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Verabschieden von Martin Zenhäusern ([email protected] ) Täglich begegnen wir Menschen, wir reden miteinander und gehen wieder auseinander. Ein Bekannter hat mir kürzlich folgendes erzählt: Seine leitenden Mitarbeiter kämen immer wieder in die Situation, dass sie einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin entlassen müssten. Er habe sie gebeten, bei jeder Trennung festzuhalten, mit welchem Gefühl sie auseinander gehen würden; ob dieses Gefühl positiv, neutral oder negativ sei. Diesen Selbsttest können wir auch im Alltag anwenden. Bei jedem gelegentlichen oder geplanten Treffen können wir uns fragen, nachdem wir uns verabschiedet haben: Was für ein Gefühl habe ich jetzt? Bin ich positiv gestimmt? Oder habe ich negative Gefühle dem anderen gegenüber? Wenn die Gefühle negativ sein sollten, dann setzen wir die Energie falsch ein, nämlich in etwas, das uns nicht weiterbringt, statt in etwas, das uns aufbaut. Wir erleben auch immer wieder die Situation, dass wir jemanden von weitem sehen und ihm ganz bewusst aus dem Weg gehen. Einige haben darin eine richtige Meisterschaft erreicht, indem sie sich so blind stellen können, dass ein Kontakt schlicht nicht möglich wird. Wenn wir uns fragen, wie viel energetischen und psychischen Aufwand wir betreiben, um jemandem auszuweichen – Aufwand, der wirklich nichts bringt – dann sollten wir uns auch mal fragen, ob wir nicht gescheiter den Kontakt bei nächster Gelegenheit bewusst abbrechen sollten, um für „gewollte“ Begegnungen frei zu sein. Ein anderer Bekannter hat mir erzählt, dass er seit einem prägenden Erlebnis seine Gesprächspartner immer mit einem gutem Gefühl zu verabschieden suche. Er sei nämlich vor gut einem Jahr in ziemlicher Missstimmung von einem guten Kollegen weggegangen. Wenige Tage später sei dieser tödlich verunglückt. Er habe sich seither viele Vorwürfe gemacht, weil dieser letzte Eindruck haften blieb und er keine Chance mehr bekam, diesen zu korrigieren. Nur mal als Probe aufs Exempel: Sähe unser Zusammenleben nicht weitaus freundlicher aus, wenn wir bei jedem Abschied daran denken würden, dass dies auch der letzte sein könnte? Wir nähmen uns wohl viel mehr Zeit und würden uns bewusster verhalten, mehr Wert darauf legen, dass die guten Gefühle überwiegen. Vielleicht würden wir dann auch ein wenig toleranter den anderen gegenüber. In gut einem Jahr werden wir eine andere Möglichkeit erhalten, uns zu verabschieden. Wir können dies dann ganz ruhig tun, ohne Augenkontakt und ohne die Anstrengung, jemandem aus dem Weg gehen zu wollen: Bei den National- und Ständeratswahlen im Oktober 2007 können wir uns vom einen oder der anderen verabschieden, indem wir ihn oder sie einfach streichen – nicht aus dem Leben, nur von der Liste. Das gibt manchmal auch ein ganz gutes Gefühl. Noch etwas: Der amerikanische Politiker James William Fulbright hat einen wichtigen Hinweis gegeben, wie das menschliche Zusammenleben versöhnlicher werden würde, indem er festgestellt hat: „Es ist Unsinn, Türen zuzuschlagen, wenn man sie auch angelehnt lassen kann.“

Microsoft Word - 10-verabschieden-13-10-06

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Nur mal als Probe aufs Exempel: Sähe unser Zusammenleben nicht weitaus freundlicher aus, wenn wir bei jedem Abschied daran denken würden, dass dies auch der letzte sein könnte? Wir nähmen uns wohl viel mehr Zeit und würden uns bewusster verhalten, mehr Wert darauf legen, dass die guten Gefühle überwiegen. Vielleicht würden wir dann auch ein wenig toleranter den anderen gegenüber.

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Verabschieden von Martin Zenhäusern ([email protected]) Täglich begegnen wir Menschen, wir reden miteinander und gehen wieder auseinander. Ein Bekannter hat mir kürzlich folgendes erzählt: Seine leitenden Mitarbeiter kämen immer wieder in die Situation, dass sie einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin entlassen müssten. Er habe sie gebeten, bei jeder Trennung festzuhalten, mit welchem Gefühl sie auseinander gehen würden; ob dieses Gefühl positiv, neutral oder negativ sei. Diesen Selbsttest können wir auch im Alltag anwenden. Bei jedem gelegentlichen oder geplanten Treffen können wir uns fragen, nachdem wir uns verabschiedet haben: Was für ein Gefühl habe ich jetzt? Bin ich positiv gestimmt? Oder habe ich negative Gefühle dem anderen gegenüber? Wenn die Gefühle negativ sein sollten, dann setzen wir die Energie falsch ein, nämlich in etwas, das uns nicht weiterbringt, statt in etwas, das uns aufbaut. Wir erleben auch immer wieder die Situation, dass wir jemanden von weitem sehen und ihm ganz bewusst aus dem Weg gehen. Einige haben darin eine richtige Meisterschaft erreicht, indem sie sich so blind stellen können, dass ein Kontakt schlicht nicht möglich wird. Wenn wir uns fragen, wie viel energetischen und psychischen Aufwand wir betreiben, um jemandem auszuweichen – Aufwand, der wirklich nichts bringt – dann sollten wir uns auch mal fragen, ob wir nicht gescheiter den Kontakt bei nächster Gelegenheit bewusst abbrechen sollten, um für „gewollte“ Begegnungen frei zu sein. Ein anderer Bekannter hat mir erzählt, dass er seit einem prägenden Erlebnis seine Gesprächspartner immer mit einem gutem Gefühl zu verabschieden suche. Er sei nämlich vor gut einem Jahr in ziemlicher Missstimmung von einem guten Kollegen weggegangen. Wenige Tage später sei dieser tödlich verunglückt. Er habe sich seither viele Vorwürfe gemacht, weil dieser letzte Eindruck haften blieb und er keine Chance mehr bekam, diesen zu korrigieren. Nur mal als Probe aufs Exempel: Sähe unser Zusammenleben nicht weitaus freundlicher aus, wenn wir bei jedem Abschied daran denken würden, dass dies auch der letzte sein könnte? Wir nähmen uns wohl viel mehr Zeit und würden uns bewusster verhalten, mehr Wert darauf legen, dass die guten Gefühle überwiegen. Vielleicht würden wir dann auch ein wenig toleranter den anderen gegenüber. In gut einem Jahr werden wir eine andere Möglichkeit erhalten, uns zu verabschieden. Wir können dies dann ganz ruhig tun, ohne Augenkontakt und ohne die Anstrengung, jemandem aus dem Weg gehen zu wollen: Bei den National- und Ständeratswahlen im Oktober 2007 können wir uns vom einen oder der anderen verabschieden, indem wir ihn oder sie einfach streichen – nicht aus dem Leben, nur von der Liste. Das gibt manchmal auch ein ganz gutes Gefühl. Noch etwas: Der amerikanische Politiker James William Fulbright hat einen wichtigen Hinweis gegeben, wie das menschliche Zusammenleben versöhnlicher werden würde, indem er festgestellt hat: „Es ist Unsinn, Türen zuzuschlagen, wenn man sie auch angelehnt lassen kann.“