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Mila Summers Verloren sind wir nur allein - Lesejury · Dad dir erklärt hat, dass wir doch nicht ins Disneyland fahren können.« Ein Stich durchfährt mein Herz, als Mom von Dad

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Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Katharina RundenUmschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von

Motiven von © [Info folgt]Satz: *** [N.N., Ort]

Gesetzt aus der [Schrift:] ***

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN 978-3-8466-0094-8

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Sie finden uns im Internet unter: www.one-verlag.deBitte beachten Sie auch www.luebbe.de

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Kapitel 1

Verunsichert sehe ich mich in dem kahlen Raum um, indem mich, bis auf ein alter Holzschrank, nur Leere emp-fängt. Vier weiße Wände starren mich an. Ich starre zu-rück.

Das ist es nun also. Mein neues Zuhause.»Oh, Schatz, du bist ja schon in deinem Zimmer! Ist es

nicht wunderschön?« Mom rauscht herein, natürlich ohneanzuklopfen, und eilt zu dem breiten Fenster auf der ge-genüberliegenden Seite des Raums. »Es ist das schönste imganzen Haus!« Sie öffnet die beiden Flügel und lässt nebendem orangefarbenen Abendlicht auch eine frische Som-merbrise herein. Die Scharniere quietschen. Einzelne weißlackierte Holzsplitter des Rahmens bröckeln zu Boden,

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und ich frage mich unweigerlich, ob man den schönstenRaum des Hauses wirklich so verkommen lassen würde.

Ich sage kein Wort. Die ganze Situation überfordertmich völlig. Erst vor wenigen Wochen schleppte MomRoger an. Ihr neuer Freund ist im Gegensatz zu dem Lo-ser, den sie davor gedatet hat, ein absoluter Glücksgriff.Roger ist Rancher. Sein Anwesen ist so groß wie der ge-samte Block, in dem wir in Boston gelebt haben. Die Be-tonung liegt auf gelebt haben, denn Mom hatte nichts Bes-seres zu tun, als unsere Zelte vollkommen überstürztabzubrechen und zu Roger auf seine Ranch nach Lewis-ville in Texas zu ziehen. Roger züchtet nämlich Rinderund Pferde. Und anscheinend ist er damit so erfolgreich,dass Geld von nun an kein Problem mehr für uns seinwird. Wie praktisch.

»Sky, Liebes, jetzt schau doch nicht so.« Mom kommtzu mir rüber, legt ihren Arm um meine Schulter und ziehtmich in eine feste Umarmung.

Ich seufze und sorge für ein wenig Abstand zwischenuns. »Wie schaue ich denn?« Ich kann ihr nicht in die Au-gen sehen, also wende ich meinen Blick zum Fenster. Aufeiner Koppel grasen ein paar Pferde, und das Gras ist sogrün wie unser Haus in Boston.

»Du schaust wie damals, als du noch klein warst undDad dir erklärt hat, dass wir doch nicht ins Disneylandfahren können.«

Ein Stich durchfährt mein Herz, als Mom von Dadspricht. Es sind nun genau zwei Jahre und einundfünfzigTage, seit er für immer von dieser Welt gegangen ist. Undallein der Gedanke an ihn schmerzt noch immer so qual-

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voll wie an dem Tag, als er während eines Baseballspielszusammengebrochen und nicht mehr aufgestanden ist.

Ich winde mich ganz aus ihrer Umarmung. »Lass gutsein, Mom. Ich werde mich mit der Situation schon ir-gendwie arrangieren.«

So, wie ich mich in den letzten zwei Jahren und ein-undfünfzig Tagen mit allem abgefunden habe, was sie fürrichtig hielt und mir gänzlich gegen den Strich ging.Schon knapp ein halbes Jahr nach Dads Tod hat Momwieder begonnen, Männer zu treffen, ist ausgegangen, hat-te Spaß.

Für mich kommt das einem Verrat gleich. Einem Ver-rat, den sie an allem begeht, was unsere Familie ausge-macht hat. Die feste Einheit, die wir mit Dad gebildet ha-ben, gibt es nicht mehr. Anstatt an einem Strang zuziehen, scheinen Mom und ich in unterschiedliche Rich-tungen zu laufen.

Während ich versuche, die Erinnerung an ihn zu be-wahren, hat Mom nach Dads Tod schnell damit begon-nen, alles, was einmal ihm gehörte, nach und nach in denKeller zu räumen. Außer den Bildern und den Baseballpo-kalen in der Wohnzimmervitrine erinnerte in unserer altenWohnung schon bald nichts mehr an ihn. Ganz so, alshätte es ihn nie gegeben.

