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Meditationen über einen Apfel Seite 1 ad fontes – Büro für ökologische Bildung • www.adfontes-bildung.de 28.10.2010 Meditationen über einen Apfel Basierend auf »Meditations on an Apple« von Janet Brown Übertragung ins Deutsche von Thomas Pohler Hier in Thüringen ebenso wie an vielen anderen Orten hat der Spätherbst Einzug gehalten, die Bäu- me lassen ihre Blätter fallen, aber der Winterfrost hat die Felder noch nicht berührt. Die Obstbauern blicken auf arbeitsreiche Wochen zurück, während denen sie einen Schatz geerntet und eingelagert haben. Und dieser ist umso wertvoller, da er in diesem Jahr deutlich kleiner ausgefallen ist als üblich. Halte den Apfel mit dem Namen »Ontario« in Deinen Händen. Fühle sein Gewicht und seine Kühle in Deiner Handfläche. In Ladakh, im indischen Teil des Himalaya, halten die Menschen vor jeder Mahlzeit einen Augenblick inne und schließen die Augen. In diesem Moment der Ruhe danken sie für das Essen, indem sie sich das Bild jedes Menschen vor Augen rufen und sich seiner erinnern, der dazu beigetragen hat, diese Mahlzeit auf den Tisch zu bringen. Halte in der gleichen Weise den Apfel sanft in Deiner Hand und schließe Deine Augen. Während Du den Apfel hältst, erinnere Dich, dass die Vorfahren aller Apfelbäume in Südwestasien lebten; in Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Afghanistan und überall in den Bergen des Kauka- sus. In Kasachstan heißt der Apfel »alma«. In der Region mit den möglicherweise ältesten Vorkom- men an Apfelbäumen liegt auch die Stadt Alma-Ata, deren Name »Vater der Äpfel« bedeutet. Ge- schützt und gepflegt von aufmerksamen Bauern für tausende von Jahren durch ihre Form der Land- wirtschaft, ihre Kultur, tragen die Äpfel die Vision dieser Menschen in sich. In diesem Augenblick, erinnere Dich an ihren Beitrag und bringe diesen Vorfahren Deinen Dank zum Ausdruck für ihre Weitsicht, ihre Sorgfalt und ihr Geschick. Ohne Sie würdest Du diesen Schatz nicht in Deinen Händen halten

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Meditationen über einen Apfel Seite 1

ad fontes – Büro für ökologische Bildung • www.adfontes-bildung.de 28.10.2010

Meditationen über einen Apfel

Basierend auf »Meditations on an Apple« von Janet Brown

Übertragung ins Deutsche von Thomas Pohler

Hier in Thüringen ebenso wie an vielen anderen Orten hat der Spätherbst Einzug gehalten, die Bäu-

me lassen ihre Blätter fallen, aber der Winterfrost hat die Felder noch nicht berührt. Die Obstbauern

blicken auf arbeitsreiche Wochen zurück, während denen sie einen Schatz geerntet und eingelagert

haben. Und dieser ist umso wertvoller, da er in diesem Jahr deutlich kleiner ausgefallen ist als üblich.

Halte den Apfel mit dem Namen »Ontario« in Deinen Händen. Fühle sein Gewicht und seine Kühle

in Deiner Handfläche.

In Ladakh, im indischen Teil des Himalaya, halten die Menschen vor jeder Mahlzeit einen Augenblick

inne und schließen die Augen. In diesem Moment der Ruhe danken sie für das Essen, indem sie sich

das Bild jedes Menschen vor Augen rufen und sich seiner erinnern, der dazu beigetragen hat, diese

Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.

Halte in der gleichen Weise den Apfel sanft in Deiner Hand und schließe Deine Augen.

Während Du den Apfel hältst, erinnere Dich, dass die Vorfahren aller Apfelbäume in Südwestasien

lebten; in Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Afghanistan und überall in den Bergen des Kauka-

sus. In Kasachstan heißt der Apfel »alma«. In der Region mit den möglicherweise ältesten Vorkom-

men an Apfelbäumen liegt auch die Stadt Alma-Ata, deren Name »Vater der Äpfel« bedeutet. Ge-

schützt und gepflegt von aufmerksamen Bauern für tausende von Jahren durch ihre Form der Land-

wirtschaft, ihre Kultur, tragen die Äpfel die Vision dieser Menschen in sich. In diesem Augenblick,

erinnere Dich an ihren Beitrag und bringe diesen Vorfahren Deinen Dank zum Ausdruck für ihre

Weitsicht, ihre Sorgfalt und ihr Geschick.

Ohne Sie würdest Du diesen Schatz nicht in Deinen Händen halten

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Meditationen über einen Apfel Seite 2

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Der ursprüngliche Apfel, jetzt bekannt unter dem Namen »Asiatischer Wildapfel«, ist weit gereist.

Überreste dieser Art wurden in der Schweiz ausgegraben, Beweis für die Wanderung des Apfels

nach Westen vor langer Zeit.

