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Mehr über den Autor: www.textehexe.com

Himmelstürmer Verlag, 20099 Hamburg, Kirchenweg 12 www.himmelstuermer.de E-mail: [email protected] Originalausgabe, März 2012 Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: © www.fotolia.com Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus. Alle Charaktere, Orte und Handlungen sind frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig ISNB Print 978-3-86361-104-0 ISBN ePub 978-3-86361-105-7 ISBN PDF 978-3-86361-106-4 ISBN PRC 978-3-86361-107-1

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S. Pavlovic

Fliegende Fische

Jugendroman

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Inhalt

1. Intro 7

2. Neue Freunde 18

3. Nähe und Distanz 39

4. Soundtrack 70

5. Alles anders 92

6. Freaks? 107

7. Die Unsichtbaren 138

8. Die letzte Hülle 158

9. Ohne Anleitung 170

10. Lyrics 191

11. Refrain 209

12. Schritte 232

13. Fliegende Fische 255

14. Playlist 265

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1. INTRO

Das hier ist wahrscheinlich die Party des Jahres. Im ganzen Haus brennt die Luft. Es ist ein großes Haus, beinahe

eine Villa. Licht spült durch die offenen Fenster hinaus in den düsteren Garten, in dem sich ein grell blauer Swimmingpool ausnimmt wie ein Ufo-Landeplatz. Musik legt einen Rhythmus unter Stimmengewirr und Gelächter. Die halbe Schule ist gekommen und alle haben Spaß, nur Daniel nicht, denn Daniel ist damit beschäftigt, Betty auszuweichen.

Er hat ja gewusst, dass es so enden würde: er, blass vor Unbeha-gen, der versucht, durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen, das Betty nach ihm auswirft. Ein einziger Stress die ganze Veranstaltung und alles nur, weil er sich nicht entscheiden kann, weil Betty irgendwie nicht die Richtige ist, aber das ewige Alleinsein auch längst keinen Spaß mehr macht.

Jetzt steht Betty mit ein paar Freundinnen auf der Terrasse und Daniel traut sich aus seiner Ecke. Er hätte gerne ein neues Bier, seines ist lauwarm und schal vom Angstschweiß, aber noch lieber würde er endlich Lilli treffen: Lilli, die ihn überredet hat, zu kommen, damit er ihren neuen Freund kennen lernen kann.

Als ob es ihm nicht genügen würde, zu sehen, dass er sie glücklich macht – und für sie da zu sein, wenn das Glück umschlägt.

Die Party hat schon erste Spuren hinterlassen. Überall stehen leere Flaschen und die Reste eines geplünderten Buffets verteilen sich auf dem Esstisch. Eine Wand wird von einem mächtigen Kamin beherrscht. Auf dem Sims stehen Fotos. Daniel schlendert hinüber.

Es sind schöne Menschen, die in diesem schönen Haus wohnen: ein großer, dunkelhaariger Mann, Typ Fernseh-Chefarzt und eine südländisch aussehende Frau, dazu Mick, der Sohn, der heute die Party schmeißt. Kinderbilder von ihm: ein schmaler Junge mit weißer Haut und einer Masse dunkler Locken, am Klavier, mit einer Geige, auf dem Rasen mit einer riesigen Deutschen Dogge. Daniel findet es erstaunlich, dass er auf keinem dieser Fotos lächelt. Selbst die Dogge sieht freundlicher aus als er.

Er zuckt zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf seine

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Schulter legt. „Hi“, sagt Betty und lächelt. „Hhhhh“, sagt Daniel. „Äh. Hi.“ Sie steht vor ihm, ein Glas Sekt in der einen Hand und streicht

sich mit der anderen durch die Haare. Sie trägt ein blaues, schulterfreies Top und glitzernde Ohrringe. Sie sieht hübsch aus und Daniel denkt, dass er ihr das wohl sagen sollte, macht man das nicht in so einer Situation?

„Schön, dass du da bist“, sagt sie. „Uh“, sagt Daniel. „Ja. Äh. Ebenfalls. Du siehst hübsch aus,

heute. Also – nicht dass du sonst nicht – ich meine nur …“ Mist. „Danke.“ Sie strahlt und sieht ihn erwartungsvoll an. Das Schweigen zieht

sich. „Ja“, sagt Daniel hilflos. „Also … coole Party, oder? Was für ein

… großes Haus.“ „Ja. Hast du schon den Pool gesehen? Ich kenne niemanden

sonst, der einen Pool hat.“ „Na ja. In den meisten Fällen genügt auch eine Badewanne.“ Sie lacht und schüttelt sich Haare aus dem Gesicht. „Ob der geheizt ist? Vielleicht könnte man später ja mal eine

Runde schwimmen.“ „Lieber nicht“, krächzt Daniel. „Ich muss jetzt – sorry.“ Er macht

eine fahrige Geste. „Lilli finden. Bis, äh. Später.“ Er schlüpft durchs Netz und entkommt. Patrick ist es schließlich, der Lilli schon auf der Party gesehen

haben will. „Ist aber schon eine Weile her“, sagt er. „Sie ist raus in den Gar-

ten, mit ihrem neuen Typen.“ Daniel bedankt sich und steuert durch die Leute hindurch zur

Terassentür. Sein Asthma liegt auf der Lauer: zu viel Zigarettenrauch vielleicht, oder zu viel von Bettys Parfüm.

Zeit, dass er an die frische Luft kommt. Auf der hell erleuchteten Terrasse steht ein Mountainbike umge-

dreht auf Sattel und Lenker. Das Vorderrad fehlt und der Besitzer des Mountainbikes, der gleichzeitig auch Hausherr und Partyveranstalter ist, kniet daneben und hantiert mit dem Reifen.

„Hi“, sagt Daniel und nimmt verstohlen einen Atemzug aus seinem Asthmaspray.

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„Hi“, brummt Mick, ohne hinzusehen. „Was kaputt?“, erkundigt sich Daniel. „Nee“, knurrt Mick. „Ich mach das nur zum Spaß.“ „Ist nur eine Frage, aber … warum reparierst du dein Fahrrad,

während deine eigene Party läuft?“ Mick sieht auf. Sein Gesicht ist so finster wie auf den Fotos. Über

seine Wange und über sein weißes T-Shirt ziehen sich dunkle Streifen von Fahrradschmiere.

„Warum nicht?“, sagt er. „Ist schließlich meine Party und ich kann machen, was ich will.“

„Äh … ja. Natürlich.“ „Wer bist du überhaupt?“ „Ich, äh …“ Daniel fühlt sich ertappt. Wie peinlich. Er selbst gibt nicht oft

Partys, aber er würde keinen seiner Gäste nach dem Namen fragen wollen.

