lenin bezieht sich hier auf das Werk „Aus dem literarischen Nachlaß vonKarl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben vonFranz Mehring", Band III, Stuttgart 1902, S. 211. Siehe Karl Marx undFriedrich Engels, Ausgew ählte Schriften in zwei B änden, Bd. I, Berlin 1957,S. 56. 46

1 4 Gemeint ist die auf dem II. Parteitag der SD APR angenommene ResolutionStarowers (Pseudonym des Menschewiks A . N . Potressow) über das V er-

hältnis zu den Liberalen. Diese Resolution wurde von Lenin auch in demArtikel „A rbeiterdemokratie und bürgerliche Dem okratie" kritisiert. (SieheW erke, 4 . Ausgabe, Bd. 8, S. 54-63 , russ.) 48

1 5 „Parlamentarisdber Kretinismus", ein von Marx und Engels geprägter Aus-druck. Engels schrieb in „Revolution und Konterrevolution in Deutschland"über die Linken in der Frankfurter Nationalversammlung: „Seit Beginnihrer parlamentarischen Laufbahn waren sie mehr als jede andere Fraktionder Versammlung von der unheilbaren Krankheit des parlamentarisdben

31 Lenin, We rke, Bd. 9

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474 Anmerkungen

Kretinismus befallen, einem Leiden, das seine unglücklichen Opfer mit der

erhebenden Oberzeugung erfüllt, daß die ganze Welt, ihre Vergangenheitund ihre Zuku nft, durch die Stimmenmehrheit jener besonderen Vertretun gs-körperschaft gelenkt und bestimmt wird, die die Ehre hat, sie zu ihren Mit-gliedern zu zählen..." (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, „Revolutionund Konterrevolution in Deutschland", Berlin 1953, S. 123.) 52

1 6 Gemeint sind die Meinungsverschiedenheiten bei der Erörterung des Ent-wurfs zu einem Agrarprogramm auf dem Breslauer Parteitag der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands im Jahre 1895. 54

1 7 „Rabotsdbeje De/o" (Arbeitersache) — Zeitschrift der „Ökonomisten", un-

regelmäßig erscheinendes Organ des „Auslandsbundes russischer Sozial-demokraten", erschien von 1899 bis 1902 in Genf. Eine Kritik der Ansich-ten der Gruppe „Rabotscheje Delo" findet man in Lenins Werk „Wastun?" . JS

1 8 Es handelt sich um eine gegen den Plan der Leninschen „Iskra" gerichteteBroschüre Nadeshdins (Pseudonym J. O. Selenskis), die Lenin bereits 1902in seinem Werk „Was tun?" kritisiert hatte. (Siehe Werke, Bd. 5, S. 355bis 551.) 59

1 9 Gemeint sind Lenins Artikel „Sozialdemokratie und provisorische revolu-tionäre Regierung" und „Die revolutionäre demokratische Diktatur des

Proletariats und der Bauernschaft", die in den Nummern 13 und 14 der bol-schewistischen Zeitung „Wperjod" veröffentlicht wurden. (Siehe Werke,4. Ausgabe, Bd. 8, S. 247—274, russ.) 68

20 Lenin meint das Programm, das 1874 von der Londoner Gruppe der Blan-quisten, ehemaligen Mitgliedern der Pariser Kommune, herausgegebenwu rde. (Siehe den A rtikel von F. Engels „Em igranten literatur. II. Pro-gramm der blanquistischen K ommuneflüchtlinge" in „Internationales aus dem.Volksstaat' (1871-1875)", Berlin 1957.)

"Bhncjuisten — Anhänger des französischen Revolutionärs Louis-AugusteBlanqui (1805—1881). Die Klassiker des Marxismus-Leninismus sahen inBlanqui einen hervorragenden Revolutionär und Streiter für den Sozialis-mus, kritisierten aber zugleich die verschwörerischen Methoden seinerTätigkeit. In der Einleitung zu Marx' Schrift „Der Bürgerkrieg in Frank-reich" schrieb Engels über die Blanquisten: „Großgezogen in der Schuleder Verschwörung, zusammengehalten durch die ihr entsprechende straffeDisziplin, gingen sie von der Ansicht aus, daß eine verhältnismäßig kleineZahl entschlossner, wohlorganisierter Männer imstande sei, in einem gegeb-nen günstigen Moment das Staatsruder nicht nur zu ergreifen, sondern auch

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Anmerkungen 475

durch Ent fa l tung großer , rücks ichts loser Energie so lange zu behaupten , b is

es ihr ge lungen, d ie Masse des Volks in d ie Revolu t ion h ine inzure ißen undum die führende k le ine Schar zu gruppieren ." (Siehe Kar l Marx und Fr ied-

r ich Engels, Au sge wä hlte Schrif ten in zw ei Bänd en, Bd. I , Berl in 1957,

S. 455.) 70

2 1 D a s Erfurter Programm der deutschen Sozia ldemokra t ie wurde auf dem

Er fu r t e r Pa r t e i t ag im Ok tobe r 1891 angenommen . E ine Kr i t i k des P ro -

g ramms s i ehe Kar l Marx , „Kr i t i k des Go thae r P rog ramms" , Be r l i n 1955 ,

S . 74—87, un d Lenins W e r k „ Sta a t un d Revolu t ion" . 75

2 2 Zu m 10 . Kap i t e l des W erk es „Zwe i Tak t ike n de r Soz i a ldemokra ti e i n de r

demokra t i schen Revolut ion" schr ieb Lenin im Jul i 1905 e ine Anmerkung.

In d ie e rs te Ausgabe wurde d iese Anmerkung n icht aufgenommen, s ie wurde

ers tmal ig 1926 im Lenin-Sammelband V veröf fent l ich t . 76

2 3 Siehe Kar l Marx/Fr iedr ich Engels , Ausgewähl te Br iefe , Ber l in 1953, S . 568

bis 572. 762 4 Lenin bez ieht s ich auf se inen Ar t ike l „ober d ie provisor i sche revolu t ionäre

Reg ierun g" ( s iehe We rk e , 4 . Aus gabe , Bd. 8 , S . 42 7- 44 7, russ . ) sowie den

Art ike l von Engels „Die Bakunis ten an der Arbei t . Denkschr i f t über den

Aufs t and in Span ien im Sommer 1873" , in dem Engels die von Lenin er-

wähnte Resolu t ion der Bakunis ten kr i t i s ie r t . (S iehe Fr iedr ich Engels , „ In ter -

na t iona les aus dem ,Volkss taa t ' (1871—187 5)" , Ber l in 1957.) 83

2 5 „Credo" — G l a u b e n s s y m b o l , P r o g r a m m , D a r l e g u n g e i ne r W e l t a n s c h a u u n g .

Unter d ieser Bezeichnung wurde das 1899 von e iner Gruppe „Ökonomi-

s ten " (S . N . Prokopowi tsch , J . D . Kusk owa un d ande ren , d ie spä ter zu K a-

det ten wurden) veröf fent l ich te Manifes t bekannt . In d iesem Manifes t kam

der oppor tunis t i sche Charakter des russ i schen „Ökonomismus" äußers t k la r

zum Ausdruck. Lenin ver faßte e inen schar fen Protes t , in welchem er d ie

Ansichten der „Ö kon om is ten " anpra nge r te — den „P rotes t russ ischer So-

z ia ld em okra ten" . (S iehe W er ke , Bd. 4 , S . 159—175.) 85

2 6 „Rabotsdhaja !Mysl" (Arbe i t e rgedanke ) — Ze i tu ng de r „Öko nom is t en" , d i evon 1897 bis 1902 erschien. Kri t ik an den Ansichten der „Rabotschaja

Mys l " a l s e ine r ru s s i s chen Aba r t de s i n t e rna t i ona l en Oppor tun i smus üb t e

Lenin in einer Reihe seiner Schrif ten, besonders in Art ikeln, die in der

„ I sk ra" ve rö f f en t l i ch t wurden , und in s e inem Werk „Was tun?" . 85

2 7 Gemein t s i nd d i e Äuße rungen von Kar l Marx i n s e ine r Arbe i t „Zur Kr i t i k

der Hegelschen Rechtsphi losophie" . (S iehe Kar l Marx/Fr iedr ich Engels ,

Werke, Bd. 1, Berl in 1956, S. 385.) 85

31*

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476 Anmerkungen

2 8 „VHumanite" — von J. J a u re s 1904 als O r g a n der Sozialis t ischen Parte i

