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Zum Buch»Lieber Gott und Otis Redding« – so beginnen die Gute-Nacht-Gebete der kleinen Halo Llewelyn. Halo lebt mit ihrer liebens-wert-verrückten Familie auf der wahrscheinlich coolsten Farm auf Erden. Denn auf der legendären Rockfarm in Wales wird kei- ne Viehzucht betrieben, sondern es werden Platten produziert. Die bekanntesten Stars der Szene geben sich die Klinke in die Hand. Eines Tages taucht die amerikanische Rockband Tequila in einem wunderschönen silbernen Bus auf. Als die Band am Ende des Sommers wieder abreist, hinterlässt sie einen nicht minder schönen kleinen Jungen, sie hinterlassen Fred. So beginnt eine unendlich schöne Liebesgeschichte, die Halo ihr Leben lang be-gleiten wird.

Pressestimmen»Eine berührende Familiengeschichte mit ganz viel großartiger Musik.« Mark Radcliffe

»Beim Lesen musste ich ständig schmunzeln. Ein bezauberndes Buch, das das Leben schöner macht.« Patrick Gale

»Eine Geschichte voller Witz und Weisheit, erzählt von einer Autorin auf der Höhe ihres Könnens.« Mark Mills

Zur AutorinTiffany Murray ist Dozentin für Kreatives Schreiben an der Uni-versität von East Anglia in Norwich und verschiedenen anderen Hochschulen. Ihr Debütroman wurde für den renommierten Bol-linger/Wodehouse-Literaturpreis für humorvolle Literatur nomi-niert. Sie lebt in Wales und Portugal.

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Tiffany Murray

Lieber Gott und Otis Redding

Roman

Aus dem Englischenvon Carolin Müller

WILHELM HEyNE VERLAGMüNCHEN

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Die Originalausgabe DIAMOND STAR HALO erschien 2010 bei Portobello Books Ltd., London

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2010Copyright © 2010 by Tiffany MurrayCopyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbHPrinted in Germany 2010Redaktion: Heiko ArntzUmschlagillustration: © Larissa Bertonasco, Agentur Susanne Koppe, HamburgUmschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, MünchenSatz: Christine Roithner Verlagsservice, BreitenaichDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-453-40800-5

www.heyne.de

Zert.-Nr. SGS-COC-001940

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Für meinen Dad, Fritz Fryer

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TEQUILA, STALLION BOYSRECORDED ROCKFARM AUGUST 1977

TRACK LISTING

DUST ROAD BLUES –- 5.26 A. Connor/J. Connor

STALLION BOYS –- 4.54 J. Connor

SILVER STUDDED NIGHT –- 5.42 A. Connor/ J. Connor/ H. Connor/ C. Connor/ J. Connor/ D. Connor/ K. Connor/ T. Connor/ J. Connor

PRAIRIE GAL –- 4.59 A. Connor

KENTUCKY KARTWHEEL –- 3.05 A. Connor/ J. Connor/ H. Connor/ C. Connor/ J. Connor/ D. Connor/ K. Connor/ T. Connor/ J. Connor

ON MY FAITHFUL KNEES –- 4.53 A. Connor/ J. Connor/ H. Connor/ C. Connor/ J. Connor/ D. Connor/ K. Connor/ T. Connor/ J. Connor