„Daniel“, sagt er unglücklich. „Aus deiner Parallelklasse. Wir kennen uns vom Sehen, weißt du … wir hatten mal Ethik zusammen. In der Neunten. Ich bin mit Lilli hier, die mit Jo hier ist … nur dass ich nicht direkt mit ihr hier bin, sondern alleine und jetzt versuche ich, sie zu finden. Damit sie mir ihren neuen Freund vorstellen kann. Jo. Der dein Kumpel ist. Weshalb sie hier ist. Weshalb dann auch ich hier bin. Obwohl ich ihn schon kenne, ich habe Schulsport mit ihm. Aber sie meint, das reicht nicht.“

Daniel verstummt. Mick mustert ihn forschend. „Oder so ähnlich“, murmelt Daniel. „Ich kann auch gehen, wenn

dir das lieber ist.“ „Nö, wieso?“ Daniel hebt die Schultern und schaut hinunter auf seine Schuh-

spitzen. „Bleib ruhig“, sagt Mick. „Ich bin ja sowieso nicht auf der Party,

also störst du mich auch nicht.“ „Ach so. Ja, das klingt irgendwie … logisch.“ Mick nickt und wendet sich wieder seinem kaputten Reifen zu.

Daniel steht noch ein Weilchen wie ein ratloser Reisender an einer stillgelegten Bushaltestelle, dann beginnt er, sich vorsichtig hinüber auf den Rasen zu bewegen.

„Ich geh mal Lilli suchen“, sagt er, erhält aber keine Antwort. Daniel rettet sich mit einem raschen Schritt aus dem Lichtkegel in die

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Dunkelheit. Zwischen Bäumen und Büschen fällt das Licht von der Straße auf

das Grundstück und belebt die Schatten. Daniel schluckt. Vielleicht hätte er den jungen Hausherrn nach dem Verbleib der Dogge fragen sollen.

Am Zaun entlang geht er ums Haus herum, bis er an der Seiten-wand der Garage endet. Keine Spur von Lilli oder der Dogge. Daniel kehrt um und versucht es zur anderen Seite.

Blöde Sucherei. Der ganze Abend läuft blöd. Daniel überlegt, ob er reingehen, sein Handy aus der Jacke holen und Lilli einfach anrufen soll, aber dann wiederum besteht die Gefahr, dass er Betty trifft, ehe er entschieden hat, wie es mit ihr weitergehen soll.

Und dann hört er leises Lachen und Flüstern, biegt die Zweige eines Busches beiseite und hat Lilli gefunden.

In enger Umschlingung mit Jo, Mund auf Mund, Hände unter den T-Shirts.

Daniel hält den Atem an. Ein merkwürdiges Gefühl ballt sich in seinem Inneren, verdichtet sich zu einem Klumpen, bitter und hart und unschön.

Er starrt Jo an, diesen großen, sportlichen Siegertypen mit den strubbligen dunklen Haaren, die immer cool aussehen, mit dem strahlenden Lächeln, das er hat, während er Lilli etwas zuflüstert, mit den großen, sicheren Händen, die über Lillis Rücken streicheln.

Daniel will, ganz dringend und er weiß nicht einmal, was. Er lässt den Zweig los und macht einen Schritt rückwärts. Was ist los, zum Teufel? Er war nie in Lilli verliebt. Daniel und

Lilli, das war immer ganz speziell. Immer mehr als eine blöde Romanze. Warum fühlt er sich jetzt, als wäre er mit dem Kopf voran gegen eine Bretterwand gelaufen?

Daniel würde gerne die Party verlassen, jetzt, sofort, aber seine Jacke ist noch drin mit Schlüssel und Geldbeutel.

Mit schweren Beinen umrundet Daniel den Pool und steigt über ein kleines Mäuerchen auf die Terrasse.

„Gefunden?“, sagt Mick, dessen Reparaturversuche in der Zwi-schenzeit nicht sichtbar vorangeschritten sind.

„Ja“, sagt Daniel. „Und?“ „Besser nicht stören.“ „Verstehe.“

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Mick lässt den Reifen sinken. Zum ersten Mal richtet er den Blick voll auf Daniel.

Man kann den hübschen Jungen von den Fotos noch in seinem Gesicht sehen, die wilden Locken, die großen dunklen Augen, die geschwungenen Lippen, mit denen er sehr seiner Mutter ähnelt. Daniel denkt, dass es schon klar ist, warum so viele Mädels auf Mick stehen. Komisch eigentlich, dass er nie eine feste Freundin hat.

„Das ist doch richtig scheiße, oder?“, sagt Mick. „Ich meine, man ist befreundet und alles, so richtig eng, man macht alles zusammen und dann kommt so eine Tussi und die Freundschaft hat sich.“

„Die Tussi ist meine beste Freundin, also pass auf, was du sagst!“ „Trotzdem.“ „Ja.“ Es tut Daniel gut, sich an den Frust eines anderen anzuschließen. „Ich könnte kotzen“, sagt Mick. „Das darf doch nicht passieren,

oder? Keine Frau darf jemals zwischen uns stehen, das haben wir uns geschworen. Und jetzt sieht man mal, was daraus geworden ist.“

„Es bessert sich bestimmt wieder. Wenn die mal eine Weile zu-sammen sind. Wenn es nicht mehr so frisch ist.“

„Und darauf willst du warten?“ „Was bleibt mir denn anders übrig?“ „Ich nicht.“ Mick schmeißt das halb zerlegte Vorderrad vor sich

auf den Boden. Es eiert um sich selbst, bevor es liegen bleibt. „Mich kann er mal. Soll er selber klarkommen, wenn sie ihn ab-

serviert hat und er einen Freund braucht. Dann hab ich auch keine Zeit und antworte nicht auf seine SMS.“

Daniel findet das ziemlich kindisch und trotzig, widerspricht aber nicht. Irgendwie hat Mick ja auch recht.

„Und der Scheiß funktioniert auch nicht“, setzt Mick seine fru-strierte Tirade fort. „Die können mich alle mal, echt. Das ganze Leben kann mich mal.“

Er versetzt dem Vorderrad einen Tritt, dass es scheppert. „Was ist denn kaputt?“, erkundigt Daniel sich vorsichtig. „Platt“, sagt Mick finster. „Na und? Vorderrad ist doch kein Problem. Das ist doch in fünf

Minuten gemacht.“ Mick schweigt und sieht ihn an mit seinen Mitternachtsaugen.

Daniel hebt das misshandelte Rad auf, schraubt das Ventil ab und zieht den Schlauch raus.

