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Manfred G. Schmidt · Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.) Regieren in der Bundesrepublik Deutschland

Manfred G. Schmidt · Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.) Regieren in der … · 2013-07-23 · Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt

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Manfred G. Schmidt · Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.)

Regieren in der Bundesrepublik Deutschland

Manfred G. Schmidt Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.)

Regieren in derBundesrepublikDeutschlandInnen- und Außenpolitik seit 1949

1. Auflage November 2006

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Frank Schindler

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werkberechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen imSinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN-10 3-531-14344-1ISBN-13 978-3-531-14344-6

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt 5

Inhalt

Vorwort 9

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung seit 1949(Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer) 11

1 Klassische Politikfelder

2. Verfassungspolitik: Stabilität und permanentes Austarieren (Andreas Busch) 33

3. Entwicklung, Determinanten und Vergleich der Staatsfinanzen (Uwe Wagschal) 57

4. Innere Sicherheit und der Wandel von Staatlichkeit (Hans-Jürgen Lange) 87

5. Zwischen Kontinuität und Wandel: Migrations- und Staatsangehörigkeitspolitik (Simon Green) 113

2 Sozialstaatliche Politikfelder

6. Wenn zwei Sozialstaatsparteien konkurrieren: Sozialpolitik in Deutschland (Manfred G. Schmidt) 137

7. Gesundheitspolitik: Zielkonflikte und Politikwechsel trotz Blockaden (Nils Bandelow) 159

8. Der kurze Traum der Vollbeschäftigung: Was lehren 55 Jahre deutsche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik?(Günther Schmid) 177

9. Wohnungspolitik – von der Wohnraumzwangsbewirtschaftung zur Wohnungsmarktpolitik(Hubert Heinelt und Björn Egner) 203

10. Bildungspolitik: Föderale Vielfalt und gesamtstaatliche Vermittlung (Frieder Wolf) 221

6 Inhalt

11. Kulturpolitik: Von der staatlichen Förderungspolitik zur „Kreativwirtschaft“ (Klaus von Beyme) 243

12. Gleichstellungspolitik: neu, oktroyiert, ungeliebt? (Ilona Ostner) 263

3 Staatliche Regulierung von Wirtschaft, Infrastruktur und Umwelt

13. Vom Wirtschaftswunder zum kranken Mann Europas? Wirtschaftspolitik seit 1945 (Reimut Zohlnhöfer) 285

14. Die politische Regulierung industrieller Beziehungen (Anke Hassel) 315

15. Agrarpolitik im Umbruch: Von der Landwirtschaft zur Amtswirtschaft (Elmar Rieger) 333

16. ‚...und sie bewegt sich doch’. Der späte Bruch mit verkehrspolitischen Pfadab-hängigkeiten durch europäische Integration und nationalen Reformdruck

(Dirk Lehmkuhl) 363

17. Medienpolitik: Zwischen Politikverzicht, parteipolitischer Interessenwahrung und transnationalen Einflüssen 385

(Otfried Jarren und Patrick Donges)

18. Umweltpolitik – auf dem Wege zur Querschnittspolitik (Martin Jänicke) 405

4 Die internationale Dimension deutscher Politik

19. Die prekäre Kontinuität: Deutsche Außenpolitik zwischen Pfadabhängigkeit und Anpassungsdruck 421

(Hanns W. Maull)

20. Zwischen Multilateralismus und militärischer Zurückhaltung: die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands

(Wolfgang Wagner und Peter Schlotter) 447

21. Europapolitik als Staatsraison (Gisela Müller-Brandeck-Bocquet) 467

22. Europäisierung der deutschen Politik? (Tanja A. Börze)l 491

Inhalt 7

5 Ergebnisse und Schlussfolgerungen

23. Regieren in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 – eine Bilanz 513 (Reimut Zohlnhöfer und Manfred G. Schmidt)

Abbildungsverzeichnis 527 Tabellenverzeichnis 528

Autorenverzeichnis 529

VorwortVorwort

In diesem Buch wird die Politik in der Bundesrepublik Deutschland seit ihren Anfängen im Jahr 1949, zuweilen sogar schon seit der Besatzungszeit, untersucht. Dreierlei unterscheidet den Band von traditionelleren Bestandsaufnahmen des politischen Systems der Bundesre-publik: die systematische Analyse von Politikfeldern, die Berücksichtigung von Innen- und Außenpolitik und die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen den Inhalten und Er-gebnissen der Politik einerseits und den politischen Institutionen und Abläufen andererseits.

Die Beiträge dieses Bandes handeln von den wichtigsten Politikfeldern in der zweiten deutschen Republik. Eingeleitet werden die Abhandlungen von einer von den Bandheraus-gebern verfassten Analyse der Rahmenbedingungen politischer Willensbildung und Ent-scheidungsprozesse. Dieses Kapitel erläutert das Spielregelwerk und die Handlungskorrido-re, mit und in denen seit 1949 Politik in der Bundesrepublik Deutschland gemacht wird, und erörtert die eigentümliche institutionelle Konfiguration, die Regieren in Deutschland zu einem besonders aufwändigen, meist mit hohen Entscheidungskosten verknüpften Unter-fangen macht.

Die nachfolgenden Politikfeldanalysen – allesamt von namhaften Experten verfasst – sind in vier Abteilungen gegliedert. Klassische Staatsaufgaben – von der Verfassungspoli-tik über Staatsfinanzen und Fragen der Inneren Sicherheit bis zur politischen Steuerung der Migration und Staatsangehörigkeit – werden zunächst analysiert. In der zweiten Abteilung werden sozialstaatliche Politikfelder porträtiert – dem Finanzvolumen nach diejenigen Felder, die rund zwei Drittel aller öffentlichen Ausgaben beanspruchen. Hier reicht der Bogen von der Politik der sozialen Sicherung über die Gesundheits-, die Beschäftigungs- und die Wohnungspolitik bis zur Bildungs- und Kulturpolitik und zur Gleichstellungspoli-tik. Von der staatlichen Regulierung von Wirtschaft, Infrastruktur und Umwelt berichten die Beiträge zur dritten Abteilung: die Wirtschaftspolitik, die politische Steuerung der Ar-beitsbeziehungen, die Agrar- und Verkehrspolitik sowie die Medien- und die Umweltpoli-tik sind ihre Themen. In der vierten Abteilung erfolgt ein Perspektivwechsel: Er rückt die internationale Dimension der Politik in der Bundesrepublik Deutschland ins Zentrum – und zwar von der klassischen Außenpolitik über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik bis zur Europapolitik und zur Frage der Europäisierung der deutschen Politik. Eine Bilanz des Tuns und Lassens der Bundesregierungen durch die Herausgeber rundet den Band ab.

Herausgeber und Autoren von Regieren in der Bundesrepublik Deutschland waren bemüht, einen integrierten Sammelband vorzulegen – an Stelle einer Sammlung von nur lose miteinander verknüpften Beiträgen. Zusammengehalten werden die Beiträge durch die Klammer von gemeinsamen Fragestellungen, die allesamt auf politikwissenschaftlich oder außerwissenschaftlich-politisch besonders wichtige Themen zielen:

Inwieweit, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaße wirken die politi-schen Parteien auf die Politikfelder ein, und welche Spuren hinterlässt die jeweilige parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen? Diese Frage zielt auf den Kern der Parteiendifferenzlehre, der zufolge Unterschiede der parteipolitischen Zusammen-setzung von Regierungen signifikante Unterschiede in der Politik (im Sinne von poli-

10 Vorwort

cy, also von Gestaltung oder verbindlicher Entscheidung, oder von policy output) ma-chen.Inwieweit, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaße wirken politisch-institutionelle Konstellationen als bremsende und als ermöglichende Bedingungen auf den Inhalt der Politik ein? Diese Frage zielt auf die Anwendbarkeit der institutionalis-tischen Theorien für die Politikfeldanalyse in der Bundesrepublik. Welchen Effekt hat die deutsche Einheit auf die verschiedenen Politikfelder? Diese Frage adressiert die Wirkungen, Nebenwirkungen und Langfristfolgen der deutschen Einheit, die in Form einer „big bang unification“ vollzogen worden war. Und inwieweit, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß wirkt die inter-nationale Dimension deutscher Politik, insbesondere die europäische Einigung, auf Form und Inhalt der nationalstaatlichen Politik zurück? Diese Fragestellung zielt auf die Politik im Rahmen der komplexen Architektur eines Mehrebenensystems, das im Falle der Bundesrepublik Deutschland nicht nur zwei Ebenen – die europäische und die nationalstaatliche – umfasst, sondern aufgrund der föderalistischen Gliederung und aufgrund der Struktur des delegierenden Staates obendrein die Selbstverwaltung bzw. die mittelbare Staatsverwaltung (wie im Falle der Sozialversicherungen) als weitere Ebenen enthält.

