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Manifest B

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ATLAN 108 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 607

Manifest B von Arndt Ellmer

Hidden-X ist nicht mehr! Und somit haben Atlan und die fast hunderttausend Bewohner der SOL die bislang gefährlichste Situation auf dem an Gefahren reichen Weg des Gene-rationenschiffs fast unbeschadet überstanden. Doch was ist mit dem weiteren Weg der SOL? Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu lie-gen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bemühen, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besor-gen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in neue, erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Gegenwärtig liegt das Generationenschiff allerdings im Ozean des Planeten Terv fest. Die Lage scheint verzweifelt, als sich unvermutet eine Fluchtchance auftut, die gleichzeitig Cara Doz, dem neuen Pilotentalent, die Gelegenheit bietet, sich auszuzeichnen. Dann aber macht sich wieder der unheimliche Gegner der SOL bemerkbar – er wird ver-körpert durch MANIFEST B ...

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Die Hauptpersonen des Romans: Cara Doz – Die neue Pilotin der SOL. Rubeiner – Ein Solaner riskiert sein Le-ben. Urk-Wascheff – Ein Kämpfer und Philo-soph aus dem Volk der Urk-Lystarin. Lemarner Traph – Senkmeister von Lis-baon. Juccan Bresalph und Gushtar Irrido – Ein Tangmeister und sein Schüler. Pervrin – Ein neuer Gegner der SOL taucht auf.

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1.

Urk-Wascheff schlug die harten Knochen-

wülste in seinem Schlund zusammen. Mit heftigen Rucken zerrten seine oberen Glied-maßen an dem letzten Fetzen Pschormygut, rupften ihn in hauchdünne Fasern auseinander und schoben diese dann gemächlich in den runzligen Schlund hinein, dessen spröde und gräuliche Ränder ein deutliches Zeichen dafür waren, daß Urk-Wascheff entweder sehr alt oder krank war.

Das Pschormygut bildete den Hauptteil der Nahrung bei den wichtigsten Sagern im gro-ßen Volk der Urk-Lystarin. Es setzte sich aus dem Fleisch der Pschorm zusammen, runden Weidebällchen, die auf Farmen aller Planeten gehalten wurden, sowie einer Beize aus hochwertigen Kräutern und Mineralien. Eine dieser Zutaten bildete Homerplatis, ein leicht säuerlich schmeckendes Gewürz, das es nur auf Rostertom im siebten System gab. Die Beize wurde in der Hochsprache aller Urk-Lystarin Gut genannt.

Urk-Wascheff verzog den Verdauungsbeu-tel an seiner linken Seite zu einem wohlbe-haglichen Rülpser und beförderte die letzten Reste des Pschormyguts hinter seinen Schlund. Er ersparte sich die qualvolle Mühe, die Knochenwülste zur Zerkleinerung des Fleisches zu Hilfe zu nehmen, und spülte lie-ber mit einem gehaltvollen Oberkong nach. Danach warf er den pappenen Trinkbecher achtlos beiseite, rülpste noch einmal und schwankte mit funkelnden Augen auf den Durchschlupf zu.

»Kampf!« würgte er heftig und freute sich, weil seine Lebensgeister nach diesem Mahl zu jugendlicher Frische erwachten. Wenigs-tens für einige Zeit, und sie dachte er zu nut-zen. Als Sager allerhöchster Verantwortung lag ein guter Teil des Schicksals der Urk-Lystarin in seinen Händen, und wenn er starb, dann würden ihm Hunderte freiwillig in das Grab folgen.

Bestimmt werden es Tausende sein oder noch mehr, überlegte er zufrieden. Die ande-ren müssen sich gehörig anstrengen, wenn sie im Lauf ihres blühenden Lebens eine solche Achtung und Beliebtheit erreichen wollten, wie sie mir zuteil geworden ist.

Diesmal nahm er den rechten Verdauungs-beutel zu Hilfe und rülpste einem seiner un-tergebenen Artgenossen ins Gesicht, der im Begriff stand, ihn aufzusuchen. Urk-Kaznol verschluckte sich artig, ahmte ein erhabenes Echo nach und trollte sich zur Seite, um dem Sager den Weg frei zu machen.

»Ihr werdet in der Mulde der obersten Ver-bindung gewünscht«, eröffnete Urk-Kaznol und formte seinen jugendlichen Körper zu einer Geste der Dringlichkeit. »Es ist die Flot-te!« Mit der dritten Greifhand scheuchte der Sager den Boten davon, unwirsch, weil ihm sein geregelter Spaziergang durch die Flora der näheren Umgebung versagt blieb, fiebernd und bebend, weil der Anruf der Flotte nur eines bedeuten konnte.

Sie hatten ihn gefunden! Es gab nur diese eine Möglichkeit.

Urk-Wascheff wußte nicht, wie lange sein Volk schon seiner wichtigsten Aufgabe folg-te, die es immer wieder mit anderen Völkern der Galaxis zusammenführte, und das auf eine Weise, wie sie erhabener nicht sein konnte. Jedesmal ging es um das Messen der Kräfte, um die Bewährung, und jede Generation er-hielt die Chance, ihren Wert in dem fortdau-ernden Kampf unter Beweis zu stellen. Jeder Urk-Lystarin lebte für diesen Kampf.

Stolz warteten sie darauf, und vor allem er als Sager, der schon etliche Generationen der Jungen hatte kommen sehen.

Urk-Wascheff trug Sehnsucht mit sich her-um. Er hoffte, daß dieser Kampf, der irgend-wann in grauer Vorzeit begonnen hatte, eines Tages zu Ende sein würde, weil das Ziel er-reicht war. Und über das Ziel gab es keinen Irrtum. Der Beste blieb Sieger und trium-phierte.

Es war gerade er in seinem Amt als Sager allerhöchster Verantwortung, der dafür ein-trat, daß sie das Ziel noch im Lauf seines Le-bens erreichten. Gern brachten die Mitglieder des großen Volkes Opfer, indem sie auf die Wohltaten des Pschormyguts verzichteten, das den Sagern jugendliche Stärke und länge-re Kraft verlieh. Sie erhielten dadurch ein Leben, das um ein Viertel länger war als das eines gewöhnlichen Urk-Lystarin.

Die Hoffnung auf die frohe Botschaft be-flügelte den Sager. Er ließ seine beweglichen

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Glitschbeine hin und her schnellen und jagte über den nachgiebigen Untergrund durch das Fladengebäude, bis er die große Rutsche vor sich sah. Er glitt in die Muschel hinein, und sofort setzte sich das Gefährt in Bewegung. Es trug ihn hinauf bis unter den höchsten Punkt, wo das Dach seine geringste Neigung besaß und überdies ein Teil davon ausgespart war, so daß er den Himmel überblicken konn-te.

Seine Artgenossen saßen regungslos vor ih-ren Geräten. Nur an der Nische der Funker gab es ununterbrochen Bewegung. Darauf hielt Urk-Wascheff zu und brachte seinen Körper in eine Form der Entschlossenheit. Eines einzigen Wortes von ihm bedurfte es, und überall in den sieben Systemen von Urk-Lystarin mit ihren dreiundvierzig Planeten hörten die Mitglieder seines Volkes auf seine Stimme.

»Den Funkspruch, schnell!« schrillte er entgegen seiner würdevollen Erscheinung. Eifer und Kampfeslust leuchteten aus seinen Augen und erfaßten das ganze Rund der Mul-de der obersten Verbindung. »Liegt noch ein Kontakt vor?«

Seine Erregung nahm zu und versetzte sei-nen Verdauungsapparat in heftiges Zucken. Es war nur gut, daß er das Fleisch so klein gemacht hatte. Größere Klumpen hätte er im jetzigen Zustand unweigerlich von sich gege-ben.

Unter Urk-Wascheff schien der Boden zu beben, doch es war nur Einbildung, hervorge-rufen durch das stetige Erschlaffen und Wie-dererstarren seiner Gleittentakel. Ohne auf die verneinenden Gesten der Umsitzenden zu achten, schwankte er von einem Bildschirm zum anderen und richtete sämtliche Augen darauf.

»Der große Gegner!« belehrte er sie. »Ir-gendwann muß er sich zeigen. Er darf sich nicht verstecken!«

Deshalb hatte er vor nicht langer Zeit die Sucher ausgeschickt. Sie konnten zum jetzi-gen Zeitpunkt noch nicht zurück sein, und doch erwartete er ihr Eintreffen mit jedem Sonnenaufgang.

Es war sein großer Traum. Urk-Wascheff war der bedeutendste Philosoph seiner Zeit, und die Erfahrungen und Ergebnisse einer

Vergangenheit, die über etliche Generationen zurückreichte, hatten ihn in seinen Gedanken bestärkt. Die Urk-Lystarin waren jedem Geg-ner gewachsen. Seit etlichen Dekaden hatten sie kein fremdes Volk mehr vor ihre Schiffe bekommen. Auch über den Planeten der sie-ben Systeme waren keine fremden Raumer aufgetaucht. Es bewies ihm, daß die Urk-Lystarin auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkei-ten angelangt waren. Urk-Wascheffs jüngste Gedanken bildeten eine unmittelbare, logische Folge dieser Erkenntnis.

»Er muß kommen!« redete er ihnen ein. »Wir werden uns an dem ganz großen Gegner messen und werden ihn besiegen, wie wir alle anderen besiegt haben! Das ist unser Ziel!«

Betretenes Schweigen herrschte, als der äl-teste aller Sager an einen kleinen Schirm trat, der sich gerade in diesem Moment erhellte. Der Körper eines Urk-Lystarin wurde sicht-bar. Es war Urk-Gnodel, der Kommandant der Flotte von Urklys. Die Augen des Sagers richteten sich voller Erwartung auf ihn.

»Bei allen Planeten, den Fladensiedlungen und ihren überwucherten Häusern, sprich!« forderte Urk-Wascheff ihn auf.

»Ich habe mich gemeldet, wie ihr befohlen habt«, klang es an seine Hörorgane. Der Ton-fall stimmte ihn bedenklich und bereitete ihn vor. »Wir haben wieder nichts entdeckt. Es scheint, als sei ganz Xiinx-Markant entvöl-kert!«

Absolute Stille trat in der Mulde der obers-ten Verbindung ein. Man hätte einen Tropfen Speichel platschen hören. Aber gerade in die-sem Augenblick verschloß die Trauer allen Anwesenden den Schlund. Bei Urk-Wascheff wechselte er erschreckend rasch die Farbe, und der Sager allerhöchster Verantwortung sank übergangslos in sich zusammen.

»Nein?« hauchte er deprimiert. »Wieder nichts? Was sage ich meiner Gefährtin?«

Ein Blitzschlag hätte nicht schlimmer wir-ken können, vergaß er doch vor lauter Schreck, daß Urk-Jeware seit zwei Planeten-läufen nicht mehr unter ihnen weilte.

»Es ist gut«, meinte er nach einer Weile. »Dringt noch tiefer in unsere Galaxis ein. Ir-gendwo werden wir doch auf Lebewesen tref-fen, auf intelligentes, raumfahrendes Leben.«

Er wandte sich ab und schwankte hinaus,

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keines rechten Gedankens fähig. All sein Mut, seine Zuversicht, sie waren dahin, und er hätte laut hinausblasen mögen, wenn es eines Urk-Lystarin würdig gewesen wäre. So ringelte er lediglich seine oberen Gliedmaßen zusammen und verkroch sich frierend in seiner Unter-kunft.

War die Auslese etwa bereits beendet? Gab es keinen Gegner mehr?

*

Urklys war der vierte Planet der Sonne Ur-

keins. Mit Ausnahme des ersten Planeten, dessen Umlaufbahn dem dunkelgelben Stern zu nahe lag, trugen sie Leben. Jede Welt bot mehreren Milliarden Urk-Lystarin eine stän-dige Heimat und die besten Voraussetzungen für das Leben. Leben bedeutete Vorbereitung auf den Kampf, und alles, was dieses Volk tat, war zur Stärkung für diesen Kampf gedacht.

Seit Urk-Wascheff sein Amt als Sager al-lerhöchster Verantwortung bekleidete, genoß Urklys ein nicht zu unterschätzendes Maß an Achtung innerhalb des Reiches der sieben Systeme. Bis auf eine einzige Ausnahme han-delte es sich um benachbarte Sterne, deren Welten in ständiger Verbindung untereinan-der standen. Entscheidungen der Sager ver-breiteten sich in überlichtschneller Eile auf alle Empfangsstellen und wurden entspre-chend ausgeführt. Dabei richteten sich die Stielaugen und die Hörorgane in der üblichen, gehorsamen Schwankung auf die Geräte und die Nachrichten, die dem Kontakt mit Urklys dienten.

Nun aber schwieg die Mulde der obersten Verbindung auf diesem Planeten, und Urk-Wascheffs Name befand sich in aller Munde. Es gab keinen Urk-Lystarin, der sich nicht Gedanken über den Sager gemacht hätte.

Urk-Wascheff war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er begann den Kontakt zu sei-nen Untergebenen zu scheuen, und wer den bleichen, zitternden Körper ab und zu zu Ge-sicht bekam, konnte sich nur schwer vorstel-len, daß es sich dabei um den Krieger aller Krieger handelte, der früher Bäume ausgeris-sen und an anderer Stelle wieder in den Bo-den gerammt hatte. Vor Zeiten hatte es Mit-glieder seiner Familie gegeben, die ihm bei

solchen Taten in achtungsvollem Abstand gefolgt waren. Seine Bäume standen noch, sie waren mit kleinen Tafeln gekennzeichnet und blühten mitten in den dichten Pflanzenwäl-dern Urklys’ vor sich hin. Ab und zu kam es vor, daß sich der eine oder andere über die Wipfel des Dschungels hob, als wolle er den Himmel grüßen. Hier hatte Urk-Wascheff eine glückliche Hand bewiesen. Er hatte die Pflanzen an Stellen eingesetzt, an denen der Boden besonders nährstoffhaltig war und ein anhaltendes Wachstum garantierte. Die Bäu-me symbolisierten den Erfolg des Sagers, der sein ganzes Leben lang angehalten hatte. Bis vor ein paar Planetenphasen.

Jetzt war Urk-Wascheff unglücklich. Die Angehörigen seines Volkes, die in un-

mittelbarer Nähe seiner Unterkunft arbeiteten, warfen sich bedrückte Blicke und geknickte Augenstiele zu. Sie wußten um seinen Zu-stand und waren doch ratlos. Für den Zustand des Sagers gab es keine Hilfe.

Sie munkelten, daß in finsterer Nacht, wenn im Innern des Fladens die Beleuchtung herun-tergeschaltet war, schwarze Teppiche durch die Gänge huschten und bei ihm Einlaß nah-men. Seelenberater sollten es sein, angetan mit den Gewändern ihres Ranges. Niemals bekam ein Urk-Lystarin das Gesicht eines Seelenberaters zu sehen, die aufgrund uner-klärlicher Eigenschaften von einer Gruppe von Sagern unter der Bevölkerung ausgewählt wurden. Sie sorgten für die inneren Bedürf-nisse der Einzelwesen ihres Volkes.

Nichts drang nach außen, und der Sager ließ sich etliche Rotationsphasen nicht sehen. Niemand wußte, ob er noch lebte oder gestor-ben war.

Urk-Wascheff trauerte. Sein Körper fiel in sich zusammen, während er reglos auf dem grünen Polster lag, das seine Ruhestatt bilde-te.

Sie waren allein, fanden keinen Gegner mehr. Sie mußten sich mit der Ungewißheit zufriedengeben und warteten verzweifelt, daß jemand kommen würde, um ihnen zu sagen, daß sie als Sieger aus dem immerwährenden Kampf hervorgegangen waren. Der Begriff »immerwährend« war ein Gegensatz zu dem Ziel. Er schloß es aus, und doch wußten sie, daß es dieses Ziel gab, denn es war ihnen vor

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langer Zeit verheißen worden.

Und wir werden siegen! Trotz war es, der in dem Sager aufkeimte. Er wollte sein Ge-sicht nicht verlieren und fühlte sich durch den Zuspruch der Seelenberater ein wenig ge-stärkt. Irgendwann würden sie die Nachricht erhalten, daß sie die Auserwählten waren. Und gleichzeitig wußte Urk-Wascheff, daß er eine gegenteilige Nachricht nicht überleben würde.

Es war zu der Stunde, in der er sich für ge-wöhnlich in seine Polster einrollte und dem leicht flaumigen Körper und der aufgewühlten Seele Ruhe gab in der Hoffnung, daß der ge-quälte Geist sich bis zum Tagesanbruch erhol-te. In der Stille, die bisher um ihn herum ge-wesen war, entstand Unruhe. Die Wände ra-schelten, das ganze Gebäude wisperte in ei-nem fort.

Urk-Wascheff schnellte sich empor, streifte hastig die Tücher und Polster ab, die ihm als Wärmespeicher dienten. Er warf sich dem Durchschlupf entgegen und zwängte sich hin-aus, ohne auf die rhythmischen Bewegungen des halb organischen Vorhangs zu achten. Er raste durch die Dunkelheit des Gebäudes, bis er in der hellen Mulde der obersten Verbin-dung stand.

Sein Erscheinen erregte erhebliches Aufse-hen, denn die Techniker und Sprecher rechne-ten nicht damit. Die Funker haspelten mit den Fühlern der Tentakel auf der Anlage herum.

Urk-Wascheff erfaßte mit acht gleichzeiti-gen Einblicken, daß alle Bildschirme in Be-trieb waren. Die Schwärze des Weltalls wa-berte auf ihnen, und auf jedem lag das Wär-meecho eines ganz bestimmten Gegenstands, der unruhig flatterte und langsam größer wur-de.

»Die Sucher!« stöhnte der Sager laut. »Die Sucher sind da!«

Er hatte Mühe, es zu glauben. Nach all den Phasen der tiefsten Niedergeschlagenheit kehrten sie zurück. Allein ihre Rückkehr be-deutete, daß sie Erfolg gehabt hatten. Sie brachten eine freudige Nachricht, zumindest eine Botschaft.

Trunken vor Glück taumelte der Sager al-lerhöchster Verantwortung zu dem dunkelro-ten Kissen, das allein ihm vorbehalten war. Er setzte sich darauf und schaltete sämtliche

Verbindungen auf sein autorisiertes Terminal, den Kommunilystor.

»Urk-Wascheff spricht!« flüsterte er beina-he ehrfürchtig. »Was habt ihr zu berichten?«

Die Sucher auf den Bildschirmen wurden immer größer und glänzender. Je näher sie an Urklys herankamen, desto mehr reflektierten sie das Licht von Urkeins.

»Sager!« teilte die monotone Stimme eines der robotischen Schiffe mit, deren Sonnen-windsegel sich ständig um alle drei Achsen bewegten. »Wir überspielen euch die Daten, die ihr erwünscht habt!«

Die Abbilder der Sucher verschwanden, die Daten erschienen und wanderten über die Schirme. Sie berichteten von einem Planeten der Galaxis, in nicht weitem Abstand zu der unantastbaren Dunkelzone. Etliche zufällige Energieortungen hatten ergeben, daß es auf diesem Wasserplaneten eine technische Zivi-lisation gab.

Einen Gegner. Steif und erfroren vor Freude und Glück

saß Urk-Wascheff auf seinem Kissen. Ein Irrtum war ausgeschlossen, die Daten der Su-cher stellten die Wahrheit dar.

Der Sager gab keinen einzigen Laut von sich. Er wußte, daß alle die Bedeutung der Übertragung begriffen. Sie eilte von Urklys hinaus zu den anderen Planeten.

Nach Dekaden bangen Wartens und Har-rens war es ausgestanden.

Für Urk-Wascheff war es wie ein zweites Leben.

2.

»Hallo, Engel!« Rubeiner nickte Cara Doz freundschaftlich

zu, aber die kleine Frau mit der unterernährten Gestalt beachtete ihn kaum. Sie schritt an ihm und seinen Begleitern vorbei, als seien sie Luft. Ja, sie wich den Männern sogar ein we-nig aus, als empfinde sie unterschwellige Angst vor ihnen.

Kastenbold, Rubeiners Stellvertreter, schüt-telte verwundert den Kopf und blieb stehen. Er blickte ihr nach, bis sie hinter der Krüm-mung des Korridors verschwunden war.

»Die ist komisch«, meinte er. »Ein ziemlich junges Ding!«

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»Glaub das ja nicht!« lachte Rubeiner.

»Das Persönchen ist schon 21. Sie hat soeben ihre Ausbildungszeit abgeschlossen und ist auf dem Weg zur Hauptzentrale, um sich mit den Steueranlagen vertraut zu machen.«

Jetzt verschlug es Kastenbold endgültig die Sprache. Er stützte sich gegen die Korridor-wand und holte tief Luft.

»Du phantasierst!« behauptete er. »Das soll die Neue sein? Die Pilotin?«

»Du hast es erfaßt!« Rubeiner nickte den fünfzehn Männern und Frauen zu, die ihn begleiteten. »So klein und unscheinbar sie ist, sie hat es faustdick hinter den Ohren. Und sie hat am 25. Dezember Geburtstag!«

»Daher der ›Engel‹!« rief Melinda Grosar aus. »In gut sieben Wochen ist es wieder so-weit! Dann ist Weihnachten!«

Rubeiner nickte und winkte ihnen. Er schloß seinen Helm, und die Gruppe machte sich auf zu der Mannschleuse. Noch einmal setzte der Solaner sich mit der Zentrale in Verbindung.

»Wir steigen jetzt aus«, gab er über den Helmfunk durch. »Wenn sich draußen etwas ändert, gebt uns sofort Bescheid. Ich habe nicht vor, Menschenleben aufs Spiel zu set-zen.«

»Geht in Ordnung!« klang die Stimme von Breckcrown Hayes in ihren Empfängern auf. »Überstürzt keinen eurer Schritte!«

Die Warnung erinnerte sie wieder einmal daran, daß sich das Schiff in einer ausweglo-sen Situation befand. Es lag auf dem Grund des Ozeans des Planeten Terv und wurde von einem Gravitationsfeld zur Bewegungslosig-keit verdammt. Zusätzlich hatten die Terver die SOL in einen Berg Tang gehüllt, über den sie bisher ein paar Dinge herausgefunden hat-ten. Der Tang stellte eine Art niedere Intelli-genz dar, es waren primitive Gehirnfunktio-nen feststellbar. Und es schien, als erteilten die Terver dieser organischen Waffe be-stimmte Anweisungen.

Der Tang blockierte die externen Waffen des Schiffes sowie alle Antriebssysteme. Ver-suche, mit Handwaffen oder transportablen Geräten gegen ihn vorzugehen, führten zum Gegenteil dessen, was man wollte. Unter dem Beschuß kristallisierte der Tang und wurde nahezu unzerstörbar.

Für den Einsatz der Gruppe hatten sie eine Mannschleuse gewählt. Auf ihr hatte sich an der Außenseite des Schiffes kein Tang festge-setzt.

Vorsichtig, als könne das Primitivwesen draußen die Geräusche hören, öffnete Rubei-ner das Außenschott. Die Schleuse war bereits geflutet, der Druckausgleich hergestellt. Die Finsternis des fünfhundert Meter bis zwölf Kilometer tiefen Ozeans erwartete sie, und sie schalteten die Lampen an den Helmen ein.

»Wir entfernen uns vertikal zum Schiff«, ordnete der Solaner an. »Wenn wir Glück haben und sich draußen nichts verändert hat, gelangen wir in die Nähe des Knotens.«

Sie stießen sich nacheinander ab und trie-ben davon, strampelten die Lücke entlang, die der Tang an dieser Stelle bildete. Manchmal kamen sie dem gefährlichen Netzwerk aus biegsamen Blättern und Strängen bedrohlich nahe. Die »Arme« des Tangs erreichten eine Breite von bis zu zehn Metern und eine Länge von mehreren Kilometern. Wie ein Netz um-gab er das Schiff, war fest auf die Schiffshülle gepreßt. Es war eine glückliche Fügung des Schicksals, daß er nicht in der Lage war, das Metall der Wandungen aufzulösen. Sechs eigentliche Tangwesen hatten sie gezählt, und noch immer suchten sie verzweifelt nach ei-nem Ausweg.

Die Solaner kamen sich wie winzige Fische zwischen den dicken Strängen vor. Sie richte-ten sich stur nach Rubeiner, der zielstrebig vorwärtsglitt. Sie vermieden es, allzu oft zur Seite zu sehen und die Gebilde anzuleuchten, die sich wie riesige Würste um sie herum auf-türmten oder wie gigantische Bettücher, unter denen sie zu ersticken drohten. Etwa zwei-hundert Meter entfernten sie sich in dem La-byrinth, ohne daß sie die Richtung nennens-wert verändern mußten. Dann jedoch war vorläufig Endstation.

»Langsam!« mahnte Rubeiner sie. »Orien-tieren wir uns zuerst.«

Nach seiner Schätzung befanden sie sich unmittelbar vor der riesigen Blase, die durch ihr rhythmisches Zucken aufgefallen war. Die Bewegung deutete auf ein Zentrum hin, ein Nervenzentrum vielleicht. Die Idee, sich das Ding einmal anzuschauen, stammte von Bjo Breiskoll.

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Es dauerte ein paar Minuten, bis sie den

engen Durchgang entdeckten. Er war so schmal, daß sie keine großen Bewegungen mit dem Körper machen konnten, ohne den Tang zu berühren. Rubeiner gab eine kurze Mitteilung an Hayes durch.