Dabei steckte so viel von Dad in unserer Wohnung.Immer hatte er irgendwelche Ideen, um unser Heim zuverschönern. Ich sehe ihn vor mir, wie er uns verschwitztund mit strahlenden Augen sein neuestes Projekt präsen-tiert. Er war schon immer so. Als Mom ihm erzählte, dasssie mit mir schwanger war, hatte er sofort damit begonnen,aus dem Büro ein Kinderzimmer zu machen. Für die

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Menschen, die er liebte, hätte er alles getan. Tränen stei-gen in mir auf, und ich schlucke gegen den Kloß an, dersich in meinem Hals bildet.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Mom mich durch-dringend anschaut. »Liebes, keiner erwartet von dir, dassdu ihn vergisst. Es ist nur langsam an der Zeit, wiedernach vorne zu blicken und nicht immer nur in der Vergan-genheit zu leben. Ich bin auch furchtbar wütend und trau-rig darüber, dass das Schicksal nichts Besseres auf Lagerhatte, als ihn uns wegzunehmen. Aber es ist nun mal nichtzu ändern. Dad wird nicht mehr lebendig, auch wenn dudich mit Händen und Füßen dagegen wehrst, es zu akzep-tieren. Er kommt nicht mehr zurück.«

Noch immer sehe ich den Pferden zu, wie sie unbe-kümmert auf der Wiese stehen und sich kein bisschen dar-um sorgen, was gewesen ist oder was sein wird. Wie ich siebeneide! Mom und ich haben schon so oft darüber gespro-chen. Doch mit dieser Härte hat sie es noch nie auf denPunkt gebracht. Egal, was ich tue, egal, was ich sage, erkommt nicht mehr wieder. Nie mehr.

Stumm nicke ich, senke meinen Blick und starre aufden Fußboden. Das helle Laminat lässt den üppigen fastleeren Raum noch eine Spur größer wirken. »Man kannbestimmt viel aus dem Zimmer machen«, murmele ichund hoffe, dass es wenigstens etwas nach der Begeisterungklingt, von der ich kein bisschen verspüre. Als ich mich zuihr umdrehe, strahlt Mom mich an. Anscheinend habe ichgenau die Worte gefunden, die sie unbedingt hören wollte.

»Das ist mein Mädchen. Du wirst sehen, hier in Lewis-ville wirst du schnell Anschluss finden. Das letzte Jahr an

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der Highschool schaffst du spielend, und danach steht dirdie Welt offen.«

Stellt sich nur die Frage, ob ich das überhaupt will. Willich, dass mir die Welt offensteht? Ehrlich gesagt ist mirdie Welt gerade ziemlich egal.

Mom strahlt eine gewisse Zuversicht aus, die ich nichtmit ihr teilen kann. Sie sieht der Zukunft positiv entgegenund hat sich damit arrangiert. Den Ballast, den Frust, dieTrauer der letzten Jahre – all das hat sie abgelegt, wie einlöchriges T-Shirt, das sie aussortiert hat. Für mich ist dasunmöglich.

Als könnte Mom meine Gedanken lesen, mustert siemich von Kopf bis Fuß. »Ach, da fällt mir ein: Bevor dieSchule anfängt, sollten wir dringend mal einkaufen gehen.Deine Klamotten sind… Ich finde, sie erwecken einen fal-schen Eindruck von dir.«

Ich schlucke und blicke auf meine verblichene schwarzeJeans und die ausgetretenen Chucks hinunter. »Schämstdu dich etwa für mich? Was ist an meinen Klamotten bitteschön falsch?«

Ich hasse es, mich mit Mom zu streiten. Sosehr ich siefür ihr Verhalten verurteile – sie ist alles, was mir auf dieserWelt noch geblieben ist. Aber ich habe das Gefühl, dasswir in letzter Zeit kein einziges richtiges Gespräch mehrmiteinander geführt haben. Jeder Versuch endet immernur in Vorwürfen und enttäuschtem Seufzen.

»Natürlich schäme ich mich nicht für dich.« Mom lä-chelt mir aufmunternd zu. »Du bist mein einziges Kindund gleichzeitig der wichtigste Mensch in meinem Le-ben.«

Ich sollte es lassen, aber da ist diese Stimme in mir, die

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Konter geben will. Sie ist so übermächtig und lässt sichnicht länger unterdrücken. »Ach, tatsächlich?«, bricht esaus mir heraus. »Warum sind wir dann aus Boston wegge-zogen? Warum sind wir hier in Lewisville gelandet, wo ichnichts und niemanden kenne, wenn ich für dich ja ach so

wichtig bin? Warum mussten wir so überstürzt weg, dassich nicht mal mehr mein letztes Highschooljahr an meineralten Schule machen kann?«

Alles in mir brodelt, und die Gefühle, die ich die ganzeZeit weggeschoben habe, machen sich jetzt Raum. Ichkönnte platzen vor Wut, Trauer und Enttäuschung. Seitsie mir zum ersten Mal mit diesem Leuchten in den Au-gen von Roger und seiner Ranch im kanadischen Block-hausstil erzählt hat, habe ich mich wirklich bemüht, michfür meine Mom zu freuen. Doch es geht einfach nicht. So-sehr ich auch will, ich kann kein Teil in ihrem Happily-Ever-After sein. Denn ich gehöre hier einfach nicht hin.Ich fühle mich wie ein Schmutzpartikel, der Moms heileWelt befleckt und ihre Idylle mit Roger stört. Schließlichbin ich das Sinnbild für ihre glücklichen Jahre mit Dad.