Die Idee zu dem vorliegenden Sammelband entstand vor rund zweieinhalb Jahrzehnten. Sie stammt aus der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Ihren Niederschlag fand sie zunächst in dem von Klaus von Beyme und Manfred G. Schmidt editierten Werk Policy and Politics in the Federal Republic of Germany (1985) und fünf Jahre später in der von denselben Herausge-bern editierten grundlegend überarbeiteten und erweiterten Fassung Politik in der Bundes-republik Deutschland (1990). Mit dem hier vorgelegten Werk, das vollständig neu konzi-piert wurde, erneut gegenüber dem Vorgänger umfangreicher geraten ist und die Brücke zwischen Innen- und Außenpolitikforschung schlägt, soll die Art der Berichterstattung der erwähnten Sammelbände weitergeführt und auf den neuesten Sach- und Forschungsstand gebracht werden. In zeitlicher Hinsicht endet die Berichterstattung dieses Bandes mit dem Ende der 15. Legislaturperiode im Herbst 2005, also mit dem Ende der rot-grünen Bundes-regierung und dem Regierungswechsel zur zweiten Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD.

Der Dank der Herausgeber gilt zunächst den Autoren für die insgesamt unkomplizierte und konstruktive Zusammenarbeit. Bei der Korrektur der Manuskripte war darüber hinaus Andreas Pesch, M.A. eine unschätzbare Hilfe, wofür wir ihm ebenfalls ganz herzlich dan-ken.

Heidelberg, im Juli 2006

Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 11

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

1 Einleitung

Politik wird nicht unter frei gewählten Bedingungen gemacht, sondern im Rahmen vorge-fundener Spielregeln und in Handlungskorridoren, die Entscheidungen zwar nicht determi-nieren, sie aber beeinflussen. Dieses Kapitel soll die Spielregeln und Handlungskorridore, mit und in denen seit 1949 Politik in der Bundesrepublik Deutschland gemacht wird, erläu-tern. Dabei steht, wie in allen Beiträgen zu diesem Sammelband, die Politik auf Bundes-ebene im Zentrum. Für sie ist, wie der nächste Abschnitt verdeutlicht, eine politische Insti-tutionenordnung charakteristisch, die den Bundesregierungen mehr Beschränkungen bei der Formulierung und Durchsetzung ihrer Politik auferlegt als die politischen Systeme der meisten anderen westlichen Demokratien. Der Zwang zur Bildung von Koalitionsregierun-gen, der Föderalismus, die Gesetzgebung des machtvollen Bundesrates, das einflussreiche Bundesverfassungsgericht und der „delegative Staat“, in dem viele Aufgaben von unabhän-gigen Einrichtungen, beispielsweise einer weisungsunabhängigen Zentralbank, übernom-men werden, engen den Handlungsspielraum der Bundesregierungen drastisch ein. Ferner erzwingen das Mit- und Gegeneinander von Parteienwettbewerb und Bundesstaat bei gro-ßen Politikänderungen Kompromisse in einem solchen Ausmaß, dass von einem „Staat der Großen Koalition“ gesprochen werden kann (Schmidt 2002). Die so aneinander geketteten „Koalitionäre“ streben meistens auseinander, zielen doch beide große Parteien auf eine hegemoniale Position im politischen Prozess und darauf, sich durch kampfbetonte Konfron-tation vorteilhaft von der Konkurrenz abzuheben. Die gegensätzlichen Handlungslogiken des kompetitiven Parteienwettbewerbs, in dem das Mehrheitsprinzip dominiert, und des auf kooperative Problemlösung angewiesenen hoch verflochtenen Bundesstaates erzeugt, wie Gerhard Lehmbruch (2000) überzeugend dargelegt hat, ein folgenreiches instabiles Mit- und Gegeneinander von Konfliktregelungsmustern im politischen System der Bundesrepu-blik Deutschland. Diese konfrontieren den politischen Willensbildungs- und Entschei-dungsprozess mit widersprüchlichen Anforderungen und stellen die Politikformulierungs-fähigkeit vor hohe Hürden. Davon handelt der dritte Abschnitt des vorliegenden Beitrages. Im darauf folgenden Abschnitt werden die intermediären Verbände und Medien und ihre Rolle für die Politikformulierung diskutiert, ehe im fünften Abschnitt auf die deutsche Ein-heit eingegangen wird, die sowohl institutionell als auch in materieller Hinsicht in den meisten Politikfeldern große Auswirkungen hat. In den beiden abschließenden Abschnitten werden die außenpolitischen und europäischen Handlungsschranken der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik erkundet.

12 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

2 Das Institutionensystem

Das Spielregelwerk der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung ist in der Bundesrepublik Deutschland oft korrigiert, aber kaum grundlegend geändert worden. Un-geachtet aller Verfassungsrevisionen blieben grundlegende Bestimmungen der Staatsver-fassung konstant. Die Staatsverfassung Deutschlands, so wie sie im Grundgesetz festge-schrieben ist, schreibt einen Bundesstaat mit Ewigkeitsgarantie vor, ferner eine grund-rechtsbasierte Demokratie, einen Rechtsstaat, die Republik, einen „offenen Staat“ ein-schließlich der Europaoffenheit, und sie verpflichtet die Verfassungsorgane auch auf ein „soziales Staatsziel“ (Zacher 2004).

Auch um das Wahlrecht, um ein weiteres Spielregelwerk von fundamentaler Bedeu-tung zu erwähnen, gab es zwar insbesondere bis zur zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Reformdebatte, aber auf die Einführung des Mehrheitswahlrechtes konnte sich auch die Große Koalition der Jahre von 1966 bis 1969 nicht einigen. Seither ist das Thema der Wahlrechtsreform von der Agenda fast vollständig verschwunden. Daher bestanden die Bundesregierungen in der Regel aus Koalitionen von zwei oder mehr Parteien. Sogar als die CDU/CSU 1957 als erste und einzige Partei auf Bundesebene eine absolute Mehrheit der Stimmen erreichte, mochte sie nicht auf die Deutsche Partei als Koalitionspartner ver-zichten. Die Existenz von Koalitionsregierungen wiederum macht es einer Partei in der Regel aber schwer oder gar unmöglich, ihre Reformvorstellungen vollständig umzusetzen, weil sie dazu die Zustimmung eines Vetospielers benötigt, die ihres Koalitionspartners, der häufig andere programmatische Vorstellungen pflegt und eine andere Wählerklientel zu bedienen hat.

Auch das Bundesverfassungsgericht, das auf der Grundlage des Bundesverfassungsge-richtsgesetzes vom 12.3.1951 seine Tätigkeit im September des gleichen Jahres aufnahm, gehört zu den zentralen Mitwirkenden in der Politik in Deutschland. Seine Kompetenzen „gehen über alle vergleichbaren Systeme der Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus“ (von Beyme 2004: 372), und es hat seinen Spielraum nicht selten durch selbstbewusste Ausle-gung von Befugnissen mitunter beträchtlich erweitert. Auf den politischen Prozess wirkt das Bundesverfassungsgericht auf zweierlei Arten ein, nämlich erstens, indem es Normen unmittelbar beanstandet oder sie verfassungskonform interpretiert. So erklärte das Gericht zwischen 1951 und dem 31.12.2005 417 Gesetze oder Normen des Bundes sowie 164 Ge-setze oder Normen der Bundesländer für teilweise oder ganz nichtig oder mit dem Grund-gesetz unvereinbar.1 In der Folge konnten diese Normen nicht mehr angewendet und muss-ten ersetzt werden. Darüber hinaus ist zweitens zu beachten, dass bereits die Möglichkeit eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht so etwas wie vorauseilenden Gehor-sam des Gesetzgebers zu erzwingen scheint. Die Neigung, völlig neue Politiken auszupro-bieren, dürfte zumindest beeinträchtigt werden, wenn hier die Gefahr als besonders groß eingeschätzt wird, vor dem Verfassungsgericht zu scheitern. Dies kann einer „eingebauten Handlungsbremse“ gleichkommen, die zu Entscheidungsschwäche und Innovationsscheu führt (so Abromeit 1995: 60). Insofern kann das Verfassungsgericht als ein Hindernis für die Durchsetzbarkeit größerer Reformen wirken, wenngleich es zuweilen auch als „Reform-erzwinger“ fungiert und auf diese Weise eine mögliche Reformblockade verhindert.