»Ich gehe allein«, verkündete er. »Sollte mir etwas zustoßen, dann ziehen sich die an-deren zurück.«

Proteste klangen auf, doch er beachtete sie nicht. Mit kraftvollen Stößen schwamm er auf den schmalen Kanal zu und verschwand in ihm. Nur das Atmen war noch zu hören, und seine Begleiter verhielten sich still, um ihn nicht zu irritieren.

Rubeiner paddelte mit den Händen voran. Er hielt den Körper steif und betete, daß ihn keine Strömung erfaßte. Angestrengt musterte er den Lichtkegel, den seine Lampe vor ihn warf. Er rechnete damit, jeden Augenblick abbremsen und rückwärts schwimmen zu müssen, weil es nicht weiterging.

Dann hatte er die Blase plötzlich vor sich. Er sah das Pulsieren, es gab keinen Irrtum.

»Zieht euch ein wenig zurück in einen Be-reich, wo ihr viel Platz habt«, wies er seine Gefährten an. »Ich bin am Ziel und werde es wagen. Ach ja, Hayes, grüß den Egel von mir!«

Bedächtig zog er den Strahler aus der Hüft-tasche und stellte ihn auf stärkste Intensität. Er war sich bewußt, daß rings um ihn der Tod lauerte und der Rückstoß des Strahlers ihn unweigerlich gegen die dicken Arme des Pri-mitivwesens treiben mußte.

Rubeiner schaltete seine Gedanken ab, konzentrierte sich auf den nächsten Augen-blick und schoß. Er hielt die Augen starr auf die zuckende Blase gerichtet und verfolgte den Weg des Strahls und seine Wirkung. Der Strahl drang wie ein Stein in das Gebilde ein, ließ es hellviolett aufleuchten und in sich zu-sammenfallen. Der Wasserdruck preßte eine dunkle Flüssigkeit heraus.

Sonst geschah überhaupt nichts. Rubeiner wurde vom Rückstoß weggetrie-

ben und landete zwischen den Ausläufern eines riesigen Blattes. In seinem Rücken war übergangslos ein stechender Schmerz.

*

Atlan hielt sich in der Hauptzentrale im Mittelteil auf und nahm am Rande wahr, was sich abspielte. Irgendwo in einem entlegenen Teil seines Bewußtseins speicherte er das Wissen, daß Rubeiners Gruppe das Schiff verließ und Cara Doz hereinkam und sich zu Lyta Kunduran gesellte. Der Arkonide dachte nach. Vor wenigen Stunden bereits hatte er sich in seiner Kabine mit ihrer hoffnungslosen Lage befaßt, aber er war zu keinem Ergebnis gelangt. Immer wieder wurde sein Nachsin-nen von anderen, gewaltigeren Gedanken ü-berlagert. Sie beschäftigten sich mit den Er-eignissen im Hintergrund, die er zu erfassen und zu verstehen suchte.

Er hatte eine Spur gefunden, eine Spur zu Anti-ES. Sie führte über Anti-Homunk, den ehemaligen Diener von Hidden-X, dessen neuer Herr nur die negative Superintelligenz sein konnte.

Und gerade in diesen Stunden des Erken-nens waren Atlan wieder einmal die Hände gebunden, denn ohne fremde Hilfe schien sich das Schiff nicht befreien zu können.

Anti-ES, der alte Gegner. Die Abstoßung der negativen Bewußtseinsteile innerhalb des Reifungsprozesses von ES.

Die Negation war schneller und weiter ge-wachsen, als die Kosmokraten es jemals an-genommen hatten.

Ein Gedankenblitz: Du warst bei den Kos-mokraten, sie haben dir einen Auftrag erteilt, den du nun nach Verlust der Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst nicht mehr ausführen kannst. Vorher hat Anti-ES dich geraubt. Wann ist es dir gelungen, jenen Weg anzutre-ten, auf den der Roboter Laire dich geschickt hatte?

In der Auseinandersetzung zwischen ES und Anti-ES hielt sich die negative Superin-telligenz nicht an die Regeln eines solchen Kampfes, und die Kosmokraten verbannten sie für zehn Relativ-Einheiten in die Namen-lose Zone, die zwischen dem Normaluniver-sum und den Materiequellen lag.

Atlan war von Anti-ES entführt worden, das ihn als Faustpfand gegen die Kosmokra-ten verwenden wollte. In den von Wöbbeking hervorgerufenen temporären Reinkarnations-effekten erlebte er all das nach, was ihm in dieser Zeit widerfahren war, die Gefangen-

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nahme durch die Superintelligenz, die Flucht-versuche und die gelungene Abspaltung eines kleinen, positiven Teils von Anti-ES.

Wieder ein Gedankenblitz: Du erkennst sehr richtig, daß auch Anti-ES im Lauf seines Wachstums positive Teile in sich entwickelt hat. Du hast sie befreit. Anti-ES war in die-sem Augenblick eine rein negative Erschei-nung. Ob es ihm gelungen ist, Born wieder einzufangen? Kaum, denn die Gedankenver-bindung von Born zu Wöbbeking-Nar’Bon drängte sich förmlich auf.

Born nannte sich dieser »Kern« selbst, und Atlan fieberte einer Auffüllung weiterer Erin-nerungslücken entgegen, ohne daß er hätte sagen können, wann Wöbbeking als Auslöser sich wieder bei ihm melden würde.

Auf der Basis des Ersten Zählers raubte Anti-ES ihm seinen Extrasinn, doch er erhielt ihn mit Hilfe eines Wesens namens Kik zu-rück. Sein Logiksektor hatte sich zusammen mit dem positiven Teil von Anti-ES verbor-gen gehalten. Aus der geistigen Vereinigung dieser beiden Wesenheiten entstand ein neues Wesen mit einem Körper aus Jenseitsmaterie. Das »Kind« und Born mußten die Flucht er-greifen.

Der dritte Gedankenblitz: Es fällt dir schwer, es zu glauben. Dein Extrasinn ist ein Elternteil einer fremden Wesenheit. Und du hast dein Kind verloren, als dein Sieg über Hidden-X sich verwirklichte.

Chybrain, das unbegreifliche Wesen, mit einemmal hatte er sein Verhalten begriffen. Chybrain war das Kind gewesen.

Atlan schloß die Augen und lauschte. Au-ßer dem Stimmengewirr, das über der Zentra-le lag, vernahm er nichts. Langsam hob er seine Augenlider und wandte den Kopf zur rechten Seite hinüber, wo in einer Entfernung von zehn Metern Breckcrown Hayes neben einem Sessel stand. Der High Sideryt wirkte nervös, es war kein Wunder. Die Begegnung mit seinem verstorbenen Vater war erst weni-ge Stunden her. Die Erkenntnis, daß er einer Illusion Anti-Homunks das Schicksal der SOL anvertraut hatte, machte ihm zu schaf-fen. Beinahe wäre es dem falschen Deccon gelungen, die SOL mit Hilfe der Beiboote so weit zu dezentralisieren, daß es den Tervern ein leichtes gewesen wäre, sie alle zu vernich-

ten. Wofür? fragte der Arkonide sich. Wozu soll

dieser Kampf gut sein, den alle Völker dieser Galaxis gegeneinander führen?

Seine Augen wanderten weiter, blieben an der kleinen, schmächtigen Gestalt von Cara Doz hängen. Die Solanerin trug keine der üblichen Bordkombinationen, sondern einen langen, sackähnlichen Umhang von dunklem Braun, der den schlanken Körper verbarg, die mageren, weißen Arme dafür um so mehr hervorhob und das blasse Gesicht grell beton-te. Die weißblonden, strähnigen Haare hingen ihr wirr in die Stirn und machten einen unge-pflegten Eindruck. Und bei all dem sah die junge Frau übermüdet und erschöpft aus.

Unruhe entstand in der Zentrale. Hayes wurde laut.

»Die Gruppe sofort zurück!« befahl er. »Rubeiner, wie steht es bei euch?«

Atlan trat zu Breck und lauschte auf die Antwort.

»Melinda Grosar spricht!« klang die Stim-me einer Frau auf. »Wir kommen nicht an ihn heran. Er hat offenbar auf die Blase geschos-sen. Der Tang hat sich kristallisiert. Ein paar Stränge haben sich verschoben, so daß wir nicht bis zu ihm vorstoßen können!«

Breckcrown schluckte mehrmals. »Kommt ins Schiff zurück, sofort!« sagte er

dann. »Wir können uns jetzt nicht um ihn kümmern!«

Sie verfolgten, wie sich die Männer und Frauen auf demselben Weg dem Schiff näher-ten, den sie beim Verlassen genommen hat-ten. Sie kehrten in das Innere zurück und hör-ten das schrille Heulen der Alarmsirenen.

»Die Ortungsergebnisse sind einwandfrei«, wandte Breck sich an Atlan. »Sieh her!«

Weit entfernt und zwischen den ortungs-hemmenden Tangmassen nur kurzzeitig wahrnehmbar, bewegten sich metallische Ob-jekte. Ohne Unterbrechung kamen sie näher.

»Sie versuchen es wieder!« stellte Atlan fest. »Die Terver greifen an!«

Er verzog das Gesicht zu einem sarkasti-schen Lächeln. Die Hoffnungslosigkeit des derzeitigen Zustands war es, die seine Reakti-onen bestimmte. Er freute sich über diesen Angriff und wünschte sich nichts sehnlicher, als daß die Terver das Netz aus Tang beseiti-

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gen würden, um endlich an die SOL heranzu-kommen. Gleichzeitig aber wußte er, daß die-ser Gedanke nichts anderes als ein Wunsch-traum war.

*

Lyta Kunduran winkte der 1,62 großen

Frau, die zehn Jahre jünger war als sie selbst. Auf Grund ihrer Gestalt konnte man Cara Doz für fünfzehn oder sechzehn halten. Nur wer in ihr Gesicht blickte, erkannte, daß sie doch älter und reifer war, als es ihr Körper vermu-ten ließ. Caras Gesicht besaß energische Zü-ge. Sie sprach nie darüber, warum sie über-müdet aussah. Lediglich Lyta hatte sie anver-traut, daß es sich um eine Art »Krankheit« handelte, eine Erscheinung, die ihr mit in die Wiege gelegt worden war. Geistig war sie hellwach und brauchte nie Schlaf. Auf selt-samen Wegen hatte die Natur sich bei ihr eine andere Möglichkeit zur Erholung gesucht.

Medizinisch gesehen wäre es vielleicht nicht verfehlt gewesen, sie als eine Wach-schläferin zu bezeichnen. Die Ursachen dieses Wachschlafes konnten nicht gefunden wer-den, und auf ihre Befähigung zur Emotionau-tin hatte die »Krankheit« keinen Einfluß.

»Vorlan, Uster«, sagte die Stabsspezialistin. »Das ist Cara!«

Die beiden Chefpiloten der SOL erhoben sich aus ihren Sesseln. Während Uster es von unten herauf tat, was bei einer Größe von 1,64 begreiflich war, kam der Körper Vorlans von oben herab. Er maß 1,86 und verbeugte sich, daß es aussah, als wolle er umstürzen.

»Mein Fräulein!« säuselte er, aber ein zor-niger Ausruf Usters ließ ihn verstummen.

»Woher willst du das wissen!« schimpfte Uster Brick.

Vorlan schwenkte zu ihm herum, und die beiden Gesichter starrten sich an. Sie glichen einander bis aufs Haar. Vorlan und Uster Brick waren eineiige Zwillinge und waren in jeder Hinsicht identisch, mit Ausnahme der unterschiedlichen Körpergröße.

Sie reichten Cara Doz die Hand und behin-derten sich gegenseitig dabei.

»Du bist eine sehr junge Pilotin«, sagte Vorlan freundlich, und Uster versetzte ihm heimlich mit dem Ellenbogen einen Stoß ge-

gen die Hüfte. »Holzkopf«, murmelte er. »Darf ich dir

meinen Sessel anbieten, Cara?« Die junge Solanerin hatte noch kein einzi-

ges Wort gesprochen. Jetzt huschte ein flüch-tiges Lächeln über ihr Gesicht, aber es ver-ging so schnell, wie es kam. Sie raffte ihr lan-ges, sackähnliches Gewand und nahm Platz. Aufmerksam huschten ihre Augen über die Steuerkonsole und die dazugehörenden Gerä-te. Mit einer raschen Armbewegung betätigte sie den Sensorpunkt der Übersichtskontrolle. Mit Ausnahme der außenliegenden Antriebs-systeme und der Waffen gab es keine Nega-tivmeldungen. Cara nickte.

»Gut«, sagte sie und blickte zu Lyta Kun-duran, die sie aufmerksam beobachtete.

»Keine Schwierigkeiten?« fragte die Stabs-spezialistin. Der Engel schüttelte die weiß-blonden Haare.

»Vertraut«, meinte sie. »Alles vertraut!« »Gesprächig bist du gerade nicht«, stellte

Uster Brick fest und kratzte sich die pech-schwarzen Haare.

Cara Doz beugte sich vor und strich mit den Fingerspitzen an den optischen Anzeigen entlang. Sie ertastete die Abmessungen der Konsole wie eine Blinde, bis sie an den Buch-sen für die mechanisch-magnetischen Sensi-tivanschlüsse innehielt. Kurz schloß sie die Augen, richtete dann einen leuchtenden Blick auf die Anschlüsse. Lyta Kunduran trat dicht neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Du mußt dich noch ein wenig gedulden, Cara«, mahnte sie und verstärkte den Druck ihrer Hand für kurze Zeit. »Alles muß sorg-sam vorbereitet sein!«

Vorlan lachte lauthals los. Er hielt sich den Bauch und rempelte seinen Bruder an.

»Kleiner!« keuchte er. »Das ist lustig. Was soll das Mädchen mit den Dingern!«

Wie ein Pfeil schoß Cara Doz aus ihrem Sitz empor und baute sich vor ihm auf. Ihre Augen blitzten ihn an.

»Nicht noch mal!« brachte sie hervor, aber es klang eher wie ein Flehen denn wie ein Befehl.

»Vorlan, Uster!« Lyta wandte sich an die beiden fünfunddreißigjährigen Chefpiloten. »Ihr werdet euch umstellen müssen. Cara er-

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hält demnächst ihre erste Chance, sich zu be-währen!«

»Jetzt?« Beide sagten es gleichzeitig, blick-ten sich an und lachten wieder.

Natürlich war es nicht möglich, das Schiff zu fliegen, solange es von dem Tang und dem Gravo-Fesselfeld der Terver behindert wurde. Irgendwann würde der Zeitpunkt schon kom-men, da dies nicht mehr so war. Die Hoffnun-gen aller richteten sich im Augenblick auf Rubeiner und seine Gruppe.

»Lyta, danke«, kam es über die Lippen des Engels, und wieder war da dieses flüchtige Lächeln, ein Beweis von Dankbarkeit und Schüchternheit. »Hast du es?«

Bit nickte vielsagend. Sie eilte zu einer Ab-lage hinüber und nahm einen metallisch glän-zenden Reif auf, an dem etliche Kabel und Anschlüsse befestigt waren. Sie brachte das Ding herbei und gab es der jungen Solanerin.

Cara Doz betrachtete den Gegenstand aus leuchtenden Augen. Dann preßte sie ihn an sich und wandte sich rasch ab, als schämte sie sich der Geste. Sie legte den Reif auf die Sitz-fläche des Sessels.

»Das Band«, flüsterte sie geistesabwesend, »das Band.«

Sie faßte Lytas Hände und ließ sie nicht mehr los, bis sich die Frau dem Griff ent-wand.

»Es ist gut«, meinte sie. »Ich habe es gern angefertigt!«

»Wir verstehen kein Wort!« brummelte Vorlan Brick und blickte anzüglich auf seinen Bruder hinab. »Größenmäßig paßt ihr hervor-ragend zusammen!«

Er meinte Uster und Cara, doch Cara verstand sich und das Band.

»Es ist ein Emotioband!« erklärte Lyta Kunduran, und den beiden Bricks fielen die Kinnladen herunter. »Es hat lange gedauert, bis SENECA eine optimale Lösung gefunden hatte. Und ihr macht euch kein Bild, wie schwer es war, die Systeme der alten Emotio-nautenausbildung zu beschaffen und eine vollständige Einweisung durchzuführen.«

Aus Usters Mund kam ein gefährliches Gurgeln. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deu-tete er auf die junge Frau.

»Emo...«, kam es heraus, »... tionau ... tin! Ah!« Er verschluckte sich und hustete schwer.

»Du willst die SOL ...«, fügte Vorlan hinzu. Cara reagierte nicht darauf. Wieder griff sie

nach dem Stirnreif, umklammerte ihn fest und streifte ihn sich behutsam über den Kopf. Der silberne Glanz verlieh ihr erst recht etwas von einem weihnachtlichen Engel.

»Ich nehme an, wir werden die Gelegenheit erhalten, das Band auszuprobieren!« bekräf-tigte Lyta Kunduran und zog den Engel mit sich. »Komm!«

Sie ließen die beiden Piloten stehen, denen noch immer der Mund offenstand. Vorlan und Uster Brick starrten ihnen entgeistert nach. Vermutlich wären sie noch eine Weile so ste-hengeblieben, wenn nicht Hayes die Fahrzeu-ge der Terver entdeckt und Alarm gegeben hätte.

3.

Lisbaon lag auf Grund. Die acht Kilometer

durchmessende Stadt hatte mit Hilfe der An-tigravprojektoren ihres Stengels die »Kappe« der Pilzstadt hinabsinken lassen in die Mulde am Grund des Ozeans, der hier knapp sieben Kilometer tief war. Die Stadt füllte die Mulde aus und ragte wie ein Fnydros über den Bo-den hinaus, einer jener schmackhaften Fische, die auf der Unterseite platt und am Rücken gewölbt waren. Der Schutzschirm hielt das Wasser von ihr fern und ermöglichte es gleichzeitig, Beobachtungen der unmittelba-ren Umgebung anzustellen.

Viel zu sehen gab es im Augenblick nicht, aber die über Funk eintreffenden Aufhellbil-der von dem eingehüllten Fremdschiff erin-nerten Lemarner Traph daran, daß eine Pattsi-tuation eingetreten war. Es war ihnen bisher nicht gelungen, an die Fremden heranzu-kommen und sie zu besiegen.

Traph schämte sich dafür. Es hielt ihn nicht länger in seiner Beobachtungskanzel, und er eilte hinaus. Am liebsten hätte er sich mit Juccan Bresalph in Verbindung gesetzt, dem Tangmeister, der die Aktionen gegen das Fremdschiff gesteuert hatte.

Traph suchte die Befehlszentrale auf. Die Techniker waren darum bemüht, die durch Verschleiß müde gewordenen Teile des Stadtstengels auszutauschen. Ganze Kolonnen Mechaniker waren unterwegs, um im Schutz

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der Schirme jene Zonen zu überprüfen, in denen es aus Platzgründen und wichtigen Konstruktionsprinzipien heraus keine automa-tischen Selbsterneuerungsanlagen gab. An-sonsten ruhte Lisbaon sicher auf der steiner-nen Oberfläche Tervs.

»Senkmeister, es ist baldige Unterstützung gemeldet!«

Ronner Jagwes erhob sich und machte dem gewählten Herrn über die Stadt Platz. Lisbaon gehörte zu den reichsten Städten des Planeten, und Traphs Worte galten oft als ausschlagge-bend, wenn es um wichtige Entscheidungen ging, die alle Terver betrafen. Entscheidungen über die Fremden zum Beispiel.

Lemarner Traph atmete auf. Das ewige Warten hätte ihn auf Dauer noch mehr zer-mürbt, und Unterstützung aus der unmittelba-ren Umgebung jenes Bereichs, in dem das Schiff gefangen war, bedeutete zunächst ein-mal ein Weiterkommen.

Angreifen, das war es! Die Worte des Auf-traggebers besaßen eine zwingende Gewalt. Keinem Terver wäre es eingefallen, sie zu bezweifeln oder nicht augenblicklich zu be-folgen. Anti-Homunk, das große Wesen, das jeden Terver überragte, hatte sie aufgesucht und ihnen mitgeteilt, daß es nun den entschei-denden, letzten Kampf galt. Dementsprechend offensiv waren sie auch darangegangen, die-sen Kampf für sich zu entscheiden. Wie alle früheren Kämpfe.

Seit Anti-Homunks Auftauchen erfüllte Begeisterung den Planeten und seinen Ozean. Inzwischen jedoch hatte sich das Blatt ein wenig gewendet. Das fremde Schiff hatte kei-ne kleinen Boote mehr ausgeschleust, und gegen die große Einheit aus zwei Kugeln und einem Mittelstück kamen sie nicht an.

Traph wußte im Augenblick keinen Rat. Das beunruhigte ihn. Das plötzliche Ver-schwinden Anti-Homunks hatte ihn zusätzlich erschüttert, und er fragte sich, was in diesem Wesen mit seiner glatten, grauen Oberfläche vorgehen mußte. Es besaß keine ausgeprägte Physiognomie. Die Nase war nur angedeutet, der Mund viel zu schmal, um Nahrung damit aufnehmen zu können. Die kreisrunden, über-großen Augen verströmten absolute Unnach-giebigkeit, wie es sich für den Auftraggeber des Bewährungskampfs geziemte.

Der Senkmeister fuhr plötzlich herum, aber da war niemand. Nur in einer Entfernung von ein paar Metern standen ein paar Ingenieure und unterhielten sich halblaut über das Prob-lem, wie sie dem großen Schiff doch noch beikommen konnten.

»Einen Augenblick lang hatte ich das Ge-fühl, als blickte mir jemand über die Schul-ter«, stellte Traph fest. »Was mag es bedeu-ten?«

Er glaubte die Nähe Anti-Homunks zu spü-ren, aber es konnte auch Einbildung sein. Der Auftraggeber hielt sich mit Sicherheit in der Nähe des Gegners auf, um ihn zu beobachten, ihn und das Volk der Terver, das mitten aus dem Alltag in den Kampf übergetreten war.

Es war nicht irgendein Kampf. Die Ankunft von über zwanzig Gleitern

wurde ihm gemeldet. Er machte sich auf zu dem Saal, in dem sie ihre Besprechung durch-führen wollten. Er erwartete die Senkmeister aller Städte, die in einem Umkreis von fünf-hundert Kilometern um das Gefängnis herum lagen. Die dreiundzwanzig Gleiter bildeten die Vorhut.

Überraschenderweise kamen auch ein paar andere Terver. Juccan Bresalph zum Beispiel, der Tangmeister. Er schleppte eine schwere Tasche mit sich und stellte sie sofort auf den Tisch, der an der linken Saalwand stand. Er holte mehrere Gegenstände heraus und legte sie daneben, lud die Anwesenden mit einer Handbewegung zum Nähertreten ein.

»Wozu sind wir das Volk von Terv, wenn wir keine Ideen haben?« fragte der Tangmeis-ter, der für sein entschiedenes Vorgehen ge-gen den Feind bekannt war. »Das ist eine Fal-le, in die wir den Gegner locken!«

Mit wenigen Handgriffen steckte er die Teile eines Modells zusammen. Zufrieden sah er die Terver der Reihe nach an.

»Waffengewalt nützt nichts mehr«, erklärte er. »Wir können uns nicht an die Außenfläche des Schiffes heranbewegen, solange der Tang es einhüllt. Ihn zu entfernen, würde jedoch bedeuten, daß wir vorher das Fesselfeld aus-schalten und die Tangwesen zurückbefehlen. Bei einem Teil von ihnen ist nur noch eine eingeschränkte Bewegung möglich, weil der Feind durch Zerstörung mehrerer Blasen die Struktur des Tangs verhärtet hat.«

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»Und dein Modell schafft Abhilfe?« Traph

schüttelte ungläubig den Kopf. »Was stellt es dar?«

»Es ist ein Gravitron«, sagte Bresalph. »Die Idee dazu ist schon alt, ich kam zufällig dar-auf. Ein paar Stunden dauerte es nur, bis ich das Modell fertig hatte.«

Er stellte sich in Positur und machte ein wichtiges Gesicht.

»Das Gravitron ist das Gegenteil eines Fes-selfelds«, machte er ihnen begreiflich. »Das Prinzip besteht darin, daß wir das Schiff frei-lassen und aus dem kleinen Käfig in einen größeren Käfig sperren. Zunächst wird es so aussehen, als gelänge den Fremden die Flucht. Sie sind jedoch in ein Maximalfeld eingesperrt, in dessen Innerem ein zweites Feld arbeitet, das auf gegenteiliger Basis ar-beitet. Das einzige, was zu beachten ist: Die beiden Felder dürfen sich nicht berühren, da sie sich dann gegenseitig aufheben.«

Traphs Miene war nachdenklich geworden. Er blickte zur Decke, als könne er durch das Metall und das Wasser hindurch die gelbe Sonne Zautath sehen, die nur 3,8 Lichtjahre außerhalb der Dunkelzone von Xiinx-Markant stand.

»Das Gravitron hat also gegenteilige Wir-kung«, antwortete er. »Es engt nicht ein, es reißt auseinander!« Natürlich, das war die Lösung, die sie suchten!

Rasch trat er auf Bresalph zu und beglück-wünschte ihn.

»Du Genialer!« rief er aus. »Nichts gibt es, das dir nicht möglich wäre!«

Freudige Ausrufe wurden laut, übergangs-los befanden sich die Terver in Höchststim-mung und bester Laune.

