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Ethik Med (2000) 12:184–190 Medizinethik in den Medien der Zukunft: Besserung der Lage durch Selektionsdruck? Sandra Goldbeck-Wood Was ist das BMJ? Als eine der sogenannten „Grossen Vier“ internationalen Fachzeitschriften für Mediziner befindet sich das British Medical Journal (BMJ) mitten in der Welt von Medizinethik und Medien, jetzt und in Zukunft. Manche kennen uns viel- leicht noch nicht, deswegen eine kurze Vorstellung: BMJ ist die in Großbritanni- en produzierte, mit hellblauem Deckblatt versehene Wochenzeitschrift für klini- sche Ärzte und Gesundheitspolitiker. Unsere Auflage in der Papierversion von rund 110 000 Stück stellt inzwischen nur einen Teil unserer eigentlichen Leser- schaft dar, da wir seit 1996 eine wachsende Leserschaft am Internet begrüßen durften. Inzwischen sehen wir uns nicht mehr als Papierjournal mit Internetver- sion an, sondern als e-Journal mit Papierversion. Darüber hinaus sorgen auch unsere 44 monatlichen „Lokalausgaben“, die in mehreren Sprachen von Rumä- nisch bis Chinesisch veröffentlicht werden, für eine gewisse Internationalität, was die historische Bindung an die britische Ärzteschaft positiv auflockert und ergänzt. Wenn alles gut geht, werden wir in naher Zukunft auch ein auf die deut- sche Leserschaft abgestimmtes „deutsches BMJ“ in deutscher Sprache heraus- bringen. Außer wissenschaftlichen Studien, die ein Begutachtungsverfahren durch „Peer Review“ durchlaufen, veröffentlichen wir auch Editorials, Leserbriefe, Nachrichten, Rezensionen und andere Meinungsartikel. Zusätzlich zu dem Voll- text der Papierversion, der jedem kostenfrei im Internet zur Verfügung steht, pu- blizieren wir in bmj.com nur elektronisch mögliche Texte, sowie „e-Diskussio- nen“ von aktuellen Beiträgen oder zusätzlichen Daten, für die in der Papierver- sion nicht ausreichend Platz vorhanden war. Zunehmend betrachten wir daher die online-Version als die komplette, „definitive“ Version des Journals. Was hat BMJ mit Medizinethik und Medien zu tun? Medizinzeitschriften befinden sich im Zentrum zwischen Wissenschaft und Me- dien. Im BMJ müssen wir auf der einen Seite darum kämpfen, die Medizinwis- Sandra Goldbeck-Wood British Medical Journal, BMA-House, Tavistock Square, London WC1H 9JR, Großbritan- nien © Springer-Verlag 2000

Medizinethik in den Medien der Zukunft: Besserung der Lage durch Selektionsdruck?

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Ethik Med (2000) 12:184–190

Medizinethik in den Medien der Zukunft: Besserung der Lage durch Selektionsdruck?Sandra Goldbeck-Wood

Was ist das BMJ?

Als eine der sogenannten „Grossen Vier“ internationalen Fachzeitschriften fürMediziner befindet sich das British Medical Journal (BMJ) mitten in der Weltvon Medizinethik und Medien, jetzt und in Zukunft. Manche kennen uns viel-leicht noch nicht, deswegen eine kurze Vorstellung: BMJ ist die in Großbritanni-en produzierte, mit hellblauem Deckblatt versehene Wochenzeitschrift für klini-sche Ärzte und Gesundheitspolitiker. Unsere Auflage in der Papierversion vonrund 110 000 Stück stellt inzwischen nur einen Teil unserer eigentlichen Leser-schaft dar, da wir seit 1996 eine wachsende Leserschaft am Internet begrüßendurften. Inzwischen sehen wir uns nicht mehr als Papierjournal mit Internetver-sion an, sondern als e-Journal mit Papierversion. Darüber hinaus sorgen auchunsere 44 monatlichen „Lokalausgaben“, die in mehreren Sprachen von Rumä-nisch bis Chinesisch veröffentlicht werden, für eine gewisse Internationalität,was die historische Bindung an die britische Ärzteschaft positiv auflockert undergänzt. Wenn alles gut geht, werden wir in naher Zukunft auch ein auf die deut-sche Leserschaft abgestimmtes „deutsches BMJ“ in deutscher Sprache heraus-bringen.