1 Daten nach http://www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/gb2005/A-VI.html (Zugriff 4.5.2006).

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 13

Abbildung 1.1: Anteile der Gebietskörperschaften am Gesamtsteueraufkommen, 1950-2004

Anmerkungen: Rechnerische Aufteilung; Angaben bis 1990 alte Bundesländer inkl. Berlin (West), ab 1991 Deutschland; Länderanteil (ab 1974 nach Ergänzungszuweisungen) ohne Gemeindesteuern der Stadtstaaten. Quelle: BMF, Referat I A 6.

Auch die Bedeutung unabhängiger Gremien und Selbstverwaltungseinrichtungen, an die die Erfüllung bestimmter Aufgaben delegiert ist, schränkt den Handlungsspielraum der Regierungen im Bund und in den Ländern ein. Beispiele sind neben der Tarifautonomie, welche die Lohnpolitik und die Regelung der Arbeitsbedingungen in die Hände der Arbeit-nehmer- und Arbeitgebervertretungen legt, die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung und bei der Bundesanstalt bzw. seit 2004 Bundesagentur für Arbeit sowie in den 1990er Jahren die Treuhandanstalt zur Privatisierung des volkseigenen Vermögens der vormaligen DDR (vgl. Katzenstein 1987 sowie Busch 2005). Im Bereich der Wirtschaftspolitik ist eine weitere von der Bundesregierung unabhängige Institution von großer Bedeutung, nämlich die Zentralbank. Aufgrund der Unabhängigkeit der Bundesbank und ihrer Vorgängerinstitu-tionen war die Geldpolitik, und damit ein zentraler Parameter staatlicher Wirtschaftspolitik, dem Zugriff der Bundesregierungen entzogen. Die rechtliche und politische Unabhängig-keit der Bundesbank war im internationalen Vergleich ausgesprochen hoch und als ihr zentrales Ziel war die „Sicherung der Währung“ im Bundesbankgesetz verankert – ein Ziel, das die Bundesbank so erfolgreich verfolgte, dass Deutschland zwischen 1965 und 2000 das Land mit der niedrigsten Inflationsrate in der OECD war. Zwar sollte die Bundesbank „unter Wahrung ihrer Aufgabe die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung“ unterstützen (§12 Bundesbankgesetz), doch konnte die Bundesregierung diese Unterstüt-zung ihrer Politik nicht erzwingen (vgl. ausführlicher Wagschal 2001b). Dies führte wie-

14 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

derholt zu erheblichen Konflikten zwischen beiden Entscheidungsträgern, bei denen sich meist die Bundesbank durchsetzen konnte, die es so der Bundesregierung mitunter unmög-lich machte, ihre eigenen Ziele zu erreichen.

Abbildung 1.2: Anteil der Zustimmungsgesetze

Quelle: Schindler 1999: 2430f.; eigene Ergänzungen.

Ihre Unabhängigkeit hat die Bundesbank seit dem 1.1.1999 allerdings eingebüßt, da sie nun vollständig in das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) integriert ist. Die Mög-lichkeiten der Bundesregierung, die Geldpolitik zu beeinflussen, sind durch diesen Über-gang aber keineswegs größer geworden: Die rechtliche Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und des ESZB ist eher noch größer als die der Bundesbank, und die Geldpoli-tik muss sich nun an den Bedürfnissen des gesamten Euro-Raumes und nicht allein an de-nen der Bundesrepublik orientieren. Daher ist festzuhalten, dass die Bundesregierung auf eine eigenständige Geldpolitik auch in Zukunft wird verzichten müssen.

Besonders folgenreich für die Politikgestaltung in der Bundesrepublik ist schließlich der Föderalismus. Die Politikwissenschaft charakterisiert den deutschen Föderalismus mit dem Begriff der „Politikverflechtung“ (Scharpf et al. 1976). Damit ist gemeint, dass die meisten öffentlichen Aufgaben nur in Zusammenarbeit zwischen Zentralstaat und Glied-staaten (oder zwischen den Gliedstaaten) wahrgenommen werden können. Anders als die meisten übrigen Bundesstaaten ist der deutsche Föderalismus weniger durch die Verteilung der Aufgabenbereiche zwischen Bund und Gliedstaaten gekennzeichnet als durch „die funktionale Differenzierung nach Kompetenzarten“ (v. Beyme 2004: 348). Während dem Bund – bei gesicherter Mitwirkung der Länder – bis auf wenige Ausnahmebereiche (Bil-dung, Medien, Polizei und seit der Föderalismusreform 2006 unter anderem die Besoldung und Versorgung der Landesbeamten) die Gesetzgebungskompetenz übertragen ist, obliegt den Ländern und Gemeinden weitgehend die Verwaltung.

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 15

Tabelle 1.1: Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat (September 1949- Juni 2006)

Monate In Prozentaller Monate

In Prozent der jewei-ligen Kanzlerschaft

Gleichförmige Mehrheiten für CDU/CSU-geführte Regierunga

156 22,9 39,0

Gegenläufige Mehrheiten für CDU/CSU-geführte Regierunga

244 35,8 61,0

Große Koalition (gleich-förmige Mehrheit) 42 6,2 100Gegenläufige Mehrheiten für SPD-geführteRegierung

229 33,6 95,4

Gleichförmige Mehrheiten für SPD-geführteRegierung

11 1,6 4,6

Summe 682 100 a: ohne Große Koalition Quelle: Wagschal (2001a: 873), eigene Aktualisierung.

Der Verflechtungscharakter des deutschen Föderalismus ist im Zeitverlauf vor allem bei der Gesetzgebung sowie der Ressourcenverteilung innerhalb des Bundesstaates noch ausgebaut worden – erst mit der Föderalismusreform in der 16. Wahlperiode könnte erstmals ein nen-nenswerter Schritt in Richtung einer Entflechtung wenigstens im Bereich der Gesetzgebung stattfinden. Entsprechend sind die Abschnitte VII (Gesetzgebung) und X (Finanzwesen) auch die beiden mit Abstand am häufigsten geänderten Teile des Grundgesetzes (Busch i.d.B.). Beim Finanzwesen zeigt sich, dass erstens der Anteil am Steueraufkommen, den die Gemeinschaftssteuern, die zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt werden, ausmachen, durch die Finanzreform 1969 deutlich zunahm und dass zweitens die relative Finanzausstattung des Bundes seit den 1950er Jahren erheblich abgenommen hat (vgl. Abb. 1.1): Sein Anteil am Gesamtsteueraufkommen lag im Jahr 2004 noch bei 42,2 Prozent, während er bis 1970 noch deutlich über 50 Prozent betragen hatte. Umgekehrt konnten die Länder im gleichen Zeitraum ihren Anteil von gut 30 Prozent (und unter 25 Prozent Mitte der 1950er Jahre) auf über 40 Prozent ausbauen.

Ließe sich aus diesen Zahlen eine gewisse Dezentralisierungstendenz ableiten, ist im Bereich der Gesetzgebung ein entgegen gesetzter Trend festzustellen. Insbesondere durch die häufige Anpassung der Gesetzgebungskataloge zu konkurrierender sowie ausschließli-cher Bundesgesetzgebung wurden die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im Laufe der Zeit immer stärker auf Kosten der Länder ausgeweitet. Die Länderregierungen erhielten im Gegenzug dafür stärkere Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte über den Bundesrat. Entsprechend stieg der Anteil der Zustimmungsgesetze, der in der 1. Wahlperiode noch bei knapp 42 Prozent gelegen hatte, bereits in der 3. Wahlperiode über die 50-Prozent-Marke und pendelte anschließend zwischen mehr als 50 und knapp 60 Prozent (Abb. 1.2).

16 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

Abbildung 1.3: Anteil der Anrufungen des Vermittlungsausschusses an den vom Bundestag verabschiedeten Gesetzen

Quelle: eigene Berechnungen nach Feldkamp 2006 und Ziller 2006.

Die – im Vergleich zu den Erwartungen des Parlamentarischen Rates – weit höhere Zahl von Zustimmungsgesetzen bekam zusätzliche Brisanz dadurch, dass Regierungen in gerade einmal 30 Prozent der Zeit seit 1949 auf eine eigene Mehrheit im Bundesrat zurückgreifen konnten (Tab. 1.1). Zudem mussten die Bundesregierungen in einem Viertel der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik sogar mit Bundesratsmehrheiten zurechtkommen, die aus-schließlich von Oppositionsparteien gestellt wurden, in denen es der Bundesregierung also nicht mehr reichte, die Stimmen „gemischt“ regierter Länder zu gewinnen, um sich eine Bundesratsmehrheit zu sichern (vgl. Wagschal 2001a: 872f.). Dies hatte erhebliche Aus-wirkungen auf den politischen Prozess, wie sich am Anteil der vom Bundestag verabschie-deten Gesetze, zu denen der Vermittlungsausschuss angerufen wurde, ablesen lässt (Abb. 1.3). Diese Anrufungsquote schnellte bei gegenläufigen Mehrheiten in Bundestag und Bun-desrat, wie sie in der siebten bis neunten und wieder in der 13. und 15. Legislaturperiode herrschten, massiv in die Höhe: Durchschnittlich wurde in diesen Phasen zu rund jedem fünften Gesetz der Vermittlungsausschuss angerufen.