»Ja, so werden wir es machen«, verkünde-ten sie. »Wir werden das Schiff des Gegners auseinanderreißen, wie man die Schale einer Muschel zerbricht. Sind die Fremden erst einmal ihrer stählernen Hüllen beraubt, müs-sen sie sich zum Kampf stellen!«

Eigentlich war es verwunderlich genug, daß der Feind sich in seinem Schiff nicht rührte. Es war Feigheit, und sie war den Tervern un-begreiflich. Alles in ihrer Welt war auf den Kampf ausgerichtet. Die bewaffnete Ausei-nandersetzung bildete den Grundstein des Lebens. Nur wer unermüdlich an sich selbst

und seinem Bestehen arbeitete, konnte Aus-sicht auf den Lohn haben.

Die Terver befanden sich in ihrem ent-scheidenden Kampf, Anti-Homunk hatte es ihnen mitgeteilt.

»Geniale Einzelleistungen waren schon immer die Vorbereitung für geniale Leistun-gen des ganzen Volkes«, dozierte Bresalph stolz.

*

Seit Gushtar Irrido von seinem Vorgesetz-

ten und Lehrer Juccan Bresalph in die Pilz-stadt geschickt worden war, um unter der Kuppe dicht an der Oberfläche des Ozeans Aufgaben für die Raumverteidigung zu über-nehmen, kam er sich unnütz vor. Und er wur-de den Verdacht nicht los, daß Bresalph ihn nicht nur wegen seiner ständig differierenden Ansichten zum Kampfesgetümmel in dem Wassermantel Tervs hierher geschickt hatte, sondern daß dies noch einen anderen Grund besaß, über den der Tangmeister jedoch nicht sprechen wollte.

Zur Kontrolle funkte Irrido seinen Lehrer auf der ihm geläufigen Wellenlänge an, aber ein Techniker machte ihm begreiflich, daß der Tangmeister seinen Aufgabenbereich verlas-sen hatte und sich an unbekanntem Ort auf-hielt. Auch die Dauer seiner Abwesenheit war nicht bekannt.

»Der Ozean soll zu Eis gefrieren!« fluchte Gushtar und warf seinen Körper auf den har-ten Schemel, der an den Beobachtungsgeräten für die Raumbeobachtung stand. Die Kuppe der Stadt befand sich unmittelbar unter der Wasseroberfläche, und die Antennen und Tas-ter für die Fernortung ragten als dünne, elasti-sche Stäbe bis zu dreißig Meter aus dem Oze-an hervor. Tag und Nacht warteten sie auf Signale, aber diese blieben aus. Überhaupt war es kaum zu erwarten, daß sich innerhalb kürzester Zeit ein weiterer Feind ihrem Son-nensystem näherte. Wenn das, was Anti-Homunk gesagt hatte, zu Ende gebracht wer-den konnte, bedeutete es ohnehin, daß es kei-nen weiteren Feind gab.

Gushtar Irrido war kein Zweifler. Wie alle Mitglieder seines Volkes war er zutiefst da-von überzeugt, daß der Kampf die wichtigste

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und höchste Aufgabe des Lebens war. Sein Geist jedoch dachte in weiteren Bahnen als der von Bresalph, und er hieß nicht alle Schritte und Taten seines Lehrmeisters gut.

Als nach zwei weiteren Stunden noch im-mer nichts geschah und Bresalph weiter ver-schwunden blieb, faßte der Terver den Entschluß, nach draußen zu gehen. Er wollte die Stadt durch eine Strukturlücke ihres Schutzschirms verlassen und sich ein wenig an der Oberfläche des Weltmeers tummeln, vielleicht auch ein wenig tauchen und Aus-schau nach aggressiven Stachelfischen halten, die es an der bis zu vierundzwanzig Grad warmen Oberfläche des Wassers in ganzen Schwärmen gab.

Irrido öffnete einen Schrank und vertausch-te seine leichte Stadtkleidung mit einem was-serfesten, glänzenden Anzug. Sicherheitshal-ber nahm er Atemgerät und Sauerstofflasche mit. Es war zwar nicht unbedingt nötig, denn die ehemaligen Meerbewohner besaßen noch Rudimente eines inneren Kiemensystems, mit dessen Hilfe sie etwa zwei Stunden unter Wasser bleiben konnten, ohne atmen zu müs-sen. Sie bezogen dann ihren Sauerstoff aus dem Ozean. Nach zwei Stunden allerdings waren die Kräfte der Kiemenreste erschöpft, und es kam zu Durchblutungsstörungen und Atemnot.

Der Terver strich sich über die silberfarbe-ne Narbe über seinem rechten Auge und machte sich auf den Weg. Zuvor jedoch warf er einen letzten Blick auf die Ortungsanzei-gen.

Im nächsten Moment ließ Irrido alles fah-ren, was er in den Händen hielt. Er stürzte an die Kontrollen, maß mit flackernden Augen die Werte und stieß hastig die Luft aus.

»Bei allem, was mir heilig ist!« ächzte er. »Das gibt es nicht!«

Er kniff die Augen zusammen und wollte den Eindruck verscheuchen. Die Werte jedoch blieben, und Gushtar Irrido setzte sich wieder auf den Schemel.

»Schiffe!« murmelte er. »Ein ganzer Schwarm Schiffe! Wo kommen sie her?«

Ein Gedanke kam ihm. Es konnten nur An-gehörige jenes Volkes sein, dessen Mitglieder auf dem Grund des Ozeans gefangen waren. Dann war alles, was sie bisher erreicht hatten,

nichts. Das eine Schiff war nur ein Vorbote gewesen, die eigentliche Prüfung stand noch bevor.

Aus brennenden Augen verfolgte er, wie die Aufzeichner liefen und jede Erscheinung festhielten, die sich im System der Sonne Zautath abspielte. Der Tauchgang und alles andere war vergessen, er dachte nicht mehr daran, daß er einen Schwimmanzug trug.

Und dann richtete sich der Terver ruckartig auf.

»Muschelschiffe!« stieß er hervor. »Raum-schiffe mit Muschelform!«

Es war unglaublich, und Irrido vergaß dar-ob fast seine wichtigste Pflicht. Siedendheiß überkam es ihn, und er riß mit der Hand den Verschluß der kleinen Kammer auf, in der die drei schwarzen Hebel steckten. Er packte sie mit einer Hand und drückte sie nach innen. Schmatzend öffnete sich in den Kontrollanla-gen eine Klappe und gab das Spezialfunkgerät frei, mit dessen Hilfe er gleichzeitig mit allen Städten Tervs in Verbindung treten konnte. Er preßte den Knopf ein, und ein Computer gab automatisch die Daten der Sendestation durch.

»Hier spricht Gushtar Irrido! Ich rufe alle Senkmeister! In unserem Sonnensystem sind über einhundert Raumschiffe aufgetaucht. Sie besitzen Muschelform und sind uns nicht be-kannt!«

Jeder erwachsene Terver besaß das Wissen um alle Völker, mit denen sie schon gekämpft hatten. Eines mit Muschelschiffen war ihnen noch nie begegnet!

Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Die Bestätigungen trafen ein, und die Stadt senkte sich abwärts, ihrer Mulde entgegen. Die An-tigravstationen im Innern des Stiels arbeiteten mühelos und zogen den Lamellenstengel zu-sammen, auf dem der Stadtpilz ruhte. Der Senkmeister hatte umgehend reagiert.

Hastig kleidete Gushtar Irrido sich um und wartete sehnsüchtig darauf, daß Juccan Bre-salph ihn zurückrief. Er beobachtete weiter und fragte sich, ob diese Schiffe tatsächlich zu dem riesigen Ungetüm gehörten, das auf ihrer Welt lag. Wenn nicht, dann hätte er gern gewußt, wie viele Völker an dem letzten, ent-scheidenden Kampf der Terver beteiligt wa-ren.

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Davon hatte Anti-Homunk nicht gespro-

chen. Flüchtig dachte Irrido an das kleine Perlen-

kästchen, das in die Glasmauer Pschwemm-vus eingelassen war, der ältesten Stadt des Planeten. Die Überlieferung berichtete, daß es ein wichtiges Geheimnis enthielt, das erst dann offenbart werden sollte, wenn die Terver sich auf dem Gipfel ihres Kampfes befanden. Davon hatte Anti-Homunk auch nicht gespro-chen, obwohl er mit Sicherheit wußte, was für ein Geheimnis es war.

4.

Die Besatzung des Stützpunktplaneten

sandte einen letzten Gruß, während Urk-Wascheff das Zeichen für den endgültigen Weiterflug gab. Die Schiffe beschleunigten innerhalb weniger Zeiteinheiten auf Lichtge-schwindigkeit und wechselten das Transport-medium. Für die Beobachter auf Urk-Sanzig sah es aus, als gäbe es die einhundertachtzehn Raumschiffe plötzlich nicht mehr. Etwas, das sich schneller bewegte als das Licht, konnte man nicht beobachten.

»Es ist bald soweit.« Urk-Gnodel näherte sich dem Sager allerhöchster Verantwortung, rutschte ein wenig vor ihm hin und her und senkte alle acht Augenstiele nach unten. Seine Verdauungsbeutel zitterten vor Erregung, die sie alle befallen hatte, seit die Sucher mit ihrer Botschaft zurückgekehrt waren.

Urk-Wascheff dachte an seine Bäume und seinen Ruhm. So hoch es ging, streckte er sich auf seinen Beinchen der flachen Decke der Kommandomulde entgegen, die ein einzi-ger, durchgehender Bildschirm war und alles wiedergab, was sich draußen in Flugrichtung ereignete.

»Kampf wird sein!« machte er den Urk-Lystarin begreiflich. »Ein großer Kampf! Bei allen Bäumen und Muscheln, laß es den ganz großen Gegner sein!«

Außer den Hinweisen auf eine technische Zivilisation besaßen sie keine Anhaltspunkte, die ihnen darüber Aufschluß gaben. Und den-noch konnte es nicht anders sein, die Ge-schichte ihres Volkes hatte es sie gelehrt.

Großer Philosoph nannten sie ihn, und seit ihrem Aufbruch von Urklys gefielen sich vie-

le der Raumfahrer darin, ihn mit dieser Be-zeichnung zu ehren und ihm zusätzliche Por-tionen ihres Nahrungsbedarfs abzutreten. Urk-Wascheff fügte sich mit einem gnädigen Gur-geln in das Unvermeidliche. Es hätte seinem Ansehen geschadet, hätte er das Anerbieten abgelehnt.

Für seine persönlichen Zeiträume bewohnte er die Unterkunft des Flottenkommandanten, in der er sich unbeobachtet bewegte. Er schlang die Gaben hinunter, die er mit seinen Knochenwülsten nicht zerkleinern konnte. Die Urk-Lystarin in seiner Umgebung übten sich in Entsagung. Offensichtlich hielten sie ihn für jünger, als er tatsächlich war.

Er kam sich wirklich vor wie in einem zweiten Leben.

»Es dauert nicht lange«, meldete Urk-Gnodel. »Die Entfernung beträgt höchstens noch vier Lichtjahre!«

Es hörte sich unglaublich an, doch für den Sager allerhöchster Verantwortung stellte es nichts Besonderes dar. Die Technik seines Volkes befand sich auf einem Stand, den so leicht kein anderes erreichte. Es war mit ein Grund, warum die Urk-Lystarin bisher ohne Niederlage aus dem Wettkampf hervorgegan-gen waren.

Urk-Wascheff verfiel wieder ins Philoso-phieren. Er redete sich ein, daß sein Weg von Anfang an vorgezeichnet war, daß die Urk-Lystarin für den Endsieg bestimmt waren, ohne es jemals erfahren zu haben. Jener, der die endgültige Entscheidung über den Sieger treffen würde, mußte es wissen.

Der Sager machte sich kein Bild von dem Geheimnisvollen, den er bei sich den Kampf-richter nannte. Er hatte Jahrzehnte gesucht, ohne auf den Planeten der sieben Systeme einen Hinweis auf ihn zu finden. Lediglich der Weg war vorgezeichnet.

Nur durch den Kampf durften sie das hohe Ziel erreichen.

Die heftigen Bewegungen der über vierzig Urk-Lystarin in der Kommandomulde deute-ten es an, daß sich die Schiffe kurz vor dem Ende ihrer Überlichtreise befanden. Violette Lampen leuchteten auf, tauchten die Mulde in zurückhaltendes Licht. Es war eine Vor-sichtsmaßnahme. Ohne sie war es möglich, daß die Augen aller Insassen von den Licht-

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blitzen beim Übergang geblendet wurden und nie mehr zum Leben erwachten.

Der Übergang kündigte sich durch ein fei-nes Ziehen in den Tentakelbeinen an, kroch den Körper empor bis zu den Sinnesorganen und verließ die Urk-Lystarin nach oben, ent-schwand irgendwo über ihnen in dem Bild-schirm, dessen dunkle Lichtlosigkeit über-gangslos von hellen Blitzen getroffen wurde. Elektrostatische Entladungen knisterten und bildeten Überschlagsbögen zu den Metalltei-len an den Bedienungstischen. Ein Fauchen lag in der Luft, als die Automaten den Antrieb des Schiffes um zehntausend Einheiten zu-rücknahmen und die Fahrt den Gegebenheiten des Normalraums anglichen.

Es war geschafft. Die Sternenreigen von Xiinx-Markant wanderten über die Decke, und die Urk-Lystarin folgten einzelnen hellen Sonnen mit einem Teil der Augen, während die anderen weiterhin die Instrumente beo-bachteten. Die Schiffe verloren weiter an Fahrt, und Urk-Gnodel schaltete sich über den Funkverbund in die Steuerung aller Schiffe ein. Die Anwesenheit des Sagers legte ihnen eine Reihe von Vorschriftsmaßnahmen auf, die vor allem aus Gründen der Sicherheit er-forderlich waren.

Ein Sager in Feindeshand oder im Kampf getötet, hätte ein nie zu verzeihendes Delikt dargestellt, und die Angehörigen der An-griffsflotte hätten es als selbstverständlichste Pflicht betrachtet, ihrem Philosophen in das Grab zu folgen. Sie hätten den Toten mit ih-ren Gliedmaßen umfaßt, so gut es ging, und versucht, ihm wenigstens im Jenseits etwas von der Wärme zu vermitteln, die sie ihm im Leben auf leichtsinnige Weise versagt hatten.

»Urk-Wascheff, unser Sager, ich bitte euch, das Kommando über den Angriff zu über-nehmen!« flötete der Kommandant.

Der Sager gab durch eine Geste sein Ein-verständnis zu erkennen. Er schlug alle drei Greifhände gegeneinander, ein deutliches Zeichen. Den Urk-Lystarin hatte die Natur einen Haufen Tentakel gegeben, aber manche Dinge waren nur mit Hilfe der Hände auszu-führen. So bildeten diese Körperteile einen zwar notwendigen, aber doch nicht zum Er-scheinungsbild eines stolzen Kämpfers gehö-renden Zusatz. Daß der Sager sie jetzt ins

Spiel brachte, war eine Äußerung dessen, was er dachte. Es sollte eine Aufforderung an den Gegner sein, sich zu zeigen.

Urk-Wascheff griff in die Steuerung ein. Die Schiffe schwenkten herum, zeigten dem Gegner den Rücken und bremsten ihre rasche Fahrt ab, bis sie beinahe bewegungslos am Rand des Sonnensystems verharrten. Sie suchten die Umgebung ab.

Sie fanden nichts. Drei Planeten besaß die gelbe Sonne, die beiden inneren stellten heiße Gesteinsbrocken ohne jedes Leben dar. Blieb der dritte Planet, der ringsum aus Wasser be-stand, mit einer atembaren Luftschicht dar-über. Eine Sauerstoffwelt wie alle bewohnba-ren Planeten des eigenen Volkes.

»Nichts!« gurgelte der Sager allerhöchster Verantwortung verschüchtert. »Die Sucher haben sich geirrt!«

Er spürte den dunklen Nebel, der durch die Wandung der Mulde drang und sich ihm nä-herte, und wich instinktiv zurück. Er wollte nicht. Er hatte es schon einmal mitgemacht und wehrte sich mit aller Kraft dagegen. Der unsichtbare Nebel stoppte, und Urk-Wascheff atmete mit allen Röhren auf. Nur jetzt nicht in Selbsttrauer versinken, redete er sich ein.

Verzweifelt ermunterte er die Funker und Beobachter, nach den Spuren des Gegners zu suchen, doch sie hatten keinen Erfolg. Das Unternehmen, so großartig es begonnen hatte, war in Frage gestellt, und der Sager erkannte mit Schrecken, daß die Sucher getäuscht wor-den waren. Sie hatten falsche Worte mitge-bracht und womöglich einen unheimlichen Feind mitten zwischen die Urk-Lystarin ge-tragen.

»Da!« stieß Urk-Gnodel erleichtert aus. »Seht ihr es?«

Für einen kurzen Augenblick zuckten die Metalltaster, sanken dann in ihre ursprüngli-che Nullposition zurück. Ein Hinweis?

Urk-Wascheff raste durch die Mulde und scheuchte die Funker beiseite. Er ließ die Ten-takel über die Sensoren gleiten und blubberte eine Unverschämtheit nach der anderen durch den Äther.

»Ihr Feigen, ihr Schwachen! Ihr habt euch versteckt. Aber wir wissen, daß ihr hier seid! Zeigt euch endlich. Stellt euch!«

Er befahl einer Gruppe von vierzig Schif-

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fen, in eine enge Umlaufbahn um den Plane-ten zu gehen und notfalls blind den Kampf gegen einen noch nicht vorhandenen Gegner zu eröffnen.

Konnte der Feind sich unsichtbar machen? Schnell erhielt er Antwort. Aus dem Was-

serball des Planeten rasten feurige Zungen hinaus und griffen gierig leckend nach den Schiffen. Die Schüsse waren so präzise ge-zielt, daß selbst der kampferprobte Sager staunte und verwundert mit den Augäpfeln rollte. Er stolzierte zu seinem Beobachtungs-platz in der Mitte der Mulde zurück und streckte sich.

»Sie sind drunten!« Er dröhnte los, und es klang erfreut. Alle spürten, daß das Kampf-fieber den Philosophen gepackt hatte. Weitere Schüsse zogen ihre Spuren durch das All, und sie hätten die Schiffe vernichtet, wenn sie keine Energieschirme zu ihrem Schutz beses-sen hätten.

»Er ist es!« jubelte Urk-Wascheff verzückt. »Er muß es sein!«

*

Über den Wogen der Wasserwelt schien der

Traum eines ganzen Volkes in Erfüllung zu gehen. Eine Botschaft durcheilte Xiinx-Markant und gelangte bis nach Urklys, wo sie mit leichten Verzerrungen in der Mulde der obersten Verbindung verstanden und weiter-geleitet wurde. Das Volk der Urk-Lystarin geriet in einen Aufruhr der Gefühle.

Die hundertachtzehn Schiffe verteilten sich rund um den Planeten und eröffneten ihrer-seits das Feuer. Noch besaßen sie keine ein-deutigen Energieechos, die auf den Standort des Gegners hinwiesen. Lediglich die Aus-trittsstellen der Strahlschüsse aus dem Wasser waren sichtbar. Urk-Wascheff befahl, auf jene Stellen zu zielen und mit größtmöglicher E-nergie zu schießen, um den Wassermantel zu durchdringen und die versteckten Schiffe oder Waffen zu treffen.

Der Sager konnte nicht ahnen, daß ausge-rechnet diese Anweisung zu einer ganz ande-ren als von ihm beabsichtigten Entwicklung führen würde.

Ungeduldig warteten die Urk-Lystarin auf den Gegner, suchten die Wasseroberfläche

nach Anzeichen von Raumschiffen ab, doch nichts geschah. Der Schußwechsel blieb ein anonymer.

Urk-Wascheff zauderte. Er trug sich mit dem Gedanken, die Hälfte der Flotte in das Wasser zu schicken, dann jedoch überlegte er sich, daß es eher nach einer Falle roch, daß der Gegner nur darauf wartete, daß er sich hineinbegab. Also wies er die Kommandanten der Schiffe an, ihre Positionen nicht zu ver-lassen.

Und da geschah etwas völlig Unerwartetes. Es verblüffte den Sager allerhöchster Verant-wortung derart, daß er ein paar Augenblicke keine Befehle mehr gab und die bisherigen zurücknehmen wollte.

»Kambatschen!« trompetete er durch die Mulde, daß alle Urk-Lystarin erschraken. »Das sind Kambatschen!«

Rund um den Planeten tauchten riesige Ge-bilde auf. Sie variierten in der Größe, aber es war eine unübersehbare Zahl. Auf langen Stengeln steckend, hoben sie sich aus dem Wasser und streckten ihre Köpfe in den Himmel hinein. Die Oberfläche des Ozeans verwandelte sich in Windeseile in eine von metallenen Körpern schillernde Zone.

Es waren Hunderte, dann Tausende. Urk-Wascheff pendelte verzückt mit den

Augenstielen. Er meinte den scharfen Geruch der heimischen Wälder auf Urklys zu riechen, und sein Geruchsdepot gab tatsächlich eine erhebliche Restmenge gespeicherten Wohlbe-hagens von sich. Kambatschen wuchsen dort zu Millionen. Täglich sprossen sie aus dem weichen, nahrhaften Boden. Es gab nicht so viele Liebhaber, um sie jemals vollständig ernten zu können. Sie wuchsen und wuchsen, und manche wurden so hoch, wie ein halber Tentakel lang war.

Der Sager überschlug kurz sein Wissen, es war beträchtlich. Er kannte weit über zwanzig Hundertschaften dieses faserigen Gewächses, das eine Betätigung der Knochenwülste im Schlund unnötig machte, weil es leicht zerfiel und gut verdaulich war. Alle sahen sie so aus wie die Riesen, die jetzt aus dem Wasser wuchsen und ebensolche Tellerkappen besa-ßen.

Nur waren diese aus Metall, und ein leich-ter, immer wieder aufflammender Hauch zeig-

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te, daß sie ebenso wie die Schiffe über ihnen in starke Energieschirme gehüllt waren, denen die Ladungen aus vielen Waffen nichts anha-ben konnten.

Urk-Wascheff spürte eine unbestimmte Ge-fahr. Es mochte die Andersartigkeit der Kam-batschen dort unten sein, die Tatsache, daß es sich um feuerspeiende Stationen handelte, die der Größe nach gemessen auch der einheimi-schen Intelligenz Zuflucht boten.

»Siedlungen!« äußerte er und richtete alle Extremitäten auf den Bildschirm über sich. »Es sind Kambatschensiedlungen!«

»Bei Urk!« Urk-Gnodel knickte vor Entset-zen über diesen Vergleich mit allen Beinchen ein. Die Schärpe seines Kommandos berührte den Boden und hinterließ einen unauslöschli-chen, dunklen Segmentfleck.

»Bei Urk und allen Seelenberatern!« stimmte Urk-Wascheff ihm zu. »Setzt die Destruktoren ein!«

Der Befehl riß auch den letzten seines Vol-kes vom faszinierenden Anblick des Schirmes los. Tief in den Außensektoren der Schiffe nahmen zusätzliche Maschinen und Kraftsta-tionen ihre Arbeit auf, begannen Aggregate zu rumoren, die zum Gefährlichsten gehörten, was urk-lystarinsche Wissenschaft jemals erdacht hatte. Hellgelbe Öffnungen bildeten sich nach allen Seiten, und weiß-violette, wa-bernde Glut jagte hinaus auf die Kampfstatio-nen der einheimischen Intelligenz zu.

Ein Großteil der Kambatschen verschwand blitzartig unter der Oberfläche des Wassers. Andere zogen sich bis in die Nähe des schüt-zenden Mantels zurück und hüllten sich in dunkelrote Farben. Der Sager mußte erken-nen, daß die Computer des Volkes dort unten auch nicht schlechter waren als seine eigenen. Die gleißenden Lohen der Destruktoren glit-ten wirkungslos ab und beeinträchtigten nicht einmal die Wassermassen so, daß ein Erfolg sichtbar gewesen wäre. Dafür wehrte sich der Gegner um so stärker.

Diesmal waren es grünliche Strahlen, so grün wie das Wasser. Optisch waren sie erst auszumachen, wenn sie den Bereich des Hori-zonts überschritten. Für diejenigen, die sich direkt über einer Schußbahn befanden, war die Gefahr nur am Wärmeecho zu erkennen.

Urk-Wascheff rülpste geringschätzig. Es

war nicht einmal nötig, die Energie der Schutzschirme zu verstärken, doch der Ge-danke, welche Waffe er nun in den Einsatz schicken sollte, bereitete ihm Luftwirbel in seinem Denkbereich.

»Philosoph, Ihr habt recht gehabt!« klang die Stimme des Flottenkommandanten auf. Erneut machte Urk-Gnodel eine Ehrenbezei-gung vor dem Sager. »Das ist tatsächlich der GANZ GROSSE GEGNER!«

1. Zwischenbetrachtung

Von seinem Aufenthaltsort aus beobachtete

Anti-Homunk das Geschehen auf Terv. Auf-merksam verfolgte er das Vorhaben der ein-heimischen Intelligenz gegen die SOL.