Frankre ichs gegründe te Ze i tung . Ba ld nach der S p a l tu n g der Sozialis t ischenP a r t e i auf dem K o n g r e ß im Dezember 1920 und der G r ü n d u n g der Kom-

munis t ischen Par te i F rankre ichs wurde „ l 'Humani te"" de ren Organ . Se i t -

d e m e r s c h e in t „ l 'H u ma n i t e " in P a r i s als Z e n t r a l o r g a n der K o mmu n is t i -

schen Parte i . 87

29VarUn, Louis-Eugene (1839—1871) — f ranzös ischer Arbe i te r , bekann te r

F ü h r e r der I. In te rn a t io n a le ; war Mitg l i e d des Z e n t ra lk o mi te e s der N a t i o -

n a lg a rd e undak t ive r Te i lnehmer an der Par ise r Kommune 1871 . 99

3 0 Kri t ik am „Organisationsstatut", das auf der menschewistischen Konferenz

1905 angenommen wurde , üb te Len in in dem Artikel „Ein dri t ter Schrit tz u rü c k " ( s i e h e We rk e , 4. A u s g a b e , B d . 8, S. 509—518, russ .) und im „ V o r -

w o r t zur Broschüre .Arbeiter über die S p a l tu n g der Par te i ' " (s iehe den vor-

l iegenden Band , S. 155—161). 100

3 1 S ie h e K a r l Ma rx undFriedrich Engels , Ausgewählte Schriften in zwei Bän-

den , Bd . I, Berlin 1957, S. 198 . 103

8 2 D ie 'Hirsdh-Vundkersdhen Qewerkvereine wurden 1868 in D e u ts c h la n d von

den l iberalen Bourgeois Hirsch und D u n c k e r g e g rü n d e t , die, wie auch der

bürger l iche Ökonom Bren tano , die „ H a r m o n i e der Klassen in te ressen" pre-

dig ten , die Arbe i te r vom revo lu t ionären Klassenkampf gegen die Bourgeo i-s ie abzubr inge n such ten und die Aufgaben der Gewerkschaf tsbewegung auf

die von Hilfskassen und K u l t u r - undBildungsorgan isa t ionen beschränk ten .

11 0

3 3 Friedrich Engels' Artikel „Die Bakunisten an der Arbeit. "Denksdhrift über

den Aufstand in Spanien im Sommer 1873" war unter Lenins Redaktion ins

Russische übersetzt worden und erschien 1905 im Genfer Verlag des ZK

der SDAPR als Broschüre. Später, 1906, wurde er in Petersburg neu aufge-

legt. (Siehe Friedrich Engels, „Internationales aus dem .Volksstaat' (1871

bis 1875)", Berlin 1957.)

Die „Anspradbe der Zentralbehörde an den Bund vom!März 1850" wurde

1906 in russischer Sprache als Beilage zu der im Verlag „Molot" (Der Ham-

mer) in Petersburg herausgegebenen Marxschen Schrift „Enthüllungen

über den Kommunistenprozeß zu Köln" veröffentlicht. (Siehe Karl Marx

und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin

1957, S. 93-103.) 113

8 4 Der nachfolgende Text bis zu den Worten „Wir haben gezeigt, daß die

Oswoboshdenzen..." (siehe S. 120) wurde in der ersten Auflage des Wer-

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Anmerkungen 477

kes „Zwei Takt iken der Sozia ldemokra t ie in der demokra t i schen Revolu-

t ion" ausgelassen . Ers tmal ig wurde d ieser Text in der „Prawda" Nr . 112vom 22 . Ap ril 1940 veröffentlicht. 118

8 5 Karl Marx und Fr iedr ich Engels , Ausgewähl te Schr i f ten in zwei Bänden,

Bd. I , Ber lin 1957, S . 44 6- 51 8. as

5 6 „Moskowskije Wedomosti" (M oskau e r N achr i ch t en ) — im Jah re 1756 ge -

grün dete Z ei tu ng ; se it den sechziger Jah ren des 19 . Jah rhu nde r ts ver t ra t

d ie Zei tung d ie Ansichten der reakt ionärs ten monarchis t i schen Kre ise der

Gutsbes i tzer und der Geis t l ichkei t ; ab 1905 war s ie e ines der maßgebenden

O rg an e der Schw arzhu nder ter ; s ie wu rde 1917, kur z nach der Ok tober revo -

lu t ion , verboten . il9

4 7 Mebring, Jranz (18 46- 19 19) — he rvo r r agende r Führe r de s l inken F lüge ls

de r deu t schen Soz i a ldemokra t i e , H i s to r ike r und Pub l i z i s t ; Mi tbeg ründe r

der Kommunis t i schen Par te i Deutschlands . 121

8 3 Siehe Kar l Mar x/Fr ie dr ich Engels , „D ie Revolut ion von 1848. Ausw ahl aus

der .Neuen Rhein ischen Zei tung ' " , Ber l in 1955, S .219. 122

S 8 Siehe eben dort , S. 47 /48 . 123

4 0 Siehe ebendort , S. 48. 123

4 1 Siehe ebendort , S. 42. 123

* a Siehe ebendort , S. 59. 124

« Siehe ebendort , S. 175/176. 126

44 D a s Organ des Arbeitervereins zu Xöln hieß ursprüngl ich „Zei tung des

Arbei te r -Vere ins zu Köln" mi t dem Unter t i te l „Fre ihe i t , Brüder l ichkei t ,

Arbei t" ; e rschien unter der Redakt ion der Mi tg l ieder des „Bundes der

Kommunis ten" Josef Mol l und Kar l Schapper . Von Apr i l b i s Oktober 1848

erschienen 40 Nu m m ern . Später wurd e der Unte r t i te l zum Ti te l der Zei -

tung, und mit diesem Kopf erschienen von Oktober 1848 bis Juni 1849 noch

23 Nu mm ern . 127

4 5 „Bund der Xommunisten1' — ers te in terna t ionale Org anisa t ion des revolu-

t ionären Pro le tar ia t s , gegründet im Somm er 1847 in Lond on auf e inem

Kongreß von Delegier ten der revolu t ionären pro le tar i schen Organisa t ionen.

Die Organ i sa to r en und Führe r de s „Bundes de r Kommuni s t en" waren Kar l

Marx und Fr iedr ich Engels , d ie im Auf t rag d ieser Organisa t ion das „Mani-

fes t der Kommunis t i schen Par te i" ver faßten . Der „Bund der Kommunis ten"

bes tand b is 1852. Se ine bedeutends ten Ver t re te r sp ie l ten spä ter in der

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4 7 8 Anmerkungen

I . Internationale e ine führende Rolle . Siehe den Artikel von Friedrich Engels

„Zur Gesch ich te des Bundes de r Kommunis ten" (Kar l Marx und Fr iedr ichEngels , Ausgew ählte Schriften in zwei B änden, Bd. II , Berlin 1957, S. 314

bis 332). 129

4 6 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels , Ausgewählte Schriften in zwei Bän-

den, Bd. II, Berlin 1957, S. 327. 13 0

4 T „lowarisdjtsdi" (D er Gefäh r te ) — Tagesze i tung , e rsch ien von Mä rz 1906

bis Januar 1908 in Petersburg; formell war s ie kein Parte iorgan, faktischjedoch war s ie das Sprachrohr de r l inken Kade t ten . Auch Menschewik i a r -

be i te ten an de r Ze i tung mit . 13 0

4 8 Das vor l iegende Dokument i s t de r Sch luß te i l des von e inem unbekanntenAutor ve rfaß ten Art ike ls „Die Par ise r Kommune und d ie Aufgaben de r

demokra t ischen Dik ta tu r" , dessen Manuskr ip t Len in s ta rk red ig ie r te . Der

Ar tikel wurd e im „P rol etar i" N r . 8 vom 17. (4 .) Juli 1905 veröffentl icht.