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„Hast du was zum Flicken?“ „Was denn?“ „Na, Nadel und Faden.“ „Echt jetzt?“ „Nein, natürlich nicht! So ein kleines Kästchen, in dem Flicken

drin sind und ein Spezialkleber. Gibt’s in jedem Fahrradladen.“ „Nie gesehen.“ „Und von welchem Planeten kommst du?“ „Hör mal, ich weiß nicht, ob ich Lust habe, mich von dir verar-

schen zu lassen.“ „Dann flick dein Fahrrad alleine.“ Daniel weiß nicht genau, was gerade abgeht. Mick ist frustriert, so

viel ist unübersehbar, aber seine Unfreundlichkeit hat nichts Abweisen-des, sondern eher etwas von einer Herausforderung. Als suchte er jemanden, mit dem er kollidieren kann. Und statt auszuweichen, wie er es sonst gerne tut, hält Daniel dagegen.

Für einen Augenblick messen sie sich mit Blicken, dann bückt Mick sich und hebt eine kleine Schachtel vom Boden auf.

„Ich hab hier einen neuen Schlauch“, sagt er, als wäre nichts gewesen. „Ich dachte, man kauft ihn neu, wenn er kaputt ist.“

„Auf dem Planeten der reichen Leute ist das bestimmt so.“ Daniel nimmt die Schachtel entgegen. „Hast du eine Luftpumpe?“

Mick nickt und zeigt mit dem Finger und dann steht er, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und sieht zu, wie Daniel mit ein paar wenigen Handgriffen seinen Platten repariert.

Es ist ein tolles Mountainbike, das Mick da hat. So eines hätte Daniel auch gerne und wenn er eines hätte, würde er es besser behandeln: Gelegentlich putzen, zum Beispiel, die Kette ölen, die abgefahrenen Bremsklötze ersetzen und aufpassen, dass die Felgen nicht so viele Beulen bekommen. Es sieht aus, als wüsste Mick mit seinem Reichtum nicht wirklich umzugehen und irgendwie findet Daniel den Gedanken tröstlich, dass Mick, obwohl er auf dem Planeten der Reichen wohnt, im Grunde die gleichen Probleme hat wie er selbst.

Und dass seine Gedanken offenbar genauso darum kreisen wie die von Daniel.

„Warum hat sie ihn ein Jahr lang baggern lassen?“, fragt Mick, als Daniel das reparierte Rad in die Gabel hängt und den Schnellspanner umklappt. „Ich meine, ist das nicht merkwürdig? Wenn sie ihn gut findet, hätte sie ihn gleich ranlassen können, oder nicht?“

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„Sie hatte Pech mit ihrem letzten Freund“, erklärt Daniel. „Sie musste sich erst erholen.“

„Wieso? Was hat er gemacht?“ „Na ja … er hat ein bisschen zu gerne gefeiert und wusste dann

nicht, wo der Spaß aufhört.“ „Was soll das heißen? Hat er gesoffen? Sie geschlagen, oder was?“ „Mick, ich kenne dich überhaupt nicht. Glaubst du ernsthaft, ich

bespreche mit dir das Liebesleben meiner besten Freundin?“ „Nicht?“ „Nein!“ „Aber sie ist nicht mehr deine beste Freundin. Du wirst sehen. Sie

wird keine Zeit mehr für dich haben. Sie wird dir nicht mehr zuhören, wenn du ein Problem hast. Sie wird am Telefon ständig nur davon schwafeln, wie toll ihr Neuer ist. Sie wird dir ohne Ende auf die Nerven gehen. Du wirst sie hassen. Wetten?“

„Quatsch. Echte Freundschaft hält das aus.“ „Glaubst du das wirklich?“ Daniel gibt dem reparierten Vorderrad einen Schubs. Es dreht

sich leise quietschend in der Achslagerung. „Lass dein Fahrrad mal überholen“, sagt er. „Ich bin nicht sicher,

ob das noch verkehrstauglich ist.“ Mick nickt, gräbt in den Taschen seiner Jeans und fördert eine

zerknickte Zigarettenschachtel zu Tage. „Kippe?“ „Nein, danke. Asthmatiker.“ Mick klemmt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündet

sie an. Die flackernde Flamme des Feuerzeugs wirft kleine, zuckende Schatten über sein Gesicht und Daniel betrachtet ihn und wundert sich darüber, dass dieser Junge ihn irgendwie berührt – als wären sie mehr als lediglich entfernte Bekannte, die nachts auf einer Terrasse ein Fahrrad reparieren, während drinnen eine Party läuft.

Als bestünde eine Verbindung zwischen ihnen. Daniel blinzelt. Kann nicht sein. Mick lebt auf einem anderen

Planeten. Dort gibt es Mountainbikes und Swimmingpools und Väter und keinen Frust, weil man sich die berufliche Zukunft, die man möchte, einfach nicht leisten kann.

„Hast du eine Freundin?“, fragt Mick. Er schiebt die Frage zwi-schen seinen Lippen und der Zigarette raus und erwischt Daniel völlig unvorbereitet.

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„Wie bitte?!“ „Ob du eine Freundin hast. Oder wolltest du eigentlich bei Lilli

landen?“ „Findest du deine Fragen nicht ein bisschen intim, dafür dass wir

uns gar nicht kennen?“ Mick stößt Rauch aus und zieht die Schultern hoch. „Aber mit wem soll man denn sonst intim sein, wenn nicht mit

Fremden?“ Daniel blinzelt und sucht nach der Logik, aber Micks Aufmerk-

samkeit ist schon von ihm abgeglitten und hängt jetzt an einem eng umschlungenen Pärchen, das aus dem dunklen Garten auftaucht und in die Lichtinsel auf der Terrasse tritt.

„Daniel“, sagt Lilli. „Hi. Schön, dass du da bist.“ Ihr Pferdeschwanz sieht aus, als käme sie frisch aus einem Torna-

do. Ihre Wangen sind gerötet und sie hat ein albernes Kichern in der Stimme, das Daniel an ihr gar nicht kennt.

„Hi“, sagt er. „Ich kann auch gar nicht lange bleiben.“ „Hi, Daniel.“ Jo streckt Daniel die freie Hand entgegen. Daniel

ergreift sie gehorsam und schüttelt sie. Jo hat den zupackenden Händedruck eines Sportlers. Daniel kann nur hoffen, dass diese Beziehung nicht wieder im Chaos endet und er, Daniel, seine Nase für Lilli hinhalten muss.

„Was machst du da?“ Jo deutet auf das Fahrrad, das immer noch auf dem Rücken liegt.

„Ich repariere mein Fahrrad“, sagt Mick unfreundlich. „Was ist denn da so Besonderes dran?“

Daniel schaut auf seine Hände, an denen Kettenfett und Dreck vom Fahrrad klebt, und schluckt eine Bemerkung.