Der glatte Körper des Auftraggebers zeigte keinerlei Regung. Ab und zu bewegte er sich ein wenig hin und her oder wechselte seinen Standort. Die Terver nahmen ihn nicht wahr, und er sah keine Veranlassung, erneut in den Pilzstädten zu erscheinen. Ein einziges Mal zog er den Vorhang aus Wasser beiseite und betrachtete das, was von der SOL zu sehen war: Ein von Tang eingehüllter, dunkler Kör-per, in der Finsternis des Grunds kaum wahr-nehmbar. Für ihn jedoch spielte das keine Rolle. Er sah die Lichter und verfolgte, was sich in unmittelbarer Nähe des Schiffes zu-trug.

Dann schloß Anti-Homunk den Vorhang wieder und richtete sein glattes Androidenge-sicht auf die Umgebung des Planeten. Erneut sah er die SOL, wie sie arglos heranflog und in den Wassermantel von Terv eintauchte, sich fast freiwillig in die Falle begab, aus der sie nicht mehr entkommen konnte.

Seinem Auftrag stand nichts im Weg. Hidden-X war es gewesen, sein ehemaliger

Herr, der ihm diesen Auftrag erteilt hatte. Er leitete alles in die Wege, um ihn zu erfüllen.

Gleichzeitig wartete er darauf, daß es ihm die Terver leicht machten, die Rache zu voll-ziehen. Nachdem Janvrin vernichtet war, wollte er sich nicht den Zorn seines neuen Herrn zuziehen, indem er weitere Manifeste in die Auseinandersetzung schickte.

Der neue Herr war ungeduldig, er konnte es nicht erwarten, das wahre Objekt nach Xiinx-Markant zu locken.

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Anti-Homunk wußte, daß alles so gelingen

würde, wie er es vorausplante. Die SOL wür-de vernichtet, die Rache von Hidden-X ausge-führt. Wenn es soweit war, blieb nur noch der neue Auftrag.

Der Auftraggeber konzentrierte sich auf die Gegenwart und erkannte die fremden Schiffe, die sich Zautath näherten. Ihr Ziel war eindeu-tig Terv.

Anti-Homunk war zufrieden. Der Zufall unterstützte ihn und lieferte den Tervern einen zusätzlichen Gegner, so daß es für sie keinen Zweifel geben konnte, daß sie sich in der letz-ten, entscheidenden Auseinandersetzung be-fanden.

Die geballte Macht zweier Völker bedeute-te das endgültige Aus für die SOL.

5.

Das erste, was Rubeiner dachte, als er seine

Benommenheit abgeschüttelt hatte, war: Du mußt dich wehren! Er achtete nicht darauf, ob sein Rücken noch schmerzte oder bereits Wasser in den Druckanzug eindrang. Er warf sich herum und stieß sich mit Händen und Füßen von dem Tangwesen ab. Er trieb da-von, zappelte auf die zerstörte Blase zu und versuchte, zum Stillstand zu kommen. Jetzt erst hatte er Zeit, sich um seinen Zustand zu kümmern.

Er tastete seinen Körper und auch den Rü-cken ab, so gut es ging. Nichts schien beschä-digt, die Gürtelanzeigen meldeten keinen Ausfall.

Der Tang, was war mit ihm? Vorsichtig steuerte er einen der dunklen

Stränge an und leuchtete ihn ab. Er berührte das Ding und stellte fest, daß der Tang kristal-lin geworden war. Er fluchte.

Es war umsonst. Der Hinweis Breiskolls hatte zu nichts geführt. Auch diese Blase er-füllte keine andere Funktion als alle, die sie bisher untersucht und beschossen hatten. Eine verfahrene Situation.

Rubeiner wußte zu gut, was auf dem Spiel stand, als daß er einfach aufgegeben hätte. Er blickte sich suchend um, erwartete, irgendwo einen Durchgang zu finden, der ihn weiter hinausbrachte.

»Wie sieht es bei euch aus?« fragte er.

Er erhielt keine Antwort, obwohl er mehr-mals nach seinen Begleitern rief. Der Kanal seines Helmfunks war offen, das Gerät nicht beschädigt. Sie konnten ihn im Schiff nicht hören, weil sie die Verbindung offensichtlich abgeschaltet hatten.

SENECA hört mich auf alle Fälle, dachte er. Er wird Meldung machen oder von sich aus mit mir in Verbindung treten.

Der Gedanke beruhigte ihn. Kastenbold und die anderen waren vielleicht in das Schiff zurückgekehrt.

»Ach, du Schande!« stieß er hervor. »Wenn das so ist, war ich weggetreten!«

Tatsächlich belehrte ihn ein Blick auf den Chrono, daß er fast eine Viertelstunde ohne Bewußtsein gewesen war. Der Rückstoß der Waffe hatte ihn mit starker Gewalt gegen den erstarrenden Tang geschleudert.

Rubeiner machte sich auf und suchte die Waffe. Er leuchtete den Grund ab, soweit der Tang es zuließ, doch er fand sie nicht. Ir-gendwo war sie dazwischengerutscht und unwiderruflich verloren.

Der Solaner machte sich für die Rückkehr bereit und steuerte den engen Durchschlupf an, den er benutzt hatte. Er fand ihn, aber er war so eng geworden, daß er mit seinem An-zug nicht mehr hindurchpaßte. Er war gefan-gen.

»SENECA!« rief er. »Hörst du mich?« Sein Körper begann zu schaukeln, er warf

sich herum. Es gab Wellengang, eine Strö-mung hatte ihn gepackt und zerrte ihn mit sich fort. Er klammerte sich an einer Tangfa-ser fest, rutschte ab und sah hilflos zu, wie er bis zur Blase hingesogen wurde und dort hän-genblieb.

SENECA antwortete nicht, offensichtlich ließ der kristalline Tang keine Funkwellen mehr durch.

Er war verloren. Eingeschlossen in dem Zeug und unfähig zu einem Hilferuf, blieb ihm nichts übrig, als darauf zu warten, daß ihm die Atemluft ausging und er bewußtlos wurde.

Sie werden dich suchen! wollte er sich be-ruhigen. Sie können unmöglich verantworten, daß du stirbst! Sie haben Meldung gemacht!

Er glaubte, daß sie bereits versuchten, zu ihm vorzudringen, und schaltete den Empfän-

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ger seines Funkgeräts auf höchste Leistungs-stufe.

Wieder zerrte die Strömung an ihm, und was er sah, schrieb er zunächst einer Sinnes-täuschung zu, hervorgerufen durch den Schlag in den Rücken oder einen Tiefenkol-ler, den er hier unten bekam.

Der Tang über ihm bewegte sich. Er schwankte hin und her wie ein Gummizug. Ein paarmal sackte er so tief ab, daß er Ru-beiner berührte und ihn gegen den Untergrund preßte.

Und dann sprang er. An die empfindlichen Außenmikrofone drang ein leises Knirschen wie von Kies. Rubeiner warf sich herum und suchte den Ort zu lokalisieren, wo es herkam. Er dachte im Augenblick nur daran, einen Weg aus seinem Gefängnis zu finden.

Der kristalline Tang um ihn herum geriet in eine taumelnde Bewegung. Die Höhle, in der er steckte, dehnte sich und schrumpfte ab-wechselnd, als atme sie. Es war gespenstisch, und der Solaner beobachtete aufmerksam jede Bewegung, die vorging. Noch reichte der Strom für seinen Scheinwerfer aus, aber ir-gendwann mußte er eine Entscheidung tref-fen, ob er das Licht anließ oder das Funkge-rät.

Das Wasser leitete ein Kreischen und Knir-schen weiter. Es drang von allen Seiten auf ihn ein und jagte ihm Angst ein. Wieder hielt er nach seiner Waffe Ausschau.

Bei der nächsten, zuckenden Bewegung des Tangs sah er sie. Sie lag auf dem Untergrund, halb von dem Primitivwesen bedeckt. Jedes-mal, wenn sich der Strang vom Boden hob, tauchte sie für einen kurzen Augenblick auf und wurde wieder zugedeckt.

Er schnellte sich hin, zog die Waffe an sich und brachte sich außer Reichweite des herab-sinkenden Strangs.

Über ihm bildete sich ein Spalt, dahinter schimmerte es heller als hier unten. Geistes-gegenwärtig stieß er sich ab, trieb durch den Zwischenraum nach oben und befand sich in einer Zone, in der es keinen Tang gab. Das kristallisierte Gebilde blieb unter ihm zurück. In einer Entfernung von zwanzig Metern zu den Seiten hin und weit über ihm jedoch war die Hölle.

Rubeiner hatte irgendwann eine moderne

Interpretation des Jüngsten Gerichts betrach-tet. So ähnlich erschien ihm das jetzt. Der Tang, der in etlichen tausend Tonnen rund um die SOL lagerte und an der Schiffswandung hing, war in Bewegung geraten. Er zuckte hin und her, sein Abstand zum Schiff nahm zu und wieder ab. Irgend etwas war dort droben, das den Tang zu entfernen suchte.

Ein Retter! Das Licht seines Scheinwerfers half ihm,

auch Einzelheiten zu erkennen. Er verfolgte, wie die Äste und Arme des Tangs auseinan-derrissen, ohne ihren Zusammenhalt zu ver-lieren. Sie zogen sich zurück oder wurden einfach zurückgeschleudert. Im Umkreis von etwa hundert Metern war das Zeug ver-schwunden.

»Achtung, ich komme jetzt!« sagte er in der Hoffnung, daß sie ihn hören konnten. Tat-sächlich war die Verbindung sofort da.

»Wo bist du, Rub?« fragte die Stimme des High Sideryt, doch Rubeiner gab keine Ant-wort. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

Auf halbem Weg zwischen sich und der SOL hing reglos eine helle Gestalt im Scheinwerferlicht. Sie wandte ihm den Rü-cken zu und schien die SOL zu betrachten, von der Rubeiner eine ganze Wandfläche des Mittelteils sah. Er blinzelte mehrmals und leuchtete die Stelle an, aber da war die Gestalt verschwunden.

»Komm an Bord zurück, so schnell du kannst!« sagte Breckcrown Hayes jetzt. »Ich glaube, es tut sich was!«

»Bin schon unterwegs«, knurrte der Sola-ner. »Aber ich muß euch warnen. Wenn ich mich nicht täusche, bin ich soeben diesem Ding begegnet!«

»Dem was?« »Drück dich genauer aus!« Das war Atlans

Stimme. »Dem Androiden, den du gesehen hast. Der

Beschreibung nach kann es nur er gewesen sein. Anti-Homunk!«

Rubeiner wußte nicht, ob er die Gestalt tat-sächlich gesehen hatte oder ob es nur eine Täuschung war, hervorgerufen durch seinen Scheinwerfer und einen einzeln treibenden Tangfetzen.

Der Solaner war im Begriff, sein Rückstoß-aggregat einzuschalten, da machte er eine

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zweite Entdeckung. Genau unter ihm befand sich eine Tangfläche. Sie trieb am Boden ent-lang vorbei und bedeckte eine Fläche in der Größe mehrerer Fußballfelder. In ihrer Mitte leuchteten die bekannten Blasen, doch der Unterschied fiel Rubeiner sofort auf. Er kann-te inzwischen die toten Blasen und die, die violett pulsierten. Beide Arten zeichneten für die Zustandsform des Tangs verantwortlich. Wenn man sie zerstörte, wurde der Tang zu einer unangreifbaren Einheit.

Die weiße Blase aber, die den Mittelpunkt eines ganzen Blasenfelds bildete und von den anderen in geometrischen Ringen umgeben war, stellte zweifellos etwas Besonderes dar.

Der Hauptknoten! redete Rubeiner sich ein. Du hast die Zentrale des Nervensystems vor dir. Das Gehirn des Primitivwesens oder was auch immer!

Er ließ sich absinken und richtete die Waffe darauf. Diesmal konnte er abdrücken, ohne sich zu gefährden. Der Rückstoß riß ihn weg, aber die weiße Blase blieb im Erfassungsbe-reich des Scheinwerfers. Sie reagierte nicht anders wie alle Blasen dieser Wesen. Sie blähte sich auf, zuckte kurz und fiel dann in sich zusammen.

Diesmal jedoch war die Wirkung eine ganz andere, umwerfende. Rubeiner stellte plötz-lich fest, daß riesige Tangmassen auf ihn her-abstürzten, und er schoß hilfesuchend davon. Der Tang erreichte ihn, trieb an ihm vorbei und legte sich als dicke Pulverschicht auf den Grund des Ozeans. Er zerbröckelte und wurde zu Staub.

Der Solaner stieß einen Freudenschrei aus, raste mit dem Rückstoßgerät auf das Schiff zu und bremste erst kurz vor einer der vielen Mannschleusen ab. Über Funk gab er Anwei-sung an die Zentrale. Er hatte es wahnsinnig eilig, hineinzukommen.

»Habt ihr das gesehen!« sagte er begeistert. »Bjos Gedanke war richtig. Nur hatten wir die falsche Blase im Auge. Jetzt wissen wir, wo-nach wir suchen müssen! Mann, im Umkreis von mindestens hundert Metern alle Äste zer-stört!«

»Mehr, viel mehr!« drang die erregte Stimme Lyta Kundurans an seine Ohren. »Im Umkreis von zwei Kilometern ist es so. Eines der sechs Primitivwesen ist zu ungefährli-

chem Staub zerfallen. Bravo, Rubeiner!« Rubeiner betrat die Schleuse und wartete

ungeduldig, daß sich das Außenschott schloß und das Wasser abgepumpt war. Dann riß er die Innentür auf und rannte mit seinem trop-fenden Anzug in das Schiff hinein.

»Wir werden sie alle außer Gefecht set-zen!« verkündete er den Männern und Frauen, denen er begegnete. »Alle!«

»Nicht so stürmisch!« sagte Breckcrown aus dem zurückgeklappten Helm. »Es sieht ganz so aus, als hätten wir das nicht mehr nötig!«

»Auch gut«, knurrte Rubeiner. »Was macht der Engel?«

Diesmal kam Hayes’ Stimme nur als Flüs-tern bei ihm an.

»Sieh selber nach, mein Freund!« meinte der High Sideryt.

Rubeiner beschleunigte seinen Schritt.

* Anti-Homunk! SENECAS Aufzeichnungen bewiesen, daß

sich das Kunstwesen mehrere Sekunden drau-ßen im Wasser aufgehalten hatte. Mit Hilfe des falschen Deccon hatte es vor kurzem ver-sucht, die SOL zu vernichten. Es war ihm nicht gelungen, und jetzt wartete es offen-sichtlich auf eine bessere Gelegenheit.

Die Tatsache, daß Anti-Homunk in diesen Minuten auftauchte, in denen der Tang in Bewegung geriet und sich die kleinen Boote der Terver draußen formierten, verursachte Atlan Magendrücken. Er wollte nicht so recht glauben, daß die Entwicklung für die SOL positiv war. Das einzige, was er vorbehaltlos akzeptierte, war die Zerstörung eines der Tangwesen durch Rubeiner.

Die ganze Umgebung des Schiffes war in Bewegung. Der Tang löste sich teilweise von der Oberfläche der SOL, wurde davongewir-belt und bildete wirre Knäuel, die die Ortung stark behinderten. Dennoch hatte es einen Vorteil. Teilweise wurden die Außenteile des Schiffsantriebs frei, und auch die meisten Klappen der Geschütztürme konnten wieder gefahrlos geöffnet und die Waffen bedient werden.

Die Terver planen eine Falle! stellte der

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Extrasinn fest, und der Arkonide stimmte ihm vorbehaltlos zu. Was an Einzelbeobachtungen in der Zentrale einging, deutete auf eine starke Aktivität des Gegners in einer Entfernung zwischen zwanzig und dreißig Kilometern hin. Etwas war im Gang, das sie noch nicht erkennen konnten.

»Wir sollten versuchen, alle Tangwesen zu zerstören!« knurrte Gallatan Herts in diesem Moment. »Was meinst du, Breck?«

Hayes musterte den ehemaligen Magniden nachdenklich. Er tat sich mit einer Entschei-dung schwer, denn jede konnte die Freiheit, aber auch den völligen Untergang bedeuten. Schließlich sprang Lyta Kunduran in die Bre-sche.

»Laßt uns abwarten!« schlug sie vor. »Noch ist alles um das Schiff herum in Be-wegung!«

Der Tang entfernte sich immer mehr. Er trieb davon. Teilweise wurde er durch heftige Strömungen des Wassers einfach mitgerissen und den Säulen der Pilzstädte entgegengetrie-ben.

Die Ortung wurde besser. Etwa dreihundert kleine Einheiten der Terver befanden sich im Meer um die SOL herum, und weit hinter ihnen hingen größere Schiffe im Wasser und bewegliche Stationen, die eine sackförmige Formation bildeten. Ihre Schutzschirme flim-merten, ein Durchkommen war so gut wie unmöglich. Die Waffen der Terver waren denen der Solaner ebenbürtig. Die Entschei-dung über den Sieg war eine Frage des Intel-lekts.

»Man läßt uns eine Gasse!« stellte der High Sideryt fest. »Es sieht aus, als legte man auf unseren Abzug Wert.«

Die Gasse zeigte nach oben, doch das be-sagte nichts. Es konnte eine tödliche Falle sein, die die Terver errichtet hatten. Und die folgenden Ereignisse lieferten den Beweis.

»Wir rühren uns nicht von der Stelle!« At-lan trat zu Hayes und blickte ihn aus seinen roten Augen an. »Etwas stimmt hier nicht.«

Sie warteten, und inzwischen war der letzte Tang aus der Nähe des Schiffes verschwun-den. Wieder orteten sie, ohne einen Hinweis zu finden. Die Minuten wurden zu Stunden, ohne daß sich etwas veränderte.

Atlan hatte in dieser Zeit alle Möglichkei-

ten mehrmals durchdacht. Für ihn stand fest, daß dort oben etwas war, das der SOL schade-te. Die Terver warteten, daß sie das Schiff hinaufsteuerten und der unmittelbaren Gefahr aussetzten.

»Ortung!« rief Vorlan Brick plötzlich aus. »Da oben ist die Hölle los!«

Etwa drei Kilometer über ihnen kam es mit-ten im Wasser zu energetischen Entladungen ungeheuren Ausmaßes. Die Anzeigen schnell-ten immer wieder in gleichmäßigem Rhyth-mus empor.

»Bei der SOL, was ist das?« stieß Hayes hervor. »Was kommt da auf uns zu?«

Er schielte nach den Sensoren für die Schutzschirme, aber diese standen bereits und sicherten das Schiff ab. Seit den Erlebnissen mit Janvrin, dem Panther, flog es ständig mit Staffelschirmen.

Ein Bereich von etwa zwei Kilometern Durchmesser veränderte schlagartig seinen Zustand. Das Wasser wurde davongeschoben, an der Oberfläche des Ozeans bildeten sich Wellen von hundert Metern Höhe. Bis in eine Entfernung von fünfzig Kilometern begannen die Stiele der Pilzstädte zu schwanken.

»Da!« Ein Schrei aus Lytas Mund. Sie hatte sich irgendwo an einer Konsole festgeklam-mert.

Ein Schlag erschütterte das Meer und riß die SOL von ihrem Standort weg, schleifte sie fünfhundert Meter über den Grund und ließ sie dann liegen. Im Wasser tobten Stürme. Der Ortungsalarm schrillte.

Das Fesselfeld, es war das Fesselfeld. Es glühte und riß an mehreren Stellen, wurde immer durchlässiger. Und dann machten sie das Antifeld aus, das weit darüber einen gro-ßen Raum umspannte und an den Wassermas-sen ebenso zerrte, wie an allem, was sich in seinem Erfassungsbereich befand.

»Die Falle!« rief der Arkonide. Sein In-stinkt hatte ihn nicht getrogen.

Auf den Monitoren, die die Vorgänge gra-phisch darstellten, konnten sie verfolgen, wie das instabile Fesselfeld sich nach oben hin ausstreckte, einen Trichter bildete und das Antifeld berührte. Energien wurden frei, als sich die beiden Felder gegenseitig aufzuheben begannen, die auf einer festen Oberfläche sicher alles vernichtet hätten, was sich im

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Umkreis von fünfhundert Kilometern befand. So aber bildete das Wasser einen natürlichen Prellbock und fing einen Teil der physikali-schen Kraft ab.

Dennoch preßten sich die Wassermassen unter dem entstehenden Druck zusammen und lösten Wasserbeben höchster Ordnung aus. Die vier dem Explosionsort am nächsten ste-henden Pilzstädte wurden mitsamt ihren Stie-len aus dem Grund gerissen und wie Geschos-se waagrecht davongeschleudert, quer durch den Ozean. Wenn sie Glück hatten, stießen sie mit keiner anderen Stadt zusammen und lan-deten einigermaßen weich auf dem Grund, so daß es nicht zu größeren Opfern kam.

Die Terver bemühten sich von ihren Statio-nen aus, das Antifeld wieder unter Kontrolle zu bekommen. Stellenweise gelang es ihnen, aber die Instabilität blieb.

»Das ist unsere Chance zur Flucht!« stieß Lyta Kunduran hervor. »Eine solche erhalten wir nie wieder!«

Hayes antwortete nicht. Er war nicht sicher, was er sagen sollte. Auch ihn beeindruckten die wabernden Energien dort oben.

»Vorlan, Uster?« fragte Breck schließlich. Die beiden Chefpiloten schüttelten langsam und nachdrücklich den Kopf.

»Das schaffen wir nie!« brummten sie. »Dabei gehen wir drauf!«

Auch Atlan hielt es für unmöglich, doch er sagte nichts, weil er sich ausrechnete, daß keiner dieses Wagnis eingehen würde. Jetzt, wo der Tang verschwunden war und das Fes-selfeld fast nicht mehr existierte, würde es irgendwann eine Möglichkeit geben, der Um-klammerung durch das Antifeld zu entkom-men.

Wenn die Terver nicht die Möglichkeit be-saßen, es zusammenzuziehen wie ein Fisch-netz und die SOL zu zerreißen.

»SENECA!« verlangte der High Sideryt. »Wie stehen die Chancen?«

»Ein Durchqueren der Auflöszone ist un-möglich!« behauptete die Biopositronik. »Ich rate davon ab, in dieser Richtung zu denken!«

Vorlan Brick stieß einen unterdrückten Schrei aus, schoß aus seinem Sessel empor und brachte sich mit einem weiten Satz bei seinem kleinen Bruder in Sicherheit. Ungläu-big richtete er seine Augen auf Cara Doz, die

mit einer Nadel in der Hand neben dem Sessel stand und sich jetzt hineinsinken ließ.

»Das Biest hat mich gestochen!« schimpfte er. »Hayes, unternimm etwas!«

Lyta Kunduran kam herüber und blickte auf den Engel hinab. Cara hielt das Emotioband in der Hand und machte Anstalten, es sich aufzusetzen.

»Was hast du vor?« rief die Stabsspezialis-tin. »Du kannst jetzt nicht einfach ...«

»Ich kann!« klang es trotzig aus dem Mund der kleinen Person, und ihre Finger fuhren wie beim ersten Mal über die Anschlüsse, als könnte sie so vorhandene Energien ermessen.

»Das ist Wahnsinn! Niemand kann es!« sagte jetzt auch Hayes, doch das Mädchen würdigte ihn keines Blickes.

»Ich mach’s!« wiederholte sie, und die Anwesenden standen hilflos um sie herum.

»Auch für die Emotionautin gibt es keine Chance!« ließ SENECA verlauten. »Sie hat zudem keine Erfahrung!«

»Du hörst es. Tu uns den Gefallen und laß es sein. Du gefährdest das Schiff und alle sei-ne Bewohner!« bat Lyta. »Es bietet sich ein anderes Mal eine Gelegenheit für dich!«

Das Schweigen dauerte viel zu lang, und Atlan wollte bereits eingreifen und Cara aus dem Sessel ziehen.

»Doch!« schrillte die junge Frau übermäßig laut. Mit einer raschen Bewegung streifte sie sich das Band über und stöpselte die An-schlüsse ein. Sie schloß die Augen, und noch ehe Lyta etwas dagegen tun konnte, begannen die Schiffsmotoren anzuspringen, machte die SOL sich bereit zum Start.

»Haltet sie davon ab, es ist unser Unter-gang!« schimpfte Vorlan Brick.

Lyta Kunduran wehrte ab. Sie stellte sich schützend vor den Engel.

»Ihr könnt sie nicht mehr wegreißen, ohne ihr geistigen Schaden zuzufügen«, erklärte sie. »Und vielleicht ...«

*

Hayes gab Alarm und informierte das gan-

ze Schiff über das, womit sie möglicherweise rechnen mußten. Alarmglocken schrillten, aber im nächsten Augenblick stellten sie ihre Arbeit wieder ein. SENECA teilte mit, daß

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die Emotionautin alle Systeme des Schiffes beherrschte. Er konnte allerdings nicht sagen, wie lange Cara diese geistige Beanspruchung durchhalten würde.

Atlan kannte den Vorgang von früher aus der ersten Zeit der SOL, als sie noch unter Perry Rhodans Kommando geflogen war. Das riesige Schiff mittels eigener Gedankenimpul-se zu fliegen, bedurfte einer hohen Konzentra-tion. Der Emotionaut mußte in der Lage sein, sämtliche eigenen, bewußten Gedankenim-pulse auszuschalten. Er durfte nur an das den-ken, was sich im Schiff abspielte. Dazu war es erforderlich, daß er über alle Systeme, ihre Verknüpfungen und Abhängigkeiten infor-miert war. Kein Gedankenbefehl durfte in der falschen Reihenfolge kommen. Zwar besaß die Biopositronik die Möglichkeit, falsche Befehle ungültig zu machen, aber in Situatio-nen der Gefahr, in denen der Emotionaut selbst in Sekundenbruchteilen etliche Dutzend Impulse auszugeben hatte, konnte es zu Prob-lemen kommen.