Außer wissenschaftlichen Studien, die ein Begutachtungsverfahren durch„Peer Review“ durchlaufen, veröffentlichen wir auch Editorials, Leserbriefe,Nachrichten, Rezensionen und andere Meinungsartikel. Zusätzlich zu dem Voll-text der Papierversion, der jedem kostenfrei im Internet zur Verfügung steht, pu-blizieren wir in bmj.com nur elektronisch mögliche Texte, sowie „e-Diskussio-nen“ von aktuellen Beiträgen oder zusätzlichen Daten, für die in der Papierver-sion nicht ausreichend Platz vorhanden war. Zunehmend betrachten wir daherdie online-Version als die komplette, „definitive“ Version des Journals.

Was hat BMJ mit Medizinethik und Medien zu tun?

Medizinzeitschriften befinden sich im Zentrum zwischen Wissenschaft und Me-dien. Im BMJ müssen wir auf der einen Seite darum kämpfen, die Medizinwis-

Sandra Goldbeck-WoodBritish Medical Journal, BMA-House, Tavistock Square, London WC1H 9JR, Großbritan-nien

© Springer-Verlag 2000

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senschaft zugänglich und für den Durchschnittsleser durchschaubar zu machen,andererseits dafür sorgen, dass das, was über uns an die Öffentlichkeit kommt,auch methodologisch rigoros genug ist, um glaubwürdig zu sein. Was bei unsam Freitag morgen erscheint, kommt oft gleichzeitig im BBC oder in der Boule-vardpresse. Deshalb soll eine „Story“, die wir publizieren, nicht nur faszinieren,sondern auch wahr sein, zugleich nicht nur wissenschaftlich hochwertig, son-dern auch interessant, zugänglich und relevant. Alle Ressortleiter der Wissen-schaftsteile des Journals sind Ärzte mit klinischer und/oder Forschungserfah-rung, die versuchen, die Anforderungen wissenschaftlicher mit denen journali-stischer Qualität zu verbinden.

Wie kommt heutzutage eine Gesundheitsinformation zu den Menschen?

Früher waren die Informationskanäle anderer Art. Guten Rat erhielt man beimHausarzt, eventuell beim Facharzt, oder von Familie und Freunden. Heute be-kommt man außerdem noch vieles über Zeitschriften, Nachrichtenmedien undRatgeber, ganz zu schweigen von Fernsehserien, wie z.B. der „Schwarzwaldkli-nik“. Neuerdings kommt aber vor allem das Internet hinzu. Immer öfter begegnetdem Arzt der Patient, der die Ergebnisse einer Internetsuche schon fest in derHand hält und womöglich schon durchdacht hat. Der Patient ist damit manchmal,aber nicht immer gut und sachlich informiert, weil die Qualität der Informationenim Internet sehr unterschiedlich ist; aber informiert ist er trotzdem, und er ver-langt von seinem Arzt zunehmend Partnerschaft im schwierigen Verfahren derInformationsauswertung. Der Arzt ist also nicht mehr die einzige Quelle der In-formation, dafür aber immer mehr der vertrauenswürdige Informationsfilter.

Der Arzt hat allerdings auch nur 24 Stunden am Tag, um sich fachlich aufdem laufenden zu halten und allen anderen Verpflichtungen nachzukommen,und genau da liegt nun die Rolle der Fachpresse. Wir müssen für den Arzt alszuverlässiger Filter fungieren, durch den möglichst nur das durchsickert, wassowohl „wahr“ als auch klinisch relevant ist. Allein mit hochwertigen Informa-tionen könnten seine 24 Stunden mehr als gefüllt werden, auch ohne dass er sichmit wissenschaftlich minderwertigen oder nur im Rahmen von Tierversuchenrelevanten Studien befasst. Was das Internet heutzutage in der Breite bietet,müssen Ärzte, Fachzeitschriften und andere Medien kontextualisieren, vertiefenund für den Einzelnen relevant machen.

Wie kommen medizinische Themen in die Laienpresse?