LITTLE GIRL –- 3.32 A. Connor

SILVER BUS BLUES -– 4.33 A. Connor/ J. Connor

THE BOYS SONG -– 3.29 J. Connor

GOODBYE JENNY -– 2.27 A. Connor

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ERSTER TEIL

1977

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Es gibt nur eine Sache, in der sich meine Familie einig ist – und ich schwöre, das ist wahr –, nämlich, dass Fred Con-nor im staubtrockenen Sommer 1977 zu uns, den Llewelyns von der Rockfarm, kam. Für uns war es ein großes Jahr. Es war der Anfang von allem. Erstens kamen die Müllmänner nicht, und zweitens fand das fünfundzwanzigjährige Kronjubiläum der Queen statt (auch wenn wir Waliser waren und das keine große Bedeu-tung für uns hatte). Als mein großer Bruder Vincent meiner Mutter die Sicherheitsnadeln klaute und ein ganz anderes »God Save the Queen« anstimmte, sagte meine Nana Lew, die Zeiten ändern sich. Als dann Elvis Presley, the King of Rock ’n’ Roll, starb, sagte Nana, nun sei nichts mehr wie zuvor. Elvis’ Tod, meinte Nana, bedeute, dass nun der böse Blick in der Welt herrsche, also lehrte sie mich, wie man Pferde-küsse und Schlangenbisse heraufbeschwor und wie man rückwärts zu den Heiligen betete in ihrer Kapelle aus Kno-chen, die sich wie ein Schulterblatt an den Hügel schmiegte. Nach Elvis’ Tod hörte meine Mutter auf, sich darüber Sorgen zu machen, dass Steine auf ihre Kinder fallen könnten; mei-ne kleine Schwester Molly lernte zu knurren, und Vincent zog Mums Kleid aus Käseleinen an. Nach Elvis’ Tod bekamen wir Fred Connor. Es war an einem Tag, an dem die Buchenblätter sich an-

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schickten, die Farbe zu wechseln; ein Tag, an dem der Re-gen, der auf die Rockfarm niederging, plätscherte und spritz-te. Es war ein Tag wie jeder andere, als wir Fred Connor, eingewickelt in eine rote Decke, auf einem unserer Gäste-betten fanden. Er schien kaum zu atmen und war das kleinste Baby, das ich je gesehen hatte. Mum ließ uns rund um die Tagesdecke aus pissgelbem Frottierplüsch antreten, damit wir ihn auch richtig in unserer Mitte aufnehmen konnten, und als sie Fred mit ihrem kalten Ehering an der Stirn berührte, öffnete er die schwarzen Augen. Damals verstand ich nicht, was sie meinte, als sie rief: »Kinder, schaut! Er ist halb Robbenbaby, halb Heathcliff.« Heute verstehe ich es. Natürlich wussten wir alle, woher Fred kam, Störche oder Bienen oder die weichen Knie unserer Eltern hatten damit nichts zu tun. Mein Vater hatte ihn, das Findelkind, nicht in einer dunklen, stürmischen Nacht irgendwo aufgelesen, und er kam auch nicht überraschend aus Nimmerland angeflo-gen. Nein, Fred Connor traf schon Wochen vorher auf unse-rem Gutshof ein, zusammen mit einer amerikanischen Band namens Tequila. Aber Fred kam nicht auf seinen eigenen zwei Beinen: Fred Connor schwebte irgendwie. Und mit unserem Hof fange ich dann wohl am besten an, obwohl ich eigentlich nie weiß, wo ich anfangen soll, weil ich selbst rückwärts auf die Welt gekommen bin. »Arschwärts«, nennt meine Nana das. Aber vielleicht fängt die Geschichte eben einfach mit der Rockfarm an: mit dem Haus, in dem ich geboren wurde, mit dem Aufnahme-studio, das von meinem Vater mit seinen eigenen sommer-

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sprossigen Händen auf seiner eigenen walisischen Erde ge-baut wurde. Die Rockfarm ist ein Ort, an den sich allerlei Rockstars mit dicken Sonnenbrillen verirren, ein Ort, an dem die Katzen Krallen haben, die sich an ihren Tatzen reihen wie Klam-mern auf der Wäscheleine. Meine Rockfarm.