„Ich mein ja nur“, sagt Jo. „Das macht man normalerweise nicht während einer Party.“

„Man hängt auch nicht zwischen den Büschen rum, während einer Party. Normalerweise. Büsche gibt es nämlich auch ohne Party.“

„Jetzt krieg dich wieder ein, Mann.“ Jo schlingt den Arm fester um Lilli, beinahe beschützend. Er sieht

aus wie einer, der gerne wütend wäre, aber irgendwie in Hilflosigkeit stecken bleibt. Lilli wechselt einen Blick mit Daniel. Daniel zieht den Kopf ein. Die Spannung auf der Terrasse ist mit Händen zu greifen.

„Ich hab keinen Bock mehr“, sagt Mick. „Am liebsten würde ich manchmal … würde ich … ach, Scheiße.“

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Er breitet die Arme zur Seite aus, Handflächen nach oben, hebt das Gesicht zum Himmel, schließt die Augen und lässt sich nach hinten fallen. Es klatscht gewaltig. Wassertropfen schlagen wie kleine kalte Geschosse auf Daniels Gesicht und Armen ein. Die glatte Oberfläche des Swimmingpools ist zerrissen, Mick treibt reglos darin, das Wasser bläht seine Jacke auf wie einen Ballon.

„Hoppla“, sagt Daniel erschreckt. „Hat er was? Ich meine – müs-sen wir ihn retten?“

„Der ist nicht zu retten. Lass ihn. Der kommt schon alleine wieder runter von seinem Trip.“

Daniel schaut in den Pool, in dem Mick immer noch „Toter Mann“ spielt, und kann Jos Gelassenheit nicht teilen.

„Komm mit rein“, sagt Jo. „Hast du schon was zu trinken?“ „Ein Bier. Ich hab’s irgendwo drin stehen lassen.“ „Ich hol dir ein neues.“ Mit gemischten Gefühlen reißt Daniel sich von Micks Anblick los

und folgt Jo und Lilli ins Haus. Drinnen hat die Party ihren Siedepunkt erreicht. Für eine Sekunde

wünscht Daniel sich wieder hinaus auf die stille Terrasse, dann hat Lilli ihn untergehakt und zieht ihn in die Küche, um den Getränkevorrat zu untersuchen. Jo bleibt bei ein paar Jungs aus der Parallelklasse hängen und für Augenblicke ist alles wie früher. Langsam wird Daniel warm.

Sie nehmen sich Bier und verziehen sich aufs Sofa. Jo gesellt sich wieder zu ihnen und trotz der Enttäuschung, dass er Lilli schon wieder teilen muss, kann Daniel nichts gegen Jo haben. Jo ist ein netter Kerl, es lässt sich leicht und angenehm mit ihm reden und er behandelt Lilli wie eine Prinzessin. Daniel lässt sich vom Strom der Party treiben und entspannt.

Irgendwann kommt Mick von draußen rein, klatschnass, baut sich über Jo auf und tropft auf ihn runter.

„Du tropfst!“ Jo und hält sich die Hand übers Gesicht. „Ich weiß“, grinst Mick. Jo schubst Mick. Mick schubst Jo zurück und Sekunden später

wälzen sie sich über der Sofalehne, ein Knoten aus Armen und Beinen. Lilli lacht und schüttelt den Kopf. Daniel steht vorsichtshalber auf, um aus dem Radius der strampelnden Beine zu kommen.

„Möchtest du tanzen?“ „Huh?“ Daniel erschrickt, als Betty ihm plötzlich die Hand auf die

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Schulter legt. Er ist so darin versunken gewesen, den Ringkampf zu beobachten, dass er sie gar nicht bemerkt hat.

„Tanzen“, wiederholt sie und lächelt ihn an. Ihre Lippen glänzen rosa, vielleicht hat sie Lippenstift drauf getan.

Tatsächlich hat die Musik sich geändert, etwas Langsames wird gespielt und Paare finden sich eng umschlungen zwischen Sofa und Fernseher ein, um sich im Takt zu wiegen.

Daniel schluckt und sieht zu Lilli. Sie lächelt ihn an und zwinkert ihm zu. Neben ihr hat Jo seinen Freund offenbar bezwungen; jedenfalls sitzt er rittlings auf ihm und hält seine Arme fest.

„Okay“, sagt Daniel ein wenig heiser. Betty ist hübsch und weich in seinen Armen, sie lächelt und legt

die Wange an seine Schulter und für Augenblicke ist Daniel stolz darauf, mit einem Mädchen zu tanzen, so wie die anderen, dafür anerkennende Blicke zu ernten, so wie die anderen.

Er darf bloß nicht daran denken, wie schrecklich peinlich es enden kann. Wie damals mit Laura im Zeltlager.

Er überlegt, ob es mit Betty anders sein könnte. Wenn er doch nur wüsste, wie es sich anfühlt, wirklich verliebt zu

sein. Wenn man dafür doch nur einen Referenzwert herstellen könnte, wie im Labor, damit man wüsste, woran man ist.

Betty atmet in seine Halsbeuge und kuschelt sich an ihn und in die angenehme Wärme des Körperkontaktes mischt sich eine Spitze von Panik.

Was erwartet sie von ihm? Soll er sie küssen? Wird sie ihn küssen? Will er das?

Über Bettys Schulter sieht Daniel nach Lilli. Auch mit ihr hat er schon eng umschlungen getanzt und es war schön, auf eine völlig ent-spannte Art. Keine Gedanken, keine Zweifel, keine unklaren Er-wartungen.

Lilli tanzt mit Jo und sie verlieren sich im Blick des anderen. Am Rand steht Mick in seinen nassen Klamotten, neben ein paar anderen aus der Schule und starrt finster zu den beiden hinüber.

Als Daniel nach einer Weile wieder hinsieht, ist Mick verschwun-den. Dann spürt er Bettys Wange an seiner.

„Ich finde dich echt nett“, flüstert sie ihm ins Ohr, dann sieht sie ihn an und lächelt unsicher.

Daniel erwidert den Blick. Sie ist ein mutiges Mädchen und wäre es nicht schön, nicht mehr allein zu sein und sowieso brächte er es

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nicht übers Herz, ihr nicht zu sagen, was sie hören will. „Ich dich auch“, sagt er und dann küssen sie sich auf der Tanzflä-

che und es fühlt sich fremd an, irgendwie sehr weich und feucht und Daniel nutzt die erste Gelegenheit, um den Kuss zu beenden. Betty strahlt und Daniel wischt sich verstohlen die Lippen am Ärmel ab.

Später versteckt Daniel sich auf dem Klo. Sein Spiegelbild sieht ratlos aus. Draußen irgendwo wartet Betty und Daniel denkt, dass es wahrscheinlich nicht normal ist, wenn man über das Erdgeschossfen-ster als Alternative ernsthaft nachdenkt und dass Betty wohl wieder nicht die Richtige ist, wieder einmal nicht.

Er fragt sich, ob es irgendwo da draußen auf diesem merkwürdi-gen Planeten ein Mädchen gibt, das er so ansehen will, wie Jo Lilli ansieht.