Die Überschr i f t des Dokuments s tammt vom Ins t i tu t fü r Marx ismus-Len i-

n i s mu s b e im Z K d e r K P d S U in Mo s k a u . 13 1

4 9 Das Büro der "Komitees der "Mehrheit — die auf I nit ia t ive W . I . Lenins zur

Vo rbere itung des III . Par te it ags der SD AP R geschaffene organisatorische

Zentra ls te lle der Bolschewiki. Das Büro wurde Ende 1904 auf drei Gebiets-

konfe renzen — des Südens , des Kaukasus un d des Nor den s — gewähl t . 133

5 0 M itg l ieder des Zen tra lkom itees — d ie in M osk au auf de r S i tzu ng des Z K

vom 9. (22.) Februar 1905 verhafte ten Versöhnler: Ma — W . A . N o s k o w ;Bern — M . A . Silwin,- Wladimir — L. J. Karpow,- Jnnokenti — J . F . D u b r o -

w in s k i ; Andrej — A. A. Kwja tkowski ; "Woron — L. J . Ga lpe r in . i34

6 1 Das Zen tra lkomitee de r SDAPR ernann te am 7 . (20 . ) Mai 1905 P lechanow

zum Vert re te r de r Soz ia ldemokra t ischen Arbe i te rpa r te i Rußlands im In te r-

nationalen Sozialis t ischen Büro (dem Exekutivorgan der II . Internationale),

un te r d e r Bed ingung , daß e r d ie Beschlüsse des I I I. Pa r te i tags d e r SD AP Rfür s ich a ls bindend anerkennt. Plechanow nahm diese Bedingung jedoch

nich t an , und se ine Ernennung wurde widerru fen . Im Oktober 1905 faß tedas Zen tra lkomitee den Besch luß , Len in zum Vert re te r de r SDAPR im

In te rna t iona len Soz ia l is t i schen Büro zu e rnennen . Zur Frage de r Ver t re tung

der SDAPR im ISB s iehe auch den vorliegenden Band, S. 330—332. 134

5 2 „ D i e Neue Zeit" — Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie , d ie von

1883 bis 1923 in Stuttgart erschien. In den Jahren 1885—1895 veröffent-l ichte „Die Neue Zeit" e inige Artikel von Friedrich Engels . Dieser gab der

Redaktion der Zeitschrift oft Ratschläge und krit is ierte s ie scharf wegen

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Anmerkungen 479

ihrer Abweichungen vom Marxismus. Angefangen von der zweiten Hälfte

der neunziger Jahre, nach dem Tode von Friedrich Engels, vertrat die Zeit-schrift Kautskysche Auffassungen und veröffentlichte systematisch Artikelvon Revisionisten. Während des imperialistischen Weltkriegs (1914—1918)

, bezog sie einen zentristischen Standpunkt, wodurch sie faktisch die Sozial-chauvinisten unterstützte .

„Leipziger Volkszeitung" — Or ga n des linken Flügels der deutschenSozialdemokratie,- gegründet 1894. 135

53 Lenin meint Rosa Luxemburgs Artikel „Organisationsfragen der russischenSozialdemokratie", den sie auf Ersuchen der Menschewiki schrieb und derim Juli 1904 in der menschewistischen „Iskra" und in der „Neuen Zeit"

veröffentlicht wurde. Lenin erwiderte darauf in seinem Artikel „Ein Schrittvorw ärts, zwei Schritte zurück. Eine Ant wor t N . Lenins an Rosa L uxem -bu rg " (siehe We rk e, Bd. 7, S. 48 0- 49 1) , den er an „Die Ne ue Zeit " schickte.Kautsky, der die Menschewiki unterstützte, weigerte sich jedoch, ihn zuveröffentlichen. 135

54 Siehe Friedrich Engels, „Internationales aus dem .Volksstaat' (1871 bis1875)" , Berlin 1957, S. 50. 148

55 „Poslednije Uswestija" (D ie letzten Nach richt en) — periodisch erscheinen-des Mitteilungsblatt, das von 1901 bis 1906 vom „Bund" im Ausland her-

ausgegeben wurde; es vertrat die bürgerlich-nationalistischen Ansichten derBundisten.15256 Das vorliegende Dokument ist der ursprüngliche Entwurf von Lenins Vor-

wort zu der im August 1905 in Genf erschienenen Broschüre „Arbeiter überdie Spaltung der Partei". „Die Stimme der Arbeiter und die Spaltung derPartei" ist eine Variante des Broschürentitels. Die Oberschrift des Doku-ments stammt vom Insti tut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSUin Moskau. 153

57 D e r Offene Brief des Zentralkomitees der SBÄPJL an die Organisations-

kommission der Menschewiki sollte in Nr. 10 des „Proletari" veröffentlicht

wer den , erschien ab er in N r . 11 vom 9. Au gu st (27 . Juli ) 1905. In de moffenen Brief wur de vorgeschlagen, Ver han dlu nge n über die Verein igung derParte i auf Gr un d des Prog ramm s und des vom III. Parte i tag angenom me-nen Statuts aufzunehmen. Die erste und die zweite Besprechung von Ver-tretern des Zentralkomitees und der Organisationskommission fanden imJul i , die dritte fand im September 1905 statt. Die Besprechungen zeigten,daß die Menschewiki durch ihre Spaltungstätigkeit die Vereinigung derPartei vereitelten. 153

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480 Anmerkungen

58 Lenin meint die Zeitschrift „Dnewnik Sozialdemokrata" (Tagebuch eines

Sozialde mokrate n), die in Genf von M ä rz 1905 bis April 1912 unreg elmäßi gvon G. W . Plechanow heraus gegebe n w urd e. 1916 setzte Plechanow dieHerausgabe der Zeitschrift in Petrograd fort, es erschien aber nur eineN u m m e r . 160

59 „Verband der Verbände" — politische Orga nisa tion der bürgerlich-liberalenIntelligenz, die im Mai 1905 auf der ersten Konferenz der Vertreter von14 Verb ände n — der Rechts anwälte, Schriftsteller, Är zte , Ingenieure, Leh-rer u. a. — gebild et wur de. Im Juli 1905 sprach sich de r Ve rb and fü r de nBoykott der Bulyginschen Duma aus, sagte sich jedoch sehr bald davon losund beteiligte sich an den Wahlen zur Duma. Ende 1906 zerfiel der „Ver-band der Verbände".

über die Einstellung der Sozialdemokratie zu diesem liberalen Verbandsiehe den vorliegenden Band, S. 276/277. 162

60 „Shwo" (Da s W or t) — Zei tung , erschien 1904 — 1909 in Pet ers bur g; wa rdas Organ der rechten Semstwoleute; von November 1905 bis Juli 1906war sie das Organ der Partei der Oktobristen, später wurde sie das Organder konstitutionell-monarchistischen Partei der „friedlichen Erneuerer", diesich im Grunde genommen durch nichts von den Oktobristen unterschieden.

„Russkije Wedomosti" (Russische Nachri chten) — Zei tun g, die in M os -

kau seit 1863 von liberalen Professoren der Moskauer Universität undSemstwoleuten herausgegeben wurde. Sie vertrat die Interessen der libe-ralen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. 1905 wurde sie zum Organ desrechten Flügels der Kadetten; nach der Oktoberrevolution 1917 wurde siewie auch die anderen konterrevolutionären Zeitungen verboten. 163

6 1 „7he Times" — 1785 in Lond on geg ründet e Z eit un g; eine der einflußreich-sten konservativen Zeitungen der englischen Bourgeoisie. 163

62 Suworin, A . S. — von 1876 bis 1912 Red akteu r der reak tion ären Zei tun g„Nowoje Wremja" . 165

63

Xalenden — Benen nung des ersten Tages im Mo na t bei den alten Röm ern.Die Griechen kannten diese Bezeichnung nicht. Aufschieben bis zu dengriechischen Kaienden bedeutet somit, etwas niemals verwirklichen, eineSache scheitern lassen. 166

64 „ £ e Matin" — 1884 gegrü ndete französische bürgerliche Tag eszei tung. 16965 In Nr. 12 des „Proletari" vom 16. (3.) August 1905 wurde eine Resolution

der Konferenz der Auslandsorganisationen der SDAPR über die Vereini-gung der Partei veröffentlicht. An der im Sommer 1905 stattgefundenen

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Anmerkungen 481

Konferenz nahmen Vertreter der Auslandsorganisationen der SDAPR (Bol-

schewiki und Menschewiki) teil, die sich in Süddeutschland aufhielten. DieKonferenz sprach sich für die Einberufung eines Vereinigungsparteitagsaus, der die Vereinigung mit dem abgespaltenen Teil der SDAPR (Men-schewiki) durchführen sollte. Die Überschrift des Dokuments stammt vomInstitut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU in Moskau. 181

66 „TAtsdbitel" (Lehr er) — Pseud onym M . N . Pokrowskis. De r Verfasser desArtikels „D ie Oswo boshd enzen an der A rbei t" ist W . D . Bontsch-Bruje-witsch. 182

67 Die vorliegende Notiz ist die Antwort auf den Brief eines Genossen ausDwinsk, der als „Arbeiter" zeichnete. Der Briefschreiber stellte der Redak-tion des „Proletari" folgende Fragen, die sich auf die Beschlüsse des III. Par-tei tags der SDAPR bezogen: „ 1 . Welche Rolle wird die provisorische Re-gierung spielen, wird sie das Land leiten oder verwalten, oder weder daseine noch das andere? 2. Unter welchen Umständen ist die Teilnahme desProlet ariats an einer provisorischen Regier ung zulässig? 3. W as bed eute t:Agitation und Propaganda für den bewaffneten Aufstand?" 183

68 Burenin, "W.V. — Mitarbeiter der reaktionären Zeitung „Nowoje Wremja",ein Verleumder, der eine wüste Hetze gegen die Vertreter aller fortschritt-lichen gesellschaftlichen und politischen Strömungen trieb. Lenin gebraucht

diesen Namen als Gattungsnamen, um unehrliche Methoden in der Polemikzu bezeichnen. 197