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Als der silberne Bus von der Hauptstraße, die einen ins übrige Wales brachte, abbog, standen wir im Hof Spalier. Wir waren den Weg von Nanas Herrenhaus hergelaufen, vorbei an ihrer Kapelle, vorbei an ihren glänzenden Feldern, weil es höchste Zeit war. Alles, sogar die Grillen und die alten Knochen unter uns, schienen voller Erwartung. Der Hof war quadratisch. Auf der einen Seite waren die Ställe für die Pferde, und auf der anderen waren die Ställe, die Dad zu einem Aufnahmestudio umgebaut hatte: Schlag-zeugsolos und Playbacks waren unsere Schlaflieder. Auch die Bands wohnten hier. Die Rockfarm war ein weitläufiger Gutshof und hatte früher irgendeinem englischen Mistkerl gehört. Nun lebten nur wir Llewelyns hier und unsere Gäste. Ein rotbraunes Huhn pickte an dem Gitarrenplektrum herum, das zu meinen Füßen auf der Erde lag, und ich starr-te den fleischigen Kamm an, der bei jedem Picken hin und her wackelte. Mir gingen allerlei Kindergedanken durch den

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Kopf (diese flüchtigen, köstlichen Bildfetzen, die so schnell hin und her springen wie der Punktestand eines Flipperauto-maten). Ich fragte mich, ob Hühner schwimmen konnten. Ich fragte mich, ob man Kuhfladen essen konnte. Ich fragte mich, warum mein Dad einen Hof hatte, wo er doch gar kein Bauer war. Mein Dad stand neben uns. Er hatte kastanienfarbene Augen. Mein Dad hieß Ivan Comfort Llewelyn. »Comfort«. Nana hatte ihn so genannt, weil sie schon damals gewusst hatte, dass ihr einziger Sohn einmal ein »Trost« für die ge-samte Frauenwelt sein würde. »Woher kommt die Band, Ivan?«, fragte meine Mutter. Sie wiegte meine kleine Schwester Molly auf ihren milchweißen Hüften. Mum und Molly sahen aus wie Zwillinge: dunkles, glänzendes Haar und ein zarter Teint. Mum glitzerte, Molly quietschte. Dad strahlte die beiden an. »Sie sind aus Amerika, Dolly Liebes. Von irgendwo aus dem Süden.« »Sie sind den ganzen weiten Weg aus Amerika hergekom-men, nur wegen uns. Oh, Ivan.« Ich spürte das Knistern zwischen meinen Eltern: ein war-mer Schauder, wie wenn man in ein heißes Bad taucht. »Und weißt du was, Dolly? Alle acht sind Brüder.« »Nein!« »Doch.« »Da sind aber viele Mäuler zu stopfen.« Dad lachte. »Das schaffst du schon, Liebling. Du bist doch eine wahre Virtuosin in der Küche.« Er hatte Recht. Das war meine Mutter wirklich. Mum

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kochte immer für die Rockstars, für alle Bands, die hier auf der Farm waren, und sie war darin äußerst geschickt. Bei meiner Mutter entsprach die Art des Essens immer dem Sound der jeweiligen Band, und die Musiker, die bei uns ihre Platten aufnahmen, wurden schier süchtig nach ihren Koch-künsten. Tatsächlich waren die Rezepte meiner Mutter welt-klasse, ja sogar überirdisch, und sie notierte sie alle in einem Buch mit der Aufschrift Dolly Halcyon Palmer-Llewelyns Re-zeptbuch. Manche Songs kennt man nur, weil meine Mutter Hymnen, Klassiker und One-Hit-Wonders aufgetischt hat. Großes Ehrenwort, ohne die Experimente meiner Mutter mit Safran und Muskatnuss, wären so manche unserer Lieblings-lieder gar nicht erst entstanden. Wieder spürte ich das Knistern zwischen meinen Eltern. Zwischen meinen Eltern knisterte es jede Menge. Drüben bei den Ställen spritzte Nana Lew gerade die Pfer-de ab. Sie war fertig mit Beten und Rumwarten in ihrer Ka-pelle. Sie richtete den Schlauch auf ihre Collies, und die Hunde versuchten freudig kläffend in den Wasserstrahl zu beißen. Die Enten glitten über den erbsensuppenfarbigen Teich, die Hühner liefen wild gackernd durcheinander, und Nana Lew kam zu uns herüber. Ich freute mich immer, zu sehen, wie Nana näherkam. Sie war ständig umgeben von einem Meer aus schwarz-weißen Collies, die jaulten und kläfften und mit dicken Zungen vor sich hin hechelten. Sie war immer ein wenig außer Puste und ein wenig verschwitzt, aber ihr großer, dünner Mund mit den noch größeren falschen Zähnen, die sie per Versandhan-del aus Amerika hatte kommen lassen, grinste so blendend weiß, nun, dass ich auch einfach grinsen musste.