Wenn ich im nächsten Sommer achtzehn werde, geheich weg von hier. Zurück nach Boston. Zurück zu Dadund meinen Erinnerungen an ihn. Beinahe jede Wochebin ich in den vergangenen zwei Jahren auf dem Friedhofgewesen, habe frische Blumen auf Dads Grab gelegt undmit ihm gesprochen. Das war der einzige Ort, an dem ichmich ihm nahe gefühlt habe, an dem ich gespürt habe,dass er mich nicht ganz verlassen hat. Aber nun sind wirhier, Hunderte von Meilen entfernt, und da ist nur nochdiese Leere in mir, die sich durch nichts und niemandenfüllen lässt. Mom hat mir durch den Umzug die allerletzte

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Möglichkeit genommen, ihm nah zu sein. Das werde ichihr nie verzeihen.

Ich funkle Mom wütend an, die einen Schritt zurück-weicht. Ihre eben noch so freudige Miene ist wie wegge-wischt. Sie wirkt verletzt. Unwillkürlich umfasse ich meineMitte, wie um mir selbst etwas Halt zu geben. Unter mei-nen Fingern spüre ich kleine Stoffknötchen auf meinemT-Shirt und streiche darüber. Es fühlt sich beruhigend anund irgendwie vertraut. Schließlich habe ich das Shirtschon eine halbe Ewigkeit. Ein Geschenk von Dad …

»Sky, die Welt dreht sich weiter. Dad würde auch nichtwollen, dass wir hier stehen und uns streiten.« Tiefe Faltenbilden sich um Moms Augen und auf ihrer Stirn. Ihreblauen Augen glänzen. »Ich kann nicht mehr.« Die ersteTräne läuft lautlos über ihre Wange, perlt an ihrer Unter-lippe ab und fällt wie in Zeitlupe auf den hellen Laminat-boden.

Und dann tut sie etwas, was sie bisher noch nie ge-macht hat: Wortlos wendet sie sich von mir ab, überwin-det die wenigen Meter bis zur Tür und verlässt das Zim-mer. Sie sieht sich nicht mehr nach mir um, als sie die Türins Schloss zieht. Offenbar hat sie es satt, sich ständig mitmir über die Vergangenheit zu unterhalten und wendetsich lieber der Gegenwart zu.

Überrumpelt stehe ich da und sehe ihr nach. MeineFüße kleben am Laminat, lassen sich nicht anheben, wäh-rend meine Hände sich wie von selbst zu Fäusten ballen.Zu dem Potpourri aus Gefühlen, das ich bei meiner An-kunft in Lewisville in meinem Koffer dabeihatte – Trauer,Angst, Wut und Verzweiflung –, gesellen sich Verwunde-rung … und Hass.

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Ich hasse Mom dafür, dass sie mich hier auf diese ent-legene Ranch gezerrt hat und von mir erwartet, gute Mie-ne zum bösen Spiel zu machen. Ich hasse sie dafür, dass siealles hinter sich lässt – vor allem uns und unsere Familie –und einfach neu anfängt. Ich hasse sie dafür, dass sie michmir selbst überlässt. Und ich hasse sie so sehr dafür, dasssie einfach aufgibt, wo sie sonst zu kämpfen begonnen hat.

Von draußen weht eine kräftige Böe herein. War dasnicht eben noch eine leichte Sommerbrise? Ich umklam-mere mich weiter mit meinen Armen, meine Hände kral-len sich in meine Seiten. Die Kälte fühlt sich bedrohlichan, ebenso wie dieser ganze Neunanfang. Er wird alles ver-ändern. Er wird Mom verändern. Und er wird die Bezie-hung zwischen uns beiden verändern.

Das Meer aus Tränen, das ich in den letzten Jahren ge-weint habe, erschien mir irgendwann unendlich. Als mirnun die ersten Tropfen über das Gesicht laufen, weiß ich,dass es weit über die Unendlichkeit hinausgeht.

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Kapitel 2

Zaghafte Sonnenstrahlen schieben sich zwischen denSchlitzen meines nicht ganz geschlossenen Rollos hin-durch. Im Dämmerschlaf drehe ich mich auf die andereSeite und versuche wieder einzuschlafen. Nichts, was michan diesem Tag erwartet, wäre es wert, aufzustehen. Ebensowie an den vierzehn Tagen zuvor, die ich nun auf dieserRanch lebe. Also bleibe ich liegen.

Doch es nützt nichts. Jetzt bin ich wach, und die Leereöffnet ihre Türen für Bilder, die sich in mein Bewusstseinschleichen. Meine Gedanken beginnen zu kreisen. VollerSehnsucht presse ich die Lider aufeinander und denke andie Zeit, als wir noch eine glückliche Familie waren. Dadstand immer als Erster auf und bereitete für Mom undmich das Frühstück zu. Dabei trällerte er einen alten Hit

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der Stones oder der Beatles. Manchmal auch von beidengleichzeitig, da machte er keine großen Unterschiede.