69 „Borba Proletariata" („Proletariatis Brdsola") [Der Kampf des Proleta-riat s] — illegale bolschewistische Zeit ung , Or ga n des Kaukasis chen Bundesder SDAPR; erschien von April/Mai 1903 bis Oktober 1905; herausge-geben wurden 12 Nu mm er n. Z ur R edaktio n gehörten A. G. Zuluk idse,J. W . Stalin , S. G. Scha umia n u . a. Die Ze it un g erschien in georgischer,armenischer und russischer Sprache. Die Redaktion der Zeitung stand inVerb indu ng mit W . I. Lenin u nd der bolschewistischen Zentralste lle im A us-land. Die Zeitung veröffentlichte laufend Artikel Lenins und Materialien

aus der Leninschen „Iskra" und später aus dem „Wperjod" und dem „Pro-le ta r i" . 199

70 Di e von P. Nikolaj ew verf aßte B roschüre „Die Revolution in Ru ßl an d"wurde 1905 in Genf vom Zentralkomitee der SDAPR herausgegeben. Leninredigierte das Manuskript und schrieb dabei die vorliegende Bemerkungüber die Bulyginsche Duma. 205

71 S. S. — Pseu dony m P . N . Miljukows, F ühr er der Par tei der Ka detten . 210

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4 82 Anmerkungen

7 2 J'repow, D . 7. — G en er a l gouv e r neu r i n Pe t e r s bu r g , l e it e te d i e N i e de r -

wer fung der e r s t en r as s i schen Revolut ion . 22 i7 3 In Nr . 9 des „Prole t ar i " vom 26. (13 . ) Ju l i 1905 er schien der Ar t ike l „Un-

sere Chles t akows" , in dem e ine von der menschewis t i s chen „I skra" an e ine

f ranzös i sche sozia l i s t i s che Zei tung gesandte Mi t t e i lung z i t i e r t wurde . In

d i e s e r M i t t e i l ung m ach t e d i e „ I s k r a" f a l s che , übe r t r i ebene A ngaben übe r

i h r e A nhänge r un t e r den o r gan i s i e r t en A r be i t e r n . ( S i ehe Len i n - Sam m el -

band XVI , S . 128/129, rus s . ) 223

7 4 In Nr . 10 des „P role t ar i " vom 2 . Au gus t (20 . Ju l i ) 1905 wurd e e ine Reso-

l u t i on des Sa r a t ow er K om i t ees de r SD A PR ( das e i ne ve r s öhn l e r i s che H a l -

tu ng e in nah m) veröf fent li ch t, d i e auf G ru nd e ines Ber i chts üb er den I I I . Pa r -t e i t ag und d i e K onf e r enz de r M ens chew i k i angenom m en w or den w ar . D e r

„Prole t ar i " veröf fent l i ch te d ie Resolu t ion mi t e inem von Lenin ver faßten

N ac hw or t der Redak t ion . (S iehe Lenin-S am melb and XV I , S . 130, rus s . ) 225

7 5 D e r A us d r uck s t am m t aus N . W . G ogo l s N ove l le „A uf ze i chnungen e i nes

V er r ück t en" . ( S i ehe N i ko l a i G ogo l , G es am m el t e W er ke i n f ün f Bänden ,

Bd. 3, Berlin 1952, S. 302.) 242

7 6 „Vossisdhe Zeitung" — 1704 in Ber l in gegründete deut sche bürger l i che Zei -

t u n g . 248

7 7

Ledru-TLollin (1807—18 74) — französischer Pol i t iker , Ve r t re ter de r klein-bü r ge r l i chen D em okr a t en . 252

7 8 Cavaidnac, Couis-Eugene — französ i scher Gen era l , Kr iegsmini s t er de r Pro-

vi sor i schen Regierung nach der Februar revolu t ion 1848. In den Juni t agen

le i t e t e e r d i e Niederwer fung des Aufs t ands der Par i ser Arbei t e r .

Jhiers, £,ouis-Adolphe — f r anzös i scher bürger l i cher Pol i t iker , unver söhn-

l i cher Feind der Arbei t erk las se . 1871 s t and er an der Spi t ze der Regierung

und s ch l ug den A uf s t and de r Pa r i s e r K om m unar den g r aus am n i ede r . 25 5

7BJacoby, Johann (1805—1877) — deut scher bürger l i cher De mo kra t , Tei l -

neh me r der Revolu t ion von 1848. N ac h dem Deut sch-Franzö s i schen Kr ieg

1870 / 71 w ur de J acoby Soz i a l dem okr a t . 25 6

8 0 Siehe Kar l Marx/Fr i edr i ch Engel s „Kle ine ökonomische Schr i f t en" , Ber l in

1955 , S . 5 6 0 /5 6 1 . 268

81 „Die liberalen Verbände und die Sozialdemokratie" — ein von Lenin ver -

f aß ter Z us atz z u e inem Ar t ike l W . W . W oro wsk i s , veröffentl ich t im „P ro-

l e t ar i " N r . 18 vom 26. (13 . ) Sep tem ber 1905 un ter der g l e ichen Über sch r i f t .

276

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Anmerkungen 483

8 2 „Rabotsdhi" (D er Arb eiter) — illegale volkstümliche sozialdemokratische

Zeitung; wurde auf Beschluß des III. Parteitags der SDAPR 1905 in Mos-kau vom Zentralkomitee herausgegeben. Von August bis Oktober erschie-nen vier Nummern. 284

8 8 Den Artikel „DerJenaerParteitag der SozialdemokratisöbenPartei Deutsdb-lands" schrieb Lenin auf Ersuchen des Kaukasischen Bundes der SDAPRzur Veröffentlichung in dessen Organ, der Zeitung „Borba Proletariata".285

8 4 D er "Kölner Qewerksdhaftskongreß fand im M a i 1905 statt. 2878 5 Der hier veröffentlichte Entwurf Lenins „Keine Sdnwindeleil Unsere Kraft

liegt im Ausspredhen der Wahrheit'. Zusdbrift an die Redaktion" blieb u n -vollendet. 290

8 6 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bän-den, Bd. I, Berlin 1957, S. 230. 291

8 7 Die Konferenz der sozialdentokratisdjen Organisationen in Rußland fandvom 7.-9. (20.—22.) September 1905 in Riga statt . D ie Resolutionen d e rKonferenz siehe „Die KPdSU in Resolutionen u n d Beschlüssen d er Par tei-tage, Parteikonferenzen u n d Plenartagungen de s ZK " , 7 . Auflage, 1954,Teil I , S. 91-94, russ .

In einem Brief an die Mitglieder des Zentralkomitees der SDAPR vom7. September (n. St.) 1905 stellte Lenin d ie enge Verbindung d e r „Arme-nischen sozialdemokratischen Arbeiterorganisation" mit dem „Bund" fest.(Siehe Lenin-Sammelband V, S. 493, russ.) 295

8 8 Die Kommission des Senators Sdhidlowski wurde durch einen Erlaß desZ a r e n vom 29. Janu ar (11 . Februa r) 1905 gebildet, angeblich „um dieGründe für die Unzufriedenheit de r Arbeiter in St. Petersburg u n d seinenVororten unverzüglich z u klären" . D e r Kommission sollten auch gewählteArbeitervertreter angehören. D ie Bolschewiki sahen in diesem Vorhabendes Zarismus einen Versuch, die Arbeiter vom revolutionären Kampf a b -

zulenken, u n d schlugen vor, die W a h le n in die Kommission dazu auszu-nutzen, d e r zaristischen Regierung politische Forderungen z u stellen. (Sieheden Band „Flugblätter der Pet ers bur ger Bolschewiki", Teil I, 1939, S. 197bis 202 , russ.) Nachdem die Regierung die Forderungen abgelehnt hatte,weigerten sich die Wahlmänner, ihre Vertreter in die Kommission z u wäh-len, u n d riefen die Petersburger Arbeiter z u m Streik auf. Bereits am näch-sten T a g begannen politische Massenstreiks. A m 20. Februar (5. Mä rz )muß te d ie Zarenmacht d ie Schidlowski-Kommission auflösen. 301

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484 Anmerkungen

89 Gemeint ist der englische Staatsmann und Schriftsteller Disraeli. 303

90 David, Eduard — deutscher Ökonom, Bernsteinianer. Eine Kri t ik seiner

Auffassungen siehe in der Arbeit „Die Agrarfrage und die ,Marxkri t iker '"von W. I . Lenin. (Werke, Bd. 5, S. 97-221 und Werke, 4. Ausgabe, Bd. 13,