Die SOL hob ab. Cara Doz steuerte das Schiff schräg nach oben, dem Zentrum der wabernden Energien entgegen, die von den Tervern noch nicht stabilisiert worden waren. Das Schiff drang in den gefährlichen Bereich ein und stieg weiter beschleunigend empor.

Lyta Kunduran umklammerte bebend die Lehne des Sessels, in dem die junge Frau kauerte. Caras Körper war erstarrt, kein Mus-kel bewegte sich. Kleine, glänzende Spuren liefen den Hals abwärts und zeigten, daß der Engel unter dem SERT-Band schwitzte. Ir-gendwann würde der kleine, schmächtige Körper aufgeben und Cara bewußtlos werden. Dann war das Schiff verloren.

Mit angehaltenem Atem verfolgte die Schiffsführung, wie die SOL in das Zentrum der Energie eindrang. Die Anzeigen offenbar-ten, daß Cara Doz alle Systeme im Griff hatte. Sie erkannte Schwachzonen, durchflog sie, korrigierte den Kurs und wechselte aus der Berührungszone des Fesselfeldes in das Anti-feld über. Immer wieder ließ sie das Schiff absinken, bestimmte einen neuen Kurs, und die Minuten auf der Bildschirmanzeige kro-chen mit wie erschöpfte Würmer.

Die Boote und Stationen der Terver mühten sich verzweifelt. Größere Unterwasserschiffe

näherten sich und nahmen die SOL unter Be-schuß. Sie versuchten, sie in jene Zonen des Antifelds zu treiben, die stabil waren und ihre Wirkung entfalteten.

Cara widerstand auch dem. Sie schaffte es sogar, ein paar Warnschüsse abzugeben.

Lyta ließ einen Jubelruf erschallen. Das Schiff durchstieß die äußerste Zone des Anti-felds und ließ es hinter sich zurück, während es sich unter den Bemühungen der Terver langsam stabilisierte. Die Kämpfer des Was-serplaneten kamen zu spät. Buchstäblich in letzter Sekunde war der SOL die Flucht ge-lungen. Sie strebte der Oberfläche des Ozeans entgegen, während ihr die letzten, ungefährli-chen Schüsse der Terver nacheilten.

Die Ortung spielte plötzlich verrückt. Eine Unmenge Impulse aus dem freien Raum ka-men bei ihr an und ließen die Solaner verwirrt aufblicken.

»Was soll das schon wieder?« brummte Herts verwundert.

»Vorlan, schnell!« Lyta Kunduran löste behutsam die Verbin-

dungen zwischen Schiff und SERT-Band und hob den leichten Körper des Mädchens aus dem Sessel heraus. Der Große schaltete so-fort. Er ließ sich hineinfallen und übernahm das Schiff in Handsteuerung. Sein Zwilling half ihm kräftig.

»Sie ist ohnmächtig geworden!« rief Bit aus. »SENECA, sofort einen Medorobot!«

»Erkannt!« erwiderte die Biopositronik nur, und gleichzeitig rollte bereits einer der Medos herein. Behutsam bettete Lyta den kleinen Körper auf die bereitstehende Trage und be-gleitete den Roboter hinaus zur Medostation.

»Seht euch das an!« Hayes deutete auf die Bildschirme, die in diesem Augenblick den Raum über der Wasseroberfläche freigaben. »Da ist die Hölle los!«

Die SOL flog mitten hinein, und die Män-ner und Frauen brauchten ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß sie mitten in der gewal-tigsten Raumschlacht gelandet waren, die sie seit langem erlebt hatten.

»Vom Regen in die Traufe!« rief Atlan. Aber es war nur halb so schlimm.

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6.

Lag es an ihrem eigenen Unvermögen oder

allein daran, daß der Gegner es tunlichst ver-mied, in Berührung mit dem Ozean zu kom-men, daß es ihnen nicht gelang, einen ent-scheidenden Vorteil herauszuschinden?

Juccan Bresalph wußte die Antwort nicht. Es lag ihm eine bissige Bemerkung auf der Zunge, daß, wenn der Feind nicht ins Wasser kam, sie eben zu ihm hinaus gehen sollten. Er verscheuchte den Gedanken, denn es war ihm so gut wie allen Tervern bekannt, daß ihre Stärke in den Stengeln ihrer Städte steckte. Das Prinzip ihres Kampfes beruhte auf dem Vorzeigen der Pilze und deren raschem Rück-zug in die Tiefe. Der Gegner ließ sich immer herausfordern und folgte ihnen unter das Wasser, wo sie jedem Raumschiffsverband an Technik und Kampftaktik überlegen waren. Ihr Leben und ihre Entwicklung waren vom Wasser bestimmt.

Dieser Gegner aber ließ sich nicht täuschen. Bresalph betrachtete die Bilder, die sie von

den Muschelschiffen gemacht hatten. Sie be-saßen einen Durchmesser von einheitlich dreihundert Meter und waren in der Mitte rund dreißig Meter hoch. Die äußere Form glich bis ins Detail einer Muschel, wie sie ähnlich auch im Ozean Tervs lebte. Die Fremden hüllten ihre Schiffe in undurchdring-liche Schirme und besaßen ein erhebliches Angebot an Waffen.

Der Tangmeister programmierte den Transmitter, dann ließ er Gushtar Irrido zu sich kommen. Der Schüler betrat wenige Au-genblicke später den Raum und verbeugte sich.

»Ich bin zur Stelle!« sagte er und setzte sich auf den Schemel, den Bresalph ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen vor Jahren zugewiesen hatte.

»Du warst aufmerksam«, lobte der Meister. »Du hast den Gegner sofort entdeckt!«

Über dem Wasser tobte der Kampf weiter, und Bresalph hörte ständig die Meldungen an, die von den Gleitern und Booten eingingen, die sich um die Installierung des Gravitrons bemühten. Wenn das Schiff auf dem Grund zerstört war, konnten sie die gefährliche Waf-fe auch gegen den Feind einsetzen. Dazu aber

mußte er zu ihnen kommen, mindestens bis an die Wasseroberfläche.

Gushtar Irrido erwiderte nichts. Es hätte sich wie Prahlerei angehört, hätte er sein Ver-dienst herausgestellt. So wartete er ab, was sein Lehrer weiter entscheiden würde.

»Du bist nicht immer einsichtig«, fuhr Bre-salph fort. »Aber du denkst immer zuerst, bevor du handelst. Nicht wahr?«

Noch immer zeigte Irrido keine Reaktion. »Was würdest du denken, wenn du das

Vorgehen des Feindes betrachtetest?« Der junge Terver horchte auf. Er überlegte

kurz, dann sagte er: »Ich habe es betrachtet, und ich denke, daß

sie von einer Wasserwelt stammen, die ähnli-che Voraussetzungen bietet wie Terv. Sie wissen, womit sie es zu tun haben, und wer-den einen langen Zermürbungskrieg gegen uns führen.«

»Den sie nicht gewinnen können!« rief der Tangmeister aus, aber es klang nicht ganz überzeugt. Wenn der Gegner von einer Was-serwelt kam, jedoch die interstellare Raum-fahrt in der offenkundigen Weise betrieb, dann war er ihnen überlegen.

Bresalphs Gedanken wurden immer klein-lauter, und der Tangmeister legte sich die Worte des Auftraggebers zurecht, der sich Anti-Homunk nannte. Wenn es stimmte, daß dies ihr letzter, entscheidender Kampf war, dann stellte das Schiff auf dem Grund über-haupt keinen ernstzunehmenden Gegner dar.

»Der Raumer in unserem Fesselfeld gehört nicht zu den Muschelschiffen«, stellte er fest und schickte seine Botschaft sofort an alle Städte hinaus. »Anti-Homunk hat sich geirrt, oder wir haben ihn falsch verstanden. Nicht das Einzelschiff ist unser Gegner im letzten Kampf, sondern die Muscheln sind es. Wir müssen unsere Taktik sofort ändern!«

Er wandte sich wieder an Irrido, der ihn zweifelnd ansah.

»Taktik?« fragte der Schüler. »Ich kenne deine Taktik, du hast sie mich gelehrt. Aber ich sehe sie im Augenblick nicht. Wo ist sie?«

Das, wußte Bresalph, war die Frage, auf die er schon lange gewartet hatte. Gegenüber den Muschelschiffen wirkte seine Taktik nicht, versagte das System des Kampfes. Bei dem dauernden Schußwechsel kam nichts heraus.

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ATLAN 108 – Die Abenteuer der SOL

Es waren die Minuten, in denen das Schiff

auf dem Meeresgrund eines der Primitivwe-sen zerstörte und die Terver damit begannen, ihm den Weg nach oben in die Gravitron-Falle freizumachen. Alles wäre gut verlaufen, wenn nicht der Gegner im Raum gewesen wäre.

»Laß das Schiff frei!« sagte Irrido plötzlich. »Ein Zwei-Fronten-Krieg reibt unsere Fähig-keiten auf! Oder lenke es so, daß dieses Schiff als Köder für die Muscheln zu gebrauchen ist!«

»Es geht nicht«, stöhnte Bresalph. »Sieh nur!«

Ihr Pilz befand sich sechzig Kilometer vom Standort des fremden Schiffes entfernt. Den-noch lieferten die Wasserkameras ein klares und deutliches Aufhellerbild von dem, was sich im Ozean abspielte. Das Schiff zauderte noch, aber im nächsten Augenblick bewegte es sich ein wenig fort.

Gleichzeitig geschah noch etwas anderes. Eigentlich ereignete es sich vorher, aber die Bilder von dem betroffenen Sektor erschienen erst jetzt auf den Bildschirmen.

»Nein!« schrie Juccan Bresalph, und er programmierte hastig das Pult vor sich und zerrte seinen Schüler mit sich zum aufflam-menden Bogen. Der Transmitter entstofflichte sie und schickte sie zu einer der schwimmen-den Stationen, die das Gravitron aufgebaut hatten. Alarm heulte ihnen entgegen.

»Eine der Stationen ist schwer getroffen, sie kann ihre Aufgabe nicht mehr voll erfül-len!« rief man ihm entgegen. »Weitere Schüs-se haben das Gravitronfeld getroffen und es teilweise neutralisiert!«

Es ließ auf schweren Materiebeschuß durch die Muscheln schließen.

»Zusätzliche Stationen einsetzen«, keuchte der Tangmeister. »Notfalls verkleinern wir die Falle!«

Es war zu spät. Der Gegner hatte Fahrt auf-genommen und stieg vom Grund des Ozeans auf. Er hielt sich zunächst an die Taktik, die ihn aus der Umklammerung der Boote hinauf in die Falle führte.

Weitere Schüsse trafen das Feld und auch die Gravitationsfessel darunter. Die beiden Felder kamen miteinander in Berührung, und das, wovor Juccan Bresalph gewarnt hatte,

trat ein. Es kam zu Entladungen und Einbrü-chen. Beide Feldenergien neutralisierten sich gegenseitig, ganze Korridore bildeten sich, und das Schiff stieß in sie vor.

»Schießt!« brüllte der Tangmeister. »Ver-paß ihnen einen Treffer, den sie nicht verges-sen!«

Wut überkam ihn, begründet in der Er-kenntnis, daß sie rein gar nichts tun konnten. Sie schossen, ohne das Schiff beschädigen zu können, und mußten ohnmächtig vor Zorn mitansehen, wie es den Bereich der Falle un-gehindert durchquerte und alsbald die Was-seroberfläche erreichte. Weiter beschleuni-gend stieg es in den Himmel über Terv hinein, ließ die dünne Atmosphäre rasch hinter sich zurück und verschwand im Weltall.

»Was hatte Anti-Homunk gesagt?« fragte Irrido scheinheilig. »Daß dieses Schiff unser letzter Gegner sei?«

Der Tangmeister fuhr herum und schüttelte die Faust.

»Ich werde Lemarner Traph bitten, dich un-terirdisch einzumauern und eine Woche schmachten zu lassen!« schrie er mit grün-bleichem Gesicht. »Die Stachelfische sollen dich holen!«

Er war sich jetzt endgültig sicher, daß das einzelne Schiff lediglich ein Auftakt gewesen war und sie ablenken sollte. Es wurde ihm schwindlig bei dem Gedanken, welche Prü-fungen im Rahmen dieses letzten Kampfes noch auf sie zukommen würden.

»Sie ergreifen die Flucht«, stellte der Schü-ler fest. »Sie fliehen! Es sind keine Kämpfer, wie wir sie uns wünschen. Sei froh, daß sie weg sind!«

Es war eine Schande, dachte der Tangmeis-ter. Durch das Eingreifen eines zweiten Geg-ners hatte das Schiff seine Freiheit erlangt. Das stellte die Unfähigkeit der Terver unter Beweis.

Waren sie der Herausforderung nicht ge-wachsen?

»Doch!« stieß er bitter hervor. »Wir sind es!«

Aber der Gedanke daran, daß auch die In-sassen der Muschelschiffe in dem Bewußtsein kämpfen würden, daß es für sie die Entschei-dung war, ließ ihn an der Aufrechterhaltung dieser Behauptung zweifeln.

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»Wenn du recht hast, dann ist es bald Zeit,

nach Pschwemmvu zu gehen und das Perlen-kästchen aus der Glasmauer zu holen«, sagte Gushtar Irrido.

Daran hatte der Tangmeister bisher noch nicht gedacht.

*

Der Kampf ging in unverminderter Härte

weiter. Die Angreifer in ihren Muscheln setz-ten alles gegen die Pilzstädte ein, was sie zur Verfügung hatten. Und trotzdem gelang es ihnen nicht, eine der Städte zu vernichten. Über die Auswirkungen des Gravitrons wuß-ten sie wahrscheinlich Bescheid, aber Traph befahl den schwimmenden Stationen, den Booten und Gleitern, wieder die Städte aufzu-suchen, wo sie vor den Waffen geschützt wa-ren.

Die Pilze der Terver ihrerseits schossen in unregelmäßigen Abständen in die Höhe, neig-ten sich zur Seite und schickten alles in den Raum, was sie zur Verfügung hatten. Wasser-bomben und andere, speziell für den Wasser-kampf entwickelte Waffen konnten sie nicht zum Einsatz bringen. Sie waren im luftleeren Raum zwischen den Planeten wirkungslos.

Als Bresalph und sein Schüler in Lisbaon eintrafen, war der Senkmeister bereits unge-duldig. Er schrie mit seinen Untergebenen, und Irrido verließ die Zurückhaltung, die ge-genüber dem Alter angebracht war, und er meinte laut:

»Sei still. So kommen wir nicht weiter! Laßt uns nachdenken!«

Bresalph meinte, daß dazu im Augenblick keine Zeit war, aber dann rief er sich das Per-lenkästchen wieder ins Gedächtnis. Es stimm-te ihn nachdenklich, und er vergaß seine Ge-danken an einen Umbau des Gravitrons. Bis sie es in raumtüchtige Gleiter installiert hat-ten, war der Kampf längst entschieden. Und selbst, wenn es ihnen gelang, die Waffe in das Weltall zu bringen, konnten sie sie immer nur gegen eine oder zwei Muscheln einsetzen. Bis dahin war ein Teil der Gleiter vernichtet, das Gravitron unwirksam.

Wo mochte der Auftraggeber sein? Wie beurteilte er die Lage? Bresalph hätte viel darum gegeben, es zu wissen.

Das Schicksal begünstigte sie. Dreißig der Muscheln scherten aus dem kugelförmigen Verband aus, der den Planeten von allen Sei-ten umgab. Sie folgten dem einzelnen Schiff und verließen mit ihm das System der Sonne Zautath.

Es war ein unerwartetes Geschenk. »Tu etwas!« forderte der Tangmeister den

Senkmeister auf. »Was meinen die anderen Senkmeister unserer Welt?«

Nach einer kurzen Absprache tauchten alle Städte auf und streckten ihre Kappen und den oberen Teil des Stengels in den Raum hinaus, den Muscheln entgegen. Eine Weile ließen sie das sinnlose Feuer des Gegners zu. Nur wenn er eine besonders gefährliche Waffe einsetzte, zogen sich die Städte in der Nähe der Schuß-bahn schnell unter die Oberfläche zurück. Gegenfeuer gaben sie keines in der Hoffnung, daß sie die Muscheln dadurch näher heranlo-cken könnten. Es gelang ihnen nicht.

Stunde um Stunde verging. Terv hatte sich um seine Achse weitergedreht, und über Lis-baon wurde es Nacht. Die Stadt streckte vor-sichtig ihre Wölbung aus dem Wasser hinaus und setzte ein paar Nebelbomben ab, in deren Mitte jeweils eine schwimmende Insel mit einem Atomsprengkopf lag. Es war eine alte Waffe, aus sicherheitsgelagerten Restbestän-den einer längst vergangenen Zeit.

Der Schußwechsel mit den Muscheln mute-te gespenstisch an. Immer wieder durchzuck-ten gleißende Strahlen die Nacht, etliche Mil-lionen Kilometer lang. Manche streiften die Schutzschirme eines der Pilze und ließen ihn aufleuchten. Andere schlugen in das Wasser und verpufften.

Die Städte waren den Schiffen zahlenmäßig um das Hundertfache und mehr überlegen. Ihre Ortsgebundenheit wirkte sich als Nach-teil aus, obwohl auch die Muscheln ihre Standorte im großen und ganzen beibehielten.

Über Lisbaon wurde es wieder Tag, und die dreißig Schiffe kehrten nicht zurück. An der Situation änderte sich nichts.

Diesmal war es Lemarner Traph, der Juc-can Bresalph aufsuchte.

»Du hast keinen Gedanken, wie wir den Kampf entscheiden können?« fragte er. Der Tangmeister verneinte.

»Es ist immer noch derselbe Zustand, wie

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Anti-Homunk ihn bezeichnet hat, als er ver-schwand. Es ist eine Patt-Situation!«

Sie waren ratlos, wie sie da herauskommen sollten. Bresalph konnte nicht überall den Helfer in der Not spielen. Dennoch besaß sein Gesicht einen rätselhaften Ausdruck, als er jetzt dem Senkmeister beide Hände auf die Schultern legte.

»Das Geheimnis«, begann er. »Vielleicht ist es die Lösung. Solange wir das Perlenkäst-chen nicht öffnen, wird sich an der Situation nichts ändern.«

»Du glaubst, daß Irrido recht hat?« dehnte Traph erstaunt. »Obwohl er dein Schüler ist?«

»Weil er mein Schüler ist, deshalb!« Es bedurfte einer einstimmigen Entschei-

dung aller Senkmeister, die Glasmauer in Pschwemmvu zu zerstören und das Kästchen zu öffnen. Einstimmigkeit aber war kaum zu erwarten.

*

Sie beobachteten einen Kampf, wie er ent-

schlossener nicht sein konnte. Während die SOL in den freien Raum auf die Kugel aus Muschelschiffen zuraste, gelang es der Schiffsführung in der Hauptzentrale des Mit-telteils, ein wenig die Übersicht zu bekom-men.

Vorlan und Uster Brick kümmerten sich um die Steuerung, und das Schiff entfernte sich schnell von dem dritten Planeten der gelben Sonne, die sie so sehr an Sol erinnerte, an den Heimatstern, den die meisten von ihnen nur aus Computerübertragungen kannten.

»Seht euch Zautath noch einmal an«, mein-te der Arkonide. »Sol ist ein wenig größer, doch vom selben Spektraltyp!«

Nichts hielt sie mehr hier. Sie waren blind und dumm in die Falle getappt, die die Terver ihnen aufgebaut hatten. Und – darüber war zumindest der Arkonide sich voll im klaren – ohne das Erscheinen der Muschelschiffe sä-ßen sie noch immer dort unten in einem Tangberg und warteten darauf, daß Leute wie Rubeiner fünf weitere weiße Blasen fanden und den Tang damit zu Staub zerfallen ließen. Und selbst dann wäre das Fesselfeld noch nicht überwunden gewesen. Ja, vielleicht hät-ten sie sich sogar dafür entschieden, den Weg

nach oben in das Antifeld anzutreten. »Wir erreichen den Ring der Schiffe in fünf

Minuten!« verkündete Vorlan. »Ich schlage vor, wir ziehen vorher unsere Köpfe ein!«

Er meinte es bildlich, aber Hayes schüttelte tadelnd den Kopf. Er hatte längst bemerkt, daß rund dreißig Schiffe Fahrt aufgenommen hatten. Sie entfernten sich in derselben Rich-tung, in der die SOL flog, doch sie waren noch wesentlich langsamer. Der Abstand schrumpfte immer mehr zusammen.

Und dann eröffneten sie übergangslos das Feuer.

»Achtung!« Die Stimme des High Sideryt übertönte alles andere. »Sie halten uns ver-mutlich für ein Schiff der Terver!« Er gab Vorlan und Uster Anweisung, ein Linearma-növer über eine kürzere Strecke zu program-mieren. Niemand in dem Generationenschiff hatte Lust, schon wieder in einen Kampf ver-wickelt zu werden. Lieber wollten sie fliehen. Die Erfahrungen mit den Völkern von Xiinx-Markant waren zu frisch.

»Dasselbe wie überall!« stellte Bjo Breiskoll fest. Er hielt sich bei Atlan auf und hatte die Worte an ihn gerichtet. »Zwei Völ-ker, die sich technisch ebenbürtig sind, grei-fen einander an. Das eine kommt aus dem Weltraum, das andere verschanzt sich unter einem dichten Wassermantel.«

»Woran denkst du jetzt?« wollte der Arko-nide wissen.

»An das Sternenuniversum und Aqua II«, erwiderte er. »War es da nicht dasselbe?«

»Nicht ganz«, meinte der Arkonide. »Das Volk der Nuun lebte unter einem dichten Wassermantel aus Angst vor einem alten Gegner, den es tatsächlich gab. Hier aber ist es anders. Alle Völker sind von diesem un-glückseligen Trieb beseelt, sich in einem im-merwährenden Kampf bewähren zu müssen.«

Er rief sich die Worte von Eilender ins Ge-dächtnis. Der alte Skuzavarer unterlag nicht dem verderblichen Einfluß. Auf ihn hatte die Botschaft nicht gewirkt, die zu seiner Kinder-zeit bei den Skuzavarern eingetroffen war.

»Sollen wir zurückschießen?« erkundigte sich Vorlan, aber Breck winkte ab. Es hatte keinen Sinn und hielt sie nur auf.

Die Muscheln mußten inzwischen gemerkt haben, daß dieses einzelne Schiff kein Inte-

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resse an einer Auseinandersetzung hatte. Dennoch ließen sie nicht locker, und als die SOL weiter beschleunigte, wichen sie um keinen Kilometer von ihrem bisherigen Kurs ab. Es sah aus, als wollten sie das Generatio-nenschiff begleiten.

»Wie geht es Cara inzwischen?« erkundigte sich Atlan.

»Sie ist soeben erwacht!« teilte SENECA mit, da er der einzige war, der die Frage im Augenblick beantworten konnte. »Sie weist keinerlei Spuren von Erschöpfung mehr auf, was vor allem auf ihren eigentümlichen phy-sischen Zustand zurückzuführen ist.«

»Danke.« Der Arkonide richtete seine Au-gen auf den Panoramabildschirm, der die E-chos der dreißig Muscheln zeigte. Die Form der Schiffe deutete darauf hin, daß es sich bei diesen Wesen ebenfalls um Wasserbewohner handelte. Oder um Bewohner eines sehr was-serreichen Planeten, die vielleicht im Stadium von Amphibien steckengeblieben waren und nur ihren Geist weiterentwickelt hatten.

Der Linearflug führte die SOL über eine Entfernung von sechs Lichtjahren von Zautath und der Dunkelzone fort in die Nähe der roten und weißen Doppelsonne, die keine Planeten besaß. Etwa einen halben Lichttag entfernt kehrte sie in den Normalraum zurück.

»Habt ihr das noch gesehen?« fragte Uster. »Als wir die kritische Marke vor dem Über-tritt erreichten, hängten sich die Muscheln an uns, wie das Muscheln an Schiffen tun. Nur die Schutzschirme hielten sie davon ab, Kon-takt mit der Bordwand aufzunehmen.«

»Nicht schon wieder!« stöhnte Hayes ge-quält. Er mußte an den Tang denken und be-gann langsam alles zu hassen, was aus dem Wasser stammte.

»Da sind sie schon!« rief Vorlan aus. In kurzer Entfernung hinter der SOL tauch-

ten die Muscheln auf. Ohne erkennbare Be-gleiterscheinungen wurden sie materiell. Es schien, daß sie innerhalb kürzester Zeit von der Überlichtgeschwindigkeit auf Unterlicht gegangen waren und damit für die SOL sicht-bar wurden. Sofort eröffneten sie das Feuer, und diesmal antwortete die SOL. Sie zog ei-nen Energievorhang zwischen sich und die Fremden, ohne die Schiffe direkt zu beschie-ßen. Jetzt mußte auch der letzte Träumer mer-

ken, daß sie sich nicht in einen Kampf verwi-ckeln lassen wollte.

»Sie reagieren überhaupt nicht darauf!« knurrte Vorlan grimmig.

»Das können sie haben, wenn sie wollen!« Wütend hieb er auf ein paar Programme.