Durch die Eingangshalle geht er von hinten in die offene Küche, in der Mick dabei ist, aus verschiedenen Flaschen buntes Zeug zu mixen. Er hat mittlerweile trockene Klamotten an und ein Lächeln auf den Lippen, das beinahe echt aussieht. Daniel lässt sich von ihm etwas Grünes geben und stößt mit ihm an. Das Zeug schmeckt ziemlich künstlich.

Betty steht drüben im Wohnzimmer und unterhält sich mit ihren Freundinnen. Daniel lässt das grüne Zeug im Glas kreisen.

„Kennst du das? Dass man immer wieder den gleichen Fehler macht, obwohl man es besser wissen sollte?“

„Ich glaub schon“, sagt Mick. „Wer macht nicht immer wieder die gleichen Fehler. Und warum auch nicht, wenn’s Spaß macht.“

„Aber was, wenn nicht?“ „Du meinst, wenn es nicht einmal Spaß macht?“ Mick zieht die

Schultern hoch. „Ich schätze, dann ist man ganz schön dämlich.“ „Ja. Daran wird’s liegen.“ Später bringt er Betty nach Hause und lässt sich von ihr zum

Abschied küssen und von zu Hause aus schreibt er ihr dann eine SMS, in der er ihr mitteilt, er wäre nicht bereit für eine Beziehung und wolle sie nicht verletzen, den üblichen verlogenen Quatsch, und liegt bis drei Uhr morgens wach im Bett und fühlt sich schlecht.

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2. NEUE FREUNDE Krügers Aquarium ist der Knaller. Die Frontscheibe misst zwei

Meter und dahinter befindet sich ein perfektes afrikanisches Steinbio-top, dessen Bewohner schimmern und funkeln wie Edelsteine.

„Neolamprologus brevis“, sagt Daniel atemlos und andächtig. „Haplochromis species. Wow. Wahnsinn.“

„Wie bitte?“, sagt Lilli verständnislos. „Labidochromis yellow“, sagt Daniel. „Mann. Wie groß die wer-

den! Ich hab bisher immer nur Jungfische gesehen. Und hier! Prinzessin von Burundi.“

„So heißen die, oder was?“ „Genau. Da hinten, die rosafarbenen.“ „Man sollte meinen, du hättest irgendwann genug von Fischen.

Dreimal die Woche im Laden und zu Hause auch noch …“ „Jungfische im Händlerbecken sind überhaupt nicht mit dem hier

zu vergleichen und meine paar Neons schon gar nicht. Das hier. Das ist … wunderschön.“

Lilli legt ihm von hinten die Arme um die Schultern. „Weißt du, man kann deiner zukünftigen Freundin nur wünschen,

dass du mal so liebevoll von ihr sprichst wie von deinen Fischen.“ „Was für eine zukünftige Freundin? Ich habe keine zukünftige

Freundin.“ „Was ist mit Betty?“ „Betty, wieso? Was soll mit ihr sein?“ Lilli versetzt Daniel einen freundschaftlichen Schubs. Daniel greift

nach der Futterdose, um die Aufschrift zu lesen. „Stell dich nicht dumm“, sagt Lilli. „Das zieht bei mir nicht.“ „Betty ist nicht die Richtige“, sagt Daniel. „Und damit ist das

Thema durch.“ Lilli seufzt und wendet sich ab, um das Wohnzimmer des Sport-

lehrers zu begutachten. Krügers Frau ist Architektin oder etwas Ähnliches, ein Beruf jedenfalls, der Geld einbringt, denn von einem Lehrergehalt kann man sich wohl eine solche Luxushütte nicht hinstellen. Daniel hat vor den Pfingstferien von Krüger den Schlüssel bekommen, um sich um die Fische zu kümmern, während Krüger mit seiner Frau auf die Kanaren fliegt. Noch während er die Schlüssel

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entgegen nahm, hat er gewusst, dass er das Vertrauen des Lehrers zumindest zum Teil missbrauchen wird, indem er Lilli hierher einlädt. Schließlich kriegt man so eine Gelegenheit nicht alle Tage.

„Schau mal“, sagt Lilli. „Ein Riesen-Flachbildfernseher. Lass mal sehen, was der Krüger so für DVDs hat.“

„Nicht zu fassen.“ Daniel bringt im Augenblick kein Interesse für Fernsehen auf. „Da stellt er sich ein Becken hin für ein paar tausend Euro und dann füttert er diesen billigen Flocken-Mist. Das nenne ich am falschen Ende sparen!“

„Bladerunner“, zählt Lilli auf. „Die Terminator-Trilogie. Alien … Star Trek … Lethal Weapon … scheint mir ein Fan der Achtzigerjahre zu sein, der Krüger.“

„Kein Wunder. Wie alt ist der? Mitte Vierzig? Da war der jung, in den Achtzigern.“

Daniel öffnet die Abdeckung und die farbenfrohe Wohngemein-schaft versammelt sich unter der Wasseroberfläche. Zögernd streut Daniel ein paar Flocken ins Wasser, die sofort gierig verschlungen werden.

„Notting Hill!“, trompetet Lilli. „In Sachen Liebe. Email für dich. Huh, das müssen die DVDs seiner Frau sein. Emergency Room! Haha! In der Sammelbox. Brokeback Mountain! Schokolade zum Frühstück … Ob der wohl merkt, wenn wir uns hier einen Film reinziehen?“

Daniel wirft einen Blick über die Schulter. Ein Riesen-Fernseher mit Surround-Anlage. Beinahe so gut wie

Kino, nur nicht so teuer. „Bestimmt nicht“, sagt er. „Wir müssen einfach nur alles so lassen,

wie es war.“ „Cool.“ Sie wechseln einen Blick und Lilli strahlt. Daniel denkt, dass es

sich beinahe anfühlt wie früher: Lilli und er, die Musterschüler, denen niemand zutrauen würde, auch nur einmal bei Rot über die Fußgänger-ampel zu gehen. Ganz zu schweigen von allem, was sie sonst noch so gelegentlich anstellen. Daniel lächelt bei dem Gedanken. Wer an der Realschule die Erdgeschossfenster mit Fingerfarben bemalt hat, ist bis heute nicht ans Licht gekommen.

„Such doch schon mal was raus“, sagt er. „Ich will mal sehen, ob Krüger wirklich nichts anderes hat als diesen Flockenfraß.“

Tatsächlich gibt es im Eiswürfelfach des Kühlschranks noch

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tiefgefrorenes Frischfutter. Daniel taut ein paar Würfel unter fließen-dem Wasser auf und nimmt das Futter mit ins Wohnzimmer, wo Lilli mittlerweile herausgefunden hat, wie die Heimkinoanlage funktioniert.