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»Ist hier noch ein Platz frei?«, fragte sie, wie wir so in Reih und Glied dastanden: zuerst Dad, dann Mum mit Molly auf dem Arm, dann ich und mein älterer Bruder Vincent. Der Saum von Vincents langem Kleid flatterte im warmen Wind und kitzelte mir am Bein. Vincent war dreizehn und das Kleid aus schwarzem Satin, vermutlich aus Nanas Schrank. »Wie heißt die Band noch mal?«, erkundigte sich Mum. »Tequila, Liebes«, sagte Dad. »Wie?« »Te-quiii-la.« »Das ist aber ein saublöder Name, Ivan.« »Wir hatten schon mal Amerikaner«, warf Nana ein. »Wa-ren furchtbar laut. Die sind manchmal schon frühmorgens laufen gegangen. Mit Turnschuhen an. Komischer Haufen.« Ich beobachtete meine Nana und meine Mum. Ich lauschte auf die Stimmung zwischen ihnen. Meine Mutter und meine Großmutter kamen nicht so gut miteinander aus. Mum meinte, sie beide würden nicht besonders gut emul-gieren. »Ist doch nicht falsch, wenn man auf sich achtet«, meinte Mum. »Hmmm«, machte Nana mit gerümpfter Nase. »Aufregend, nicht wahr, Mutter?« Dad rieb sich die Hän-de, und ich hörte das Bemühte in seiner Stimme: Immer bemühte er sich, Mum und Nana miteinander zu versöhnen. Dad schüttelte seine roten Locken, während Nana die Arme verschränkte und dabei die Hände unter je eine ihrer schwe-ren Brüste klemmte. »Acht Brüder also, Ivan?«, murmelte sie. »Das ist keine gute Zahl. Sieben wäre besser.«

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Mum runzelte missbilligend die Stirn über ihre Schwie-germutter. »Zieh nicht so ein Gesicht, Dolly. Ich kenne meine Zah-len. Sie bringen Unglück, diese Kerle. Acht bringen Un-glück.« »Jetzt fang nicht damit an, Gladys, bitte.« »Ist gut, Ladys.« Mein Vater hob beschwichtigend seine sommersprossige Hand. Ich war die Einzige, die wie mein Vater Sommersprossen hatte, eine wachsweiße Haut und marmeladenrotes Haar. Und unser Haar wuchs nicht, es wucherte. »Unsere Halo sieht es auch«, murmelte Nana. »Schau sie dir nur an. Ganz unruhig.« »Musst du Pipi, Halo?«, fragte mich Mum. Sie hatten Recht – irgendetwas grummelte in meinem Magen, wahrscheinlich Nanas neun Tage alter Eintopf. Ich musste mir die Hand zwischen die Beine klemmen. Doch plötzlich wurde es im Hof ganz still. Es war wie eine Vorahnung. Hinter der westlichen Steinmauer verharrten die grünen Felder so hell glitzernd wie das Licht auf dem Rü-cken einer Libelle. Und Nanas Schafe mit den verschnörkel-ten Hörnern erstarrten mitten im Kauen. Ich nahm einen tiefen Atemzug dieser Stille. Dann hörte man das Brummen des Busses näher kom-men. »Da sind sie«, brummte Nana. Wir sahen, wie der Bus durch den roten Backsteintor-bogen glitt: Er war groß, und er war silbern. »Teuer«, sagte Nana. »Amerikanisch.« Er wendete, wirbelte dabei Kies auf. Wir winkten. Wie