Dad hatte auch schon am frühen Morgen immer guteLaune. Viel zu gute. Wenn es nach mir gegangen wäre,hätten wir am Frühstückstisch nicht gesprochen, sonderneinfach nur dagesessen und gegessen. Aber Dad machtemir jeden Morgen einen Strich durch die Rechnung.

Dennoch konnte ich ihm dafür nicht böse sein, schließ-lich machte er mir die weltbesten Pancakes mit Ahornsi-rup und Schokostreuseln. Dad wusste eben, wie ich sie amliebsten mochte. Mom brauchte meist länger im Bad. Fürsie stand dann immer ihr Lieblingsschälchen mit Porridgeund frischen Erdbeeren bereit. Die Schale sah aus wie einbreit grinsendes Mickey-Mouse-Gesicht und hatte einenrecht großen Sprung, weshalb ihr auch ein Ohr fehlte.Man musste furchtbar aufpassen, dass man sich nicht dar-an schnitt. Mickey Mouse selbst schien sich nicht daran zustören, dass sie kaputt war. Und auch Mom machte dasnichts aus. Sie hätte sich nie im Leben von der Schale ge-trennt. Wir haben sie in unserem Urlaub in Walt DisneyWorld in Orlando gekauft, kurz bevor …

Eine andere Erinnerung drängt sich in mein Bewusst-sein. Oh nein, bitte nicht! Bevor die Erkenntnis wie einHurrikan über mich hereinbrechen kann, ist der Schmerzschon da. Ein Schmerz, der mir die Luft zum Atmenraubt.

Dann: die Gewissheit. Dad ist tot. Er wird nie wiederPancakes für mich machen können. Nie wieder wird erMoms Porridge in ihrem geliebten Schälchen vorbereiten,denn Mickey Mouse ist noch in Boston – in tausend Ein-zelteile zerbrochen. Nie wieder werde ich Dads gute Laune

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ertragen dürfen. Und nie wieder werde ich mir wünschen,er würde still sein, während ich am Frühstückstisch esseund mein Morgenmuffeldasein auslebe.

Meine Augen sind geschlossen, und einzelne Tränenquellen unter meinen Lidern hervor. Ich hasse diesen Mo-ment, wenn die Trauer mich überfällt und alles in mir mitsich in die Tiefe reißt.

Ihre Sogwirkung ist übermächtig, beinahe schon betäu-bend. Taumelnd befinde ich mich im freien Fall, ehe ichgegen das Gefühl ankämpfen kann und mich auf das Hierund Jetzt konzentriere.

Seit unserem Umzug sind jetzt zwei Wochen vergan-gen. Zwei quälende Wochen, in denen ich mich perma-nent zurück nach Boston gewünscht habe. Jeden Tag den-ke ich an unser altes Zuhause. Mein altes Zimmer fehltmir besonders. So viele Erinnerungen hingen an all denMöbelstücken, Flecken im Teppich und den Urlaubsfotos,die eine ganze Wand meines Zimmers bedeckten. Jetztstapeln sich die Bilder in geschlossenen Kartons.

Einerseits sehne ich mich danach, sie auszupacken unddamit die unvertraute Leere mit ein bisschen Boston zufüllen. Andererseits würde ich es nicht ertragen, wennDads freudiges Lachen mir hier in Lewisville aus den Bil-dern entgegenstrahlt. Das wäre nicht richtig.

An meinem jetzigen Aufenthaltsort ist ohnehin nichtsrichtig. Denn während ich hier auf einer Ranch in Texasfestsitze, ist niemand mehr in Boston, der Blumen aufDads Grab legen könnte. Niemand besucht ihn. Niemandspricht mit ihm. Es ist fast so, als hätte ich ihn ein zweitesMal verloren.

Und was habe ich stattdessen gemacht? Während Mom

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sich mit Elan und Enthusiasmus daran gemacht hat, hierin Lewisville neue Leute kennenzulernen und sich direkteinen neuen Freundeskreis aufzubauen, bin ich bisher allenMenschen aus dem Weg gegangen und habe versucht,mich möglichst unsichtbar zu machen. Zu Moms Leidwe-sen habe ich die Wände meines Zimmers dunkelblau ge-strichen. Dabei habe ich mir das schwärzeste Dunkelblauausgesucht, das ich finden konnte. Jetzt verkrieche ichmich in meiner dunklen Höhle und starre stundenlangdurchs Fenster hinaus auf das rege Treiben der Ranch.

Ich ziehe mir die Decke bis unters Kinn, während wei-tere Bilder in meinem Kopf aufsteigen: Rogers Mitarbeiterversorgen die Tiere, reiten die Pferde und misten Ställeaus. Etwas abseits liegt ein See mit Enten und Schwänen.Sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt. Beneidens-wert! Ein Wald umschließt das texanische Idyll von allenSeiten. Hohe Tannen spenden Schatten und bilden gleich-zeitig einen natürlichen Schutzwall.