„Star Trek Neun oder Alien?“ Sie hält die DVD-Hüllen hoch. „Was darf’s sein?“

„Warum denn immer diese Action-Knaller? Ich dachte, wir könn-ten uns mal etwas Ruhiges ansehen. Etwas Romantisches. Notting Hill, zum Beispiel.“

„Dein Ernst?“ Fassungslos lässt Lilli die DVD-Hüllen sinken. Daniel grinst. „Alien ist völlig okay für mich.“ „Idiot.“ „Drangekriegt. Gut zu wissen, dass es immer noch funktioniert.“ „Ich setze es dir auf die Liste.“ Daniel versorgt die Fische mit Futter und kontrolliert Beckentem-

peratur und Filter, während Lilli die DVD einlegt und die Surround-Anlage in Betrieb nimmt.

„Bier war nicht im Kühlschrank?“, erkundigt sie sich. „Nein“, sagt Daniel. „Und auch keine schöne, große, heiße Sala-

mipizza. Danach wäre mir jetzt mehr als nach Bier.“ „Hast du Geld dabei?“ „Höchstens für ein kleines Eis. Jedenfalls nicht für eine große

Pizza.“ „Ich auch nicht“, sagt Lilli betrübt. „Schade … Das wär’s jetzt. Die Füße hochlegen, den Film genie-

ßen und sich dazu eine Pizza einwerfen.“ „Ich könnte die Jungs anrufen“, schlägt Lilli nach einer kurzen

Denkpause vor. „Wetten, die hängen gerade zusammen. Mick kann zwar nerven, aber er hat bestimmt Geld.“

„Und du meinst, davon kauft er uns eine Pizza?“ „Na ja … vielleicht als Eintrittskarte für einen netten Filmabend

in der Luxusvilla?“ Sie sehen sich an. „Es ist vielleicht ein bisschen riskant, die Jungs hier reinzulassen“,

sagt Daniel zögernd. „Nicht dass das hier in eine Party ausartet … und wenn etwas kaputt geht, bin ich dran.“

„Die benehmen sich“, verspricht Lilli. „Wenn nicht, fliegen sie raus. Die Pizza haben wir ja dann schon.“

„Hm. Klingt so einigermaßen nach einem Plan.“

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„Und du bist wirklich damit einverstanden? Ich meine, weil der Abend doch nur für uns sein sollte.“

„Wenn Mick mitkommt, schon.“ Daniel hat es schneller gesagt, als er darüber nachdenken konnte.

Tatsächlich spürt er eine merkwürdige Form von Wachheit und Anspannung, wenn er an Mick denkt.

Es wäre cool, wenn er jetzt hier wäre. Irgendwie. „Weil ich keine Lust habe, alleine mit einem verliebten Pärchen zu

sein“, schiebt er eilig nach. „Da kommt man sich so überflüssig vor.“ „In Ordnung.“ Lilli fischt ihr Handy aus der Jackentasche. „Ich

sag Bescheid.“ Keine halbe Stunde später klingelt es an der Haustür. „Signorina, Sie habe bestellte Pizza?“, sagt Jo mit künstlichem

italienischem Akzent und präsentiert zwei riesige Schachteln. „Kommen Sie rein“, strahlt Lilli. „Den Pizzaboten behalte ich

auch gleich.“ Kurz darauf herrscht schlagartig Leben in der Bude. Lilli durch-

kramt die Küche und öffnet alle Schubladen, um ein Messer für die Pizza zu finden, Jo hat Krügers Trainingsraum entdeckt und probiert die Gewichte auf der Hantelbank und Mick sorgt für die Beschallung, indem er eine Rolling-Stones-CD einlegt und auf volle Lautstärke dreht.

„Coole Hütte“, sagt Mick anerkennend, oder zumindest glaubt Daniel, dass er das sagt, denn die Musik ist wirklich laut. Er geht zur Anlage und dreht ein wenig leiser. Er will kein Spielverderber sein, aber schließlich sollen die Nachbarn nicht die Polizei rufen.

„Warum hast du eigentlich den Schlüssel?“, fragt Mick. „Weil ich mich um die Fische kümmere“, erklärt Daniel und zeigt

hinüber zum Aquarium. „Aha … Ist das eine Maßnahme, sich bei Krüger einzuschleimen,

oder was?“ „Na, vielen Dank. Du kannst dir nicht vorstellen, dass ich es gerne

mache, oder?“ Mick wirft einen kritischen Blick hinüber zum Aquarium. „Nicht wirklich. Ich meine, die kann man ja nicht mal streicheln.“ „Dann bist du also eher der Meerschweinchen-Typ?“ „Das hab ich nicht gesagt.“ „Fische sind viel spannender als Meerschweinchen, glaub mir.“ „Ich will ja auch gar kein doofes Meerschweinchen!“ „Ist ja gut. Komm wieder runter.“

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Irgendwie macht es gar keinen Spaß, Mick auf den Arm zu neh-men. Es ist viel zu leicht.

Sie messen sich mit Blicken. „Wenn ich vom Planeten der reichen Leute komme, dann

kommst du vom Planeten der Freaks“, sagt Mick schließlich. „Kann sein“, sagt Daniel gelassen. „Und? Wie ist es da so?“ „Ganz nett. Kannst mich ja mal besuchen kommen. Wir Freaks

mögen Leute, die während ihrer eigenen Party ihr Fahrrad reparieren und danach mit allen Klamotten in den Pool springen.“

Mick nickt und plötzlich erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht und zieht ihm die Mundwinkel auseinander.

„Okay“, sagt er. „Mach ich.“ Mick geht, um Krügers Musikaliensammlung eines zweiten Blickes

zu würdigen und Daniel gesellt sich zu Lilli in die Küche, die inzwischen ein riesiges Küchenmesser gefunden hat und damit die Pizza bearbeitet.

„Ich hatte gerade ein merkwürdiges Gespräch mit Mick“, sagt er. „Ist doch normal“, sagt Lilli kauend. „Schließlich ist der ganze

Typ merkwürdig.“ „Interessant, dass du das so siehst. Er denkt das nämlich über

mich.“ „Lass dir nichts einreden. Pizza?“ Sie schiebt ihm den Karton hin und er nimmt sich ein Stück. „Dann lass uns mal die Schäfchen zusammentreiben“, sagt sie.