S. 149—193, russ.) 307

9 1 Sdaarwerke — Bezeichn ung für Han dd ien ste , die von de n Baue rn in Polenals Fronarbei t beim Bau von Wegen, Brücken und anderen vorwiegend mil i-tär ischen Objekten geleistet werden mußten. 308

92 „Nowoje Wremja" (N eu e Zeit) — Zeitu ng, die von 1868 bis Oktob er 1917

in Petersburg erschien. Zu Beginn gemäßigt liberal, wurde sie Ende ders iebziger Jahre des 19. Jahr hun der t s zum Or gan reakt ion ärer Kreise desAdels und der beamteten Bürokrat ie. Die Zeitung bekämpfte nicht nur dierevolutionäre, sondern auch die bürgerlich-liberale Bewegung. Ab 1905wurde sie ein Organ der Schwarzhunderter . Lenin bezeichnet das „NowojeWremja" als Musterbeispiel einer korrupten Zeitung. 3i5

93 Batalaikin — Gestal t a us M . J. Sal tykow-Schtschedrins W er k „Eine zei t-genössische Idylle"; l iberaler Phrasendrescher, Abenteurer und Lügner, demseine eigennützigen Interessen über al les gehen. 321

94 „Zur Vereinigung der Partei" — unter dieser Überschrift veröffentlichtedas Zen tral ko mite e der SD APR. die Protoko lle der Besprechun gen v on V er-tretern des (vom III. , bolschewistischen, Parteitag gewählten) ZK und der(auf der Genfer Konferenz der Menschewiki gewählten) Organisat ions-kommission über die Bedingungen der Vereinigung mit dem abgespaltenenTeil der SDAPR (Menschewiki) . Die vorl iegende Notiz ist ein von Leninim Namen der Redaktion des „Proletari" verfaßter Zusatz zum Protokollder dritten Besprechung der Vertreter des ZK und der OK, die im Sep-tember 1905 stat t fand. 324

9 5

„Die Südrussisdbe konstituierende Konferenz" der Menschewiki fand imAugust 1905 in Kiew.statt. Die Beschlüsse dieser Konferenz kritisierteLenin auch in dem Artikel „Das letzte Wort der . iskristischen' Taktik odereine Wahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt" . (Siehe denvorliegenden Band, S. 354—372.) 328

96 Das auf dem Standpunkt der Bolschewiki stehende Komitee von Kostromawan dte sich gegen die Erne nnu ng G. W.Ple chan ows z um Ve rtreter im Inter-nat ionalen Sozial ist ischen Büro. 332

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Anmerkungen 485

9 7 D i e N o t i z „Aus Qesprädaen mit Lesern" is t ein redaktionelles Vorwort zu

einem Brief des Bolschewiks S. I . Gu ssew , der im zw eiten H alb jah r 1905als Mi tg l ied des Odessaer Komitees der SDAPR tä t ig war . 333

9 8 Der Ar t i ke l „"Blutige Jage in Moskau" is t der ursprüngliche Entwurf zum

Art ike l „Pol i t i scher S t re ik und St raßenkampf in Moskau" . (S iehe den vor -

liegenden Band, S. 345—353.) 334

9 9 D e r Streik in Iwanowo-Wosnessensk begann Ende Ma i und daue r t e b i s

Anfang Aug ust 1905. D en S t re ik le i te te das No rdkom itee der Bolschewiki .

An ihm bete i l ig ten s ich ungefähr 70000 Arbei te r und Arbei te r innen. Wäh-

rend dieses Streiks schufen die Arbeiter einen Rat von Vertrauensleuten, der

fakt i sch e iner der e rs ten Sowje ts von Arbei te rdeput ie r ten in Rußland war .335

100 Lenin m eint d ie Nied erschieß ung von Ti f li ser Arbei te rn am 29. Aug ust

( 1 1 . Septem ber) 1905 durch d ie Pol ize i in den Rä um en d er S tadtverw al tung.

Es wurde n ann ähe rn d 60 Menschen ge tö t e t und unge fäh r 300 ve rwunde t .

335

1 0 1 „Vorwärts" — Ze ntra lo rgan der deutschen Sozia ldemokra t ie . Die Ze i tung

erschien sei t 1876 un ter der R edak tion von W ilhe lm L iebknec ht u. a . In

der Zei tung führ te Fr iedr ich Engels e inen Kampf gegen a l le Erscheinungs-

formen des Oppor tunismus . Angefangen von der zwei ten Häl f te der neun-

z iger Jahre , nach dem Tode von Fr iedr ich Engels , brachte der „Vorwär ts"

sys temat i sch Ar t ike l von Oppor tunis ten , d ie in der deutschen Sozia ldemo-

kra t ie u nd in d er I I . In terna t ionale v orher rschten . 348

1 0 2 „Sozialdemokrat" — menschewist ische Zeitung, erschien in Genf von Ok-

tober 1904 b is Oktober 1905. 369

1 0 3 D e r „M. Horissow" gezeichnete Ar t ike l wurde in der Zei tung „Prole tar i"

veröf fent l ich t und dann von der in Pe tersburg herausgegebenen bolsche-

wis t ischen Zei tung „N ow aja Shisn " in N r . 7 vom 8 . (21 . ) No vem ber 1905

nachgedruckt . 373

1 0 4 Es handel t s ich um die von 1903 b is 1908 in Pe tersburg herausgegebene

l ibera l -bürger l iche Zei tung „Rus" (Rußland) , d ie mi t Unterbrechungen und

a u c h u n t e r a n d e re n T it e l n — „ M o l w a " ( D i e K u n d e ) u n d „ X X W e k "

(20 . Jah rhu nd er t ) — erschien. 378

i ° 5 Das Zen t r a lo rgan de r SDAPR „Pro l e t a r i " b r ach t e i n Nr . 22 vom 24 . ( 11 . )

O k t o b e r 1905" e ine Besprechung der Zei tung „Borba Prole tar ia ta" vom 15.

(28.) Au gust 1905 . D en im vorl ieg enden B and veröffentl ichten Te il der

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486 Anmerkungen

Besprechung schrieb Lenin über Stalins Artikel „Antwort an den Sozial-

demokrat1". (Siehe J.W.Stalin, Werke, Bd. 1, Berlin 1951, S. 138-149.) 387106 Gem eint ist der in N r . 19 des „Proletari" vom 3 . Ok tob er (2 0. September)

1905 veröffentlichte „Offene Brief an die Genossen im Ausland". In diesemBrief wiesen die in den Wolgagouvernements tätigen Sozialdemokraten dar-auf hin, daß man mehr Leute für die Arbeit in Rußland freistellen müsse.Die Redaktion des „Proletari" fügte dem Brief eine Anmerkung bei, in deres hieß: „Wir teilen zwar nicht die allzu starre Meinung der Verfasser, daßdas ,Studium' im Ausland nutzlos sei, denken jedoch, daß man sich im Aus-land und in der gesamten Partei öfter der russischen Provinz erinnernmüßte." Wer sich des Pseudonyms „Revolutionär" bediente, konnte nicht

ermittelt werden. 389107 Wassüjew — der Bolschewik F. W. Lengnik. Sdhmidt — der Bolschewik P. P.

Rumjanzew. In den Jahren der Stolypinschen Reaktion trat Rumjanzew ausder Partei aus. 390

108 Lenin zitiert N . A. Dobroljubows Gedicht „Im preußischen W ag go n" , ver-öffentlicht 1862 mit der Unterschr ift „K onr ad Lilienschw ager" in Nr . 8des „Swistok" (D as Signa l), der als Beilage zur Zeitschrift „Sowrem ennik"(D er Zeitgenosse) erschien. (Siehe N . A. Dobroljubow, Gedichte, 194 1,S. 171, russ.) 404

i °9

In Nr .2 3 des „Proletari" vom 3 1. (18.) Oktobe r 1905 wurde der ungezeich-nete Artikel „Die britische Arbeiterbewegung und der Kongreß der Trade-Un ion s" veröffentlicht. L enin redigierte das Clbersetzungsman uskript diesesArtikels und schrieb dazu zwei Anmerkungen, die erste zum Fall im Taff-Tal, den der Verfasser des Artikels erwähnt, die zweite zum Schlußteil desArtikels . 415

110 Die Notiz „Qleidbgewidbt der Kräfte" wurde einige Stunden vor dem Ein-treffen der telegrafischen Nachricht über das Zarenmanifest vom 17. (30.)Oktober 1905 in Genf geschrieben. Die in der Notiz berührten Fragen ent-wickelt Lenin ausführlich in dem Artikel „Die Entscheidung naht". (Siehe

den vorliegenden Band, S. 450—457.) 4161 1 1 „The Baily Jeiegraph" — 1855 in London gegründete Zeitung; eine der

größten konservativen bürgerlichen Zeitungen Englands. 416112 Eine Broschüre Lenins über dieses Thema ist im Druck nicht erschienen. 419113 Es hand elt sich um die von Lenin verfaßte und vom III. Par teita g ange-

nommene Resolution „Zur Frage des offenen politischen Auftretens derSDAPR". (Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 8, S. 345/346, russ.) 421