Fachzeitschriften verteilen Pressevorabmeldungen, die – falls sie von Allge-meininteresse sind – von den Nachrichtenmedien aufgegriffen werden. Aberauch über wissenschaftliche Kongresse werden Ergebnisse neuer Studien disse-miniert. Im Ausnahmefall geht ein Wissenschaftler mit brisanten Informationendirekt an die Laienpresse, nimmt allerdings damit das Risiko in Kauf, dass dieFachpresse nicht mehr bereit ist, die Studie zu veröffentlichen. Auch über Pu-blic Relations-Abteilungen der Pharmaindustrie gelangen zahlreiche – in ersterLinie produktfördernde – Informationen in die Öffentlichkeit, und Patientenver-bände sind bei der Verbreitung krankheitsspezifischer Informationen ebenfallswichtig.

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Beim BMJ sieht es zum Beispiel so aus, dass unser Presseamt wöchentlichjene Artikel aussucht, bei denen wir das größte Allgemeininteresse für die Laienmedien vorhersehen können, und darüber zwei bis drei Tage vor Erschei-nen der neuen Ausgabe Pressemeldungen herausgibt. Wenn es besonders inter-essant oder kontrovers ist, veranstalten wir gelegentlich eine Pressekonferenz.So sind wir beispielsweise vorgegangen, als wir eine Studie über ein möglichesLeukämierisiko bei Kindern in der Nähe einer Nuklearanlage in der Normandieveröffentlichten.

Wir verlangen von unseren journalistischen Kollegen anderer Publikations-organe und Medien, dass sie unsere Sperrfrist bis Mitternacht am Freitagmorgenrespektieren. Das hat sowohl geschäftliche als auch praktische medizinischeGründe: Wir möchten auf der einen Seite unsere kommerziellen Interessen ge-genüber einer eventuellen „Vorveröffentlichung“ schützen; möchten aber auch,dass der Arzt zeitgleich mit seinen Patienten informiert ist. Beispielsweisemöchten wir nicht, dass eine Patientin beunruhigende Informationen über einmögliches Gesundheitsrisiko der Pille erfährt, bevor ihr Hausarzt oder Gynäko-loge ebenfalls Zugang zu den Originaldaten hat. Sonst kann es dazu kommen,dass Arzt (oder Ärztin) mit einem Warteraum voller – zurecht – beunruhigterPatientinnen konfrontiert wird, die er (oder sie) noch nicht sinnvoll beratenkann.

Diese relative enge Verbindung zu der Laienpresse ist in beiderseitigem In-teresse. Journalisten bekommen früher Zugang zu priviligierten Informationen.Außerdem haben sie Zeit, ihre Artikel in Ruhe zu recherchieren und deswegendetaillierter und vorsichtiger zu berichten; und wir erreichen dadurch einen grö-ßeren Einfluss in der internationalen wissenschaftlichen und politischen Ge-sundheitsdebatte. Als Folge davon werden wir immer stärker auch von interes-sierten Patienten gelesen, was genau in unserem Sinne ist und dem Patientenhoffentlich hilft, in Entscheidungen über seine Gesundheit mündig zu werden.Eine wichtige Hilfe in der zunehmenden Beteiligung von Patienten in klinischenEntscheidungen ist jedoch eine ernsthafte und gewissenhafte Behandlung klini-scher Themen in der Laienpresse. Das schafft nicht nur die Rahmenbedingungenfür ein ausgeglichenes Gespräch zwischen Arzt und Patient, sondern ermutigtauch den Patienten, sein Mitspracherecht geltend zu machen.

Wer steuert die „freie“ Presse?

Die sogenannte „freie“ Presse, die wir in der freien Marktwirtschaft genießen,unterliegt natürlich diversen Sachzwängen, derer man sich stets bewusst bleibenmuss. Journalisten, Redakteure, Verlage, Mediziner und Wissenschaftler habenalle ihre eigenen Interessen und auch Interessenkonflikte – teils beruflich, teilspersönlich, teils finanziell – in Bezug auf eine eventuelle Publikation. Die Kon-kurrenz um die Aufmerksamkeit der Journalisten ist erheblich, weil damit oftMittel und Macht verbunden sind, kürzer oder längerfristig. Selbst die Wissen-schaftler stehen nicht über dem Problem: Der Karrieredruck, zu veröffentlichen,ist enorm, und ohne Publikationen in Zeitschriften mit hohem Impact Factor en-den irgendwann einmal die Forschungsmittel. Diese Sachzwänge sind natürlichsubtil im Vergleich zu denen einer kontrollierten Presse, und sie sind am unge-fährlichsten dort, wo Interessenkonflikte öffentlich deklariert werden. Dennochsollten sie nie aus den Augen verloren werden. Der Drang aufmerksamkeitshei-

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schend zu schreiben ist groß und nicht immer im Sinne einer sachlichen Diskus-sion.