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verrückt winkten wir und sahen dabei unsere verzogenen Spiegelbilder auf seiner silbernen Oberfläche und den getön-ten Scheiben. Wir waren Fähnchenschwenker bei einer Pa-rade von Heimkehrern, jubelten ihnen zu, und für einen Augenblick erstarrten wir so. Der Bus blieb ruckelnd stehen. Ich konnte die Hitze spüren, die er ausstrahlte, als sei er von Amerika nonstop bis hierher gefahren. Ich wurde ganz zappelig, mein Magen brannte, und ich malte mir aus, wer wohl in dem Bus sein würde, welcher Rockstar wohl erstaunt über die mustergültige Familie sein würde, die ihm da so be-geistert zuwinkte. Ich wusste, dass da gleich irgendeine Band herauswanken würde; und schon bald zum Gewieher von Ziggy und Stardust, unseren Welsh-Ponys, herumspringen würde. Vielleicht würden sie Angst vor unseren Hühnern haben oder zu stoned sein, um mit den Enten klarzukom-men, aber schon am dritten Tag würden sie fragen, ob sie reiten könnten, und unser Schwein mit Schokolade füttern. »Da kommt das Kind in ihnen zum Vorschein«, hatte mei-ne Mutter uns einmal erklärt, »denn selbst für den größten Rockmusiker ist ein Lamm ein Lamm und ein Pferd ein Pferd.« Das stimmte, und ich überlegte, ob die Band Te-quiii-la, wie alle Bands vor ihnen, auch demnächst angelaufen käme, um zu fragen, wo die Sattelkammer sei, wo sie Striegel fänden und ob es falsch sei, die Hühner mit Chips zu füttern. Vielleicht war das ebenso unabänderlich wie die Tatsache, dass ich arschwärts zur Welt gekommen war. Vielleicht war es ebenso unabänderlich wie der Schauder, der in meiner Ma-gengrube zitterte wie ein verängstigter Hund und mir prophe-zeite, dass Veränderungen auf dem Weg waren.

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Während der Bus noch brummte und meine Familie gleichzeitig tief durchatmete, sprangen die silbernen Zieh-harmonikatüren auf.

Zuallererst kam eine junge Frau zum Vorschein. Sie hielt sich am Chromgeländer fest und lächelte uns zu, und als sie von der letzten Stufe auf den Boden sprang, wirbelte sie Staub auf. Ich hob meine Hand, und sie winkte zurück. »Hey, Kleine«, begrüßte sie mich. Sie lehnte sich an das heiße Metall des Busses, winkelte ein Knie ab und stützte sich mit dem flachen Fuß an der sil-bernen Oberfläche ab. Sie trug ein langes, rotes Kleid, und ich konnte schwarze Cowboystiefel unter dem Saum hervor-blitzen sehen. Um den Bauch herum spannte es allerdings, und die Fellweste, die sie trug, war zu eng zum Zumachen. Ihr Bauch war riesig dick. Die Frau sah aus wie ein Schaf, das ich einmal auf Nana Lews Feld fast hatte platzen se- hen: Es wurde immer dicker und dicker und ächzte, bis Dad ihm schließlich mit einem Eispickel den Bauch aufstechen musste. Blähsucht, hatte unser Dad gesagt. Ich betrachtete sie und fragte mich, ob er mit ihr wohl das Gleiche machen würde. Doch dann stieß Mum mich an und flüsterte, wie unhöflich es sei, andere Leute so anzustar-ren, und dass die Frau ein Kind im Bauch habe. Aber sie war selbst nicht viel älter als ein Kind. Ich streckte meinen Bauch heraus und blies meine Backen auf. Dann schaute ich an mir hinunter und versuchte meine Füße zu sehen. In diesem Moment zuckte Vincent neben mir wie elektrisiert zusammen.