3 Parteienwettbewerb im Bundesstaat

Gegenläufige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zeitigen unter sonst gleichen Bedin-gungen besonders gravierende Effekte, wenn die Positionen der beteiligten Akteure weit auseinander liegen. Misst man die programmatischen Positionen der Parteien auf der Links-Rechts-Skala mittels quantitativer Analysen von Wahlplattformen (Abb. 1.4),2 zeigt sich, 2 Die Werte können variieren zwischen +100 (extrem rechtes Programm) und -100 (extrem linkes Programm). Die Daten sind entnommen aus Budge et al. 2001. Andrea Volkens (WZB) ist dafür zu danken, dass sie uns die Daten für die Bundestagswahl 2002 zur Verfügung gestellt hat.

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 17

dass die großen Parteien gegen Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre sowie wiederum Mitte der 1990er Jahre, also zu den Zeiten, als die Opposition über eine eigene Mehrheit im Bundesrat verfügte, relativ weit voneinander entfernt waren, während sich ihre Positionen beispielsweise in den 1960er Jahren stark annäherten, so dass die Große Koaliti-on von 1966 bis 1969 geradezu folgerichtig war. Bei aller Vorsicht, mit der man den Daten, die mit solchen qualitativen Inhaltsanalysen gewonnen werden, begegnen sollte, zeigt sich hier doch, dass sich die Parteien bei gegenläufigen Mehrheiten keineswegs immer leicht getan haben werden, Kompromisse zwischen Bundestag und Bundesrat zu finden, die für beide Seiten programmatisch akzeptabel waren. Andererseits kann festgehalten werden, dass sich die Politikprofile der Volksparteien während des größeren Teils der Zeit so weit voneinander unterschieden, dass parteipolitische Differenzen bei der Staatstätigkeit prinzi-piell erwartet werden können.

Neuere, auf Expertenbefragungen beruhende Messungen der unterschiedlichen Policy-Positionen der deutschen Parteien durch Michael Laver und andere unterstreichen diesen Befund. Besonders große Differenzen zwischen den Parteien ergeben sich beispielsweise bei der Wahl zwischen Steuererhöhungen oder Kürzungen öffentlich finanzierter Leistun-gen, bei Fragen libertärer oder konservativer Regelung von Streitfragen wie Abtreibung, bei der Inkaufnahme von oder Gegnerschaft zu Zielkonflikten zwischen Umweltschutzpolitik und Wirtschaftswachstumsförderung oder auch beim Grad der Liberalisierung von Migrati-onsregelungen, um nur die wichtigsten Beispiele zu erwähnen.3

Abbildung 1.4: Links-Rechts-Position der wichtigsten Parteien seit 1949

Quelle: Budge et al. 2001. 3 Diese bislang unveröffentlichten Daten wurden uns dankenswerter Weise von Kenneth Benoit und Michael Laver zur Verfügung gestellt.

18 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

Das Problem der gegenläufigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat wurde durch die Entwicklung des Parteiensystems allerdings noch verschärft. Gerhard Lehmbruch (2000: 41) nennt Kurt Schumachers Entscheidung, die SPD 1947 im Wirtschaftsrat der Bizone in die Opposition zu führen – und Konrad Adenauers Verzicht auf die Unterstützung der So-zialdemokraten – zu Recht „die entscheidende strategische Weichenstellung hin zur dualis-tischen ‚Polarisierung’ des Parteiensystems“. Im Gegensatz zur Weimarer Zeit (und bei-spielsweise auch zum benachbarten Österreich, wo bis 1966 eine Große Koalition regierte) strebten die Vorsitzenden beider großen Parteien schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr starke Koalitionen der Mitte an, sondern versuchten, die Macht unter Aus-schluss der jeweils anderen Partei auszuüben und die Regierung mit einer möglichst kleinen Koalition zu erlangen, in der sie hegemonial agieren konnten (Lehmbruch 2000: 37). Dabei spielten keineswegs nur programmatische Motive eine Rolle – mindestens ebenso wichtig dürften hier strategische und machtpolitische Interessen gewesen sein.

Dieses Muster setzte sich auf Bundesebene bereits nach der ersten Bundestagswahl 1949 mit der Bildung der „kleinen“ Koalition bürgerlicher Parteien unter Adenauer durch und wurde durch die Konzentrationstendenzen im Parteiensystem, die 1961 neben den beiden Volksparteien nur noch die FDP übrig gelassen hatten, erheblich stabilisiert. Der Parteienwettbewerb auf Länderebene wurde durch die Polarisierung zwischen den beiden großen Parteien ebenfalls geprägt; allerdings dauerte die Durchsetzung dieses Musters dort länger. In den 1950er und 1960er Jahren gab es auf Landesebene noch eine Vielzahl von Regierungen, die nicht dem Bonner Koalitionsmuster entsprachen, die letzten Großen Koa-litionen vor der Wiedervereinigung beispielsweise gingen erst 1970 in Niedersachsen und 1972 in Baden-Württemberg auseinander (vgl. den Überblick über die verschiedenen Län-derkoalitionen bis 1990 bei Schüttemeyer 1990). Dies hatte für den Konfliktaustrag im Bundesrat erhebliche Auswirkungen, da sich Bundesregierungen in den 1950er und – so-weit nötig – den 1960er Jahren noch Bundesratsmehrheiten durch Kompromisse mit ge-mischt regierten Ländern suchen konnten, die zumindest kein strategisches Interesse am Scheitern der Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat hatten. Seit den 1970er Jahren sind dagegen immer wieder parteipolitisch motivierte Blockaden im Bundesrat be-hauptet worden, die sich aber nur dann wirksam durchsetzen lassen, wenn die Bundestags-opposition allein die Mehrheit im Bundesrat kontrolliert.

Die neuerlich wachsende Koalitionsvielfalt auf Länderebene seit der Wiedervereini-gung änderte an diesen Entwicklungen überraschend wenig. Zwar kann eine pivotale Posi-tion gemischt regierter Länder im Bundesrat den Handlungsspielraum der Bundesregierung vergrößern, wie insbesondere die erste Regierung Schröder bewies (Zohlnhöfer 2003b: 412). Da es SPD und Grünen jedoch 1996 und Union und FDP 2002 jeweils gelang, eigene Oppositionsmehrheiten im Bundesrat zu erlangen, war diese Flexibilitätsreserve des politi-schen Systems schon bald nicht mehr verfügbar.

Auch die neuerliche Fragmentierung des Parteiensystems seit den 1980er Jahren wirk-te der beschriebenen Polarisierung nicht entgegen, verstärkte sie gelegentlich sogar. Seit die SPD die Grünen als Koalitionspartner akzeptiert hat, ist das deutsche Parteiensystem auf Bundesebene symmetrisch bipolar. Damit konkurrieren nun prinzipiell zwei Parteienblöcke gegeneinander. In den 1960er Jahren wurde ein Regierungswechsel nur möglich durch den Übertritt einer bisherigen Regierungspartei zur Opposition, die dann gemeinsam eine neue Koalition bildeten. Dies bot gelegentlich Anreize zur programmatischen Anpassung und partiellen Kooperation. Das bipolare Parteiensystem dagegen ermöglicht „vollständige“

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 19

Machtwechsel durch Wahlen, so dass die Opposition nur noch geringeres Interesse an einer Annäherung an die Positionen der Regierung und an einer möglichen Kooperation hat (vgl. hierzu Zohlnhöfer 2004). Ein „vollständiger Machtwechsel“ erfordert allerdings einen Par-teienblock, der die „Kanzlermehrheit“ hat, also über die absolute Mehrheit der Bundestags-sitze verfügt. Doch das ist nicht notwendig der Fall, wie die Bundestagswahl 2005 lehrt, in der weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb eine Mehrheit gewinnen konnten.