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Anmerkungen 487

1 1 4 Es ist vom Streikkomitee der Petersburger Arbeiter die Rede, aus dem wäh-

rend des politischen Generalstreiks im Oktober der Petersburger Sowjetder Arbeiterdeputierten entstand. Am 13. (26.) Oktober 1905 wählten diePetersburger Arbeiter in den Fabriken und Werken ihre Vertreter zumSowjet der Arbeiterdeputierten. In der Nacht fand die erste Sitzung desSowjets statt. Nach dem Vorbild Petersburgs wurden auch in Moskau undanderen Städten Sowjets der Arbeiterdeputierten geschaffen. Die Bolsche-wiki sahen in den Sowjets eine politische Massenorganisation der Arbeiter-klasse und betrachteten sie als Organe des Aufstands, als Keimformen derrevolutionären Staatsmacht. Da die Menschewiki im Petersburger Sowjetder Arbeiterdeputierten die Führung an sich gerissen hatten, verhielt sich

der Sowjet ablehnend zu r Vorbereitung des bewaffneten Volksaufstands.Ober die Sowjets der Arbeiterdeputierten im Jahre 1905 siehe LeninsSchriften: „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten",„Sozialismus und Anarchismus", „Der Sieg der Kadetten und die Aufgabender Arbeiterp artei" in W erk e, 4. Ausgabe, Bd. 10, S. 1—11, 53—56 und175—250, ru ss. 435

1 1 5 Der Artikel „Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus" wurde inder bolschewistischen Zeitung „Nowaja Shisn" Nr. 9 vom 10. (23.) Novem-ber 1905 nachgedruckt. 441

116 7p_ 7 ^ _ Pseudonym W . P. W oronzow s, Verfasser des Buches „Schick-sale des Kapitalismus in Ruß land". ?Jikolai-on — Pseudonym N. F. Daniel-sons, Verfasser der Schrift „Abhandlungen über unsere Volkswirtschaftnach der Reform". Woronzow und Danielson waren Ideologen der libe-ralen Volkstümlerrichtung in den achtziger und neunziger Jahren des19. Jahrhunderts. 447

1 1 7 Lenin spricht von den „Jswestija Sowjeta Rabotsdhidh Beputatow" (Nach-richten des Sowjets der Arbeiterdeputierten), dem offiziellen Organ desPetersburger Sowjets der Arbeiterdeputierten. Die „Iswestija" erschienenvom 17. (30.) Oktober bis 14. (27.) Dezember 1905 als Mitteilungsblätter,

die in Druckereien verschiedener bürgerlicher Zeitungen, eigenmächtig ge-druckt wurden. Es erschienen zehn Nummern. Die elfte Nummer wurdevon der Polizei während des Drucks konfisziert. 451

11 8 Gemeint ist die „Neue freie Presse" — eine seit 1864 in Wien erscheinendebürgerlich-liberale Zeitung. 454

1 1 9 De r Artikel „Der Bauernkongreß" w urde in N r. 25 der Zeitung „Prole-tari" vom 16. (3.) Novemb er 1905 mit der U nterschrift „W . Kalinin"

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488 Anmerkungen

(Pse udo nym W . A. Kar pins kis) veröffentlicht. Beim Redig ieren des Artikels

schrieb Lenin diesen Zusatz. 4581 2 0 „Nowaja Shisn" (N eue s Leb en) — erste legale bolschewistische Tages zei-

tung, die vom 27. Oktober (9. November) bis 3. (16.) Dezember 1905 inPetersburg erschien. Als Lenin Anfang November aus de r Emigration nachPetersburg zurückgekehrt war, erschien d ie Zeitung unter seiner unmittel-baren Leitung. „Nowaja Shisn" war faktisch das Zentralorgan d er SDAPR.Die engsten Mitarbeiter d er Zeitung waren W . W . Worowski , M . S . O l -minski, A. W . Lunatsch arski u n d andere. Auch Maxim Gorki beteil igtesich aktiv an der Zeitung u n d unters tütz te sie materiell.

In Nr. 9 der „Nowaja Shisn" vom 10. (23. ) November erschien Leninserster Artikel „Ober d ie Reorganisation d e r Par te i " . Im weiteren wurdendann noch über zehn Artikel Lenins veröffentlicht. D ie tägliche Auflageder Zeitung erreichte 80000 Exemplare.

Die „Nowaja Shisn" w a r zahlreichen Repressalien ausgesetzt. V o n27 Nu mm er n wurd en 15 beschlagn ahmt und eingestampft. Na ch Erscheinender N r . 27 vom 2 . (15 . ) Dezember wurde die Zei tung von der Regierungverboten. D ie letzte, d ie 28 . Nu mm er erschien illegal. 464

1 2 1 Vendee — französisches De par tem ent , w a r während d e r französischen b ü r -gerlichen Revolution Ende des 18. Jahrhu nderts d e r Herd eines konter-

revolutionären Aufstands d e r rückständigen reaktionären Bauernschaftgegen d en revolutionären Konvent. D e r Aufstand wurde unter religiösenLosungen durchgeführt, an seiner Spitze standen konterrevolutionäre Geist-liche u n d Gutsbesitzer. 466

1 2 2 D e r Aufstand d er Matrosen u n d Soldaten in Kronstadt begann a m 26. O k -tober (8 . Nov embe r) 1905. D ie Aufständischen erhoben d ie Forde rungen :Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund allgemeiner

. Wahlen, Errichtung einer demokratischen Republik, Rede-, Versammlungs-und Koalitionsfreiheit, Verbesserung d e r Lage d e r Matrosen u n d Soldaten.Am 28. Okto ber (10. Novemb er) wurde der Aufstand niedergeschlagen. 4 67

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DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKENW . I . L E N I N S

(Juni bis November 1905)

32 Lenin, W erke, Bd. 9

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491

'Juni—Juli

28. Juni(11. Juli)

29. Juni

(12. Juli)

11. (24.) Juli

13 . (26.) Juli

dem 13.(26.) Juli

15. (28.) Juli

20. Juli(2 . August)

3 2 *

1905

W . I. Lenin schreibt das Wer k „Zwei Taktiken der Sozial-demokratie in der demokratischen Revolution".

Lenin schlägt in einem Brief an das Zentralkomitee derSDAPR vor, durch die Herausgabe von regelmäßig erschei-nenden Flugschriften und Mitteilungsblättern des ZK diepolitische Anleitung der Parteiorganisationen zu verstärken.

In einem Brief an das Zentralkomitee legt Lenin die Bedin-

gungen dar, u nter denen G . W . Plechanow zum Vertreterder SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro ernanntwerden soll.

In einem Brief an das Internationale Sozialistische Büro ent-larvt Lenin die Spaltungstätigkeit der Menschewiki.

In N r. 9 des „Proletari" erscheinen L enins Artikel „D ie Re-volution lehrt" und „Ohnmächtige Wut".

Lenin schreibt das Vorwort zu dem Werk „Zwei Taktikender Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution".

Lenin rät in einem Brief an das Zentralkomitee, den Be-schluß des ZK über die Ernennung Pledianows zum Ver-treter der SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büroaufzuheben.

Lenins Artikel „Das Proletariat kämpft, die Bourgeoisie er-schleicht sich die Macht" erscheint als Leitartikel in Nr. 10des „Proletari".

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492 Baten aus dem £eben und W irken TV. J. Lenins

27. Juli In Nr. 11 des „Prole tari" wird das Erscheinen von Lenins

(9. August) Werk „Zwei Tak t iken de r Soz ia ldemokra t ie in de r demo-kra t ischen Revolu t ion" angekündig t .

7«!» Len in schreibt das Vorw ort zu r Broschüre „Arb eiter übe r

d ie Spa l tung de r Pa r te i" .

Juli—August Lenin red ig ie r t d ie russ ische Oberse tzung von Kar l Marx 'Broschüre „Der Bürgerkrieg in Frankreich" für die zweiteAuflage, die 1905 im Odessaer Verlag „Burewestnik" (Sturm-vogel) erschien.

1. (14.) August Lenin kri t is iert in e inem Brief an das Zentra lkomitee der

SDAPR d ie ve rsöhn le r ische Ha l tung de r Mitg l ieder des ZKin Rußland (Bogdanows, Krass ins und anderer) und fordert ,daß s ich das ZK bei der Entscheidung über die Vereinigungmit dem abgespa l tenen Te i l de r SDAPR (Menschewik i) un-bei rrt von den Beschlüssen des III . Par te itag s le i ten lä ßt.