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Die acht Brüder kletterten aus dem Bus. Vincent schnappte nach Luft. Ihr Duft wehte zu uns herüber: Käsekuchen, Rauch und Erdnüsse. Sie reckten und streckten sich nach der langen Busfahrt, und wir sahen, dass die Brüder honigbraune Ge-sichter hatten und Bärte, die golden in der untergehenden Sonne schimmerten. Plötzlich erschien uns Acht eine ganz schöne Menge, wie sie so um die junge Frau herumstanden wie ein argwöhnisches Rudel, das seine Beute verteidigt. Sie hatten alle die gleichen Augen. Die Brüder waren riesig. Das Auffälligste an ihnen jedoch war ihre Kleidung. Sie trugen weiße Anzüge, die mit Bildern bestickt waren, so bunt wie die aus Mollys Kinderbüchern. Die Revers zierten rosa-rote, nackte Mädchen. An Armen und Beinen waren große Kakteenbäume zu sehen, silberne Sterne und große, weiße Perlen. Wenn die Brüder sich bewegten, schienen die Sterne zu funkeln und die Mädchen zu tanzen. Für einen kurzen Moment war meine Familie sprachlos. Einer der Brüder drehte sich um und blickte über den Hof, und ich sah, dass auf seinem breiten Rücken ein rotes Kreuz und ein galop-pierendes, schwarzes Pferd aufgenäht waren. Ich konnte das Hufgetrappel förmlich hören. Die Männer hatten Geschich-ten an, und die Brüder und die Geschichten, die sie trugen, waren wunderschön. »Da wären wir also, hm?«, sagte einer der Brüder. »Sieht so aus.« »Mann.« »Wo sind wir hier überhaupt?« Die Frau musste lachen, und die acht Brüder mit den gol-denen Bärten lachten mit ihr. Alle hatten sie sehr gute Zähne.

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»Willkommen!«, sagte Dad schließlich. »Willkommen!« Mum lächelte und streckte ihre blasse Hand aus. »Ich bin Dolly. Das ist Ivan.« Die Abendsonne drang durch ihr Käseleinenkleid. Mum machte sich nicht viel aus Unterwäsche. Ich sah, wie ein Beben durch die Män-ner ging, als sie auf sie zutrat. Sie überragten sie, und sie machten Stielaugen. Fast alle Leute starrten meine Mutter an. Die Leute hier in der Gegend sagten, Dolly Halcyon Palmer-Llewelyn – meine Mum – sehe zum Anbeißen aus. Sie sagten, sie habe Wangen so knackig wie Äpfel und Augen so braun wie Schokolade, Haare so schwarz und glänzend wie Lakritzstangen und Lip-pen so rot wie Kirschen: die üblichen Klischees eben. Sogar Nana Lew musste zugeben, dass die Wahl ihres Sohnes mit etwas Buttercreme ein wahrer Leckerbissen wäre. Das Problem war nur, dass meine Mutter manchmal von den Leuten gebis-sen wurde. Sie könnten nicht anders, behaupteten sie dann. Also beäugte ich die Brüder mit den bunt bestickten Anzügen argwöhnisch, denn Mum hatte uns von diesem Mann auf dem Campingplatz in Rhyl erzählt, der so lange an ihrem Finger geknabbert hatte, bis schließlich nach einem zu heftigen Biss Blut floss. Sie hatte uns auch von der Frau im Postamt von Lydmouth erzählt, die in der Warteschlange an ihrer nackten Schulter geschleckt hatte. »Wie ein Pferd an einem Salz-block«, hatte Mum gesagt. Ehrlich gesagt, beunruhigte mich mehr, dass meine Mutter es zuließ, wenn diese Leute sie bis-sen oder an ihr schleckten. Denn ich machte mir schreckliche Sorgen, wie lange sie halten würde. Als wäre sie ein Kuchen, eine Lasagne oder ein Stück saftige Quiche, fragte ich mich, wer wohl das letzte Stück von ihr verschlingen würde.