»Hast du eine andere Reaktion erwartet?« wollte Bjo wissen. Er versuchte Gedanken aufzunehmen, die aus den Muscheln stamm-ten. Er empfing nichts außer den Gedanken Sternfeuers, die sich in der SZ-1 aufhielt. »Viel mehr dürfte uns zu schaffen machen, daß wir diese Fremden nicht mehr loswer-den!«

Ja, dachte Atlan, du bist nicht der einzige, der sich den Kopf darüber zerbricht. Und laut sagte er: »Wir sollten einen Funkkontakt ver-suchen. Ich möchte doch zu gern wissen, mit wem wir es zu tun haben und ob es einen be-sonderen Grund hat, daß sie uns folgen!«

Anti-Homunk konnte sie ihnen auf die Spur gesetzt haben. Allerdings richteten die Mu-scheln gegen die SOL nicht viel aus. Wenn Atlan sie mit Janvrin und seinen Fähigkeiten verglich, konnte er die Muscheln nur als klei-ne Fische bezeichnen. Nein, der ehemalige Diener von Hidden-X mit dem Auftrag, die SOL zu vernichten, würde mit stärkeren Ge-schützen auffahren. Und wie Atlan die Situa-tion einschätzte, würde es nicht mehr lange dauern.

Die Muscheln gaben nicht zu erkennen, ob sie die Funksprüche der SOL empfingen und verstanden. Ihr Verhalten bewies, daß sie sich mit solchen Dingen nicht abgeben wollten.

2. Zwischenbetrachtung

Vernichte die SOL und die Solaner! Auf dieses Ziel war im Augenblick sein

ganzes Wollen und Wirken ausgerichtet. Är-gerlich hatte er verfolgt, wie dem Schiff die Flucht von Terv gelungen war. Ein dummer Zufall war es gewesen, denn er hatte die zwei Kugeln und den Zylinder dazwischen bereits unter den unwiderstehlichen Kräften des Gra-vitrons zerplatzen sehen.

Er hatte sich geirrt. Er hatte geglaubt, zwei Völker würden dem einzelnen Schiff keine Chance lassen. Jetzt stellte sich heraus, daß gerade der Kampf zwischen den Tervern und

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den Urk-Lystarin dazu geführt hatte, daß die SOL freigekommen war.

Sein neuer Herr hatte nichts dagegen, wenn er seinen Zorn an diesem Schiff ausließ. Es gehörte nicht zu Xiinx-Markant, es spielte im Kampf und der Auslese keine Rolle. Im Ge-genteil, bisher war es nur störend in Erschei-nung getreten, wenn er an die Ereignisse im Aulerbaul-System und alles Folgende dachte.

Also war sein neuer Herr damit einverstan-den, daß er sich gegen die SOL wandte und ihre Vernichtung anstrebte.

Das zweite Manifest, das Manifest B, war in seiner Hand. Er brauchte ihm nur seine Befehle zu geben! Um die SOL am Entkom-men zu hindern, würde er Pervrin einsetzen.

Der wichtigste Gegensatz ist der zwischen Stärke und Schwäche! Diesen Satz hatte Anti-Homunk von seinem ehemaligen Herrn Hid-den-X gelernt. Er stimmte auch jetzt noch, nachdem dieser nicht mehr existierte. Seine Spur zog sich nach wie vor durch das Univer-sum und kreuzte die Spuren und das Dasein anderer mächtiger Wesen. Es war eine Spur durch Raum und Zeit.

Als namenloser Ableger von Hidden-X hat-te er das geschaffen, was in Xiinx-Markant war. Jetzt besaß er einen neuen Herrn und einen Namen. Der alte Auftrag jedoch war nicht erloschen.

»Du hast mich gerufen, Anti-Homunk?« Er bestätigte es und gab Pervrin die Koor-

dinaten, an denen das Manifest B ihn derzeit finden konnte. Fast ohne Zeitverlust erschien es bei ihm und verharrte in seiner Nähe.

»Du bist stark und unüberwindbar«, sagte der Auftraggeber. »Du wirst siegen!«

»Was habe ich zu tun, Herr?« Er gab dem Manifest das Aussehen und den

Aufenthaltsort des Schiffes, dann schickte er es auf die Reise. Er verfolgte, wie es ankam und seine Aufgabe begann.

7.

Die letzten Zweifel waren längst ver-

schwunden. Es handelte sich um den ganz großen Gegner. Er besaß Waffen und leistete Widerstand, wie sie es noch nie erlebt hatten. Sein Verhalten stachelte die Urk-Lystarin an, und die Anfeuerungssprüche der Daheimge-

bliebenen, die ständig über Funk eintrafen, taten ein Übriges.

Es hieß, die Sucher seien gereinigt worden. Ein heimlicher Feind sei nicht festgestellt worden. Es war auch nicht zu erwarten, nach-dem das Geheimnis der Kambatschen offen-bar war.

Ein Volk lebte unter der Wasseroberfläche, es stammte von Wasserwesen ab und unter-schied sich damit grundlegend von den Urk-Lystarin. Die meisten ihrer Heimatwelten waren zwar tropische Regenwelten, aber der Ursprung der Intelligenz war irgendwo anders zu suchen.

Urk-Wascheff war Sager allerhöchster Ver-antwortung und wußte um das Geheimnis ihrer Herkunft und die Überlieferung, die da-mit zusammenhing. Sie lebte in den Gehirnen der Sager weiter und blieb dem großen Volk verborgen, das nur auf die Zukunft ausgerich-tet war, auf den Sieg im großen Kampf.

Der Philosoph ruhte in einem Polster mitten unter dem Bildschirm und hielt Einkehr in sich. Seine Gedanken durchforschten Körper und Geist, und er versuchte sich an die Teile des Gesichts zu erinnern, die er von seinem Seelenberater mitbekommen hatte. Nicht alles hatte er gesehen, doch es war ihm gewesen, als besäße der Berater eine weit größere An-zahl von Augenstielen, die nicht alle mit Au-gen gekrönt waren. Urk-Wascheff rätselte, ob es eine Bedeutung hatte oder er es sich in sei-nem trüben Zustand nur vorgestellt hatte. Wie beurteilte der Seelenberater den schnellen Wechsel seines Gemütszustands?

»Du bist alt, älter als die meisten unseres Volkes«, hatte er gesagt. »Du darfst dich nicht über deinen Zustand grämen!«

Er hatte es dennoch getan, aber nun war al-les wie weggewischt. Die Rückkehr der Su-cher hatte sein Leben zum wiederholten Mal entscheidend verändert.

»Angriff!« schnarrte er geistesabwesend. »Näher heran an den Planeten. Aber nicht zu weit!«

Er hatte erkannt, daß das Wasser eine tödli-che Falle war. Zwar besaß er keinen Beweis dafür und wollte auch keines seiner herrlichen Muschelschiffe opfern, die nach dem Muster des edelsten gebaut waren, das es in der Drei-undvierzig-Planeten-Welt von Urk gab, dem

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Whabovalsz. Das war eine Muschelart, in deren Innern gleich eine ganze Kolonie feins-ter Prickelrundlinge angesiedelt war. Sie mundeten fast noch besser als das Pschormy-gut, wenngleich sie keine lebensverlängernde Wirkung besaßen. Whabovalsz wuchs überall, wo es Wassertümpel, Seen und Meere gab, und manchmal fanden sie sie im weichen Erd-reich als Versteinerungen. Sie kamen aus der Kreide empor wie Steine aus einem Acker. Sie strebten zum Licht und sprachen den phy-sikalischen Gegebenheiten Hohn, indem sie sich trotz ihrer magnetischen Anhängsel nicht am planetarischen Magnetfeld orientierten.

Urk-Wascheff formte den Schlund zu einer einseitig offenen Hülse und ließ den Speichel des Ergötzens langsam hinauslaufen. Er troff zu Boden, verteilte sich und verdunstete unter der Wärme des Fußbodens. Ein angenehmer Geruch breitete sich rings um den Sager aus, und er sog ihn mit allen Atemröhren ein. Sei-ne Verdauungsbeutel blähten sich auf, hingen glatt und ohne die kleinste Falte da. Die Stiele seiner Augen standen starr und kerzengerade empor. Er machte wirklich den Eindruck ei-nes jungen Mannes.

Es war wie ein zweites Leben für ihn, das mußte er zugeben.

»Bei unserer Rückkehr werde ich dem See-lenberater einen Baum pflanzen!« verkündete er, und Urk-Gnodel, der Kommandant der Flotte von Urklys und den beiden anderen Planeten des Systems Urkeins, raschelte bef-lissen herbei und baute sich vor dem Sager auf.

»Ewige Jugend, jawohl!« prophezeite er ehrfürchtig und zählte nacheinander alle sie-benhundertvierundachtzig Bäume und ihre Namen auf, die Urk-Wascheff im Lauf seines Lebens gepflanzt oder verpflanzt hatte. Der Sager dankte freundlich, denn es gab nur we-nige Artgenossen, die sich für seine Art zu leben entzückten und seine Wohltaten nicht nur am Erfolg, sondern auch an der Materie selbst maßen.

Der Philosoph schüttelte die Gedanken des Seins ab und widmete sich stärker denen des Werdens. Jetzt war er ganz Sager und trug die Verantwortung seines Amtes und seines Kön-nens offen zur Schau.

»Wie viele Kambatschen sind bereits ver-

nichtet?« wollte er wissen. »Keine«, stellte Urk-Gnodel verbissen fest.

»Es gibt jedoch Ortungen unter Wasser, mit denen wir nichts anfangen können.«

Der Sager ließ die Ortungen auf sich ein-wirken und verfiel in langes Überlegen. Die Geräte der URKONS maßen Erscheinungen an, die aus zwei gegensätzlichen Energien bestanden. Sie wurden zusammengeführt und bildeten teilweise eine Neutralisationszone, ohne daß zu erkennen gewesen wäre, wozu sie diente und wie sie funktionierte. Urk-Wascheff begriff jedoch, daß sich dort unten etwas tat, was gefährlich werden konnte.

»Hochalarm an alle Schiffe!« kommandier-te er. »Die einheimische Intelligenz bereitet eine Waffe vor, die unser ganzes Können ab-verlangen wird!«

Persönlich begab er sich an die Computer-konsole und programmierte eine Parallel-schaltung zwischen den Destruktoren und den Abweisern, die fremde Energien bereits auf weite Entfernungen ablenken und an dem Schiff vorbeiführen konnten. Bei so vielen Schiffen, wie sie sich in Umlaufbahnen um die Wasserwelt befanden, war es dennoch nicht ratsam, sie einzusetzen, da andere Schif-fe in Gefahr gerieten.

Der Sager überspielte das Programm an die restlichen einhundertsiebzehn Schiffe und hörte sich geduldig die Reihenfolge der Bes-tätigungen an. Er gab sich selbst eine Bestäti-gung für das eigene Schiff durch, dann trat er zurück in den hinteren Teil der Zentrale und überließ es Urk-Gnodel, für das übrige zu sorgen.

Bei Urk! Es sollte dem Gegner nicht gelin-gen, sie zu überrumpeln.

Der Austausch von Energien dauerte an, ohne daß sich an den Verhältnissen etwas änderte. Keines der Schiffe kam zu Schaden, aber auch keine der Städte wurde getroffen und beschädigt. Die Urk-Lystarin richteten sich auf eine lange Belagerung ein.

Ab und zu fingen sie verzerrte Funksprüche aus dem Wasser auf, doch sie konnten sie wegen ihrer fehlenden Klarheit nicht entzif-fern oder einer Sprachfamilie von Xiinx-Markant zuordnen. Also achteten sie nicht mehr auf das, was bei ihnen ankam, sondern richteten ihre Aufmerksamkeit einzig und

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allein auf die angemessenen Vorgänge. So gelang es ihnen, sie rechtzeitig zu erkennen.

Sieben Schiffe stellten gleichzeitig fest, daß etwas auf sie zukam. Ein riesiger, dunkler Gegenstand erreichte die obersten Wasser-schichten und durchbrach sie. Er raste in den Raum hinaus, den Muscheln entgegen.

Nicht nur Urk-Wascheff erschrak bis in die letzte Faser seines Körpers, als er die Ausma-ße des Dings erkannte. Ein Riesenraumschiff flog da herbei, und die Ortungen zeigten ein-deutig, daß es in eine Felderkombination ge-hüllt war, die sich überlagerte und das Gebil-de unangreifbar machte.

Oder doch nicht? Das war die Falle. Der Sager dachte nur an

das. Die einheimische Intelligenz, schleuste eine riesige Station aus, ließ sie durchbrechen und bis an den Rand des Systems fliegen. Dort würde sie wahrscheinlich etliche hundert Kampfschiffe auf den Weg schicken, die alle in den beiden dicken Kugeln und dem Ver-bindungsstück lagerten.

Urk-Gnodel tänzelte unruhig hin und her, kam dabei dem Sager immer näher.

»Wir haben uns getäuscht!« pfiff er und rülpste vor sich hin. »Was nun?«

Es war offensichtlich, daß alles Bisherige ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Die Wesen der Wasserwelt besaßen sehr wohl eine Raumflotte, wenn auch die Energien des riesigen Schiffes ein anderes Hyperspektrum aufwiesen als die, die von den Kambatschen verwendet wurden.

Das machte den Sager allerhöchster Ver-antwortung stutzig.

»Dreißig Schiffe unter mein Kommando!« verlangte er. »Wir werden es angreifen und behindern! Die übrigen Muscheln bleiben in ihrer Umlaufbahn und führen den bisherigen Kampf fort!«

Urk-Gnodel beeilte sich, die Anweisung zu erfüllen. Er berief den Piloten der URKWET zum Kommandanten über die zurückbleiben-den Schiffe und leitete die Beschleunigungs-phase ein. Zusammen mit neunundzwanzig Schiffen jagte er dem riesigen Gebilde voraus, und Urk-Wascheff gab ihm den Befehl, bei geringer werdender Distanz das Feuer zu er-öffnen.

Wenn sie dieses Gebilde zerstörten, hatten

sie den Sieg sicher.

* Bei Urk, es war ein Spiel mit dem Wahn-

sinn. Urk-Wascheff rutschte zwischen den Pols-

tern der Unterkunft hin und her, und der Kommandant der URKONS versuchte ver-zweifelt, ihn aufzufangen und festzuhalten. Er selbst klammerte sich mit der Hälfte seiner oberen und unteren Tentakel fest, stemmte sich schräg gegen die Ecke am Durchschlupf und zog den halb organischen Vorhang be-denklich in die Länge. Wenn er riß und die Fliehkräfte weiter anhielten, half ihm alles nichts. Er flog dann als Geschoß durch die Unterkunft und verletzte womöglich seinen Sager. Urk-Gnodel schrie auf der Suche nach einem Weg, wie er ein solches Verbrechen verhindern konnte.

Der Sager allerhöchster Verantwortung landete unsanft an der gegenüberliegenden Wand. Er rutschte abwärts, weil die normale Schwerkraft in diesem Augenblick zurück-kehrte. Unbeholfen richteten sich die beiden Urk-Lystarin auf.

»Endlich!« keuchte Urk-Wascheff, und der Kommandant zweifelte an seinem eigenen Verstand und der Wiedergabefähigkeit seiner Hörorgane. »Endlich schießen sie zurück!«

Sie hatten das Gebilde über eine Entfer-nung von mehreren Lichtjahren verfolgt und waren ihm nicht von der Seite gewichen. Die Flucht der Riesenstation hatte sie verwirrt, und sie fragten sich noch immer, was es be-deutete. Es gab viele Möglichkeiten. Das Volk der Wasserwelt befand sich in diesem Schiff und strebte einem Ziel entgegen. Es ließ nur robotische Städte zurück. Oder es war unterwegs, um einem anderen Volk von die-sem Kampf zu berichten und es zu animieren, in ihn einzutreten.

Beide Gedanken besaßen einen Fehler. Urk-Wascheff wußte, daß alle Intelligenzen dieser Galaxis an dem großen Kampf teil-nahmen. Es gab keine, die an Flucht oder Rückzug dachten. Der Kampf war eine Auf-gabe, und wer siegte, der erreichte eine höhe-re Stufe in der Skala. Wer verlor, von dem blieb nicht viel übrig, und er war höchstens

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noch für einen kleineren Kampf von Mann zu Mann zu gebrauchen.

Der andere Gedanke kam einem teilweisen Selbstmord gleich. Ein drittes Volk zu Hilfe zu rufen, bedeutete, daß nicht nur der eigene Gegner, sondern auch man selbst angegriffen wurde. An der Situation änderte sich dadurch nichts. Die Kämpfenden waren fast immer gleichwertig.

Warum eigentlich? fragte der Sager sich. Er schrieb es seiner Verwirrung zu, daß er eine solche Frage stellte. Selbstverständlich gehör-te es zu dem Kampf und der Auslese, daß sich die Starken mit den Starken maßen und die Schwachen mit den Schwachen. Der Auftrag-geber hatte das so bestimmt. Welcher Kämp-fer wollte mit einem schwachen Gegner strei-ten und sich dann seines Erfolgs brüsten?

»Kehren wir in die Kommandozentrale zu-rück!« forderte er Urk-Gnodel auf. »Beim nächsten Mal sind unsere Andruckgeräte dar-auf eingestellt. Es wird zu keinem Unglück mehr kommen!«

Sie machten sich auf den Weg, und als sie die Mulde erreichten und nach Veränderun-gen suchten, fielen ihre Augen auf den Bild-schirm und das leuchtende Gebilde, das sich zu ihnen gesellt hatte.

»Das ist ...«, begann Urk-Gnodel, brach dann ab. Er senkte die Augenstiele und richte-te seine Sinne auf den Sager und Philosophen. »Was müssen wir tun?«

Urk-Wascheff war beim Anblick des Din-ges beinahe in den Boden versunken. Er wuß-te nicht, wie es kam, aber eine innere Stimme sagte ihm, daß da ein Helfer aufgetaucht war, der mit ihnen gegen den Feind kämpfte.

Noch mehr. Das leuchtende Ding hatte sich zwischen die Muscheln und die Riesenstation geschoben und drängte sie damit von der Ver-folgung ab.

»Waffen ruhen!« befahl der Sager aller-höchster Verantwortung. »Wir sind im Au-genblick Zuschauer!«

Er konnte nicht sagen, woran es lag, aber er faßte Vertrauen zu dem Ding, das sich an den Gegner heranschob und jeden Augenblick mit seinem Kampf beginnen mußte.

Urk-Wascheff ließ die Muscheln zurückfal-len und beobachtete. Er ließ sich auf sein Polster mitten in der Mulde sinken und starrte

mit allen Augen hinauf zum Schirm. »Seht!« flüsterte er unruhig. »Sie fliehen

schon wieder.« Seine Worte bei ihrem Er-scheinen über dem Wasserplaneten fielen ihm wieder ein. »Sie sind tatsächlich Feiglinge!« Und einem noch nicht abgeschlossenen Ge-danken folgend, fügte er hinzu: »Wenn sie tatsächlich zu den Kambatschen gehören!«

8.

»Wie geht es ihr?« Rubeiner flüsterte die Frage und setzte sich

geräuschlos neben die Liege. Lyta Kunduran nickte ihm zu und berührte dann das rechte Handgelenk der jungen Frau. Es war schmal und zerbrechlich. Die Adern traten deutlich hervor, die feinen Hände zeigten Sehnen und Knochen. Cara war erschreckend mager.

»Sie wird bald zu sich kommen«, meinte die Stabsspezialistin. »Die Anstrengung war zu groß für sie.«

»Wenn sie nur keine bleibenden Schäden davonträgt.« Seine Augen ruhten auf dem Körper, den das sackähnliche Gewand be-deckte. Die weiße Haut des Gesichts leuchtete wie erkaltete Asche. Der Ausdruck unter-schied sich nicht von dem, den sie in wachem Zustand zur Schau trug. Und doch bildete er sich ein, eine Spur Zufriedenheit darin zu ent-decken. Er setzte sich neben Bit und wartete.

»Ihr unterschätzt sie alle ein bißchen«, er-widerte Lyta Kunduran, und Stolz schwang in ihrer Stimme mit. Nach wie vor betrachtete sie den Engel als ihren Schützling. »Es war nur das Ungewohnte, das ihr zu schaffen machte.«

Rubeiner nickte. Er betrachtete seine zit-ternden Hände, eine Nachwirkung dessen, was er draußen erlebt hatte. Sein erster Weg hatte in eine Medostation geführt. Die Robo-ter hatten keine Schäden festgestellt. Sein Rücken war in Ordnung bis auf eine gering-fügige Prellung.

»Glaubst du das auch von mir?« wollte er wissen. »Ich meine, daß ich ihre Fähigkeiten unterbewerte?« Seine Augen wanderten vom Gesicht zu den Füßen des Engels, die in kur-zen Schuhen aus Kunstleder steckten. Sie sahen abgetragen aus und verstärkten den ärmlichen Eindruck, den Cara Doz überall

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erweckte, wo sie auftauchte.

Bit gab ihm keine Antwort. Sie sah keinen Sinn darin, sich über dieses Thema zu unter-halten. Sie winkte einen der Roboter herbei, die gehorsam im Hintergrund warteten, und trug ihm auf, kalte Umschläge auf die Stirn der jungen Frau zu legen. Die Maschine stapf-te davon.

Da schlug Cara Doz die Augen auf. Es war eine blitzschnelle Bewegung der Lider, ein eindeutiges Zeichen dafür, daß dieses Wesen es nicht gewohnt war, die Augen geschlossen zu halten. Rubeiner fragte sich in diesem Moment, wie die Wachschläferin das aushielt. Irgendwann mußten die Augen doch ermü-den.

Unsinn! schalt er sich. Sie braucht es nicht. Es hängt mit ihrer »Krankheit« zusammen, mit ihrer Eigenart.

Überall erregte der Engel Aufsehen. Die meisten Solaner wußten nicht, ob Cara zu den Schiffsbewohnern gehörte oder unterwegs aufgelesen worden war. Rubeiner hatte sich informiert. Cara lebte allein in der Nähe der Hauptzentrale gleich hinter SOL-City. Ihre Eltern kamen nie mit ihr in Berührung, ledig-lich die Computer konnten Auskunft geben, wer sie überhaupt waren. Cara selbst sprach nie über sie.

»Wie geht es dir?« sagte Bit leise. Abrupt richtete sich der Engel auf.

»Lyta!« Sie fuhr sich über die Stirn. »Wo sind wir?«

»In Sicherheit! Du hast das Schiff gerettet, Cara!«

Die junge Frau saß bereits auf der Bettkan-te. Der Roboter brachte die Tücher und blieb unschlüssig am Kopfende der Liege stehen.

»Ich muß in die Zentrale!« stieß sie hervor. »Man braucht mich dort dring...« Sie brach ab und errötete leicht, als hätte sie bereits zuviel gesagt. Rubeiner erhob sich und schob ihr den Stuhl hin.

»Hier, Cara! Wenn du dich setzen willst!« »Wenn«, erwiderte sie. Ganz kurz zog der

Hauch eines Lächelns oder Aufatmens durch ihr Gesicht. Sie sah kein bißchen erleichtert aus und besaß noch immer ihr übermüdetes, abgekämpftes Gesicht.

Viel zu viele Falten für Rubeiners Ge-schmack, aber er nahm es nicht als Maßstab.

Der Engel rutschte von der Liege, deutete auf Bit und wandte sich zum Ausgang.

»Rubeiner. Ja?« meinte sie, dann war sie draußen.

Der Solaner blieb schulterzuckend bei Lyta Kunduran stehen. Die Stabsspezialistin legte ihm tröstend eine Hand auf den Arm.

»Sobald es dir gelingt, sie zu verstehen, wirst du Erfolg haben«, behauptete sie.

»Aber ich versuche es doch!« begehrte er auf. »Und ich akzeptiere sie.«

»Das reicht nicht aus, Rubeiner. Es ist zu wenig!«

*

Unvermutet tauchte die Erscheinung hinter

ihnen auf. Die Ortung stellte es als einen leuchtenden Balken von hundert Metern Län-ge und einer Dicke von zehn Metern dar. Senkrecht zur Flugrichtung schwebte es hinter der SOL her, die sich mit achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit auf die Doppelsonne zubewegte. Es war schneller als die SOL und näherte sich rasch.

Bjo Breiskoll versteifte sich und verlor den Kontakt zu seiner Umgebung. Seine Augen öffneten sich unnatürlich weit, ein deutliches Zeichen, daß er etwas empfing. Niemand ach-tete jedoch auf ihn.

»Atlan, Breck!« stieß der Katzer unvermit-telt hervor. »Es ist ein tödlicher Gegner!«

»Du kannst etwas erkennen?« Der Arkoni-de eilte herbei.

»Ein Wesen aus reiner Hyperenergie. Eine Berührung mit Normalmaterie führt zu deren Zerstörung, ohne daß das Gebilde darunter leidet. Es ist intelligent und hat den Auftrag zu töten!«

»Anti-Homunk!« stieß der Arkonide her-vor. »Das Manifest!«

Wöbbeking hatte ihm bei ihrem letzten te-lepathischen Kontakt mitgeteilt, daß Janvrin, das Manifest A, zerstört sei. Seither rechnete er fest damit, daß Anti-Homunk ihm eine wei-tere Waffe in den Weg legen würde, ein zwei-tes Manifest, wenn es das gab. Bjo bestätigte es.