Der Apfel und seine Samen wurden verbreitet, wie alle Nahrungspflanzen in die Welt getragen wur-

den: fortgeblasen vom Wind, gefangen im Fell eines Fuchses, fallen gelassen von einer Krähe, sicher

verpackt in der Tasche eines Abenteurers, eingenäht im Saum der Kleidung von Flüchtlingen auf der

Suche nach einer neuen und sicheren Heimat. Der Apfel trägt ihre Reisen und ihre Geschichten in

sich. In diesem Augenblick, erinnere Dich an ihren Beitrag und danke den vielen Kräften, die die Sa-

men des Apfelbaums in alle vier Himmelsrichtungen getragen haben.

Ohne Sie würdest Du den Schatz nicht in Deinen Händen halten

Der Apfel ist die älteste Frucht aus der großen Familie der Rosengewächse. Er teilt seine Herkunft

mit der Birne, der Quitte und vielen anderen Mitgliedern der Rosengewächse, darunter auch Wild-

früchte, die Du in Wäldern und an Waldrändern finden kannst: Wald-Erdbeeren und Brombeeren

zum Beispiel. Alle Äpfel haben ein Kerngehäuse. In der Mitte quer durchgeschnitten, lässt jede Hälfte

einen fünfzackigen Stern im Herzen der Frucht erkennen. In jeder geschützten ovalen Kammer des

Sterns ruht ein maronen-brauner Kern. Apfelbäume der Vergangenheit und der Zukunft sind in die-

sen Samen enthalten.

Der »Ontario« entstand 1820 in der gleichnamigen kanadischen Provinz durch bewusste Kreuzung

zweier anderer Apfelsorten. Ende des 19. Jahrhunderts wurde er über den Atlantik gebracht und ist

seitdem auch in Europa verbreitet und beliebt.

Der Apfel enthält die Sorgfalt und den Fleiß des Züchters. In diesem Augenblick, erinnere Dich an

den Bauern in Kanada, der die Geduld aufbrachte zu warten, bis der Baum die ersten Blüten und

Früchte trug. Erinnere Dich auch all der anderen geduldigen Bemühungen von Samensammlern,

Gärtnern und Züchtern überall auf der Welt, die für eine Vision arbeiten, von der sie wissen, dass sie

zu ihren Lebzeiten nicht mehr Wirklichkeit wird.

Ohne die Anstrengungen jener Menschen würdest Du den Schatz nicht in Deinen Händen halten

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Meditationen über einen Apfel Seite 3

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Jetzt im Spätherbst lässt der Apfelbaum seine Blätter los. Den ganzen Sommer hindurch haben die

Blätter geatmet, haben aus Sonnenlicht Süße gemacht, haben geatmet um den Apfel in Deiner Hand

zu formen. Es braucht die Arbeit von 40 Blättern um einen Apfel ins Leben zu atmen. Während sie

atmen, entweicht aus den Blättern die Feuchtigkeit, die von den Wurzeln des Baumes aus den Tiefen

des Bodens heraufgezogen wurde. Ein einzelner Apfelbaum, in vollem Wachstum, gibt während einer

einzigen Saison 15 Tonnen Wasser an die Atmosphäre zurück. Der Apfel enthält die Atemzüge des

Apfelbaums. In diesem Augenblick, denke daran tief zu atmen, gemeinsam mit dem Apfelbaum ein-

und auszuatmen. Danke dem Apfelbaum, der, durch den Prozess des Lebens, unseren Planeten er-

neuert und unser Leben mit Süße füllt.

Ohne seine Arbeit würdest Du den Schatz nicht in Deinen Händen halten

Überall schweben die Blätter der Apfelbäume auf die Erde, um von den Winterregen und den Lebe-

wesen des Bodens in neuen Reichtum verwandelt zu werden. In der Welt unter unseren Füßen, an-

gefüllt mit Geheimnissen, tragen viele Wesen – obwohl ungezählt und oft ungekannt – zu unserer

Nahrung bei. Wir sind alle abhängig von dem lebenden Boden. Milliarden von Lebewesen wachsen,

vermehren sich und sterben in jedem Krümel Boden. Der Apfel trägt ihr Leben in sich. In diesem

Augenblick, erinnere Dich der natürlichen Kreisläufe des Werdens und Vergehens und den ungese-

henen Schöpfern der Haut der Erde, der Lebensgemeinschaft des Bodens aus Bakterien, Protozoen,

Nematoden und Pilzen, aus Milben, Springschwänzen und Regenwürmern, aus Spinnen, Käfern und

Maulwürfen.