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Der schönste der Brüder trat einen Schritt auf sie zu. »Abra-ham Connor, Ma’am«, stellte er sich vor. Er neigte zur Begrü-ßung leicht den Kopf, aber er biss nicht zu. Mum wendete sich dem nächsten zu. »Jed Connor.« »Hale Connor.« »Caleb Connor, Ma’am.« »Jared Connor.« »Duke Connor.« »Knox Connor, Ma’am.« »Trueman Connor, Ma’am. Freue mich, Sie kennenzu-lernen.« Der Mann kicherte schüchtern. Dann hob Dad seine som-mersprossige Hand, als wolle er »halt« sagen. »Sie sind sicher erschöpft. Kommen Sie doch herein, ich zeige Ihnen alles«, sagte er. Ziggy, der noch nass war von Nanas Wasserschlauch, wie-herte von den Ställen herüber, wo er angebunden war, und die Frau entfernte sich ein paar Schritte vom Bus. »Ihr habt Pferde«, stellte sie fest, als sei dies das Natürlichste der Welt. »Wir zeigen euch erst mal die Unterkünfte. Es gibt auch bald Essen.« Mum ging in Richtung des Studios und der Gäs-tezimmer, in denen die Band schlafen würde. Ohne Wider- r ede und ohne zu zögern, folgten ihr die Brüder und meine restliche Familie. Nur die Frau blieb, wo sie war. Mit ihren kleinen Händen hielt sie sich den Bauch. »Kannst du auch reden, Kleine?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ist das deine Mama?«

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Ich nickte. »Wer ist die verrückte Frau mit den Hunden?« »Nana.« Sie schniefte geräuschvoll und starrte mich eindringlich an. Ihre Stimme klang, als würde sie Teig und Karamellbon-bons gleichzeitig kauen. »Wie heißt du?«, fragte sie. »Halo.« »Hä?« »Ich heiße Halo.« Ich winkelte mein linkes Knie nach hinten ab, hielt den Fuß mit der Hand fest und fing an zu hüpfen. Halo. Es war ein komischer Name, aber es war mein Name. Ich musste daran denken, dass manche mich auch Hey-law nann-ten. Es kam darauf an, auf welcher Seite der Grenze ich mich befand, der walisischen oder der englischen. »Komm her, Hey-law, Liebes.« Oder: »Komm her, Hah-low.« Ein Fuß hier und ein Fuß da. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer! Der Hokey-Cokey! Meine Nana Lew sagte immer, das Leben an der Grenze bedeute, dass man gleichzeitig zwei Hochzeiten feiert und doch nicht zum Tan-zen kommt. Die Frau runzelte die Stirn. »Bist du ’ne Heilige?« Eine Ente landete plätschernd auf dem Teich. »Glaubst du an Gott?« »Meine Nana hat eine Kapelle. Da auf der anderen Seite vom Weg, schau.« Ich zeigte hinüber. »Musst ja ’ne Heilige sein, bei dem Namen.« Ich wollte ihr erzählen, dass es alles Mums Idee war. Die ersten zwei Jahre meines Lebens war ich einfach nur »Baby«,

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Tiffany Murray

Lieber Gott und Otis ReddingRoman

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 448 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-40800-5

Heyne

Erscheinungstermin: Oktober 2010

Für alle Leser von Marina Lewycka und Willy Russell Es gibt sie noch, diese Romane, die einem den Glauben an das Gute in der Welt zurückgeben.In diesem Fall liegt diese Welt in Wales, wo die Familie Llewlyn zu Hause ist. Auf einemumgebauten Bauernhof namens Rockfarm, wo Bands ihre Platten aufnehmen, während dieSchweine sich im Dreck suhlen und die Oma ihren Elvis- und Johnny-Cash-Schrein pflegt.Jeden Abend beginnt die kleine Halo ihr Nachtgebet mit den Worten »Lieber Gott und OtisRedding«. Über einen Zeitraum von 30 Jahren erzählt sie die anrührende Geschichte ihrerskurrilen Familie und unmöglichen Liebe. Ein Roman, der fast zu schön ist, um wahr zu sein.