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Medizinischer Diskurs & alltagsweltliche Aneignung des Anti-Agings Zwei Forschungsdesigns zur Analyse einer kulturellen Praxis Dr. Mone Spindler, IZEW, Universität Tübingen Dr. Larissa Pfaller, Universität Erlangen-Nürnberg

Medizinischer Diskurs & alltagsweltliche Aneignung des ... · PDF fileDr. Larissa Pfaller, Universität Erlangen-Nürnberg . 2 . Überblick 1. Einleitung: Anti-Aging als kulturelle

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Medizinischer Diskurs & alltagsweltliche

Aneignung des Anti-Agings

Zwei Forschungsdesigns zur Analyse

einer kulturellen Praxis

Dr. Mone Spindler, IZEW, Universität Tübingen

Dr. Larissa Pfaller, Universität Erlangen-Nürnberg

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Überblick

1. Einleitung: Anti-Aging als kulturelle Praxis verstehen

2. Diskurs: Wissen über Altern in der deutschen Anti-Aging-Medizin

3. Alltag: Lebensführung im Zeichen des Anti-Agings

4. Fazit: Anti-Aging zwischen Diskurs und Alltag

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●1. Einleitung

Anti-Aging als

kulturelle Praxis verstehen

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Anti-Aging ist ein sehr heterogenes Feld:

Unterschiedliche Ziele

Unterschiedliche Mittel

Verschiedene nationale Kontexte

Diverse Akteur_innen

Deshalb:

In konkreten Kontexten systematisch empirisch untersuchen,

was unter Anti-Aging verstanden wird.

1. Anti-Aging begrifflich fassen

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2. Anti-Aging konzeptuell verorten

Zwei wichtige soziologische Analyseperspektiven auf Anti-Aging:

Anti-Aging als Diskurs

Anti-Aging als Alltagspraxis

Unser Vorhaben:

Diskurs & Alltagspraxis in Diskussion miteinander bringen

Alltagspraxis lässt sich nicht auf Diskurs reduzieren

Wechselwirkungen, Ambivalenzen, Brüche herausarbeiten

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Zwei Perspektiven

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Untersuchter Anti-

Aging Kontext

Methodisches

Vorgehen

Anti-Aging als Diskurs

Mone Spindler

Umfeld der Deutschen

Gesellschaft für

Prävention und Anti-

Aging Medizin e.V.

• Teilnehmende

Beobachtung von 10

Anti-Aging-Medizin-

Konferenzen

• Interviews

Dokumentenanalysen

Anti-Aging als alltäglich

Praxis

Larissa Pfaller

Bedeutung des Anti-

Agings in der

alltäglichen Lebenswelt

und den Biographien der

Anwender/innen

Narrative Interviews:

20 Personen

(29-73 Jahre, 12w/8m)

●2. Diskurs

●Wissen über Altern im Umfeld der

deutschen Anti-Aging-Medizin

Wie hat die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging

Medizin e.V. (GSAAM) ihre Disziplin neu begründet?

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Akzentverschiebung im Alterungsverständnis: Von Krankheit zu Haupterkrankungsrisiko

Begründung des Risikos: Argumentative Trennarbeiten zwischen:

…der schlechten Wirklichkeit des

Alterns:

• Altern = Krankheit = individuelle Leiden + Kollaps der Sozialsysteme

• Individuelle Verschuldung (nicht Erduldung) von krankem Altern

…und einer guten Möglichkeit des

Alterns:

• Qualität des einzelnen Lebens

• Gesundheit (Krankheitsfreiheit)

• Funktionsfähigkeit

→ Grenze: günstige genetische Dispositionen, gesunde Lebensführung

Behandlungsziel: Gesundes, funktionsfähiges Altern

Wissen über Alter(n)

Behandlungsprinzip: Statt Therapie (Krankheit) → Prävention (Risiko)

Das individuelle Management gesundheitlicher Alterungsrisiken soll medizinisch optimiert werden.

Quelle: http://www.gsaam.de/was-ist-anti-aging.html (4.11.12)

Innovatives Moment: Individuelle Risikodiagnostik

→ Präsymptomatische Bestimmung von Vorboten kranken Alter(n)s

• Neuer Diagnoseraum zw. „krank“ & „gesund“

• Verschiedene Diagnostikverfahren

• Ergebnis: individuelles Risikoprofil, personalisierte Präventionsmaßnahmen

• Überwiegend als IGeL-Leistungen

Das Behandlungskonzept

Neujustierung der Verantwortung für gesundes Alter(n):

Mehr Eigenverantwortung für gesundheitliche Alterungsrisiken:

• Gesunde Lebensführung & finanzielle Eigenverantwortung

• Häufig: einziger Ausweg aus der Krise des Gesundheitswesens

• Gerechtere Form intergenerationeller Solidarität → Verpflichtung

Verantwortung der Medizin: Dienstleistungen, die die Übernahme von Verantwortung erleichtern

Verantwortung des Staates: Aktivierung, Deregulierung

1 Anti Aging for Professionals, 2005, Jg. 1, Bd. 1.

„Anti-Aging verändert das Gesundheitswesen“1

Zwischenbilanz: Wie strukturiert der Diskurs Handlungsräume?

● Individualisierung von gesundheitlichen Alterungsrisiken

● Individualisierung von Verantwortung für Risikomanagement

● Zeitliche Ausdehnung des Managementsbedarfs

● Paradoxien präventiven Handelns:

prinzipiell nicht abschließbar

nicht definitiv überprüfbar.

Responsibilisierung & doppelte Unsicherheit

Hamsterrad, Frustration, Zumutung?