Die Polarisierung des Wettbewerbs um Wählerstimmen dürfte aber auch abseits des Bundesrates erheblichen Einfluss auf die Willensbildungsprozesse ausgeübt haben, zumal die Parteienkonkurrenz durch die häufigen Landtagswahlen noch intensiviert wird, die jeweils über die Zusammensetzung des Bundesrates mitbestimmen und gleichzeitig häufig als Stimmungstests für die Bundespolitik gewertet werden (Decker/v. Blumenthal 2002; Burkhart 2005). Unter den Bedingungen eines derart intensiven Parteienwettbewerbs wer-den Parteien versuchen, zunächst nur mäßige Veränderungen durchzusetzen, so dass zu-mindest in wahlpolitisch wichtigen Politikfeldern nur selten mit einer „Politik aus einem Guss“ gerechnet werden darf (vgl. ausführlicher Zohlnhöfer 2003a: 54-57).

4 Intermediäre Instanzen: Verbände und Medien

Verbände spielen für die Staatstätigkeit in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle, sind sie doch in vielfältiger Weise in die Politikformulierung und -implementation eingebunden. Das gilt insbesondere für die Sozialpartner, die beispielsweise in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung eine maßgebliche Rolle spielen und die alleinige Verantwortung für die Tarifpolitik übertragen bekommen haben. Gleichwohl blieb die Inkorporierung der Sozial-partner in die Politikformulierung meist sektoral beschränkt, eine Makrokoordinierung beispielsweise der Wirtschaftspolitik mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wurde nur phasenweise (in der „Konzertierten Aktion“ von 1967-1976 sowie im „Bündnis für Arbeit“ 1996 sowie während der ersten rot-grünen Bundesregierung) und mit begrenztem Erfolg versucht (Weßels 1999).

Weitet man den Blick über die Wirtschafts- und Sozialpolitik hinaus, ergibt sich ein sehr differenziertes Bild der Einflussmuster von Verbänden auf die Politikformulierung. Klaus von Beyme (1997: 219ff.) beispielsweise fand bei einer Analyse von 110 Schlüssel-entscheidungen aus praktisch allen Politikfeldern zwischen 1949 und 1994 sechs verschie-dene Strukturen von Interessenkonflikten:

1. In 9,1 Prozent der Fälle, häufig in der Steuerpolitik, standen sich Kapital und Arbeit im symmetrischen Korporatismus gegenüber.

2. In 16,4 Prozent der Fälle, meist im Bereich der Arbeitsmarkt- oder Investitionspolitik, dominierten entweder Kapital oder Arbeit im asymmetrischen Korporatismus.

3. In einem knappen Viertel der Fälle (23,6 Prozent) trat ein korporativer Dualismus plus statuspolitischem Pluralismus auf. Dieser Typ ist durch Interventionen von Kapital und Arbeit sowie zusätzlich von statuspolitischen Gruppen gekennzeichnet und kommt beispielsweise in der Sozial- oder Gesundheitspolitik vor.

4. Fast ebenso häufig (22,7 Prozent) war ein Oligopol von Statusgruppen zu beobachten, bei dem nur eine oder wenige Statusgruppen dominierten, wie etwa der Bauernver-band in der Agrarpolitik.

20 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

5. In nur 12,7 Prozent erkennt von Beyme das Muster eines erweiterten – oder „echten“ –Pluralismus, bei dem viele Gruppen um Einfluss ringen. Er tritt am ehesten in der Rechtspolitik auf.

6. Etwas häufiger (15,5 Prozent) und vornehmlich in der Umwelt- und Rechtspolitik kommt ein Pluralismus bei Dominanz der ideellen Fördererverbände vor, bei dem viele Gruppen konkurrieren, ideelle Fördererverbände aber dominieren.

Die Bedeutung einer zweiten Instanz, die zwischen Bürgern und politischem System ver-mittelt, nämlich der Massenmedien, wird bei der Erkundung der Determinanten der Staats-tätigkeit bislang weitgehend außer Betracht gelassen. Das hat zu einem erheblichen Teil mit der Schwierigkeit zu tun, Medieneinflüsse auf politische Entscheidungen methodisch sau-ber herauszufiltern. Angesichts der wichtigen Position, die die Massenmedien, und dabei insbesondere das Fernsehen, als Informationsquelle der Bürger über politische Vorgänge einnehmen, liegt es jedoch nahe, von solchen Wirkungen auszugehen. Insbesondere die Rolle des Fernsehens bei der Politikvermittlung hat in der Geschichte der Bundesrepublik massiv an Bedeutung gewonnen. Mussten die Bürger bei der Gründung der Bundesrepublik noch mit Zeitungen und Radio auskommen, stehen ihnen inzwischen mehr als 30 Fernseh-sender zur Verfügung, die sie durchschnittlich über drei Stunden täglich konsumieren. Sie werden laut Umfragen von der großen Mehrheit der Bürger als Hauptinformationsquelle genutzt, und insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird für sehr glaubwürdig gehalten (vgl. Meyn 2004).

Es lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden, wie Medien auf Politik Ein-fluss nehmen können. Zum einen können die Medien direkt wirken, beispielsweise da-durch, dass sie bestimmte Themen auf die politische Agenda setzen. Ebenso können be-stimmte Lösungen eines bereits diskutierten Problems oder bestimmte Politiker oder Partei-en medial favorisiert werden, und Medien können den Rahmen für die Deutung und Bedeu-tung von Sachverhalten liefern. Dass schließlich ein von den Medien geschaffenes oder doch verstärktes Meinungsklima im Zusammenspiel mit den Wiederwahlinteressen von Politikern Entscheidungen beeinflussen kann, ist zumindest plausibel.

Von diesen direkten Effekten lassen sich indirekte unterscheiden, die daraus resultie-ren, dass die politischen Akteure von einem wichtigen Einfluss der Medien auf die öffentli-che Meinung ausgehen und sich deshalb der Logik der Medien unterwerfen, deren zentrales Selektionskriterium der Nachrichtenwert ist. Insbesondere das Hinzukommen von privaten Rundfunksendern seit den 1980er Jahren dürfte den Wettbewerb um Einschaltquoten zwi-schen den Fernsehanstalten verschärft haben, was in der politischen Berichterstattung häu-fig zu „Infotainment“, also der Vermischung von politischen Informationen mit Unterhal-tungselementen, geführt haben dürfte. Dies führt, so etwa Meyers (2002: 100) These, „zu einer Vermehrung und Forcierung der Möglichkeiten zu symbolischer Scheinpolitik und theatralischer Politikinszenierung“. Gleichzeitig verkürzen die Medien den – ohnehin kur-zen – Zeittakt der Demokratie noch weiter und tragen so das ihre zur Atmosphäre eines Dauerwahlkampfes bei. Die Orientierung am Nachrichtenwert prämiert weiterhin eine gewisse Sprunghaftigkeit in der Politikformulierung, da in erster Linie Neues die für Politi-ker lebensnotwendige Publizität verschafft. Schließlich erzeugt die Dominanz der Medien in der politischen Kommunikation einen Zwang zur Verkürzung und Vereinfachung, der den tatsächlichen Handlungsnotwendigkeiten nicht angemessen sei. Eine Maßnahme, die

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 21

den „Dan-Rather-Test“4 nicht besteht, also nicht von einem Journalisten in höchstens fünf-zehn Sekunden erklärt werden kann, finde kaum mediale Beachtung, was für politische Akteure, die aus wahlpolitischen Gründen auf hohe Publizität angewiesen sind, kaum att-raktiv ist. Daher wird beispielsweise von Meyer (2002) die Gefahr gesehen, dass die Lö-sung drängender Probleme zu Gunsten von Schau- und Symbolpolitik zurückgestellt wird.