Malerische Bilder wie im Fernsehen, nur mit der Ge-wissheit, dass dieser Film nun meine Realität ist. Solangeich mich jedoch hinter dem schützenden Glas verbarrika-diere, bin ich kein Teil davon. Kein Teil von Moms neuerHeimat.

Wenn ich nicht verhungern und verdursten will, mussich allerdings ab und an aus meinem Zimmer heraus, unddabei laufe ich jedes Mal unweigerlich Mom und Rogerüber den Weg. Roger hat zum Glück schnell kapiert, dasswir beide keine Freunde werden. Er akzeptiert, dass ichihn ignoriere, und schenkt mir ab und an ein zuversichtli-ches Lächeln, das er sich allerdings auch sparen kann.

Moms neuer Freund ist mir von Grund auf unsympa-

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thisch, auch wenn ich bisher kaum ein Wort mit ihm ge-wechselt habe – was von mir aus auch so bleiben kann. Al-lein, wie er seinen kleinen Finger abspreizt, während erseinen Espresso trinkt, macht mich wahnsinnig! Außer-dem macht er mit seiner protzigen Ranch auf Lebemann,während seine Angestellten sich um das Wohl seiner Tierekümmern. Ich habe ihn noch kein einziges Mal zu denRindern in den Stall gehen sehen. Nur für die Pferdescheint er etwas übrig zu haben. Die beehrt er ab und anmit seiner Gesellschaft.

Ich verstehe einfach nicht, was Mom an ihm findet. Erist so anders als Dad, trägt immer diese rot-schwarz karier-ten Flanellhemden und dunkle Jeans. Dazu Schuhe, die si-cher mehr gekostet haben als unser klappriger alter Van.Mom schwebt auf Wolke Sieben und lächelt wie einTeenager, wenn Roger mit ihr spricht. Die beiden sind soglücklich, dass ich mich jeden Tag ein Stück weit mehrfehl am Platz fühle. Und ich frage mich, wann es meinerMom auffallen wird, dass ich hier eigentlich nur störe.

Im Moment scheint sie davon noch nichts zu merken,denn sie tut alles, um meinen Widerstand gegen diesesneue Leben zu brechen. Fast täglich redet sie auf mich einund fordert mich auf, endlich unter Leute zu gehen. Malist es ein Footballspiel, zu dem ich mitsoll, mal stehen Piz-za und Kino auf dem Programm. Damit zwingt sie michdazu, mir immer neue Ausreden einfallen zu lassen. Dennein einfaches »Nein« reicht ihr nicht. Sie begreift einfachnicht, dass ich keinen Anschluss suche. Ich werde diesenOrt nie mögen.

Sobald ich das letzte Highschooljahr überstanden habe,kehre ich in meine Heimat zurück und studiere dort an der

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Boston University. Gesetzt dem Fall, ich bekomme einStipendium, denn von Mom und ihrem Gönner möchteich auf keinen Fall abhängig sein. Leider ist die BostonUniversity verdammt teuer. Dabei ist mir das Renommeeder Uni eigentlich ziemlich egal…

All diese Gedanken in meinem Kopf wühlen mich im-mer mehr auf. Dabei habe ich mir vorgenommen, so vielwie möglich zu schlafen. Schlaf ist gut. Schlaf hält lästigeMenschen von einem fern. Ich ziehe mir die Decke überden Kopf und versuche meine Atmung in einen möglichstlangsamen Rhythmus zu zwingen.

Plötzlich ertönt ein Knarzen hinter mir. Jemand öffnetvorsichtig die Tür meines Zimmers. Ich halte die Luft an,wage nicht, mich zu bewegen. Dann läuft dieser Jemandmit leise schlurfenden Schritten durch den Raum. MeinHerz schlägt mir bis zum Hals, und gleichzeitig bin ichwütend. Furchtbar wütend. Weder Mom noch Roger ha-ben das Recht, ohne anzuklopfen in mein Zimmer zu plat-zen. Was bilden sich die beiden bloß ein?

Als ich ein Rascheln aus Richtung des Holzschrankeshöre, erhält meine Wut einen neuen Schub. Schließlichliegt da drinnen mein Tagebuch. Das gibt es ja wohl nicht!Hastig drehe ich mich um, um nachzusehen, was da los ist.In diesem kleinen ledergebundenen Buch stehen all meineintimsten Gedanken. Allein die Vorstellung, Mom oderRoger könnten darin lesen, lässt meinen Adrenalinspiegelkatapultartig in die Höhe schnellen.

Doch kaum habe ich mir die Decke vom Kopf gerissen,sterben die Worte auch schon auf meinen Lippen. Keinedrei Meter von mir entfernt steht, mit dem Rücken zu mir,eine große, breitschultrige Gestalt, die absolut keine Ähn-

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lichkeit mit Roger, geschweige denn Mom hat, und machtsich in aller Seelenruhe an meinen Sachen zu schaffen.