●3. Alltag

Lebensführung im Zeichen

des Anti-Agings

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Anti-Aging = „ultimate form of medicalization“?

Bedeutung im Alltag

(Mykytyn 2008: 317)

Die Bedeutung des Anti-Aging – 3 Ebenen

Pfaller, Larissa (2016): Anti-Aging als Form der Lebensführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 15 15

Deskription: Die Praxis im Alltag

Intensität Habitualisierungsgrad Epistemischer Status

Interpretation: Deutungsmuster

Rekonstruktion: Prozessstruktur

Aktivität

Avantgarde

bewusstes Handeln

Konversionserzählung: biographische Relevanz von Anti-Aging

Disziplin

Ästhetik

Selbstsorge

Bewahren

rationales Handeln Eigenverantwortung

Kampf

Lebensführung

Pfaller, Larissa (2016): Anti-Aging als Form der Lebensführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

„Wie hat es angefangen mit dem Anti-Aging und wie ging es dann weiter?“

Krise Anti-Aging = Antwort

Kontrollverlust/

existentielle Bedrohung Selbstbestimmung

Anti-Aging = Lebensführung

Biographische Bedeutung des Anti-Aging

[….] durch einen absoluten

wirtschaftlichen

Zusammenbruch. […]

in tiefsten Depressionen war

ich (Frau E (66) 8-9)

Ich habe vor zehn Jahren ein

klassisches Burnout

bekommen […] und bin dann

auf einmal mental wach

geworden. (Herr N (72)1)

ich habe also gesehen, dass

es so nicht weiter geht. Ich

habe ja auch völlig verkehrt

gelebt. (Herr N (72)12)

Und seit einem Jahr geht es

mir wieder richtig gut […]

Aber jetzt nicht nur, weil ich

mir helfen hab lassen,

sondern ich hab auch selber

viel dazu beigetragen, ich

habe selber viel an mir

gearbeitet und habe auch

was für mich gemacht. Also

bin jetzt nicht nur sitzen

geblieben sondern hab halt

aktiv an mir gearbeitet.

(Frau C (56)1)

Ich fürchte mich nicht mehr

vor Kontrollverlust. Jetzt hab

ich ziemlich viel selber in der

Hand […] ich führe ein

selbstbestimmtes Leben

(Herr M (58) 6)

16

Pfaller, Larissa (2016): Anti-Aging als Form der Lebensführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

„völlig verkehrt gelebt“

„absoluter

Zusammenbruch“

„mental wach geworden“

„selbstbestimmtes Leben“

Konversionserzählung

VORHER NACHER

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Im empirischen Material offenbart sich die biographische

Bedeutung von Anti-Aging-Praktiken

Anti-Aging bietet eine ideale Plattform, sich als

rationaler Akteur und als

selbstsorgendes und selbstbestimmtes Subjekt

zu inszenieren.

Identitätsstiftende Funktion

Pfaller, Larissa (2016): Anti-Aging als Form der Lebensführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 18

Lebensführung im Zeichen des Anti-Aging

Wie möchte ich leben?

Wer möchte ich sein?

●4. Fazit

Anti-Aging zwischen

Diskurs & Alltag

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Fazit: Diskurs und Alltag des Anti-Aging

Diskurs Alltag Institutionelle

Anbindung

• dissoziiertes Verhältnis von GSAAM und Anwender/innen, kein „patient-practitioner

movement“

• Aber: diskursive Angebot werden aufgegriffen (Aktivität, Selbstsorge etc.)

Institutionelle

Anbindung

• dissoziiertes Verhältnis von GSAAM und Anwender/innen, kein „patient-practitioner

movement“

• Aber: diskursive Angebot werden aufgegriffen (Aktivität, Selbstsorge etc.)

Eigen-

verantwortung

1. Eigenverantwortung für gesunde

Lebensführung

2. Finanzielle Eigenverantwortung

3. Eigenverantwortung als gerechtere

Form der Solidarität

1. Anti-Aging als Dokument von

Eigenverantwortung.

2. ABER:

• Ablehnung von finanzieller

Eigenverantwortung

• (finanzielle) Anerkennung durch

Krankenkassen wird vermisst

3. Eigenverantwortung als Bedingung von

Solidarität (Logik der Prävention)

Institutionelle

Anbindung

• dissoziiertes Verhältnis von GSAAM und Anwender/innen, kein „patient-practitioner

movement“

• Aber: diskursive Angebot werden aufgegriffen (Aktivität, Selbstsorge etc.)

Eigen-

verantwortung

1. Eigenverantwortung für gesunde

Lebensführung

2. Finanzielle Eigenverantwortung

3. Eigenverantwortung als gerechtere

Form der Solidarität

1. Anti-Aging als Dokument von

Eigenverantwortung.

2. ABER:

• Ablehnung von finanzieller

Eigenverantwortung

• (finanzielle) Anerkennung durch

Krankenkassen wird vermisst

3. Eigenverantwortung als Bedingung von

Solidarität (Logik der Prävention)

fehlende

medizinische

Evidenz

Anti-Aging gibt sich als innovative und

hochtechnologisierte Spitzenmedizin

auf dem neuesten Stand – verwendet

allerdings konventionelle und längst

etablierte Methoden

vereinnahmt die individuelle

Lebensführung unter die

Deutungsmacht der Medizin

• symbolische Bedeutung

• performatives Potential

• praktische Gewissheit statt epistemischer

Sicherheit

• identitätsstiftende Funktion

-> Erweiterung der Bedeutung von

Selbstbestimmung und Selbstsorge weit über

eine Selbstvergewisserung über

gesundheitsbezogene Altersrisiken hinaus