5 Wiedervereinigung

Die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokrati-schen Republik am 3. Oktober 1990 war sicherlich der folgenreichste Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik. Obwohl das westdeutsche politische System und das Recht der alten Bundesrepublik fast vollständig in die neuen Bundesländer transferiert wurden (Lehmbruch 1991) und das Regierungssystem auf den ersten Blick zwar erweitert, aber sonst unverändert erschien, wurde in den folgenden Jahren deutlich, dass die Vereinigung ganz erhebliche Veränderungen induziert hatte. Im föderalen System beispielsweise waren nicht nur fünf bzw. sechs Länder hinzugekommen, sondern die ökonomische, aber auch die sozio-kulturelle Heterogenität war sprunghaft gewachsen, und die Anzahl ärmerer Bundes-länder war signifikant gestiegen – mit erheblichen Folgen beispielsweise für den horizonta-len und vertikalen Finanzausgleich (vgl. ausführlich Wachendorfer-Schmidt 2003). Die politische Kultur in beiden Landesteilen unterscheidet sich mitunter ganz erheblich, so in der Einschätzung von Demokratie, deren Funktionieren im Osten viel kritisch-distanzierter als im Westen gesehen wird, und der Rolle des Wohlfahrtsstaates, von dem man in den neuen Bundesländern erheblich mehr als in den alten Ländern erwartet (Fuchs et al. 1997; Wiesenthal 2003: 54). Auch das ostdeutsche Parteiensystem, in dem mit CDU, SPD und PDS (bzw. „Die Linke. PDS“, so die Umbenennung im Juli 2005) drei in etwa gleich große Parteien konkurrieren, während Grüne und Liberale es nur gelegentlich in die Landtage der neuen Länder schaffen, weicht signifikant vom westdeutschen Muster ab, in dem die beiden Blöcke Union/FDP und SPD/Grüne gegeneinander antreten und die PDS bzw. die Links-partei bisher keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Ob die Linkspartei an diesem Muster etwas zu ändern vermag, bleibt abzuwarten. Schließlich ließ sich auch das Verbändesystem der alten Bundesrepublik nicht unverändert in die neuen Länder übertragen. Vor allem die Arbeitgeberverbände, in abgeschwächtem Maße aber auch die Gewerkschaften, waren mit dem Problem der Verbandsflucht konfrontiert. Insofern scheiterte der Transfer des west-deutschen Modells der Industriellen Beziehungen, was zunächst Auswirkungen auf die Tarifpolitik der neuen Länder, aber auch über sie hinaus hatte (Weßels 1999: 105f.; Streeck/Hassel 2003: 109ff.; Hassel i.d.B.).

Doch auch die Staatstätigkeit selbst war über Jahre – und ist in vielen Feldern noch heute – mit der Bearbeitung der Folgen der deutschen Einheit beschäftigt. Der maroden DDR-Wirtschaft wurde mit dem Umstellungskurs bei der Wirtschafts- und Währungsunion vom 1. Juli 1990, den anschließenden Lohnerhöhungen in den neuen Ländern und der auf beides reagierenden Hochzinspolitik der Bundesbank ein gnadenstoßähnlicher Aufwer-tungsschock versetzt, mit der Folge einer zusammenbrechenden Industrieproduktion und explosionsartig zunehmender Arbeitslosigkeit. Da sich in Ostdeutschland keineswegs 4 Der Begriff stammt von Paul Pierson (1994: 21). Dan Rather war für 24 Jahre der Hauptmoderator der Abend-nachrichten beim amerikanischen Sender CBS.

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schnell und flächendeckend „blühende Landschaften“ entwickelten, wie noch 1990 von Bundeskanzler Helmut Kohl erwartet, überstieg das erforderliche finanzielle Engagement in den neuen Ländern die Erwartungen bei Weitem und belief sich auf durchschnittlich rund vier Prozent des westdeutschen Bruttosozialprodukts jährlich (Renzsch 1998: 75; Ragnitz 2003). Ein großer Teil der Transferzahlungen wurde über steigende Sozialversiche-rungsbeiträge geleistet, die zu einer Verteuerung des Produktionsfaktors Arbeit und damit zu einer Verschärfung der Beschäftigungsprobleme beitrugen, die wiederum den sozialpoli-tischen Reformdruck erhöhten. In der Umweltpolitik, um ein weiteres innenpolitisches Beispiel zu nennen, waren die ökologischen Hinterlassenschaften des Staatssozialismus zu sanieren. Außen- und europapolitisch schließlich musste die neue Rolle, die ein wiederver-einigtes und souveränes Deutschland in den Internationalen Beziehungen spielen sollte, erst neu definiert werden.

6 Außenpolitische Einbindung und Souveränität

Die Bundesrepublik war insbesondere in den ersten Jahren nach ihrer Gründung noch kei-neswegs ein souveräner Staat, der allein über seine inneren und äußeren Belange hätte ent-scheiden können. Entscheidende verfassungs-, aber beispielsweise auch wirtschaftspoliti-sche Entscheidungen fielen sogar noch vor Gründung der Bundesrepublik unter einem Besatzungsregime. Doch auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes behielten sich die westlichen Besatzungsmächte im Besatzungsstatut vom 10. Mai 1949 noch erhebliche Kompetenzen vor. Dies betraf unter anderem Fragen der Abrüstung und Demilitarisierung, die Ruhrindustrie, die wirtschaftliche Entflechtung, die Außenbeziehungen sowie den Au-ßenhandel. Zudem sollten die Gesetze von Bund und Ländern alliierter Kontrolle unterlie-gen. Noch schwerer wog indes, dass sich die Besatzungsbehörden auch das Recht vorbe-hielten, „die Ausübung der vollen Gewalt ganz oder teilweise wieder zu übernehmen, wenn sie dies als wesentlich ansehen für die Sicherheit oder die Aufrechterhaltung der demokrati-schen Regierung in Deutschland oder als Folge der internationalen Verpflichtungen ihrer Regierungen,“ so der Text des Besatzungsstatus.

Die Kontrolle der Gesetzgebung wurde schon mit der ersten Revision des Besatzungs-statuts im März 1951 eingestellt, doch zu einem weitgehend souveränen Staat wurde die Bundesrepublik erst mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge 1955, mit denen das Besat-zungsstatut erlosch und nur wenige alliierte Vorbehaltsrechte bestehen blieben, so in Bezug auf die Truppenstationierung, den Status Berlins und Deutschland als Ganzes. Auch die alliierten Notstandsrechte sollten bis zum Inkrafttreten einer eigenen deutschen Notstands-verfassung in Kraft bleiben, die erst 1968 verabschiedet wurde (vgl. auch Küsters 2005: 4). Die volle Souveränität erlangte die Bundesrepublik erst 1990 mit dem „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, dem so genannten 2+4-Vertrag, der die außenpolitischen Fragen der Wiedervereinigung klärte.

In Folge der zunächst nur stark eingeschränkten Souveränität existierte eine deutsche Außenpolitik 1949 praktisch nicht, einen Außenminister gab es nicht, die Außenbeziehun-gen waren auf die Beziehungen zu den Alliierten beschränkt. Die Pariser Verträge, die die außenpolitische Handlungsfähigkeit herstellten, sahen dann nur noch gewisse Beschrän-kungen in der Verteidigungspolitik insofern vor, als die operativen Einheiten der Bundes-wehr, die in den 1950er Jahren aufgebaut wurde, dem Oberbefehl der NATO unterstellt

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 23

wurden. Damit war die Verteidigungspolitik von Beginn an dem alleinigen Zugriff der Bundesregierung entzogen und auf internationaler Ebene integriert. Dieser freiwillige Sou-veränitätsverzicht in der Verteidigungspolitik fand Parallelen in einer wachsenden Zahl anderer Politikfelder, die ebenfalls beginnend in den 1950er Jahren teilweise oder vollstän-dig in die Entscheidungshoheit der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union überführt wurden.

7 Europäisierung der Staatstätigkeit?

Die Europäisierung schritt seit der Gründung der Bundesrepublik in erheblichem Umfang voran. Besonders stark – das zeigen verschiedene Indikatoren – stieg die Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses für die Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutsch-land seit den 1980er Jahren, als mit der Einheitlichen Europäischen Akte das Binnenmarkt-programm beschlossen wurde.

Der prozentuale Anteil der Bundesgesetze, für die ein europäischer Impuls erfasst wurde, lag bereits in der 10. Wahlperiode (1983-1987) bei knapp 17 Prozent, stieg danach kontinuierlich an und erreichte in der 14. Legislaturperiode (1998-2002) mehr als ein Drit-tel (vgl. Abb. 1.5). Dabei gibt es, wie ebenfalls aus der Abbildung deutlich wird, erhebliche Unterschiede über die Politikfelder hinweg: Besonders hoch war die Europäisierung im Bereich der Umwelt- sowie der Agrar- und der Post- und Telekommunikationspolitik, wo meist über die Hälfte der Gesetze einen Impuls aus Brüssel bekamen. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik war rund ein Viertel der Gesetze von Brüssler Vorgaben betroffen, wobei in der 14. Wahlperiode jeweils ein starker Anstieg auf über ein Drittel zu verzeichnen war. Da die Daten allerdings belegen, dass der Anteil europäischer Impulse innerhalb der einzel-nen Politikfelder schwankt, kann dieses Niveau nicht ohne weiteres für die Zukunft extra-poliert werden. Schließlich gibt es einige Politikfelder, die immer noch vergleichsweise weniger europäisiert sind, wie die Innenpolitik oder der Bereich Arbeit und Sozialordnung. Doch auch hier sind massive Erhöhungen der europäisch inspirierten Gesetze zu verzeich-nen, die sich in der 14. Wahlperiode auf 19,2 Prozent (Inneres) und 23,3 Prozent (Arbeit und Sozialordnung) aller verabschiedeten Gesetze beliefen.