»Was wird das denn, wenn es fertig ist?« Ruckartig set-ze ich mich in meinem Bett auf und beobachte jede Bewe-gung des unbekannten Eindringlings genau. Mein Herzspringt mir beinahe aus der Brust, während ich fieberhaftüberlege, was mir zur Not als Waffe dienen könnte.

Leider bleibt da nicht allzu viel übrig. Neben einem lee-ren Snickerspapier und einem Buch steht nur noch meineWasserflasche auf dem Nachttisch, die allerdings auchschon fast leer und somit eher ungefährlich ist.

»Hey«, wirft mir der Typ beiläufig über die Schulter zu,während ich Papier rascheln höre. Offenbar sucht er etwas.Erst nach einigen Sekunden, in denen ich nur entgeistertauf das Shirt mit der Rückennummer 12 starren kann,dreht er sich zu mir um und fährt sich dabei durch sein inalle Richtungen wirr abstehendes hellbraunes Haar. Mitschlendernden Schritten kommt er auf mich zu. Ich rut-sche unweigerlich bis ans Bettende, um möglichst viel Dis-tanz zwischen uns zu bringen. Für einen verrückten Mo-ment überlege ich, ob ich nach Mom und Roger rufensollte.

»Ich wollte dich nicht wecken«, sagt der Kerl mit klarer,leicht rauchig klingender Stimme.

»Na, das ist dir ja prima gelungen«, raunze ich ihn an.»Was zur Hölle machst du in meinem Zimmer? Wer bistdu überhaupt?« Meine Stimme gewinnt mit jedem Wortan Lautstärke, während er die Ruhe selbst bleibt und michdamit nur noch weiter auf die Palme bringt.

»Was ist denn hier los?«, ruft Mom vom Flur hereinund steht wenige Sekunden später in ihrem Morgenman-

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tel, die Hände in die Hüften gestemmt, ebenfalls in mei-nem Zimmer. So viele Menschen waren noch nie gleich-zeitig in diesem Raum. Zumindest nicht, seit er meinReich ist.

Mom sieht zwischen dem Jungen, der etwas älter als ichzu sein scheint, und mir hin und her. Sie verzieht dabeikeine Miene. Ich befürchte schon, dass sie falsche Schlüsseziehen könnte und will ihr erklären, dass ich keine Ah-nung habe, wer der Kerl ist. (Wobei ich mir ganz sicherbin, dass Mom total angetan wäre, wenn ich endlich maleinen Freund mit nach Hause bringen würde. Enttäuschtwäre sie wahrscheinlich nur darüber, dass ich ihn ihr nichtvorgestellt habe.) Doch sie kommt mir zuvor.

»Ach, Jeff, du bist es nur. Warum schreist du denn solaut, Liebes? Es ist gerade mal kurz nach sechs. Rogerschläft noch, und es wäre gut, wenn wir ihn so lange wiemöglich schlafen lassen könnten. Gestern war ein anstren-gender Tag für ihn. Der Rücktransport von der Vieh-Auk-tion in Texhoma hat wegen eines Unfalls auf der Streckeum einiges länger gedauert, als geplant.«

»Ähm, entschuldige mal, wie würdest du es denn fin-den, wenn plötzlich ein wildfremder Typ ohne anzuklop-fen in deinem Zimmer steht und sich an deinen Sachen zuschaffen macht, während du nichtsahnend in deinem Bettliegst, Mom?« Das letzte Worte presse ich zwischen denLippen hervor. Wie kann sie nur Rogers Wohl über meinsstellen? Das hätte sie früher nie getan. Niemals!

Ich erkenne meine Mom nicht wieder. Was ist aus derfürsorglichen Frau geworden, die sich wie eine Löwenmut-ter vor mich gestellt hat, wenn größere Kinder mir auf demSpielplatz den Weg zur Rutsche versperrt haben? In mir

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tost ein Sturm, der so laut ist, dass es in meinen Ohren zurauschen beginnt.

»So ganz unrecht hat Sky da nicht, Jeff. Du hättest dichnicht einfach in ihr Zimmer schleichen sollen. Was woll-test du denn überhaupt hier?«

»Hab was gesucht. Sorry, tut mir echt leid. Das warnicht cool«, antwortet er knapp und schielt zu mir herüber.

Mom nickt ihm zu und setzt sich dann auf meine Bett-kante. Sie will ihre Hand auf meine legen, aber ich entzie-he sie ihr, indem ich sie unter die Decke schiebe. »Aber woihr jetzt schon mal hier zusammen seid: Sky, das ist Jeff.Ich hatte dir ja schon in Boston von ihm erzählt«, erklärtsie so, als müsste ich von seiner Existenz wissen.

So langsam frage ich mich, ob ich vielleicht doch nochschlafe. Es kann nicht anders sein. Ich muss träumen. Dashier ist ein beschissener Albtraum.

»Ach, hast du das?«, frage ich, während ich an Momvorbeilinse und diesen Jeff beäuge.