Was ist Peer Review, und was wird dadurch erreicht?

Peer Review ist das Auswahlverfahren, mit dem wir die 100 Manuskripte, diebei uns jede Woche eingereicht werden, auf die Zahl von 6–8 reduzieren, die wirveröffentlichen können. Das Verhältnis von publizierten zu abgelehnten Manu-skripten liegt bei verschiedenen Zeitungen unterschiedlich hoch, aber das Sich-tungsprinzip ist überall ähnlich. Etwa 60% der Manuskripte werden nach einerinternen Begutachtung abgelehnt. Von den 40%, die an externe Gutachter mitspezifischen, relevanten Fachkompetenzen gegebenen werden, kommt etwa einViertel zur Veröffentlichung. Unsere Kriterien sind, neben wissenschaftlicherQualität, auch Originalität, klinische Bedeutung, Interesse für unsere Leser-schaft und interdisziplinäre Relevanz. Die endgültige Entscheidung wird mitHilfe der Gutachterberichte von einem Redaktionskomitee, bestehend aus (min-destens) einem Redakteur, zwei klinischen Fachärzten und einem Medizinstati-stiker, getroffen.

Vergliche man das Peer Review als Auswahlverfahren etwa mit einer Vor-sorgeuntersuchung („Screening“) oder anderen klinischen „Interventionen“,müsste man sagen, dass es noch viel zu wenig erforscht ist – ein Zustand, denwir und andere Redakteure mit Hilfe einiger „Peer Review“-Studien zu ändernsuchen. Es ist zweifelsfrei, dass ein Auswahlverfahren notwendig ist, dass dasPeer Review das bisher beste System darstellt, dass wir aber nach wie vor ei-gentlich nicht evidentiell – im Gegensatz zu anekdotisch – wissen, ob damitwirklich die bessere von der weniger guten Forschung zuverlässig unterschiedenwird.

In Zukunft wird es möglich sein, dass Medizinzeitschriften, so wie die Ele-mentarteilchenphysiker es schon längst tun, eingereichte Artikel als elektroni-sche Preprints auf einem geschlossenen Website darbieten, so dass eine breitge-fächerte und schnelle Begutachtung stattfinden kann. Sobald ein Artikel revi-diert, redigiert und akzeptiert wäre, könnte er dann ohne die Verzögerung, diemit einer Papierversion verbunden ist, Ärzten, Journalisten, Patienten und Wis-senschaftlern unmittelbar im bmj.com angeboten werden. Der Zugang zu derGrundinformation würde damit vereinfacht und demokratisiert.

Die Macht der Medien und die öffentliche Meinung

Die Nachfrage nach medizinischen und medizinethischen Themen ist enorm.In Großbritannien war zum Beispiel eine Fernsehserie über die Unfallmedizin– „Casualty“ – jahrelang die nationale Lieblingsserie. Mit 14 Millionen Zu-schauern erreichte sie eine höhere Quote als der Bestseller-Film „JurassicPark.“ In Großbritannien besitzen mehr Staatsbürger einen Fernsehapparat alsein Telefon. Die Macht der Medien als Meinungsbildner ist unbestreitbar.Ohne den Einsatz der internationalen Presse wäre Nelson Mandela wahr-scheinlich nie aus dem Gefängnis gekommen, Indien nie unabhängig und dieLage der Kurden im Irak politisch nie ernstgenommen worden. Die Verant-wortung ist also groß.

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Wie berichtet man korrekt über ethische Fragen?

Die Medien können ihre Macht, mehr oder weniger, auch in ethischer Hinsichtausüben. Das gilt nicht nur für die Präsentation der Informationen, sondern auchfür die Auswahl der Themen. Ich nenne als Beispiele einige reißerische Schlag-zeilen, mit denen manchmal komplizierte und sensible medizinethische Themenin der Britischen Boulevardpresse angesprochen wurden: „Babies may be clo-ned for spare parts“ („Babies werden als Ersatzteillager geklont“, es ging um dietherapeutische Verwendung von embryonalen Zellen) ; „Mercy docs kill 27thousand“ („Barmherzige Ärzte töten 27 000“ zum Thema Sterbehilfe); oderumgekehrt: „Docs block mercy killing“ („Ärzte verhindern barmherziges Tö-ten“ zum ärztlichen Widerstand gegen aktive Sterbehilfe) In den damit verbun-denen Artikeln erkennt man eine klare Tendenz zu einer redaktionellen Mei-nungsbildung und zur Unterdrückung der Gegenargumente. Die Bevölkerung –auch die, die lieber eine einfacher und direkter geschriebene Zeitung lesen mag– hat es meiner Meinung nach besser verdient. Das Berichten muss der Proble-matik gerecht werden, mit der der Leser in seinem Leben konfrontiert werdenkönnte.