Allerdings hat diese Messung des Ausmaßes der Europäisierung der deutschen Politik einige Nachteile (Töller 2004: 33): So werden erstens die Bereiche nicht erfasst, in denen der Gesetzgeber aufgrund europäischer Vorgaben überhaupt nicht mehr aktiv werden kann, so beispielsweise auch wenn Verordnungen nationale Gesetzgebung ausschließen. Zweitens lässt sich mittels dieser Daten nicht erkennen, welcher Gestaltungsspielraum dem Gesetz-geber bei der Umsetzung des Impulses blieb, wie weit reichend der Impuls also war. Drit-tens werden mit den Daten solche Reformen nicht erfasst, bei denen der Gesetzgeber in einer Art vorauseilendem Gehorsam den europäischen Impuls schon vor der Verabschie-dung europäischer Rechtsakte umsetzt.

24 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

Abbildung 1.5: Prozentualer Anteil europäischer Impulse an der Gesetzgebung des Bundes, 1983-2002 (ausgewählte Politikfelder)

Quelle: Töller 2004: 33.

Ein umfassenderes Europäisierungsmaß für die Staatstätigkeit in der Bundesrepublik, das diese Probleme berücksichtigt, hat Manfred Schmidt (2005a) zusammengestellt (vgl. Abb. 1.6). Er unterscheidet – in Weiterführung von Lindberg und Scheingold (1970: 69) sowie Schmitter (1996) – vier Europäisierungsgrade, die er auf der Basis einschlägiger Untersu-chungen für bestimmte Etappen des Integrationsprozesses den einzelnen Politikfeldern zuordnet.5 Insgesamt ergibt sich bei diesem Index das bereits von den Gesetzgebungsim-pulsen her bekannte Bild einer zwar über die Politikfelder variierenden, aber im Zeitverlauf stark zunehmenden Europäisierung der öffentlichen Aufgaben. Auch Schmidt zufolge war zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem die Wirtschaftspolitik überdurchschnittlich euro-päisiert, während die Europäische Integration beispielsweise in den Bereichen Inneres und Justiz, Arbeitsmarkt sowie Soziales unterdurchschnittlich war. Für den vorliegenden Band wichtiger ist es jedoch festzuhalten, dass dem in den 1950er Jahren beginnenden Prozess der Europäischen Integration in einer zunehmenden Zahl von Politikfeldern eine steigende Bedeutung zukam, die Regierungen und Parlamente also in enger werdenden Handlungs-korridoren zu agieren hatten. Dies bestätigt auch Tanja Börzels (i.d.B.) Europäisierungs-maß, das auf formale Entscheidungsverfahren abstellt und zwischen Breite (Anzahl der Teilbereiche eines Politikfeldes, die europäisiert sind) und Tiefe (Grad der Supranationali-

5 Dabei steht der Wert „0“ für „Alleinregelung durch den Nationalstaat“, „1“ für einen relativ niedrigen oder gemäßigt hohen Europäisierungsgrad, „2“ für einen relativ hohen Europäisierungsgrad und „3“ für vollständige Europäisierung (ausführlicher Schmidt 2005a).

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 25

sierung) der Europäisierung differenziert. Aus ihrem Indikator lassen sich ähnliche Schlüs-se wie aus den hier vorgestellten ziehen.

Abbildung 1.6: Grad der Europäisierung ausgewählter öffentlicher Aufgaben in der Bundesrepublik Deutschland, 1950-2004

Quelle: Aggregiert auf der Basis von Schmidt 2005a: 137-142.

8 Die Eigenheiten des deutschen politischen Systems

Den „Geist der Gesetze“ in der Bundesrepublik Deutschland durchweht eine antitotalitäre Regelungsphilosophie, die in großem Umfang von dem Bestreben geprägt ist, aus Katast-rophen der deutschen politischen Geschichte, insbesondere dem Zusammenbruch der Wei-marer Republik und dem Aufstieg der NS-Diktatur zu lernen. Diese Regelungsphilosophie orientiert sich am westlichen Verfassungsstaat und an der westlichen Demokratie und verstand sich zugleich als das Gegenmodell zum Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Zu den Korrelaten des antitotalitären Geistes der Gesetze in Deutschland gehört eine außerordentlich weitgehende Machtaufteilung anstelle von Macht-konzentration. Die Vorteile dieser Machtaufteilung sind die weitgehend zuverlässige Zäh-mung der Politik und die Einbindung des Hauptverlierers einer Bundestagswahl durch Mit-beteiligung im Bund und in den Ländern, ihr Nachteil liegt in den hohen Entscheidungskos-ten und der mitunter zögerlichen, langwierigen Problemwahrnehmung und Problemlösung.

Ein zweites Markenzeichen der politischen Institutionenordnung in der Bundesrepu-blik Deutschland ist eine eigentümliche Demokratieform: Ihr Kennzeichen ist eine Mi-schung aus Mehrheitsdemokratie nach britischem Muster und bundesstaatlicher Verhand-lungs- oder Konkordanzdemokratie, also einer Demokratie, in der Konflikte mit Hilfe von

26 Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer

Entscheidungsmaximen des Aushandelns oder des gütlichen Einvernehmens nach Art der Kompromisstechniken der deutschen und schweizerischen Religionsfriedensschlüsse des 17. und 18. Jahrhunderts geregelt werden. Während der konkordanzdemokratische Charak-ter der Bundesrepublik sich stärker in der schon erwähnten Machtteilhabe auch des Verlie-rers von Bundestagswahlen über die Länder und den Bundesrat spiegelt, kommt der kon-kurrenzdemokratische Zug des deutschen politischen Systems vor allem im Parteienwett-bewerb zum Tragen. Das schließt die Bildung einer Großen Koalition nicht grundsätzlich aus, doch der Regelfall war der Verzicht auf breite Regierungskoalitionen auf Bundesebene (vgl. dazu Czada 2003). Es lässt sich sogar ein Trend beobachten, wonach die elektorale Unterstützung, auf die sich Bundesregierungen berufen konnten, im Laufe der Zeit ge-schrumpft ist. Konnten die Regierungen unter Adenauer und Erhard sich durchschnittlich noch auf rund 56 Prozent der Wählerstimmen berufen, fiel dieser Wert für die Koalitionen, die zwischen 1994 und 2002 gebildet wurden, jeweils auf unter 50 Prozent.

Eine dritte Eigenheit der Politik hierzulande liegt in der einflussreichen Position der politischen Parteien. Auch wenn Deutschland weniger Parteienstaatlichkeit als beispiels-weise Österreich aufweist, liegt die fundamentale Bedeutung der Parteien und des Partei-enwettbewerbs für die Politik hierzulande auf der Hand. Hinzu kommt allerdings, und hier stößt man an die Grenze von der These des „Parteienstaats“, dass jede Regierung in der Bundesrepublik Deutschland mit ungewöhnlich vielen Mitregenten, ja vielen Vetospielern im Sinn von George Tsebelis zu tun hat. Das führt dazu, dass Politikmachen in Deutschland besonders kompliziert ist, häufig langwierig und störanfällig – und dass es viel Kooperation von Streitparteien verlangt, die bei ihrem Kampf um die Machtverteilung normalerweise das sie Trennende betonen.

Ein weiteres Kennzeichen der Politik in Deutschland ist – viertens – ein innen- und außenpolitisch halbsouveräner Staat mit Vorliebe für friedliche Handelsstaatspolitik, Absa-ge an Machtstaatspolitik und Einbindung in die internationale Staatengemeinschaft, insbe-sondere auch Einbindung in die Europäische Union. Dieser Staat kommt mitunter aller-dings nur im Schneckentempo voran. Für spektakuläre innen- oder außenpolitische Allein-gänge eignet er sich in der Regel kaum. Zudem ist er anfällig für Reformblockaden. Den-noch war er aber stark genug für tief greifende Weichenstellungen, wovon die nachfolgen-den Kapitel zeugen.

Dabei beschritt die Politik in Deutschland – fünftens – einen Mittelweg zwischen dem sozialdemokratischen nordeuropäischen Wohlfahrtskapitalismus und der marktorientierten US-amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft. Die Politik in der Bundesrepublik Deutschland legte dabei besonderen Wert auf eine politisch vielfältig regulierte Marktwirt-schaft, auf ehrgeizig definierte soziale Sicherheit und ambitionierten sozialen Ausgleich.