Ohne sie würdest Du diesen Schatz nicht in Deinen Händen halten

Hebe den Apfel an und atme seinen Duft. Halte die Haut der Frucht an Deine Haut. Stell Dir die

Arbeit all der Bienen vor, die die Apfelblüten im Frühling besuchen, in sie hinein tauchen und sie be-

stäuben, so dass aus ihr die Frucht werden kann, die Du in den Händen hältst. Jede Honigbiene er-

zeugt in ihrem Leben einen Teelöffel voll Honig, Tropfen für Tropfen sorgfältig verwahrt in der Ho-

nigwabe. Der Apfel trägt die geschickte Biene in sich. In diesem Augenblick, erinnere Dich in der

Süße der Frucht ihrer Arbeit. Erinnere Dich an die Arbeit all der anderen Blüten bestäubenden Tiere;

an die Schmetterlinge und Motten, die durch ihre Suche nach ätherischer Süße uns ernähren.

Ohne sie würdest Du diesen Schatz nicht in Deinen Händen halten.

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Meditationen über einen Apfel Seite 4

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Der Apfel, den Du hältst, kommt aus Droyßig. Einer Gemeinde in der südlichsten Ecke Sachsen-

Anhalts. Einst war Droyßig bekannt für seinen Sandstein und entsprechend zahlreich waren die Stein-

brüche. Der Stein war hart, grau, und gut geeignet zum Bau von Häusern. Allmählich jedoch liefen die

leichteren Backsteine dem Sandstein seinen Rang ab. Felix Häßelbarth war der letzte Steinbruchs-

betreiber in Droyßig. Er beschloss 1954 ein neues Berufsleben zu beginnen und wurde Obstbauer.

Er kaufte in einer Baumschule im Harz verschiedene hochstämmige Bäume, etwa 40 an der Zahl. Sie

hießen Kaiser Wilhelm, Boskoop, Schweizer Orangenapfel, Gelber Bellefleur und Ontario. Gepflanzt

wurden die Bäume am Rande des größten Steinbruchs, der als gewaltiges Loch in der Erde klaffte.

Die neue Obstwiese war nach allen Seiten hin für die Sonne offen und die Bäume entwickelten sich

gut. Nach etwa 10 Jahren trugen sie so viel Obst, dass sich die Ablieferung lohnte. Jedes Jahr schaff-

ten Felix und seine Frau Herta die Äpfel in die staatlichen Aufkaufstellen oder in die Mostereien, wo

sie guten Absatz fanden.

Als Felix Häßelbarth starb, waren seine Bäume im besten Apfelbaumalter. Manche tragen jährlich,

manche in jedem zweiten Jahr mehrere Zentner Obst. Der Ontario in sehr guten Jahren große Äpfel,

in weniger guten nur kleine.

Intensiv genutzt wird das Obst nur noch von wenigen Menschen. Einer, der den Obstbau in Droyßig

am Leben hält, ist Hans-Joachim Petzold. Er stellt aus den Äpfeln im Nebenerwerb Saft und Wein

her. Außer von der hofeigenen Streuobstwiese kommen die Äpfel dafür auch von der Obstwiese am

alten Steinbruch.

Hans- Joachim Petzold und weitere regionale Erzeuger sowie Händler zusammen mit interessierten

Kunden sind eine Gemeinschaft, die alte Vereinbarungen zwischen der Landbevölkerung und der

Stadtbevölkerung einer Region wiederbeleben. Im Verkauf der Erzeugnisse wird die Fruchtbarkeit

der Erde weitergegeben. Der Apfel enthält diese Übereinkunft von der Weitergabe der Fruchtbar-

keit.

In diesem Augenblick erinnere Dich der Obstbauern, die den Wert von ausgewachsenen Apfelbäu-

men erkennen und die Notwendigkeit, sie zu schützen und zu pflegen. Erinnere Dich all der Bauern,

die die Ernte des Landes in ihren Händen tragen.

Ohne sie würdest Du diesen Schatz nicht in Deinen Händen halten.

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Die Äpfel wurden direkt auf dem Hof von Hans-Joachim Petzold abgeholt. Jeder wurde von Hand

poliert, um sein natürliches Wachs zum Glänzen zu bringen. Jetzt ruht der Apfel in Deiner Hand.

Hebe den Apfel an Deine Lippen und schmecke ihn. Während Du das tust, koste die Millionen von

Vereinbarungen und einfachen Handlungen, getragen von einem Netz von Beziehungen, Zeit und

Raum durchziehend und Dich mit ihnen allen und dem Land verbindend. Der Apfel trägt sie alle in

sich, sie sind seine Süße und seine Schönheit. In diesem Augenblick, denke daran, dass Dir all das in

der Form dieses Apfels gegeben wird und genieße die Frucht dieser Mühen und Ereignisse.

Ohne all dies würdest Du diesen Schatz nicht in Deinen Händen halten.

Der vorliegende Text basiert auf dem Essay »Meditations on an Apple« von Janet Brown. Der Essay wurde ursprünglich

vom Center for Ecoliteracy veröffentlicht. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch Auszugsweise – nur mit Genehmi-

gung. Weitere Informationen unter www.ecoliteracy.org.

Für die Genehmigung der Übersetzung und Übertragung ins Deutsche danke ich dem Center for Ecoliteracy. Für die Ge-

schichte über die Bäume in Droyßig danke ich ganz herzlich Hans-Joachim Petzold.