»Aber ja!« Mom lächelt. Sie will um jeden Preis fürHarmonie sorgen – wie immer, seitdem wir hierher gezo-gen sind. »Jeff ist doch Rogers Neffe.« Mom sagt das wie-der so, als hätten wir bei einem der Abendessen in diesemHaus darüber gesprochen. Dummerweise hat Mom offen-bar vergessen, dass ich an den gemeinsamen Abendessennicht teilnehme. Mittlerweile hätte es ihr auffallen können,aber anscheinend setzt sie ihre Prioritäten neuerdings an-ders.

»Seine Eltern sind getrennt und leben nicht mehr inLewisville. Er geht auch auf deine Schule und wird zusam-men mit dir das letzte Highschooljahr absolvieren. Ist dasnicht toll? Dann kennst du bereits einen deiner Mitschü-

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ler! Außerdem wird Jeff dir bestimmt dabei helfen, hierAnschluss zu finden.« Sie klatscht so aufgeregt in die Hän-de, als wäre diese Information ein Meilenstein in der Ent-wicklung der Menschheit, als wäre Jeff der erhoffte Messi-as, der diese Welt doch noch vor dem sicheren Untergangbewahren könnte.

Entsetzt starre ich sie an. »Du meinst doch, er ist hierzu Besuch … oder…« Dann dämmert mir, dass meineschlimmsten Befürchtungen wahr werden könnten.»Wann wolltest du mir sagen, dass …«, dabei deute ich inJeffs Richtung, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdi-gen, »… noch jemand hier wohnt, Mom?« Wütend werfeich die Decke zur Seite und springe auf, um möglichst vielAbstand zwischen Mom und mich zu bringen. Plötzlichist mir furchtbar heiß. Meine Wut lässt mich ganz verges-sen, dass ich außer einem weiten schwarzen Shirt, das mirnur knapp über den Po reicht, und einer Unterhose nichtsanhabe. Doch auch als ich dieses nicht unerhebliche Detailbemerke, ist es mir scheißegal.

»Jetzt beruhige dich doch erst mal.« Moms harmoni-sche Bemühungen und ihre Zuversicht beginnen allmäh-lich zu bröckeln. Quer über ihre Stirn zieht sich eine tiefeFurche, und ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlit-zen. »Jeff war den Sommer über bei seiner Mom in Euro-pa, und …«

Ich lasse sie nicht ausreden, falle ihr mitten ins Wort.»Ach, und da dachtest du dir: Kehren wir die klitzekleineTatsache, dass noch jemand mit uns unter diesem Dachwohnt, kurzerhand unter den Teppich und warten ab, waspassiert?«

Jeff vergräbt die Hände in den Hosentaschen und

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schaut sich den Schlagabtausch zwischen Mom und miraus sicherer Entfernung an. Das Schmunzeln auf seinenLippen spricht dafür, dass er sich köstlich amüsiert. So einIdiot! Was zum Henker glaubt er, wer er ist?

»Sky, beruhige dich endlich!« Die vormals so lieblicheStimme meiner Mutter klingt kalt und streng. Sie ist sau-er. Gut so. Mir geht es schließlich nicht anders. »Wenn dumit uns reden würdest, hättest du auch gewusst, dass Jeffheute aus Europa zurückgekommen ist.«

Wir. Seit einigen Tagen spricht Mom nur noch vonWir, wenn sie Roger und sich meint. Früher waren wirbeide Wir. Auch das hat sich schlagartig verändert nachunserem Einzug in diese viel zu glamouröse Millionen-Dollar-Ranch.

Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehrmich ihre Worte kränken. Das aufkommende Gefühl derEinsamkeit unterdrücke ich und konzentriere mich auf dieWut in meinem Bauch.

»Klar, jetzt bin ich also schuld.« Ich halte kurz inne.»Gibt es noch mehr davon?«

Jeff lacht kurz auf, verstummt aber, als ich ihm einenvernichtenden Blick zuwerfe. Mom läuft rot an und siehtaus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken.»Wie redest du denn über Jeff? Was ist nur los mit dir?Warum bist du ständig so auf Krawall aus? Man kann ma-chen, was man will. Du scheinst einfach alles in den fal-schen Hals zu bekommen.«

Ich schnaube verächtlich. »Ich bin auf Krawall aus? Werzerrt mich denn von Zuhause weg, verschleppt mich querdurchs Land in diese Kleinstadt, setzt mir einen neuen

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Stiefvater und jetzt auch noch diesen Typen hier vor dieNase, der in meinen Sachen rumschnüffelt, Mom?«

Die Stimmung in meinem Zimmer ist eisig. Als dieStille zwischen uns beiden kaum noch auszuhalten ist,stößt Jeff plötzlich ein lautes »Ha!« aus. Dann schnappt ersich den Locher, den ich bei meinem halbherzigen Auspa-cken vor einigen Tagen ins nächste Regal gestellt hatte.»Ich will gar nicht länger stören!«, ruft er und will sich vomAcker machen.