Auch in der Auswahl muss eine Balance gefunden werden zwischen The-men, die faszinieren und Themen, die für die Mehrheit relevant sind. Oft sinddas bei weitem nicht die gleichen Zielgruppen. Die beliebtesten medizinethi-schen Themen sind Klonieren und alles, was mit Embryonenforschung zu tunhat, Euthanasie, In vitro-Fertilisation und andere Unfruchtbarkeitstherapien, dieLeihmutterschaft und die Xenotransplantation. Es erscheinen natürlich auch inHülle und Fülle Berichte über Anfangsergebnisse aus Tierversuchen oder vonklinischen Versuchen an kleinen, nicht representativen Probandengruppen, diemeilenweit entfernt sind von irgendeiner klinischen Relevanz, aber auf einemögliche Wunderbehandlung von Krebs oder Aids hindeuten. Diese Themensind wichtig. Aber für so manches Thema, das für den Patienten von hier undheute mindestens genauso wichtig, wenn nicht viel wichtiger wäre, ist es sehrschwer, die Medien zu interessieren.

Ein Beispiel dafür ist die Prioritätensetzung im Gesundheitswesen, diederzeit in jedem Land stattfindet und stattgefunden hat, nur manchmal mehrund manchmal weniger rational, manchmal mehr und manchmal weniger fair.Wenn die Medien dieses Thema vernachlässigen, werden Interessengruppen,die weder gewählt noch repräsentativ sind, das Machtvakuum der öffentlichenMeinung füllen und die Debatte bestimmen. Mir persönlich fehlt auch die Dis-kussion über Themen der Pränataldiagnostik, die nicht der Hightech-Medizinangehören – etwa der Triple-Test zur Früherkennung eines Down Syndroms.Auch so etwas Einfaches und doch Einschneidendes wie Armut und ihre Rolleals führender Risikofaktor für Krankheit und frühen Tod, sehe ich wenig inden Medien. Dies gilt ebenso für die Tabakpolitik und ihre Auswirkungen aufdie Gesundheit oder für den Informed Cosent und das, was der Patient in die-ser Hinsicht beim Arztbesuch wirklich zu erwarten hat. Überhaupt ist die Be-teiligung des Patienten an den Entscheidungen über seine eigene Behandlungkein Thema der Medien. Mit scheint der Bürger, der auch irgendwann einmalPatient ist, verraten durch seine „freie Presse“, wenn solche politisch brisantenAlltagsthemen den Interessengruppen überlassen werden, während der Lesermit „Science Fiction“- Themen abgespeist wird, die die wenigsten jemals be-treffen werden.

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Das Beispiel des Triple-Tests

Ich möchte auf ein Beispiel eingehen, mit dem ich jeden Tag auf der Gynäkolo-gie konfrontiert bin. Der Triple-Test ist ein Blutest, der in der 18. – 20. Schwan-gerschaftswoche angeboten wird, um festzutellen, ob ein erhöhtes Risiko für einDown Syndrom vorliegt. Drei Hormone werden gemessen und zusammen mitdem Geburtsort der Schwangeren in eine Software eingegeben. Das Risiko wirddann im Vergleich mit der Bevölkerungsverteilung der Normalwerte errechnet.Wohlgemerkt, es handelt sich nicht um eine Diagnose – lediglich um ein statisti-sches Risiko. Bei irgendeinem mehr oder weniger willkürlich ausgesuchtenGrenzwert – gewöhnlich einem Risiko von 1: 250 – wird der Schwangeren eineAmniozentese – ein diagnostischer Test – angeboten. Auf diese Weise erhält sieeine zuverlässige Antwort auf die Frage „Hat mein Kind ein Down Syndrom?“,ist aber mit einem etwa 1%igen Risiko einer Fehlgeburt konfrontiert. Wie solldie Frau sich im Falle eines positiven Triple-Tests entscheiden, und versteht sieüberhaupt die Komplexität der Frage, vor der sie steht? Ist ihr die Sicherheit derDiagnose das kleine Risiko einer Fehlgeburt wert? Was steht für sie persönlichauf dem Spiel? Die Frage ist letztendlich keine technische, die der Arzt für siebeantworten kann oder sollte, sondern eine persönliche psychologische und ethi-sche. Dieser Test wird fast jeder schwangeren Frau in den westlichen Ländernangeboten und ist vielleicht eine der wichtigsten medizinethischen Fragen, mitder sie konfrontiert werden wird. Ich möchte behaupten, dass die allerwenigstenMenschen je etwas Sinnvolles oder Hilfreiches in den Medien darüber gelesen,gehört oder gesehen haben.