»Es ist das Manifest B und heißt Pervrin«, berichtete er stockend. »Es will uns beseiti-gen, was ihm nicht schwerfallen dürfte. Bei

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der SOL! Es hat eine veränderte Intelligenz, die zum gehorsamen Instinkt abgeschwächt ist!«

»Vorlan, Uster, schnell!« Brecks Ruf war nicht nötig. Die beiden Zwillinge hatten die Gefahr erkannt. Sie jagten die SOL in den Linearraum, führten sie über eine Distanz von sechzig Lichtjahren parallel zur Dunkelzone fort.

»Es kommt aus der Namenlosen Zone!« sagte Bjo noch. Es war der letzte Gedanke, den er empfangen hatte.

Die Namenlose Zone! Atlan knirschte mit den Zähnen. Wie haßte er diesen Begriff, oh-ne seinen vollständigen Inhalt zu kennen. Die Namenlose Zone war ihm zum Gefängnis geworden. Er wußte nicht einmal, wie er dar-aus entkommen war. Eines aber wußte er ü-berdeutlich. Daß Anti-Homunk ein Manifest aus der Namenlosen Zone verwendete, war der letzte noch fehlende Beweis dafür, daß er der Diener von Anti-ES war. »Ein neuer, stär-kerer Helfer!« stellte er nüchtern fest. »Er besitzt garantiert größere Fähigkeiten als das Manifest A. Und da ist er bereits wieder!«

Der Abstand zu Pervrin hatte sich ein we-nig vergrößert. Der Balken war zu einem kleinen, verwachsenen Treibholz zusammen-geschrumpft, das die Ortung schnell zu seiner wirklichen Größe auflöste. Dahinter tauchten dreißig Reflexe auf, die Muschelschiffe, die sich seit dem Auftauchen des Manifests B ein wenig zurückgezogen hatten.

Die Solaner begriffen, daß sie durch die Flucht allein nicht weiterkamen. Es sei denn, sie gingen in den Dimetransflug, verließen diese Galaxis und machten erst weit entfernt im Leerraum Halt. Bis dorthin würde Pervrin ihnen vielleicht nicht folgen.

»Die Säule holt rasch auf!« sagte Vorlan. »Das Ding besitzt eine Beschleunigung, die unser Schiff als schwerfällig erscheinen läßt!«

»Es kann in seinem jetzigen Zustand keinen telepathischen Kontakt zu uns herstellen, sonst würde es in unseren Gedanken lesen und unsere Absichten erkennen und verei-teln«, erklärte Bjo. »Was sollen wir tun?«

Eine Gestalt betrat die Zentrale und näherte sich den Pilotensesseln. Es war Cara Doz. Die junge Frau trat neben Vorlan Brick und sagte:

»Vorlan, entschuldige!«

Der Zwilling runzelte die Stirn. Dann aber leuchteten seine Augen in plötzlichem Ver-stehen auf.

»Der Nadelstich!« brummte er. »Vergessen wir das. Vielleicht war es nötig.«

Der Engel nickte heftig. Hätte sie versucht, die Solaner durch lange Diskussionen zu ü-berzeugen, läge das Schiff jetzt noch auf dem Grund des Ozeans der Wasserwelt.

Vorlan nahm den Blick nicht von Cara Doz. Langsam begriff er, was ihr Erscheinen zu bedeuten hatte.

»Du willst wieder hier ...«, rief er aus. Cara bejahte.

»Breck?« rief Uster aus. »Soll sie? Hat sie sich denn erholt?«

Lyta Kunduran betrat die Zentrale und ent-hob den High Sideryt der Antwort.

»Sie hat«, meinte sie in der kurzen Art, in der Cara immer sprach. »Laßt sie!«

Achselzuckend räumte Vorlan seinen Ses-sel, und auch Brick legte seine Arbeit nieder, nachdem die junge Frau das SERT-Band auf-gesetzt und eingestöpselt hatte. Augenblick-lich übernahm sie den Flug des Schiffes.

»Das Manifest holt auf!« Breckcrown stell-te es nüchtern fest. Atlan glaubte, daß der High Sideryt sich ein wenig gefangen hatte. Mit dem Verlassen des Wasserplaneten verblaßte auch die Erinnerung an den falschen Deccon und die Gefahr, in der die SOL ge-schwebt war.

Cara handelte. Sie steuerte das Schiff auf einen Gesteinsbrocken von Mondgröße zu und brachte ihn zwischen sich und Pervrin. Sie hoffte, daß dieser durch eine Kurskorrek-tur ein wenig Zeit verlor und sie sich beim nächsten Brocken seiner Beobachtung so weit entziehen konnte, daß er ihren Flug durch den Linearraum nicht verfolgen konnte.

Das Manifest B traf keinerlei Anstalten, seinen Kurs zu ändern. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erkannten sie seine Gefährlichkeit voll. Die Energiesäule glitt durch den Him-melskörper hindurch. Wo sie mit dem Gestein in Berührung kam, löste es sich auf. Mitten-durch führte ihr Weg, und der Mond, dessen Durchmesser immerhin siebenhundert Kilo-meter betrug, schleuderte das flüssige Innere eines wärmenden Kerns von sich und platzte auseinander.

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»SENECA! Sanny!« Der Ruf des High Si-

deryt glich einem Hilfeschrei. Die Biopositronik und die Molaatin konn-

ten nicht helfen. Sie berechneten, daß jede Art von Schutzschirm wirkungslos sei. Erschwe-rend kam hinzu, daß jetzt auch die Muscheln wieder aufholten und Anstalten machten, das Manifest B bei seiner Arbeit zu unterstützen, indem sie die SOL an ihren Manövern hinder-ten.

»Weg hier«, meinte Vorlan Brick. »Mög-lichst weit weg. Mir war diese Galaxis von Anfang an nicht geheuer!«

Zum zweitenmal in kurzer Zeit stellte Cara Doz ihre Fähigkeiten unter Beweis. Sie ließ es bis zum letzten Augenblick darauf ankom-men. Ihr Geist war mit dem Schiff zu einer Einheit verschmolzen, der Körper schien zu einem lästigen Trägermedium degradiert. Im günstigsten Sekundenbruchteil beschleunigte die SOL und raste seitlich davon, mitten in die Bahn eines der Muschelschiffe hinein. Sie kam ihm dabei ziemlich nahe, und die Mu-schel schoß, ohne daß sie dem Schiff Schaden zufügen konnte. Gespannt beobachteten die Solaner die Bildschirme.

Etwas Unglaubliches geschah. Pervrin hatte seinen Kurs ebenfalls geän-

dert. Er holte weiter auf, und dabei streifte er die Muschel, ohne auf sie zu achten. Er be-rührte den starken Energieschirm, drang durch ihn durch und löste auch das Schiff auf. Neunundzwanzig waren es noch, aber diese Schiffe zogen sich nicht etwa zurück. Sie grif-fen auch das Manifest B nicht an, sondern stürzten sich mit einem wahren Heißhunger der SOL hinterher.

»Das darf nicht wahr sein!« rief Breckc-rown Hayes. Er wollte es einfach nicht glau-ben, obwohl es exakt in das Schema paßte, das sie sich bisher von den Gegebenheiten in Xiinx-Markant gemacht hatten. Selbstver-ständlich griffen diese Völker kein Manifest an, das von Anti-Homunk ausgeschickt wor-den war.

Alle blickten gespannt auf Cara, denn sie erwarteten eine Reaktion der Emotionautin. Sie mußte einen weiteren Linearflug einleiten oder sonst etwas tun. Nichts geschah, und Lyta Kunduran vergewisserte sich rasch, daß der Engel nicht wieder bewußtlos geworden

war. Cara schien es zu spüren, denn sie schüt-telte leicht den Kopf.

»Nein!« sagte Bjo. »Was ist geschehen? Er ist verschwunden!«

Sie starrten ihn an. Pervrin konnte er nicht meinen, denn das Manifest befand sich weiter in raschem Anflug auf die SOL. Was aber meinte er dann?

*

Als über Lisbaon erneut die Sonne aufging,

beschlossen die Senkmeister Tervs, das alte Geheimnis zu lösen und das Perlenkästchen zu öffnen. Auch die Tangmeister nahmen an der Zeremonie in der erhabenen Halle in Pschwemmvu teil. Bresalph erschien in Be-gleitung seines Schülers, der als erster den Gedanken an diese Möglichkeit gehabt hatte.

Das geflügelte Wort vom ewigen letzten Kampf hatte in den vergangenen Stunden Einzug in den Pilzstädten gehalten, und die Terver begannen, lang und ausführlich über eine Änderung der Lage zu diskutieren. Die Entscheidung der Senkmeister zog unter alle Diskussionen einen Schlußstrich.

Es ist der einzige Hinweis, dachte Juccan Bresalph und klammerte sich an seine Tasche. Er trug sie bei sich, obwohl sie diesmal leer war. Er hoffte jedoch, daß er in ihr etwas mit-nehmen konnte, und wenn es nur ein Teil ei-ner Idee war, wie sie dem Gegner beikamen.

Nur eine Idee brauchte er. Er würde sie verwirklichen, wie er das Gravitron verwirk-licht hatte. Nicht einmal Zeitdruck plagte ihn, wenn sie ihr Vorhaben durchführen konnten. Ob der sinnlose Schußwechsel einen Tag län-ger dauerte oder auch zwei, spielte überhaupt keine Rolle mehr. Sie hatten sich auf den Gegner eingestellt und erkannt, daß mit den derzeitigen Mitteln keine Veränderung eintre-ten würde. Die Muscheln zerstörten keine Städte, und die Terver keine Muscheln.

Lemarner Traph legte Hand an die Mauer aus Glas. Sie war durchsichtig und zog sich über mehrere Etagen Pschwemmvus. Hier, in der vierten Etage vom Grund der Kappe an gerechnet, hatte man auf der Rückseite eine hochempfindliche Energieschicht angebracht, die das Glas in einen Spiegel höchster Fein-heit verwandelte. Wer nichts von der Mauer

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wußte, rannte gegen sie, weil er glaubte, daß der Raum doppelt so groß war.

Aus diesem Grund war die erhabene Halle für gewöhnlich verschlossen. Den Schlüssel bewahrte der Senkmeister der Stadt auf. Hlomber Klafsra verharrte neben Traph und beobachtete gespannt, wie dieser den kleinen Hammer in die Hand nahm.

Das Perlenkästchen ruhte inmitten des Gla-ses. Eine dünne Linie deutete an, daß hier ein Rechteck eingepaßt war, das nicht zur übrigen Mauer gehörte. Es mußte zertrümmert wer-den, damit sie an das Kästchen herankamen.

Die letzten Unterhaltungen in den Reihen der Senkmeister verstummten. Gespannt beo-bachteten sie, wie Lemarner Traph den Ham-mer anhob und entlang der Linie auf die Mauer einschlug. Es knirschte und kreischte, eine Handvoll feiner Scherben fiel zu Boden und bedeckte die Füße des Senkmeisters. Traph ließ den Hammer sinken und trat einen Schritt zurück. Er steckte das Werkzeug in seine Hosentasche und holte tief Luft. Mit den Händen räumte er ein paar kleine Splitter weg.

Er nahm das Perlenkästchen heraus. Es war nicht schwer. Ein kleines Plastikkästchen mit Perlen verziert, mehr nicht. Behutsam setzte er es neben dem Scherbenhaufen ab und öff-nete den winzigen Metallriegel, der es verschloß. Langsam klappte er den Deckel nach hinten. Nachdenklich blickte er auf das, was er sah.

Es war eine kleine, weiße Plastikfolie, die er heraushob und in das Licht der Decken-strahler hielt, die von der Wand gleißend hell reflektiert wurden. Die Folie war auf einer Seite beschrieben.

Traph hielt die Folie nahe an seine Augen und versuchte, den Inhalt der Zeichen zu ver-stehen. Es gelang ihm nur mühsam, und er benötigte einige Zeit, um sich zurechtzufin-den.

»Es ist das alte Terverisch«, sagte er dann. »Aber es ist ziemlich lange her, daß es nicht mehr geschrieben und gesprochen wird.«

Juccan Bresalph trat vor und zog Gushtar Irrido mit sich.

»Mein Schüler versteht sich darauf«, sagte er. »Wenn du ihm das Geheimnis anvertrauen willst, so tue es!«

Wortlos reichte der Senkmeister dem Schü-ler die Folie, und Irrido betrachtete sie einge-hend. Als er den Kopf hob, war sein Gesicht bleich. Der junge Terver wirkte verstört.

»Sagt mir, ob ich meinen Augen trauen darf«, begann er zögernd. »Ich erkenne die Schrift und die Sprache, und ich kann euch den Inhalt des Geheimnisses nennen!«

Er ließ die Hand mit dem Zettel sinken und blickte zuerst seinen Lehrmeister, dann Traph an.

»Nein, ich kann es nicht. Es ist furchtbar!« »Sprich!« Lemarner Traph packte ihn und

schüttelte ihn. »Komm zu dir! Was steht dar-in?«

Der Schüler des Tangmeisters schluckte mehrmals. Es kostete ihn sichtlich Überwin-dung, das Gelesene zu verarbeiten.

»Hört also«, brachte er stockend hervor. »Ich bin Cerdur Menach, der Senkmeister dieser Stadt. Heute hat sich das Leben auf Terv zu verändern begonnen. Unser Volk wird anders. Das bisher friedliche Leben geht zu Ende. Es ist, als käme ein Rausch über uns. Jene Städte, die gerade über Wasser waren, erfaßte es zuerst. Pschwemmvu ist erst in den oberen Etagen betroffen. Ich stehe hier vor der Glasmauer und werde diese Botschaft gleich in sie einfügen und das Glas darü-berschmelzen. In allen Computern unserer Welt ist es gespeichert, daß es sich hierbei um ein Geheimnis handelt. Vielleicht wird eines Tages dieser fremdartige Einfluß schwinden, der uns zu einem immerwährenden Kampf ruft. Ich hoffe und wünsche es. Jetzt muß ich enden, bevor auch mich diese seltsame Krankheit befällt. Wer auch immer diese Fo-lie liest, soll sie nicht zerstören. Sie ist das Wertvollste, was Terv besitzt.«

Die Senkmeister und die übrigen Anwesen-den waren den Worten des Schülers mit be-troffenen Gesichtern gefolgt. Jetzt regten sie sich, und Bresalph fragte:

»Du lügst auch nicht? Es steht so da?« Irri-do bestätigte es.

Der Tangmeister nahm ihm die Folie aus der Hand und reichte sie an Traph weiter.

»So ein Unsinn«, meinte er. »Ein Verrück-ter hat sich einen Scherz mit unserem Volk erlaubt!«

Seine Worte fanden ungeteilte Zustim-

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mung. Selbst ein Schüler widersprach nicht. Er hatte noch nicht begonnen, den Inhalt des Geheimnisses zu verarbeiten.

Traph tat das in aller Augen einzig Richti-ge. Er schritt hinaus in den Korridor bis zum nächsten Abfallvernichter. Er warf den Zettel hinein und nickte zufrieden. Der Sortiercom-puter würde ihn dem nächstbesten Schmelz-ofen für Plastikabfälle zuführen.

Der Senkmeister wackelte empört mit dem Kopf. Es änderte sich nichts, Irridos Hinweis hatte sie zu einem Betrug geführt. Nun besa-ßen sie keine Idee und waren um eine Enttäu-schung reicher.

»Und dennoch!« Lemarner Traph ballte die Hände zu Fäusten. »Wir werden siegen!«

9.

Der eine Augenblick fand Urk-Wascheff und alle seine Begleiter in flammender Be-geisterung für die Jagd. Daß eines ihrer Mu-schelschiffe dabei die Bahn der leuchtenden Säule streifte und zerstört wurde, bedeutete in ihren Augen kein Unglück. Jeder Kampf for-derte Opfer, und die Urk-Lystarin hatten sich alle Siege mit Opfern erkauft.

»Es sind zweitausend Helden gestorben!« sagte der Philosoph feierlich und lauschte in sich hinein, um ja keine Empfindung zu über-sehen. Erneut rief er die Urk-Lystarin zurück, überließ den Gegner ganz der unerbittlichen Jagd durch die Säule der Weisheit und dachte sich einen Plan aus, wie er diese Waffe aus reiner Hyperenergie zu der Wasserwelt unter den gelben Sonnen locken konnte.

»Funkspruch nach Urklys!« befahl er. »Die Daheimgebliebenen sollen wissen, wie es steht!«

Urk-Gnodel kam der Anweisung sofort nach, und der Sager allerhöchster Verantwor-tung hörte die Funker seiner Heimat. Er kann-te sie alle namentlich und hielt sie anhand ihrer Stimmen auseinander.

Dann jedoch verschwammen sie und wur-den undeutlich, und er warf dem Komman-danten scharfe Blicke zu. Urk-Gnodel be-merkte sie und drehte sich verlegen um.

»Es ist eine Eintrübung!« versuchte er zu erklären. Und dann meldeten alle Insassen des Schiffes dieselbe Erscheinung und beunruhig-

ten den Sager. Der nächste Augenblick führte eine endgül-

tige Veränderung herbei. Die Urk-Lystarin in den neunundzwanzig Schiffen spürten, wie sich etwas von ihren Gedanken hob und den Geist freigab. Sie beschrieben es so, als habe jemand einen unsichtbaren Vorhang wegge-zogen.

Der Sager sackte seufzend zu Boden. Eine Zeitlang wußte er nicht, wo er sich befand, und sein Schiff zog steuerlos dahin. Der Computer erkannte den Zustand der Besat-zung und aktivierte den Alarm. Niemand kümmerte sich um die winselnden Glocken, jeder war mit sich selbst beschäftigt.

Urk-Wascheff versank in einem Reich zwi-schen Wirklichkeit und Traum. Er sah sich durch die Wälder seiner Heimat schreiten und Bäume und andere Pflanzen in die Erde ste-cken. Urk-Jeware begleitete ihn, und die Schar ihrer Kinder und Kindeskinder folgte in respektvollem Abstand.

»Wie friedlich alles ist«, rief der Sager froh, und alle stimmten ihm zu.

Ein wenig kehrte er in die Gegenwart der Kommandomulde des Schiffes zurück und fragte sich, ob seine Artgenossen die Worte laut gesprochen hatten oder ob er sie sich nur einbildete.

»Bald kehren wir in unser Winterhaus auf Urkjon zurück«, meinte er und wandte sich zu seinen Nachkommen um. »Dort sind zur Zeit Fremde von Plasterteyn zu Gast.«

Jemand rüttelte ihn ungestüm an seinen o-beren Tentakeln. Urk-Jeware?

»Sager!« drang seine Stimme undeutlich an seine Hörorgane. »Hilf uns. Wir sind ver-wirrt!«

Nach und nach gelang es Urk-Wascheff, seine Augenstiele zu stabilisieren. Er erkannte den Kommandanten.

»Irrsinn!« ächzte Urk-Gnodel. »Er hält uns gefangen! Sage du uns, was die Wirklichkeit ist!«

Urk-Wascheff richtete sich schwankend auf und konzentrierte seinen Geist auf das We-sentliche. Soeben war ihm eine Erkenntnis widerfahren, die ihn erschreckte und lähmte. Ein schwerer Vorhang war von ihm genom-men, und er begriff die Veränderung. Nach zwei, drei Sekunden wußte er die Wahrheit.

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»Der Kampf!« schrillte er in panischer

Angst. »Wir haben den Kampf verloren!« Hilflos taumelte er durch die Mulde. Keiner

der Urk-Lystarin war in der Lage, ihm zu hel-fen. Hilflos und apathisch hingen sie herum und begruben ihre einknickenden Gleittenta-kel unter sich.

Urk-Wascheff reichte die Kraft bis zu den Kissen der Funker. Sie waren leer, die Urk-Lystarin lagen daneben am Boden.

Der Sager ließ sich in eines hineinsinken. Mit zitternden Tentakeln betätigte er die An-lage.

Urk-Wascheff rief um Hilfe, und die Sen-deantennen spielten sich langsam auf das gro-ße, fremde Schiff ein.

*

Noch ehe jemand an Bjo eine Frage stellen

konnte, entdeckten sie, daß das Manifest B seinen Kurs geändert hatte. Es verlangsamte seine Geschwindigkeit und kam in Schußwei-te der SOL zum Stillstand. Der Balken drehte sich, bis eines der Enden auf das Schiff, das andere aber in Richtung der Muscheln wies.

Atlan runzelte die Stirn. Er betrachtete den Vorgang als einen Hinweis, dessen Deutung ihm nicht gelang.

»Bjo!« sagte er. »Was ist?« »Der Zwang ist weg!« erwiderte Breiskoll.

»Der Zwang zu kämpfen. Ich habe es deutlich gespürt. Er ist verschwunden!«

Aus der SZ-1 kam ein Anruf von Sternfeu-er. Sie hatte dieselbe Beobachtung gemacht.

Es ist unlogisch! meldete sich Atlans Extra-sinn. Wie kann man etwas wahrnehmen, was vorher gar nicht da war!

Es war eines der Geheimnisse, die sie noch nicht ergründet hatten. Zu keiner Zeit hatten die Mutanten etwas von diesem Einfluß ver-spürt. Und doch entdeckten sie jetzt dessen Verschwinden.

»Ist irgend etwas verändert?« erkundigte Breckcrown Hayes sich. »Kannst du Dinge empfangen, die dir vorher verborgen waren?«

Bjo verneinte. Es gab keinen Unterschied zu vorher.

Cara Doz begann sich in ihrem Sessel zu rühren. Sie richtete ihren Körper ein wenig auf und öffnete die Augen. Mit der Hand wies

sie auf die Funkanlage. »Ein Anruf!« hauchte sie. »Er kommt von

den Muscheln.« Atlan legte sich zurecht, was soeben einge-

treten war. Ein Zwang war über allem gele-gen, was sich in dieser Gegend befand. Bjo bezeichnete es als den Zwang zum Kämpfen. Es konnte sich nur um die Ursache dessen handeln, was die Völker in Xiinx-Markant zu diesem dauernden Krieg trieb.

Selbst Pervrin reagierte darauf. Er verharrte bewegungslos und schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Der Abstand zwischen ihm und der SOL vergrößerte sich rasch.

»Translatoren dazwischenschalten und auswerten!« Breck nickte Cara Doz zu, und der Engel versank wieder in seiner Aufgabe.

Zunächst hörten sie nichts als ein Gejaule, das direkt von den Muscheln kam. Die Schif-fe lösten ihre Formation langsam auf und taumelten auseinander. Auch dort waren die Zeichen der Veränderung nicht zu übersehen.

Wenn die Bewohner dieser Galaxis alle darauf reagierten, selbst das Manifest, warum dann wir nicht? stellte Atlan sich die Frage. Warum unterlagen wir nicht diesem Drang?

Die Insassen der Muscheln konnten die Frage bestimmt beantworten.

Endlich kam eine Bildverbindung zustande, und die Translatoren erfaßten die Eigenheiten der fremden Sprache und lieferten den Über-setzungsschlüssel.

»... deshalb um Unterstützung und Hilfe«, kam es aus den Lautsprechern. »Wir sind in großer Not und bitten deshalb ...«

Atlan trat neben Breckcrown an den Schirm. Er blickte in einen wannenförmigen, ovalen Raum, der in orangefarbenes Licht getaucht war. An der Decke hingen die Sterne der Galaxis und die Leuchtpunkte der übrigen Schiffe und des Manifests. Atlan identifizierte den Raum als die Kommandozentrale des Schiffes. Überall lagen oder hingen Wesen herum, die sich manchmal ruckartig beweg-ten.

Diese Wesen sind krank, war sein erster Eindruck.

Jetzt schob sich eine Gestalt in den Erfas-sungsbereich. Sie kam von unten, richtete sich auf oder stellte sich auf einen Sockel.

Atlan erblickte einen eiförmigen, von kö-

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nigsblauem Flaum überzogenen Rumpf, an dessen Seiten zwei große, hellrote Beutel hin-gen. Unter dem feinen Federkleid entdeckte er ein paar zusätzliche Wölbungen. Oben am Rumpf saß ein kleiner, faustgroßer Höcker ohne Hals, an dem mehrere Merkmale zu er-kennen waren. Obenauf ragten acht Stiele, die ungefähr dreimal so lang waren, wie der Hö-cker durchmaß. An den Stielenden saßen Au-gen, und zwischen ihnen ragten feinere, an-tennenähnliche Fasern auf, die ihren eigentli-chen Ursprung in der Mitte des Höckers zu haben schienen. Dominierend angebracht war eine graue, rissige Öffnung in der Art der Trompete, die auf der Vorderseite des Hö-ckers waagrecht abstand.

Gleich unterhalb des Höckers erkannte der Arkonide drei auf kurzen, gelenklosen Armen angebrachte Greifhände mit jeweils drei sche-renähnlichen Gliedern. Darunter umgab den Körper ein Kranz von unzähligen Tentakeln, und auch unterhalb des Rumpfes leuchteten die glänzenden, schwarzen Gliedmaßen. Sie dienten dort offensichtlich als Beine und wa-ren stärker als die oberen.

Atlan beobachtete, wie sich die Trompe-tenöffnung unablässig bewegte. Manchmal öffnete sie sich weiter, manchmal kaum wahrnehmbar. Aus ihr kamen die jaulenden Geräusche, die der Translator übersetzte.

»Urk-Wascheff an euch!« verstanden die Solaner. »Der Sager allerhöchster Verantwor-tung spricht zu euch! Wir sind in Not. Frem-des Schiff, melde dich!«

Eine Pause trat ein, und Atlan erkannte an den Bewegungen, daß er sie vor sich sah und musterte.