»Moment mal!« Er hält in der Bewegung inne, starrtmich fragend an. »Du bist in mein Zimmer eingebrochen,weil du einen Locher brauchst? Ist das dein verdammterErnst?«

Jeff verzieht keine Miene. »Ich muss eben etwas lo-chen.« Gelassen zuckt er mit den Schultern. Anscheinendist er der Meinung, das wäre schon Grund genug, um ge-fühlt mitten in der Nacht in fremde Zimmer einzubrechenund Schreibtische zu durchwühlen. Mit einem undurch-dringlichen Pokerface sieht er mich an, und meine Wutkocht erneut hoch. Am liebsten würde ich den Kerl zumMond schießen – und zwar mit all den anderen siebenein-halb Milliarden Menschen dieses Planeten.

»Also so kommen wir nicht weiter«, versucht Momzwischen uns zu schlichten. Dabei sieht sie Jeff mit einerWärme im Blick an, die mich erschauern lässt.

»Sehe ich ganz genau so, Mom«, erwidere ich trocken.Daraufhin atmet sie aus und schaut mich erleichtert an.»Ich fahre zu Tante Audrey«, lasse ich die Bombe plat-

zen und verschränke dabei eingeschnappt die Arme vor derBrust wie ein Kleinkind, das seinen Willen nicht bekom-men hat. Diese Idee habe ich in den letzten Tagen immer

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wieder durchgespielt, und jetzt scheint mir der passendeMoment, um meine Mom damit zu konfrontieren.

»Wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, gehe ichmal meine Unterlagen für die Schule ordnen.« Damit trolltsich Jeff aus meinem Zimmer. Unfassbar, der Typ!

»Sky, jetzt sei nicht albern. Tante Audrey ist halb blindund taub und lebt seit Jahren in einem Seniorenheim un-ten an den Keys. Sie kennt dich kaum. Außerdem würdesie nicht mal ihre eigene Mutter wiedererkennen, wenn dievon den Toten auferstehen würde.«

»Na, und?«, erwidere ich trotzig. Auch wenn ich mirdessen bewusst bin, dass Moms Geduldsfaden jeden Mo-ment reißen könnte, sehe ich es nicht ein, klein beizuge-ben.

Sie seufzt und erhebt sich langsam von meinem Bett.»Langsam wird das ganz schön anstrengend mit dir unddeinen Zickereien. Das war doch jetzt alles halb so wild,und Jeff hat sich entschuldigt, Schatz.« Sie macht einenSchritt auf mich zu, streckt die Hand aus, um mir übermein langes blondes Haar zu streichen.

Für einen Moment bin ich versucht, die Augen zuschließen und ihre Nähe zu genießen. Wenn ich frühertraurig war oder Kummer hatte, habe ich mich oft mitMom auf die alte geblümte Couch im Wohnzimmer ge-setzt, und sie ist mit ihren Händen eine Ewigkeit durchmein Haar gefahren, hat sich angehört, was vorgefallen ist,und mir dann mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Dochdas liegt weit zurück. Fast schon, als wäre es ein ganz an-deres Leben gewesen. Seither ist so viel passiert. Das, waswir mal waren, werden wir wohl nie mehr sein.

Aber statt mich von ihr berühren zu lassen, weiche ich

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zurück. »Bitte? Der Kerl ist einfach in mein Zimmer ein-gedrungen und hat sich an meinen Sachen zu schaffen ge-macht. Und jetzt tust du so, als wäre das nichts Schlimmesund ich würde mich völlig grundlos aufregen?«

Moms Hand fällt an ihre Seite, und sie verdreht ge-nervt die Augen. »Das war nicht die feine englische Artvon ihm. Das habe ich ja gerne zugegeben. Aber deshalbmuss man doch nicht gleich so ausrasten.« Sie schaut michfür einen Augenblick mit schiefgelegtem Kopf an. »Ichhabe das Gefühl, du ergreifst im Moment jede noch sokleine Gelegenheit, um dich aufzuregen.« Dabei klingtihre Stimme so leise und erschöpft, als wäre ich für sie nurnoch eine Last, etwas, was sie permanent anstrengt.

Ich schlucke. »Du willst mich nicht verstehen.« Als ichspüre, wie die Tränen in mir aufsteigen, wende ich meinenBlick von ihr ab und krieche zurück ins Bett, unter meineDecke.

Ich dachte eigentlich, dass ich mich nicht noch einsa-mer fühlen könnte. Aber jetzt merke ich, dass ich damitunendlich falsch lag.

»Dad hätte mich verstanden«, murmele ich, und versu-che mit aller Kraft das Wehklagen zurückzuhalten, das inmeinem Hals drückt.

Im nächsten Moment höre ich, wie die Tür ins Schlossfällt und der Raum sich mit Leere füllt. Ich schaue mich inmeinem Zimmer um, atme tief durch und betrachte diedunkelblauen Wände. Ich hätte sie doch schwarz streichensollen. Schwarz ist so viel mehr für mich als bloß eine Far-be. Es spiegelt die Trauer und die Einsamkeit tief in mirwider, die jede Faser meines Körpers in Beschlag genom-men haben.

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