3. (i6.) August Lenins Artikel „Der Boykott der Bulyginschen Duma und

der Aufstand" erscheint in Nr, 12 des „Prole tari" a ls Leit-

a r t ike l .

9. (22.) August In Nr . 13 des „Pro le ta r i" e rsche in t Len ins Art ike l „Antwort

der Redaktion des ,Prole tari ' auf Fragen e ines Genossen.Arb e i te r ' " u nd e ine Anm erkung zu M . N . Pokrowskis Ar-t ikel „Die berufs tä tige Inte ll igenz und die Sozialdemokra-t e n " .

16. (.29.) August In Nr . 14 des „P role tari" erscheinen Lenins Artikel , , ,DieEinheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem

Zaren '" (Le i ta r t ike l ) , „Die Schwarzhunder tschaf ten und d ieOrgan isa t ion des Aufs tands" , „Tre ten d ie . l ibe ra len ' Sem-s twoleu te be re i ts den Rückzug an?" und das Nachwort de rRedaktion zu dem Artikel „Der dri t te Parte itag vor dem

Tribuna l de r kaukas ischen Menschewik i" , de r aus Nr . 1 d erZe i tung „Borba Pro le ta r ia ta" nachgedruck t i s t .

August Lenin schreibt das Vorwort zur dri t ten Auflage der Bro-schüre „Die Aufgaben der russ ischen Sozialdemokraten".Lenin schreibt „Die Arbeiterklasse und die Revolution" a lsKonzept für e ine Broschüre .Se ine Broschüre „Die Agra rf rage und d ie .Marxkr i t ike r ' "(Neuauflage der ers ten vier Kapite l) kommt aus dem Druck.

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"Daten aus dem £eben und W irken TVJ. Lenins 493

23. August In N r. 15 des „Pro letari" erscheinen Lenins A rtikel „Im

(5 . September) Nachtrab der monarchistischen Bourgeoisie oder an der Spitzeder revolutionären Arbeiterklasse und Bauernschaft?" (Leit-artikel), „Die klarste Darlegung des verworrensten Plans"und „Information der internationalen Sozialdemokratie überunsere Parteiangelegenheiten".

25. August Lenin protestiert in einem Brief an die Mitglieder des Zen-(7 . September') tralkomitees der SDAPR in Rußland gegen ihre versöhn-

lerische Ha ltung in Fragen der Ta ktik u nd fordert entschiedeneine rechtzeitige Information der Redaktion des Zentral-

organs „Proletari" über die Tätigkeit des ZK.

1. (14.) In N r. 16 des „Proleta ri" erscheinen Lenins Artikel „ DasSeptember Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung" (Leit-

artikel), „Was wollen und was fürchten unsere liberalenBourgeois?" und „Die Theorie der Selbstentstehung".Lenin weist in einem Brief an P. A. Krassikow auf die N ot -wendigkeit hin, die Lokalkomitees der SDAPR zu festigenund zwischen dem Petersburger Komitee und der Redaktiondes „Proletari" einen engeren und regeren Kontakt herzu-stellen.

2. f 15.) Lenin besteht in einem Brief an das Zentralkomitee darauf,September daß er rechtzeitig über die Tätigkeit des ZK in Rußland

informiert wird.

3. (16.) Lenin erklärt in einem Brief an das Internationale Sozia-September listische Büro, daß das Zentralkomitee der SDAPR der Ein-

berufung der vom ISB im Zusammenhang mit den Meinungs-verschiedenheiten innerhalb der SDAPR vorgeschlagenenKonferenz zustimmt.

7. C200 Lenin weist in einem Brief an S. I. Gussew auf die Notwen-September digkeit hin, daß sich die Parteiarbeiter in Rußland in Fragen

der bolschewistischen Taktik und ihrer praktischen Durch-führung an die Redaktion des „Proletari" wenden.

3Vad) dem 10. Lenin hält vor russischen Emigranten in der Schweiz ein(23.) September Referat über die Taktik der Partei hinsichtlich der Bulygin-

schen Duma.

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494 Daten aus dem Leben und Wirken IV. J. Lenins

i3.(26.) In N r. 18 des „Pro letari" erscheinen Lenins Artikel „DieSeptember Freunde haben sich gefunden" (Leitartikel), „Streitet über

die Taktik, aber gebt klare Losungen!", „Parlamentsspie-lerei", „Von der Verteidigung zum Angriff", „Zur gegen-wärtigen Lage" und ein Zusatz zu W . W . Worowskis Ar-tikel „Die liberalen Verbände und die Sozialdemokratie".

Mitte In N r. 2 des volkstümlichen Orga ns des ZK der SDAPRSeptember „Rabotschi" (Der Arbeiter) erscheint der von Lenin verfaßte

Brief „Von der Redaktion des Zentralorgans der SDAPR"an alle Parteiorganisationen.

20. September In Nr. 19 des „Proletari" erscheint Lenins Artikel „Die Sem-(3 . Oktober) stwotagung".

Lenin gibt in zwei Briefen an das Zentralkomitee der SDAPRHinweise für die Vorbereitung des IV. Parteitags der SDA PRund unterstreicht die Bedeutung politischer Literatur für dieAnleitung der Parteiarbeit.

25. September Lenin teilt in einem Brief an das Zentralkomitee den Be-(S . Oktober) Schluß der Südrussischen Konferenz der Menschewiki mit,

Plechanow zum Vertreter der Menschewiki im Internatio-nalen Sozialistischen Büro zu ernennen, und schlägt als Ver-treter der Bolschewiki im ISB W. W. Worowski vor.

Vor dem Lenin schreibt die Artikel „Keine Schwindelei! Unsere Kraft27. September liegt im Aussprechen der Wahrheit!" und „Der Jenaer Par-(iO. Oktober) teitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands".

27. September In Nr. 20 des „Proletari" erscheinen Lenins Artikel „Sozia-(iO. Oktober) Iismus und Bauernschaft" (Leitartikel), „Die satte Bourgeoi-

sie und die lechzende Bourgeoisie", „Die Gutsbesitzer überden Dumaboykott", „Zur Vereinigung der Partei", „Einezornige Antwort", „Eine neue menschewistische Konferenz"und „Die Vertretung der SDAPR im Internationalen Sozia-listischen Büro".Lenin schreibt den Artikel „Blutige Tage in Moskau".

30. September Lenin w eist in einem Brief an S. I. Gussew d arauf hin, daß(.13. Oktober) die Partei die Gewerkschaftsverbände stärker anleiten muß.

Ende September Lenin schreibt den Entwurf „Die schlafende un d die erwachteBourgeoisie. Thema für einen Artikel".

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Baten aus dem Leben und "Wirken IV J. Lenins 495

September— Lenins Werk „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der

Oktobe r demokratischen Revolution" wird in Rußland vom Zentral-komitee und gesondert vom Moskauer Komitee der SDAPRillegal neu herausgegeben.Lenins Broschüre „An die Dorfarmut" wird vom MoskauerKomitee der SDAPR illegal und vom Buchverlag „Molot" inPetersburg unter dem Titel „Die Nöte des Dorfes. (An dieDorfarmut)" legal neu herausgegeben.

Anfang Oktober Lenin schreibt gegen A. N . Potressow (S tarower) die N otiz„Ein sozialdemokratisches Liebchen".

3.(16.) Oktober Lenin weist in einem Brief den Kampfausschuß beim Peters-burger Komitee der SDAPR an, Kampfgruppen und Kampf-

abteilungen der revolutionären Armee für den bewaffnetenAufstand zu bilden.

4. in.) Oktober In Nr. 21 des „Proletari" erscheinen Lenins Artikel „Poli-tischer Streik und Straßenkampf in Moskau" (Leitartikel)und „Das letzte Wort der ,iskristischen' Taktik oder eineWahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt".

ZuAsdben dem Die von Lenin verfaßten Resolutionsentwürfe für den III. Par-4. und 11. teitag und die von ihm auf dem Parteitag gehaltenen Refe-

(.17. und 24.") rate und Reden werden in dem vom Zentralkomitee derOktober SDAPR in Genf 1905 herausgegebenen Band „Der dritte

ordentliche Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpar-tei Rußlands. Voller Wortlaut der Protokolle" zum ersten-mal veröffentlicht.

7 . (20 j Oktober Lenin verfaßt das Statut der Wirtschaftskommission des Zen-tralkomitees der SDAPR.

11.(24.) I n N r .2 2 d e s „Proletari" erscheinen Lenins Artikel „Die Leh-Oktober ren der Moskauer Ereignisse", seine Notiz „Die Jugend im

Ausland u nd die russische Rev olution" u nd seine B esprechungder „Borba Proletariata".