Wer ist schuld daran, wenn „unverantwortlich“ berichtet wird?

Ich habe wenig Sympathie für die Aussage von E. E. Slosson (1924), dem ehe-maligen Redakteur des ersten Amerikanischen Syndikats für Wissenschaftsjour-nalismus, der 1924 behauptete: „The public we are trying to reach is in the cultu-ral state when three headed cows, siamese twins and bearded ladies draw thecrowds to the side shows.“ Ich stehe eher hinter John Madox, dem ehemaligenChefredakteur von Nature, der es so formulierte: „Es ist keine Frage der Bildungim gewöhnlichen Sinne. Es geht darum, die notwendige Ungewissheit von wis-senschaftlichen Befunden oder Theorien zu erkennen, die ja alle als Hypothesendas Leben begannen.“ Die Kunst des Journalismus ist es, Wichtiges interessantzu machen. Zu behaupten, den Leser oder Zuschauer interessiere nur das Reißeri-sche und Exotische, ist meiner Meinung nach oft eine billige Ausrede.

Zukunftshoffnungen

Zum Schluss nur ein Paar Bemerkungen über die Zukunft, im Sinne einesWunschzettels.

Was für eine Presse will der Arzt? Eine, die sachlich und differenziert überdie Themen berichtet, die für ihn und seine Patienten wichtig sind; die notwen-digen Ungewissheiten anerkennt und durchscheinen lässt; und die aufnahmebe-reit ist für das Häufige und Relevante, und nicht nur für das Aufregende undPhantastische.

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Was für eine Ärzteschaft will die Presse? Eine kommunikative, zugängliche,informative und selbstkritische, die die legitime Rolle der Presse in einer Demo-kratie respektiert.

Ist das realistisch? Ich denke und hoffe, es wird von alleine kommen. In derpostmodernen Welt sehen wir eine Relativierung der Machtverhältnisse in derGesellschaft. Ich möchte behaupten, dass wir alle unter diesem kulturellen Se-lektionsdruck stehen, der entscheiden wird, wer stärker wird und wer schwä-cher, wer überhaupt überleben wird und wer nicht. Autoritäten aller Art stehenunter immer heftigerem Druck, transparent zu arbeiten und ihr Handeln denSteuerzahlern/Kunden/Aktionären gegenüber zu rechtfertigen. Patienten sind zuRecht nicht mehr damit zufrieden, alle Entscheidungsmacht, alle Informationbeim Arzt zu sehen. Sie fordern Beteiligung. Die Technologie stellt nicht nurden Arzt, sondern auch den Patienten vor immer schwierigere ethische Fragen,ob er es will oder nicht. Die überlebenden Medien werden hoffentlich diejeni-gen sein, die dieser Komplexität der modernen Welt Rechnung tragen, indem sietechnisch komplizierte Sachverhalte interessant und verständlich darbieten undLaien damit ein wenig zum Einfluss auf das eigene Schicksal verhelfen. In derInformationsübertragung sind die Medien Meister, der Arzt Lehrling.

Wir leben heutzutage in der „Attention Economy“ – in der „Aufmerksam-keitswirtschaft“. Nicht mehr die Information ist die wertvollste Währung, son-dern die Aufmerksamkeit der von Informationen überfluteten Menschen. DieEthiksprecherin vom BMA hat mir gegenüber die Situation der Medizinethik inder letzten Woche so formuliert: „If we don’t win the media battle, we lose thewhole war.“

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