»Hier ist die SOL unter Breckcrown Hay-es!« antwortete der High Sideryt. »Wir haben soeben beobachtet, daß eine Erscheinung ver-schwunden ist, die mit dem Kampf in Xiinx-Markant zu tun hat. Seid ihr davon betrof-fen?«

Die Tentakel des Wesens schwankten ge-fährlich hin und her. Einen Augenblick lang wandte es sich zur Seite.

»Wir bitten euch um Vergebung!« sagte es dann. »Wir haben gefehlt! Sagt uns, ist es wirklich wahr, daß wir den wahnsinnigen Kampf geführt haben, der sich in unseren Er-innerungen eingenistet hat?«

»Es ist die Wahrheit«, stimmte Hayes zu. »Nicht nur ihr, die ganze Galaxis war davon betroffen. Nun scheint dieser Einfluß plötz-lich verschwunden.«

»Wir können es noch immer nicht glauben. Ich bin Urk-Wascheff, oberster Krieger aller Krieger und Sager allerhöchster Verantwor-tung auf dem Planeten Urklys. Helft uns!«

Hayes versprach es und fragte an, ob er ei-ne Delegation an Bord der Muschelschiffe schicken sollte. Da erlosch jedoch der Funk-verkehr, denn Pervrin hatte sich zwischen die beiden Objekte geschoben und näherte sich wieder der SOL.

Cara reagierte gleich. Sie änderte die Flug-richtung und nahm das Manifest unter Be-schuß. Tatsächlich gelang es ihr, sich Pervrin vom Leib zu halten. Das Manifest B hatte zwar wieder Fahrt aufgenommen, aber sein Abstand zum Generationenschiff blieb kon-stant.

»Wie lange wird er sich wohl hinhalten las-sen?« fragte Uster Brick.

»Frag ihn«, sagte Vorlan herausfordernd und handelte sich einen giftigen Blick seines Zwillingsbruders ein. »Nachtragend?« lachte er.

»Red nicht so dumm«, zischte Uster. »Von wegen gut zusammenpassen.« Er deutete auf den Sessel, in dem Cara saß. »Höchstens grö-ßenmäßig!«

»Auf keinen Fall geistig«, feixte Vorlan und brachte sich schnell ans andere Ende der Zentrale in Sicherheit.

Die Funkverbindung mit der Muschel kam wieder zustande, und Breck setzte seine Un-terhaltung mit Urk-Wascheff fort. Große Hilfe konnte er ihm keine anbieten. Er wußte nicht einmal, ob das Verschwinden des Kampf-zwangs sich nur auf die Nähe Pervrins er-streckte oder auf die ganze Galaxis.

Langsam schienen sich die Wesen damit abzufinden, daß sie beeinflußt worden waren und zum erstenmal in ihrem Leben richtige Handlungsfreiheit besaßen. Sie erforschten ihr Inneres und entdeckten, daß dort keinerlei Sehnsucht nach Kampf und Krieg vorhanden war. Sie erfuhren von den Solanern, daß es sich um eine Fremdeinwirkung handelte, der man auf der Spur war. Wie der Kampfwille verbreitet wurde, konnte aber auch Hayes

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nicht sagen.

Wieder beschleunigte Pervrin, und Bjo empfing erneut etwas. Es war ein Gedanken-impuls, und er kam eindeutig von Anti-Homunk.

»Das Manifest B soll uns endgültig ver-nichten!« teilte er Hayes mit.

Sie setzten Urk-Wascheff auseinander, was es mit der leuchtenden Säule auf sich hatte, und der Urk-Lystarin erklärte sich sofort be-reit zu helfen. Seine Artgenossen hatten weit-gehend zu sich selbst zurückgefunden, und die Ablenkung auf äußere Ereignisse verhin-derte, daß sie sich in ungerechtfertigten Selbstvorwürfen ergingen. Die neunundzwan-zig Muscheln schlossen zur SOL auf und bil-deten einen Halbkreis zwischen ihr und dem Manifest.

»Wir haben Kontakt zu unserer Stütz-punktwelt«, eröffnete Urk-Wascheff dem High Sideryt. »Sie liegt 4,3 Lichtjahre von hier entfernt. Auch dort ist der Wille zum Kampf entschwunden, und die Urk-Lystarin auf Urk-Sanzig und den drei Monden Sanzur, Sanzros und Sanzlag wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wollen aufbrechen und den Verur-sacher suchen.«

»Die Säule ist ein Bote des Verderbens«, erklärte Hayes. »Sie ist wichtiger. Wenn wir sie nicht loswerden, wird es schwierig für uns. Ihr habt an einem eurer eigenen Schiffe miter-lebt, welche Macht sie hat!«

Die Erwähnung der zweitausend toten Art-genossen versetzte Urk-Wascheff einen Schock. Er entfernte sich und ließ sich eine Weile durch den Kommandanten vertreten. Die Solaner konnten die Urk-Lystarin nicht auseinanderhalten, aber es spielte keine Rolle, mit wem sie sich unterhielten.

»Wir haben euch um Hilfe gebeten«, ließ Urk-Gnodel verlauten. »In Wirklichkeit seid ihr es, die dringend Hilfe brauchen. Wir wer-den tun, was wir können, es ist in unserem eigenem Interesse. Unser Stützpunkt Urk-Sanzig experimentiert mit Hyperenergien und höherdimensionalen Feldern. Eine ganze Ringanlage ist auf den drei Monden entstan-den. Wenn wir die Energiesäule dorthin lo-cken, gelingt es uns vielleicht, sie in einem der Käfige zu fangen!«

Hayes war einverstanden, und der Kom-

mandant der Flotte von Urklys übermittelte die exakten Koordinationen des Stützpunkts sowie den Standort der Monde zum jetzigen Zeitpunkt im bezug auf die Flugbahn der SOL.

Dann verschwanden die neunundzwanzig Muschelschiffe. Sie beschleunigten bis zur Lichtgeschwindigkeit. Ihre fremdartigen Ü-berlichttriebwerke traten in Kraft und zogen sie über die Lichtgrenze hinaus. Sie wurden unsichtbar, und SENECA meldete, daß er keinen einzigen Übertritt in den Linear- oder Hyperraum festgestellt hatte.

Das Manifest B war bis auf fünfhunderttau-send Kilometer an die SOL herangekommen, die noch immer mit achtzig Prozent LG flog. Cara führte einen Linearflug über drei Licht-jahre aus, änderte die Richtung auf den Rand von Xiinx-Markant und kehrte erneut in die übergeordnete Dimension zurück. Als sie zum zweitenmal im Normalraum auftauchte, hatte sich der Abstand zu Pervrin auf drei Millio-nen Kilometer vergrößert. Dennoch folgte ihnen das Manifest unbeirrt.

»Es wird schwierig werden«, meinte Hayes. »Wenn Pervrin exakt in der vorbereiteten Fal-le landen soll, muß Cara den Abstand zu ihm immer gleich halten. Und das läßt sich, wie man sieht, nicht durchführen.«

»Doch!« Zornig klang es unter dem SERT-Band hervor, und Breckcrown zuckte unwill-kürlich zusammen.

»Ja, dann«, sagte er leise. »Spiele Schick-sal, Engel!«

*

Das Manifest B zeigte nicht, ob es in der

Lage war, die Funksprüche zu verstehen, die zwischen der Muschel und der SOL geführt worden waren. Das mußte sich spätestens zeigen, wenn sie die Falle erreichten. Bis da-hin vergingen noch mindestens drei Stunden, und Cara Doz gab sich alle Mühe, Pervrin hinzuhalten, ohne daß dieser Verdacht schöpf-te. In etlichen Flugetappen entfernte sich das Generationenschiff bis zu zwölf hundert Lichtjahre von seinem eigentlichen Ziel, und das Manifest folgte beharrlich. Stets kam es der SOL ein bißchen näher. Nur wenn die Emotionautin einen Haken schlug, vergrößer-

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te sich der Abstand wieder. Pervrin hatte also Mühe, alle Komponenten des Linearflugs zu interpretieren.

Ein Gong in der Zentrale kündigte die letzte Etappe an.

»Wer wagt, gewinnt«, kam es aus Lyta Kundurans Mund. Sie blieb in der Nähe des Engels und achtete auf ihn. Alles hing von Cara ab. Fiel sie aus, sprang zwar Vorlan Brick sofort für sie ein, aber die Unterbre-chung könnte das Manifest stutzig machen, selbst wenn es über eine gedrosselte Intelli-genz verfügte.

»Zehn Sekunden!« meldete SENECA. Die Biopositronik hatte kein einziges Mal Veran-lassung gehabt, unterstützend einzugreifen. Es war ein Kompliment für Cara, die das Schiff mit Hilfe ihrer Gedankenimpulse souverän führte.

Die SOL verschwand, und Pervrin folgte ihr. Über eine Distanz von 1157 Lichtjahren kehrte sie in den Normalraum zurück. Hinter ihr lag der Planet mit seinen drei Monden.

»Urk-Wascheff!« Breckcrown Hayes hatte die Stimme erhoben. Augenblicklich erschien die Gestalt eines der Urk-Lystarin auf dem Schirm.

»Urk-Gnodel!« stellte er sich vor. »Es be-ginnt. Wir sind bereit!«

Der leuchtende Balken aus Hyperenergie schwebte zwischen den drei Monden, die ein gleichseitiges Dreieck bildeten und auf einer einzigen Seite des Planeten um einen gemein-samen Schwerpunkt kreisten.

Pervrin hatte seine Lage inzwischen erneut verändert und bewegte sich wie früher, d.h. er schwebte aufrecht, also senkrecht zur Flug-richtung. Wie ein mahnend erhobener Finger kam er heran.

Im letzten Augenblick spürte das Manifest B die Gefahr. Mitten zwischen den drei Mon-den hing eine Drohung. Der Balken drehte ab und beschleunigte mit Höchstwerten. Er ver-suchte, zwischen zweien der Himmelskörper hindurch zu entkommen.

»Schade«, meinte Bjo. »Pervrin ist jetzt für alle Zeiten gewarnt. Ein zweites Mal wird er ein solches Manöver kaum mitmachen!«

Breiskoll hatte in der Zwischenzeit keine neuen Befehle an das Manifest aufgefangen. Anti-Homunk wartete ab oder war durch an-

dere Ereignisse abgelenkt. »Da!« Atlans Stimme drückte Begeisterung

aus. Pervrin stieß gegen ein Hindernis. Der Bal-

ken schwankte, und die Hyperenergie ver-suchte, das Hindernis aufzulösen. Vergeblich. Die Urk-Lystarin hatten die Falle aktiviert.

Die Solaner sahen ein kugelförmiges Ge-bilde, das sich zwischen den Monden Sanzur, Sanzros und Sanzlag aus dem Nichts schälte. Es setzte sich aus einem Netz hauchdünner Fäden zusammen, umgeben von dickeren, pulsierenden Strahlen. Das Spinnennetz besaß einen Durchmesser von zweihundert Metern und ließ keine Lücke.

Inmitten des Käfigs aus Hyperenergie hing Pervrin. Noch immer schwankte die Säule hin und her. Bjo lauschte, ob er einen Hilferuf des Manifests empfangen konnte. Die Falle ließ nichts hindurch, und der Katzer zuckte mit den Schultern. Sternfeuer hatte auch keinen Erfolg.

»Ihr befindet euch außerhalb des Systems«, teilte Urk-Gnodel mit. »Das ist gut so. Wir sichern Urk-Sanzig und die drei Monde durch einen zusätzlichen Schirm ab, um ein eventu-elles Wiederauftreten des verhängnisvollen Kampfzwangs vielleicht unwirksam zu ma-chen.«

»Ihr werdet hierbleiben?« »Der größte Teil unserer Flotte kämpft

noch immer über dem Wasserplaneten«, sagte der Kommandant. »Und der Großteil unseres Volkes in den sieben Systemen mit seinen dreiundvierzig Planeten ist vom Kampfzwang betroffen. Wir haben uns über Funk davon überzeugt.«

Er verstummte und machte mit den Augen-stielen eine Bewegung, die wohl Hilflosigkeit ausdrücken sollte.

»Wir müssen uns vielleicht gegen weitere Flotten unseres eigenen Volkes verteidigen«, fügte er hinzu.

»Wenn wir können, unterstützen wir euch bei dieser Aufgabe«, erklärte der High Side-ryt. »Wir danken euch, daß ihr Pervrin gefan-gen habt. Ich bin sicher, daß wir auch den Urk-Lystarin eines Tages einen Gefallen tun können.«

Der Kommandant schwieg. »Dürfen wir uns Urk-Sanzig nähern und

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innerhalb des Schirms aufhalten?« fragte At-lan. »Es ist wichtig für uns, daß wir Kontakt mit dem Manifest B erhalten!«

»Der Sager wird nichts dagegen haben«, meinte Urk-Gnodel. »Kommt also!«

Der Engel streifte das SERT-Band ab, zog die Anschlüsse heraus und hängte es sich an den Arm. Er erhob sich und machte mit der freien Hand eine einladende Geste zu Vorlan Brick.

»Willst du?« fragte sie und zog sich rasch bis in die Nähe des Ausgangs zurück.

Dort stand Rubeiner, und er hatte in den letzten Stunden kein Auge von ihr gelassen. Immerwährend hatte er die hohe Rückenlehne des Sessels angestarrt, in dem ihre schmächti-ge Gestalt gänzlich verschwand.

»Ich freue mich, daß du es geschafft hast, Cara«, sagte er. »Du hast die Solaner von ei-ner schweren Gefahr befreit. Ich möchte dir dafür danken!«

Er streckte ihr die Hand hin, zögernd erst, dann entschlossen. Wieder huschte das flüch-tige Lächeln über das Gesicht der jungen Frau und ließ den müden Ausdruck für einen Se-kundenbruchteil verschwinden.

»Ach so!« sagte sie beiläufig, und das freundliche Gesicht des Solaners erstarrte kläglich. Enttäuscht ließ er die ausgestreckte Hand sinken, doch da griff Cara nach ihr, faß-te sie und drückte sie kräftig. Fast hätte Ru-beiner aufgeschrien, weil er so viel Kraft in den dürren Händen nie vermutet hätte.

»Siehst du!« sagte der Engel und spielte mit dem acht Zentimeter hohen und zweieinhalb dicken Metallreif. »Deshalb!«

Ihre Augen streiften einander und hielten sich gegenseitig fest. Rubeiner wußte nicht, was er sagen sollte. Verzweifelt suchte er nach einem zündendem Gedanken. Aber wie es so ist im Leben, wenn man sich anstrengt, scheint der Himmel mit Brettern vernagelt.

»Gehst du mit?« platzte er heraus. »Ich möchte dich zu einem Getränk in der Kantine einladen.«

Er wandte sich entschlossen zum Ausgang, ein kaltes Rieseln im Rücken. Unter der Tür blieb er kurz stehen und blickte zurück.

Der Engel folgte ihm. Er hatte das Stirn-band angelegt, und die Anschlüsse hingen links und rechts fast bis zu den Knöcheln her-

ab. Sie sahen aus wie Zöpfe.

10. »Pervrin meldet sich!« rief Breiskoll in die

Stille. Soeben hatten sie beratschlagt, wie sie es anstellen sollten. Atlan hatte angeboten, in einem Raumanzug allein durch eine kleine Lücke in das Innere des Energiekäfigs einzu-dringen und mit Bjos Hilfe eine Kommunika-tion herzustellen.

»Bist du sicher, daß es das Manifest ist?« fragte der Arkonide. Bjo nickte heftig. Er schloß die Augen und ließ die Arme sinken. Er vergaß das, was um ihn herum vor sich ging.

»Er bittet mich, dir seine Worte persönlich zu übermitteln!« eröffnete er.

»Atlan, hier spricht Pervrin, das Manifest B«, sagte die Energiesäule durch Breiskolls Mund. »Du hast mich mit Hilfe dieses Volkes gefangen und wirst überrascht sein, mir damit einen Gefallen getan zu haben. Ich bin froh, in diesem Käfig zu sitzen, denn er hat etwas vermocht, was ich nie für möglich gehalten hätte. Er hat mir meine Intelligenz zurückge-geben!«

In der Zentrale war es mäuschenstill ge-worden. Breckcrown Hayes starrte den Katzer ungläubig an.

»Ja, ich leide nicht mehr unter der künstli-chen Unterdrückung meiner Fähigkeiten«, fuhr das Manifest fort. »Ich bitte dich, mich nicht aus diesem Käfig hinauszulassen. Sage den Urk-Lystarin, denn so heißen sie, daß sie das Netz der Hyperenergie nie abschalten dürfen. Außerhalb des Gefängnisses wäre ich automatisch meiner geistigen Freiheit beraubt und erhielte vielleicht den Auftrag, diesen Planeten und seine drei Monde zu zerstören!«

»Wer bist du?« rief Atlan aus. »Woher kommst du? Was weißt du über deinen Auf-traggeber?«

»Schalte die Quelle der Unfreiheit aus. Ich bitte dich darum! Sie befindet sich in der Na-menlosen Zone, aus der ich stamme. Der Ver-ursacher ist eine bestrafte Superintelligenz namens Anti-ES. Ich weiß nicht, was diese tut, welche ihre Ziele sind. Aber sie hat mich unterjocht und ausgenutzt!«

»Weiter!« verlangte Atlan. »Wie viele Ma-

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nifeste gibt es? Wo befindet sich Anti-ES jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich frei zurückkehren will. Meine Heimat ist das Spinar. Dort habe ich als Dritter Zähler eine ganz andere Aufgabe gehabt. Dorthin will ich zurück, ohne Einschränkung meines Geistes!«

Atlans Gedanken jagten sich. Er sah eine einmalige Chance vor sich, weiter in die Ge-heimnisse der Galaxis Xiinx-Markant einzu-dringen. Und je mehr Spuren er auf seiner Suche fand, desto eindeutiger wiesen sie auf Anti-ES hin, das ihn damals entführt hatte und nach Aussage Wöbbekings jetzt im Be-sitz der Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst war.

»Ich kann dir vielleicht helfen«, ließ er dem Manifest durch Breiskoll übermitteln. »Ja, es wäre möglich, daß du eines Tages in die Na-menlose Zone zurückkehren kannst, ohne unterjocht zu werden!«

Er setzte sich umgehend mit den Urk-Lystarin in Verbindung. Der Sager meldete sich höchstpersönlich, und Atlan trug ihm den Wunsch Pervrins vor. Urk-Wascheff willigte ein. Der freie Teil seines Volkes wollte die Überwachung übernehmen.

Bjo teilte es dem Manifest mit. Etwas Un-definierbares, was wie »Danke« klang, mani-festierte sich in seinem Geist, aber es war zu undeutlich, um es richtig zu verstehen.

Das Manifest B hatte sich in sich selbst zu-rückgezogen. Die Energiesäule hing bewe-gungslos in ihrem Käfig.

»Ich glaube, wenn sie sich unsichtbar ma-chen könnte, um sich vor ihrem Peiniger zu verstecken, würde sie es sofort tun!« meinte Breiskoll.

Durch Fernortung hatte man inzwischen festgestellt, daß es lediglich eine kleine Raumzone von etwa zehn Lichtjahren Durchmesser war, in der keine Kämpfe mehr tobten. Die SOL und Urk-Sanzig befanden sich innerhalb dieser Kugel, aber ganz am Rand. Sanny berechnete, daß das Geheimnis des beruhigten Gebiets in dessen Zentrum liegen müsse. Der exakte mathematische Mit-telpunkt lag noch 4,4 Lichtjahre vom Rand der Dunkelzone entfernt, in die ein Eindrin-gen nur unter großen Gefahren und Opfern möglich war.

»Damit steht unser nächstes Ziel fest«, sag-te Breckcrown Hayes. »Hier können wir nichts mehr ausrichten!«

Sie verabschiedeten sich von den Urk-Lystarin, die sie unter äußerst gefährlichen Umständen kennengelernt hatten und die ih-nen zu wertvollen Helfern geworden waren. Durch sie hatte die SOL mehr erreicht, als sie sich jemals erhofft hätten. Mit der Befreiung aus den Händen der Terver hatte es begonnen.

Die SOL schlüpfte durch eine schnell ge-schaffene Lücke in dem systemumspannen-den Energieschirm und beschleunigte.

Bald darauf hatte die Schwärze des Welt-alls sie verschluckt.

Es galt zu klären, warum in diesem Ab-schnitt die verhängnisvolle Strahlung nicht mehr wirkte.

*

Sie hatten ihn Philosoph genannt und taten

es aus Gewohnheit immer noch. Da wurde Urk-Wascheff jedesmal zornig und peitschte mit allen verfügbaren Tentakeln nach ihnen. Es klang wie Hohn in seinen Hörorganen.

Mit Grausen erinnerte sich der Sager aller-höchster Verantwortung daran, daß er die Lehre von dem ganz großen Gegner verkün-det hatte. Der Großteil seines Volkes auf den Heimatwelten hing ihr auch jetzt noch nach. Es hatte mit ihm getrauert, als die Flotte er-gebnislos geblieben war und die Sucher nicht zurückkehrten. Es hatte mit ihm gejubelt, als sie die Meldung von der Auffindung einer technisierten Intelligenz gebracht hatten.

Jetzt wünschte sich Urk-Wascheff, daß er die Sucher nie ausgeschickt hätte.

Gleichzeitig aber pries er sich, daß er es ge-tan hatte. Nur so waren sie Pervrin begegnet und zu einem günstigen Zeitpunkt in die Nähe von Urk-Sanzig gelangt.

Der Wegfall des Kampfzwangs hatte ihnen die Stielaugen geradegerichtet.

Die Urk-Lystarin waren vorsichtig und ü-berstürzten nichts. Sie gingen nicht hin und warfen alles über Bord, was sie bisher an Le-bensgewohnheiten und Idealen besessen hat-ten. Sie verkehrten wie früher mit ihren Art-genossen. Urk-Wascheff brachten sie dieselbe Achtung entgegen. Ihr Bewußtsein sagte ih-

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nen, daß der Sager seine ganze Kraft für das neue Ziel einsetzen würde.

Das Ziel lautete Befreiung. Der Sager woll-te sein Volk aus der geistigen Sklaverei füh-ren, ohne bis jetzt zu wissen, wie er es anstel-len mußte.

»Ein Sonnensystem für eine Ration Pschormygut«, flehte Urk-Wascheff, als der Kommandant ihn in seiner Unterkunft auf-suchte. »Die Vorräte sind erschöpft. Was können wir tun?«

Er machte keinen Hehl daraus, daß irgend-wann die lebensverlängernde Wirkung dieser hochwertigen Nahrung zu Ende war, wenn er keinen Nachschub erhielt. Aber wo er früher getrauert hätte, trug er nun das Schicksal mit Fassung. Das Bewußtsein einer neuen inneren Freiheit überlagerte alles andere.

Urk-Wascheff konnte es sich nicht leisten, den vielen tausend Urk-Lystarin ein schlech-ter Befehlshaber zu sein. Er war viel älter, als ein gewöhnliches Mitglied seines Volkes es jemals werden konnte. Dafür wollte er dem Schicksal dankbar sein.

»Was tun wir als nächstes?« erkundigte sich Urk-Gnodel zurückhaltend. Zu spät hatte er bemerkt, daß der Sager sich bereits zur Ruhe gelegt hatte und zwischen seinen Pols-tern und Tüchern lag. »Sollen wir uns mit Pervrin in Verbindung setzen?«

Er wußte, daß das nicht leicht sein würde. Telepathen besaß ihr Volk keine, aber viel-leicht ließ sich eine brauchbare Apparatur bauen.

»Wenn er Nahrung benötigt oder sonst ir-gend etwas, wird er von selbst versuchen, uns

Zeichen zu geben«, erwiderte Urk-Wascheff. »Es ist gut. Ich wünsche euch eine fröhli-

che Ruhezeit, Sager!« Urk-Wascheff fuhr auf und warf die Kissen

von sich. Hastig glitt er auf halb ausgestreck-ten Tentakeln auf den Kommandanten zu.

»Bei Urklys und allem, was uns heilig ist!« trompetete er. »Präge dir meine Worte gut ein! Ich bin nicht mehr der Sager allerhöchs-ter Verantwortung. In meinem kriegerischen Volk bekleide ich keine Position mehr. Ich bin jetzt ein abtrünniger Rebell ohne Ideen!«

Urk-Gnodel erschrak fürchterlich. Sein ganzer Körper begann zu zucken, und Urk-Wascheff machte eine Geste der Beruhigung.

»Ich bin Urk-Wascheff, der Meister der Be-freiung!« Der Stolz in seinen Worten war unüberhörbar. »Nennt mich so und nicht an-ders!«

Glücklich stürzte der Kommandant davon, um die Neuigkeit auf Urk-Sanzig und seinen Monden zu verbreiten.

Meister der Befreiung! Das war ein Titel, wie er besser nicht paßte. Er gefiel den Urk-Lystarin besser als die früheren.

Urk-Wascheff verkroch sich wieder zwi-schen die Polster und verzog beide Verdau-ungsbeutel zu einem zufriedenen Rülpser.

Auf Urklys hatte er gedacht, er würde die Enttäuschung nicht überleben. Jetzt kannte er keinen Kampf mehr und fühlte sich erst recht neu geboren.

Fürwahr, für ihn hatte tatsächlich ein drittes Leben begonnen.

ENDE

Weiter geht es in Band 109 der Abenteuer der SOL mit:

Das Mental-Relais von Kurt Mahr

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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