„Ich will keine kalte Pizza zum Film.“ Als sie ins Wohnzimmer zurückkommen, hat Mick ein kleines

Tütchen in der Hand, mit dem er euphorisch wedelt. „Guckt mal, was ich hier gefunden habe“, strahlt er. „Was ist das?“, fragt Lilli stirnrunzelnd. „Sag nur, du erkennst das nicht“, sagt Mick. „Wenn du es mal still halten würdest, dann vielleicht!“ „Das ist Gras“, verkündet Mick, als hätte er den Stein der Weisen

gefunden. „Krüger hat Gras in der Wohnung?“, fragt Daniel erstaunt. „Wer

hätte das gedacht. Wo war es denn?“ Mick grinst. „Im Hornausgang vom Subwoofer. Ist wohl durch

die Erschütterungen nach vorne befördert worden.“ „Wozu laute Musik nicht alles gut sein kann.“

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„Sag ich doch immer. Was für einen Film gibt es? Ich wette, er gewinnt ungeheuer, wenn man ihn bekifft anschaut.“

„Mit Ungeheuer liegst du schon mal richtig.“ Daniel nimmt die DVD-Hülle und hält sie hoch. „Aber dass wir Krügers Gras rauchen, seh ich irgendwie noch nicht.“

„Du willst dir diese Gelegenheit doch nicht entgehen lassen!“ „Ich will vor allem nicht, dass Krüger meine Ma anruft und ihr

erzählt, ich hätte ein Drogenproblem.“ „Hast du denn eins?“ „Ich bin ein Asthmaspray-Junkie, aber sonst geht’s.“ „Krüger wird deine Ma nicht anrufen“, wendet Lilli ein. „Was soll

er ihr sagen? Dass du das Gras aus seinem Haus hattest? Der ist Beamter. Wenn das rauskommt, ist er seinen Job los.“

„Genau“, ergänzt Mick mit glänzenden Augen. „Du hast ihn in der Hand! Du kennst sein Geheimnis. Jetzt ist er voll erpressbar.“

„Und ihr habt voll einen an der Klatsche. Warum sollte ich Krü-ger erpressen? Damit er mir in Sport eine Eins gibt?“

„Das wäre vielleicht ein bisschen auffällig“, sagt Lilli und grinst. „Aber eine Drei sollte schon drin sein.“

„Sehr charmant. Vielen Dank.“ „Entscheiden wir das mit dem Gras später“, sagt Lilli. „Starten wir

den Film. Ich will meine Pizza gegessen haben, bevor das Viech dem Typen aus dem Brustkorb bricht.“

„Davor hast du Angst? Mädchen.“ „Ach was.“ Daniel beißt in seine Pizza und sieht sich kauend um. Irgendwie

hat seit geraumer Zeit keiner mehr Jo gesehen. Daniel geht in den Flur. „Jo? Wir wollen dann mit dem Film anfangen.“ Dumpfes Stöhnen. Daniel geht dem Geräusch nach und landet im

Sportraum. „Na endlich“, stöhnt Jo, der auf einer Hantelbank unter einer

Langhantel eingeklemmt ist. „Ich dachte schon, ihr hört mich nie.“ Jos Gesicht ist puterrot und einmal mehr versucht er vergeblich,

die Hantel anzuheben, die auf seinem Brustkorb liegt. „So sieht also Selbstüberschätzung aus“, sagt Daniel sehr ver-

gnügt. „Mick? Komm mal anpacken.“ Zu zweit befreien sie Jo aus seiner misslichen Lage, während Lilli

unter der Tür steht, grinst und lästerliche Bemerkungen macht.

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Stöhnend setzt Jo sich auf. „Wer hätte auch gedacht, dass Krüger solche Gewichte stemmt“,

keucht er. „So ein dünnes Männlein!“ „Vielleicht ist seine Frau Bodybuilderin“, vermutet Mick. „Genau“, sagt Lilli. „Sitzt dann auf dem Sofa, guckt sich Notting

Hill an und lässt sich von Krüger den Bizeps einölen.“ „Die Vorstellung ist ekliger als alles, was Alien zu bieten hat“, sagt

Daniel. „Bitte. Gebt mir Monster, damit ich dieses Bild wieder aus meinem Kopf kriege.“

Er treibt die anderen zurück ins Wohnzimmer, wo Lilli sich der Fernbedienungen bemächtigt und erst mal die Rolling Stones abwürgt und Jo sich stöhnend aufs Sofa fallen lässt.

„Wo ist denn das Gras?“, will Daniel wissen, während Lilli die DVD startet.

„In meiner Hosentasche“, sagt Mick und dann holt er aus dem Nichts seinen tiefschwarzen Mitternachtsblick heraus und überschüttet Daniel damit. „Komm doch und hol’s dir.“

„Ich glaube nicht“, sagt Daniel mit trockenen Lippen. „Was für ein Gras?“, fragt Jo. „Ihr meint tatsächlich Gras? Ihr

habt Gras dabei? Warum sagt mir das keiner?“ Der Augenblick ist vorbei. Mick klärt Jo über die Herkunft des

Grastütchens auf und Daniel hat Zeit, sich über die seltsame Empfindung zu wundern, die ihm auf der Haut kribbelt.

Etwas an Mick ist anders. Er hat nur noch nicht herausgefunden, was.

Er findet auf dem Sofa einen Platz neben Lilli, befasst sich mit seiner Pizza und lässt den Film auf sich wirken. Nur mit halbem Ohr hört er zu, wie Mick und Jo großspurig über die Handlung lästern. Er findet nicht, dass ein Film nur dann gut ist, wenn man dabei vor Angst fast in seinem Sessel stirbt.

Vorsichtig legt er die Füße auf den Couchtisch. Das Sofa ist be-quem, der Fernseher ein Wahnsinn. Daniel wirft einen Blick über die Schulter.

Siebenhundert Liter Wasser. Zwanzig oder mehr wunderschöne Buntbarsche, die darin leben. Mit welchem Beruf könnte man so viel Geld verdienen, wenn man doch von Null startet?

Lilli lehnt sich gegen seine Schulter. Daniel legt vorsichtig den Arm um sie. Jo und Mick stecken am anderen Ende des Sofas die Köpfe zusammen und sind mit irgendwas beschäftigt.

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Als das Alien sich am Gesicht des Raumfahrers festklammert, zuckt Lilli zusammen.

„Und so was sieht sich mein kleiner Bruder an“, flüstert sie schaudernd. „Immer wieder.“

„Er ist eben in einem schwierigen Alter.“ „Er ist in einem schwierigen Alter, seit er auf der Welt ist.“ „Warum lassen deine Eltern ihn das ansehen?“ „Tun sie nicht. Er hat eine Raubkopie, die er auf dem Computer

laufen lässt. Nachts, hauptsächlich.“ Daniel seufzt. Er kennt das Drama mit Lillis dreizehnjährigem

Bruder Mischa, der schwarze Klamotten trägt, einen auf Emo macht und sich für einen Künstler hält. Die ganze Familie arbeitet daran, ihn zur Vernunft zu bringen, seit Daniel denken kann.

So hat jeder seine eigenen Probleme. Irgendwann, die Katze im Film hat sich gerade selbst gerettet,

zieht ein süßlich-markanter Geruch in Daniels Nase. Er lehnt sich nach vorne.