12.(25.) Lenin bestätigt dem Zentralkomitee in einem Brief, daß erOktober die Mitteilung über seine Ernennung zum Vertreter der

SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro erhalten hat.

13.(26.3 Lenin verfaßt den Artikel „Der politische Gen eralstreik inOktobe r Ruß land". Der Artikel wird als Leitartikel im „Proletari"

N r . 23 vom 31. (18.) Oktob er veröffentlicht.

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496 Baten aus dem Leben und W irken W. 1. Lenins

Lenin beton t in einem Brief nach Petersburg (an M . M . Essen)die Notwendigkeit, die Vorbereitung des bewaffneten Auf-stands und die Organisierung von Hunderten und Tausen-den vonKampfabteilungen zu verstärken.

14. (27.) Lenin teilt dem Internationalen Sozialistischen Büro brieflichOktober mit, daß für die vom ISBvorgeschlagene Konferenz W. I.

Lenin, F. W . Lengnik u nd P . P. Rumjanzew als Vertreter desZentralkomitees der SDAPR ernannt worden sind.

Zweite Lenin schreibt die Artikel „Die Aufgaben der AbteilungenOktoberhälfte der revolutionären Armee" und „Die liberalen Hoffnungen

auf die Duma".Er entwirft den Plan einer Broschüre, in der P. B. AxelrodsArbeit „Volksduma und Arbeiterkongreß" (1905) kritisiertwerden soll.

17. (30.) Lenin schreibt die Notiz „Gleichgewicht der Kräfte".Oktober

i8.(3i.) In N r. 23 des „Proletari" erscheinen Lenins Artikel „DieOktober ersten Ergebnisse der politischen Gruppierung", „Hysterie

der Unterlegenen ", „Ein Ultimatum des revolutionären Riga",„Die Pläne des Ministerclowns" und „Die Zuspitzung der

Lage in Rußland".19. Oktober Lenin verfaßt anläßlich des Manifests vom 17. Ok tober den(l.November) Artikel „Der erste Sieg der Revolution". Der Artikel wird

als Leitartikel im „Proletari" N r. 24 vom 7. November(25. Oktober) veröffentlicht.

20. Oktober Lenin hält in Genf auf einer Versammlung russischer Sozial-te. INopem&er) demokraten ein Referat über die letzten politischen Ereig-

nisse in Rußland.

25. Oktober In N r. 24 des „Proletari" erscheinen Lenins Artikel „Klein-(7.November) bürgerlicher und proletarischer Sozialismus" und „Nikolai

Ernestowitsch Bauman" (Nachruf).

Ende O ktober Lenin fährt von Genf über Stockholm nach Rußland.2. (15.) Lenin verfaßt den Artikel „Zwischen zwei Schlachten", derNovember dann im „Proletari" Nr. 26 vom 25. (12.) November als Leit-

artikel veröffentlicht wird.

3. (16.) In Nr . 25 des „Proletari" erscheint Lenins Artikel „Die Ent-November Scheidung naht" als Leitartikel.

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497

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort VII—VIII

1905

Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolu-tion 1—130

Vorwort 31. Die aktuelle politische Frage 7

2. W as sagt die Resolution des III. Parteitags der SDA PR überdie provisorische revolutionäre Regierung? 10

3. Was ist „der entscheidende Sieg der Revolution über den Za-rismus"? 18

4. Die Liquidierung der monarchischen Staatsordnung und dieRepublik 25

5. Wie soll man „die Revolution vorwärtstreiben"? 31

6. W oher droht dem Proletariat die Gefahr, im Kampf gegendie inkonsequente Bourgeoisie mit gebundenen Händ en dazu -stehen? 35

7. Die Taktik der „Ausschaltung der Konservativen aus der Re-gierung" .. .. .. .. 49

8. Das Oswoboshdenzentum und d er N euiskrismus 54

9. W as bedeutet es, während der Revolution die Partei deräußersten Opposition zu sein? 63

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498 Inhaltsverzeichnis

10. Die „revolutionären Kommunen" und die revolutionär-demo-kratische Dikta tur des Proletariats und der Bauernschaft . . 67

11. Flüchtiger Vergleich einiger Resolutionen des III. Parteitagsder SDAPR und der „Konferenz" 77

12. W ird der Schwung der demokratischen Revolution geschwächt,wenn die Bourgeoisie von ihr abschw enkt? 82

13. Schluß. Dürfen wir siegen? 92

Nachwort. Noch einmal das Oswoboshdenzentum, noch einmalder Neuiskrismus 105

I. Wofür loben die bürgerlich-liberalen Realisten d ie sozial-demokratischen „Realisten"? 105

II . Eine neue „Vertiefung" der Frage durch Genossen M artyn ow 112

III. Die vulgär-bürgerliche Darstellung der Diktatur und Marx'Ansicht übe r die Dik tatur 121

Schlußteil zum Artikel „Die Pariser Kommune und die Aufgabender demokratischen Dikta tur" 131

An das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros inBrüssel 132—136

Die Revolution leh rt 137—147Ohnmächtige W ut 148—152

Ursprüngliche Variante des Vorworts zur Broschüre „Arbeiter über

die Spaltung der Partei" 15 3-1 54

Vorwort zu r Broschüre „Arbeiter über die Spaltung der Pa rtei" . . 155—161

Das Prole tariat käm pft, die Bourgeoisie erschleicht sich die Mach t 162—171

De r Boykott der Bulyginschen Duma und der Aufstand 172—180Bemerkung zur Resolution der Konferenz der Auslandsorganisatio-

nen der SDAPR . • . . 181

Anmerkung zu M . N . Pokrowskis Artikel „D ie berufstätige Intelli-genz und die Sozialdem okraten" 182

Antwort der Redaktion des „Proletari" auf Fragen eines Genossen„Arbeiter" 183

„Die Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit demZaren" 184—193

Die Schwarzhundertschaften und die Organ isation des Aufstands . . 194—198

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Inhaltsverzeichnis 499

Nachwort der Redaktion zu dem Artikel „Der dritte Parteitag vor

dem Tribu nal der kaukasischen Menschewiki" 199

Tre ten die „liberalen" Semstwoleute bereits den Rückzug an ? . . . . 200

Die Arbeiterklasse und die Revolution 201—202Vorw ort zur dritten Auflage der Broschüre „D ie Aufgaben der russi-

schen Soz ialdem okraten" 203—204

Bemerkung zu P. Nikolajews Broschüre „Die Revolution in Rußland" 205

Im Nachtrab der monarchistischen Bourgeoisie oder an der Spitzeder revolutionären Arbeiterklasse und Bauernschaft? 206—218

Die klarste Darlegun g des verworrensten Plans 219—221

Information der internationalen Sozialdemokratie über unsere Partei-angelegenheiten 222-223

Anmerkung zu dem Artikel „Die Finanzen Rußlands und die Revo-lution" 224

Da s Verhä ltnis der Sozialdemokratie zu r Bauernbewegung . . . . 225—234

W as wollen und was fürchten unsere liberalen Bourgeois? . . . . 235—240

Die Theorie der Selbstentstehung 241—246

Brief an das Internatio nale Sozialistische Büro 247

Die Freu nde hab en sich gefunden 248—256Streitet über die Taktik, aber gebt klare Losungen ! 257—259

Welche Ratschläge geben die Sozialdemokraten dem Proletariathinsichtlich der Reichsduma? 258

Parlamentsspielerei 260—275

Die liberalen Verbän de und die Sozialdemokratie 276—277

Von der Verteidigung zum Angriff 278—280

Z ur gegenw ärtigen Lage 281—282

Von der Redaktion des Zentralorgans der SDAPR . . 283—284

De r Jenaer Parte itag der Sozialdemokratischen Pa rtei Deutschlands 285—289Keine Schwindelei! Unsere Kraft liegt im Aussprechen der Wahr-

heit ! Zuschrift an die Redaktion 290—294

Über die sogenannte Armenische sozialdemokratische Arbeiterorga-nisation 295

Die Semstwotagung 296—302

Sozialismus und Bauernschaft 303—312

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500 Inhaltsverzeichnis

Die satte Bourgeoisie un d die lechzende Bourgeoisie 313—319

Die Gutsbesitzer über den Dum aboyk ott 320—323

Zu r Vereinigung der Parte i 324—325

Eine zornige Antwort 326—327

Eine neue menschewistische Konferenz 328—329

Die Vertretung d er SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro 330—332

Aus Gesprächen mit Lesern 333

Blutige Tag e in Moskau 334—339

Die schlafende und die erwachte Bourgeoisie. Thema für einen

Artikel 340-341An den Kampfausschuß des St. Petersbu rger Komitees 342—344

Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau 345—353