Ein sechstes Markenzeichen der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland ist die sehr starke Stellung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit. „Governing with Judges“ und mitunter „Governing by Judges“ (Stone Sweet 2000), also Regieren mit Rich-tern und mitunter Regieren durch Richter, sind Kennzeichen der Politik in Deutschland nach 1949 geworden – ein weiterer fundamentaler Unterschied zur allgegenwärtigen, all-zuständigen Politik wie in der NS-Diktatur von 1933 bis 1945 oder im SED-Staat, der Dik-tatur in der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 bis 1989/90.

Siebtens schließlich ist der Bundesrepublik eine besondere Neigung zum Dauerwahl-kampf eigen. Diese rührt her von der großen Zahl von Landtagswahlen, die über die gesam-te Legislaturperiode des Bundes verstreut sind und die wegen Politikverflechtung und Bun-

1. Rahmenbedingungen politischer Willensbildung in der BRD 27

desrat von allergrößter Bedeutung für die Bundespolitik und den Kampf zwischen Regie-rung und Opposition sind. Der Wettbewerb um Wählerstimmen wird aber noch zusätzlich angeheizt: erstens von der Konkurrenz zweier oder, rechnet man die „Linkspartei“ hinzu, gar dreier Sozialstaatsparteien und zweitens, weil die Medien die parteipolitische Ausei-nandersetzung mit Sendezeit prämieren – eine Versuchung, der die wenigsten Parteipoliti-ker zu widerstehen vermögen.

Was aus all den Eigenheiten des deutschen politischen Systems resultiert und ob hier-aus wirklich eine „Erfolgsstory“ entstanden ist, wie etliche Beobachter im In- und Ausland meinen (Dalton 1993: 4; von Beyme 2004: 432), wird in diesem Sammelband ebenso zu prüfen sein, wie der Effekt, den die besonderen politischen Institutionen in Deutschland auf die Staatstätigkeit ausüben.

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1. Klassische Politikfelder

2. Verfassungspolitik: Stabilität und permanentes Austarieren 33

2. Verfassungspolitik: Stabilität und permanentes Austarieren

2. Verfassungspolitik: Stabilität und permanentes Austarieren Andreas Busch

1 Verfassungspolitik als Entscheidung über Spielregeln

Verfassungspolitik unterscheidet sich von den anderen in diesem Band behandelten Politik-feldern dadurch, dass in ihr die Bedingungen für die Entscheidungen in letzteren festgelegt werden: Da Verfassungen die Regeln für das Treffen legitimer politischer Entscheidungen bestimmen, können durch Änderungen der Verfassung auch jene Regeln geändert werden. Dies ist zwar ein zentraler, doch nicht der einzige Unterschied: Während in anderen Poli-tikbereichen eine rasche inhaltliche Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen gemein-hin als ein Positivum betrachtet wird, beruht die Legitimität von Verfassungsregeln zu einem erheblichen Teil auf ihrer Stabilität und Verlässlichkeit; rasche und häufige Ände-rungen können daher hier kontraproduktiv wirken und die Anerkennung der Verfassung durch die Bevölkerung beschädigen.

Die Anerkennung der Verfassung durch die Bevölkerung ist aber zentral, kann sie doch ohne die generelle Bereitschaft zur Befolgung ihrer Regeln keine Wirkung entfalten (Grimm 1994b: 15f.). Verfassungen verkörpern daher einen Basiskonsens über das, was nicht immer wieder zur Disposition gestellt werden kann, und entlasten durch das Festlegen von Regeln das politische Alltagsgeschäft (Vorländer 2004: 12f.). Was in der Verfassung festgelegt ist, ist daher nicht mehr Gegenstand, sondern wird Voraussetzung politischer Entscheidungen.

Verfassungen demokratischer Rechtsstaaten westlicher Prägung erfüllen somit eine Reihe von Funktionen (Schulze-Fielitz 1999: 66–69). Sie dienen als rechtliche Grundord-nung, die die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft regelt und sind gleichzeitig in ihrem Bestand als ranghöchste Normen besonders gesichert; sie schützen den Einzelnen vor staatlicher (und auch gesellschaftlicher) Übermacht und Willkür, und geben durch Instru-mente wie Staatszielbestimmungen und programmatische Aufträge eine auch inhaltliche Richtung für das Gemeinwesen vor; und sie beschaffen durch Regeleinhaltung Legitimati-on und tragen durch Konsensfindung zur Integration des Staatsvolkes bei.

Im Allgemeinen enthalten Verfassungen Bestimmungen über drei Klassen von Rege-lungen (vgl. etwa Elster 1992: 550f.):

solche über die „Maschinerie“ des Regierungsgeschäfts – also über die Existenz von Institutionen, deren Kompetenzen und die Art und Weise ihres Ineinandergreifens; solche über die Zuschreibung von Rechten und Pflichten, entweder von Individuen oder Kollektiven, zumeist in Form von Grund- oder Bürgerrechten; und schließlich solche über die Bedingungen, unter denen die Verfassung selbst geän-dert werden kann.

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Letzteres ist nötig, da Politik sich nicht völlig verrechtlichen lässt. Eine lückenlose Verfas-sung würde letztlich versuchen, Politik auf reine Verwaltung zu reduzieren (Grimm 1994b: 17). Politisches Handeln muss aber natürlich auch auf neue Herausforderungen, die zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung noch nicht absehbar waren, oder auf Veränderungen im Grundkonsens der Gesellschaft reagieren können. Bereits ab dem Zeitpunkt der Verfas-sungsgebung entsteht daher eine Spannung zwischen dem statischen Verfassungstext und den sich stets neu ergebenden Bedingungen, in denen sich dieser bewähren soll. Diese Spannung ist eine zwischen Stabilität und Flexibilität, zwischen Beibehaltung des Grund-konsenses und seiner Fortentwicklung, zwischen Beharrung und Anpassung an neue Her-ausforderungen.

Verfassungen wirken demnach in der Zeit. Da Verfassungsfragen Entscheidungen über die Bedingungen künftiger Entscheidungen sind, sind sie in der Regel besonders kon-trovers. Im Verfassungsgebungsprozess ist denn auch das Politische keineswegs suspen-diert, vielmehr ist „constitution-making [...] a continuation of politics by other means“ (Banting und Simeon 1985: 17), und man kann daher Verfassungen als geronnene Macht-verteilung verstehen. Änderungen an dieser Machtverteilung – Verfassungsänderungen – werden daher oft besonders konfliktträchtig sein.

Die Analyse der Politik, die solche Änderungen im Fall des bundesdeutschen Grund-gesetzes ermöglichte oder verhinderte, steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Der Begriff der „Verfassungspolitik“1 ist von Staatsrechtlern oft mit stark normativer Konnotation ge-braucht worden, wie das etwa in der Definition als „bewußte Fortschreibung des Verfas-sungsinhaltes ohne förmliche Änderung ihres Wortlautes mit dem Ziel einer zeit- und prob-lemnahen Geltungsfortbildung“ (Gusy 1983: 4) zum Ausdruck kommt. In diesem Beitrag soll der Begriff hingegen neutraler als Politik gegenüber dem Grundgesetz verstanden wer-den. Einem kurzen historischen Überblick über die Entwicklung des Grundgesetzes vom Provisorium zur Verfassung des vereinten Deutschland folgt im Hauptteil des Beitrags eine Darstellung der Diskussionen über und der tatsächlich durchgeführten Änderungen an der bundesdeutschen Verfassung, bevor anhand des diskutierten Materials eine theoretisch-analytische Auswertung vorgenommen wird, die insbesondere auf die Rolle von Parteien, von Institutionen und der europäischen Einigung abzielt. Ein einordnender Rückblick auf das Grundgesetz auch in vergleichender Hinsicht schließt den Beitrag ab.

2 Vom Provisorium zur Verfassung für das vereinte Deutschland

Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland kam unter besonderen Umständen zustande. Diese waren der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945, der folgenden Besatzungszeit und den Spannungen durch die entstehende Blockkon-frontation des Kalten Krieges geschuldet. Als Folge existierte in Deutschland keine deut-sche oberste Staatsgewalt, und die Entscheidung über die Zukunft des Landes lag in den Händen der Besatzungsmächte. Doch der wachsende Dissens zwischen diesen über den Charakter eines zukünftigen deutschen Staates, wie er im Scheitern einer Reihe internatio-naler Konferenzen im Jahr 1947 immer offener zutage trat, machte eine einheitliche Lösung unmöglich. 1 Vgl. etwa Steinberg 1980; Gusy 1983; Grimm 1994a für staatsrechtliche sowie Pfetsch 1985; Benz 1995; Gläß-ner et al 2001 für politikwissenschaftliche Beiträge.