„Ach, nö! Hab ich euch nicht gesagt, ihr sollt das bleiben lassen?“ „Hab ich nicht gehört“, sagt Jo grinsend und zieht an einer ziem-

lich krummen, irgendwie selbstgebastelt aussehenden Zigarette. „Genau“, sagt Mick. „War wohl nicht deutlich genug.“ „Ich hasse euch. Ich kriege Stress wegen euch, ist euch das klar?“ „Nimm einen Zug“, sagt Mick und hält Daniel den Joint hin, der

offenbar aus einer Filterzigarette improvisiert ist. „Ist gut gegen Stress.“ Daniel nimmt den Joint entgegen und dreht ihn zwischen den

Fingern. „Ist noch was in der Tüte?“ „Wieso? Du meinst, ein Joint für vier Leute ist ein bisschen we-

nig? Recht hast du.“ „Ich meine, ob wir die Tüte zurücklegen können, ohne dass Krü-

ger später was merkt.“ Jo hält die Tüte hoch. „Wohl nicht“, sagt Daniel frustriert. „Da ist ja fast nichts mehr

drin.“ „Das war nicht gerade die Familienpackung, weißt du“, sagt Jo.

„Und jetzt zieh dran, oder gib ihn zurück. Das arme Gras hat es nicht verdient, so sinnlos zu verbrennen.“

Daniel zögert. Als Asthmatiker tut man gut daran, nicht zu rau-chen, aber irgendwie hat er es gleichzeitig satt, sich von der blöden

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Krankheit immer den Spaß verderben zu lassen. Zumal der Stress unausweichlich ist und so will er wenigstens etwas davon haben.

Daniel fischt sein Asthmaspray aus der Hosentasche, bringt es in Anschlag und nimmt einen tiefen Zug vom Joint.

Es folgt ein ausgiebiger Hustenanfall, hektisches Werkeln mit dem Asthmaspray, ein Lachflash der beiden anderen Jungs und schließlich die totale Entspannung.

„Alien“ verliert den letzten Schrecken. Lilli schaltet den Ton ab und gemeinschaftlich lassen sie die düsteren Bilder aus dem Inneren des Raumschiffes auf sich einströmen.

Die Kombination von Gras und Asthmaspray wirkt ganz ordent-lich, findet Daniel. Seine Lunge brennt, aber zumindest ist er noch nicht erstickt. Über die Schulter schaut er ins Aquarium. Die Fische leuchten in unwirklichen Farben. Jemand liegt schwer an seiner Schulter und als er schließlich bemerkt, dass es nicht Lilli ist, sondern Mick, ist es auch in Ordnung. Mick ist sowieso ein netter Kerl.

Daniel schließt die Augen, es ist viel zu mühsam, einen Fokus zu behalten.

„Du kannst mein neuer bester Freund sein“, murmelt er. „Du bist okay.“

„Okay“, sagt Mick, seine Stimme klingt undeutlich, und küsst Daniel mit feuchten Lippen auf die Wange.

Huh, denkt Daniel und braucht eine gefühlte halbe Stunde für den Gedanken. Na, egal.

Als „Alien“ zu Ende ist, legt Lilli „Notting Hill“ rein. Daniel ist erstaunt, er hätte nicht gedacht, dass der Film so lustig ist, aber sie alle können sich vor Lachen kaum mehr auf dem Sofa halten. Zwischen zwei Lachflashs denkt Daniel, dass es vielleicht weniger zu lachen gäbe, wenn er nicht noch fünf oder acht Mal an diesem Joint gezogen hätte. Macht man eigentlich nicht, als Nichtraucher und man muss sich nicht wundern, wenn man nichts verträgt.

Gegen Ende des Films lässt die Heiterkeit nach und Schläfrigkeit macht sich breit. Daniel rutscht tiefer in die Kissen, schlingt den Arm um Micks Schulter und lässt sich treiben.

*** Er weiß nicht, wie lange es dauert, bis sein Gehirn wieder annä-

hernd normal arbeitet. Das Licht im Aquarium ist aus und über den Fernseher läuft der Bildschirmschoner, der anzeigt, dass der DVD-

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Player sich vor geraumer Zeit abgeschaltet hat. Vor den Fenstern lauert das erste Tageslicht.

Daniels Lunge schmerzt und sein Mund fühlt sich an, als wäre ein kleines Tier darin gestorben. Mühsam kommt er vom Sofa hoch. Auf dem Couchtisch liegen die Reste der Pizza in ihren fleckigen Pappkartons und verbreiten einen unangenehmen fettigen Geruch. Daniel tastet sich zur Terrassentür, öffnet sie und atmet tief die kalte Luft des frühen Morgens. Nach zwei Atemzügen macht die Lunge dicht. Kälte. Daniel benutzt sein Spray und wartet auf Linderung.

Blick auf die Uhr. Zehn vor fünf. Blick zum Sofa. Jo und Lilli bilden ein unentwirrbares Knäuel. Mick ist in die Lücke gerutscht, die Daniel beim Aufstehen hinterlassen hat, bewegt sich träge und reibt sich übers Gesicht.

Blick aufs Handy. Vier neue Nachrichten, alle von seiner Mutter. Daniel versenkt das Handy in der Hosentasche. Dafür ist er ein-

deutig noch nicht wach genug. Er schüttelt sein Asthmaspray und nimmt einen weiteren Sprüh-

stoß. Wäre schön, wenn es mal wirken würde. Seine Lunge fühlt sich an wie ein alter Blasebalg, gefüllt mit dem Dreck eines ganzen Bergwerks. Er blinzelt hinauf in die Zweige eines Sommerflieders, in dem Vögel zwitschern. Das frühe Tageslicht erscheint ihm grell.

„Snlos?“ „Huh?“ Daniel zuckt zusammen und dreht sich um. Mick arbeitet sich

gerade aus dem Sofa in die Höhe. Seine Haare stehen wirr nach allen Seiten ab, seine Augen sehen aus wie schwarze, bodenlose Teiche.

„Hast du ein Problem?“, fragt Mick und deutet auf das Asthma-spray.

„Geht schon vorbei“, sagt Daniel. „War nicht anders zu erwar-ten.“

„Was ist das?“ „Ein Asthmaspray, Mann.“ Mick hat sich aus dem Sofa befreit und schlurft zu Daniel hinüber.

Er nimmt ihm das Asthmaspray aus der Hand und versucht, nach seiner Grimasse zu schließen vergeblich, die Aufschrift zu lesen, dann sprüht er sich etwas davon in den Mund.

„Bah“, sagt er. „Scheußlich.“ „Es ist nicht dazu gemacht, gut zu schmecken. Es ist ein Medika-

ment.“