5
40 AusihrerTraditionverständlich,ver- stehtdieheutigeMedizindenMen- schenalsauseinerSeele(Bewußt- sein, ratio) undeinemKörperzusam- mengesetzt(„Anthropologischer Dualismus"),wobeidieseralskom- plizierteMaschineaufgefaßtwird, dieesmöglichstgeschmeidigund vollständigzubeherrschengilt.Das BestrebenmedizinischerArbeitund ihreSelbstwertschätzungistdaher aufeinemöglichstgenaueVermes- sungdieserKörpermaschinegerich- tet.Dort,woeinreinsomatologischer Ansatzoffenkundignichtausreicht, demPatientenzuhelfen,wirddieser umdieDimensionder„Seele"zur Psychosomatikerweitert .Obwohl hier,insbesonderebeichronischen Erkrankungen,wesentlicheFortschrit- teerreichtwerdenkonnten,bleibt - so zeigtesschonderNamederDis- ziplin - inderPsychosomatikdie Grundauffassungdesanthropologi- schenDualismuserhalten .DerBe- griffdes„Leibes"'inseinerorigi- närenForm,alsderontologischen undanthropologischenGrundlage menschlicherExistenzwirdkomplett vernachlässigt' .Dieangloamerika- nischeSprachbildung,inderdiewe- sentlichenForschungsergebnisseder SCHWERPUNKT Neo-phänomeno logische Aspekteder diabetischen Polyneuropathie . 11 ,Naturwissenschaftliche'Medizin :. PrimatderKörpermaschinegegenüberdemLeib Medizinveröffentlichtunddiskutiert werden,kenntdenBegriffdesLeibes überhauptnicht,einPhänomen,das dieProblematikverstärkt .DieErfas- sungderKörpermaschinewirdnahe- zuausschließlichüberdiegenaue VermessungseinerMeßdatenge- sucht .ZwischendenPatientenund sichselbsthatderArzt,immereine Maschinegestellt,dieihmzwarsol- cheMeßdatenliefert,denZugang zumPatientenaberverwehrt . LeiblichePhänomenesindabergera- desolche,diedemPatientenwesent- lichnähersindalsdieMeßdaten,die anseinemKörpererhobenwerden können .HierentstehtVerständnis- undSprachlosigkeitzwischenArzt undPatient .Tretendieseauf,ver- suchtdiesichalsNaturwissenschaft mißverstehendeMedizindurchVer- mehrungderMeßdatennäheran denPatientenheranzukommen („Panmathematismus" :=„Wuchern desBerechnungs-undVermessungs- geistes") . Annäherungandenvergessenen Leib ImGegensatzzumKörper,der - bei BetastenundBeschauenunschwer zuerkennen -stetigausgedehntist, zerfälltderLeibineinunzusammen- hängendesKonglomeratvon„Leibes- inseln" .DiesekanndergeneigteRe- zipientansichselbstentdecken,wenn er versucht,ansichherunterzu- spüren,ohnevondenSinnesorga- nenGebrauchzumachen : „Nun mache man abereinmalden Versuch,ebensostetig(wiemansich betastenkann)ansichselbst'herun- terzuspüren , ohneAugenundHände oderauchnurdasdurchEindrücke früherenBeschauensundBetastensbe- reicherteVorstellungsbildvonsichzu Hilfezunehmen .Manwirdgleichse- hen,daßdasnichtgeht.Statteines stetigenräumlichenZusammenhangs begegnetdemSpürendenjetztbloß nocheineunsteteAbfolgevonInseln" (Schmitz,H . :DerLeib ;Systemder Philosophie,Band II, 1 .Teil ;Bonn, 1996,S .25ff .) . KonstanteLeibesinselnfindensich beidiesemVersuchals„orale",„ge- nitale"und„anale"Zoneundalsdie LeibesinselnderFüße .Allediese Leibesinselnhabeneinenunscharfen UmrißundeineüberdieZeitabhän- gigvomGraddermomentanen personalenEmanzipationunter- schiedlicheAusdehnung .DieseUn- "Mit Leib meineichnichtdensichtbarenundtastbarenTier-undMenschenkörper,sonderninersterLiniedas,wasjemandvonsichinder GegendseinesKörpersohneBeistandderfünfSinne(Sehen,Hören,Tasten,Fühlen,Schmecken)spürt,wiez .B .Schmerz,Hunger,Durst, Schreck,Wollust,würgendeAngst,Erleichterung(„EsfälltmirwieeinSteinvomHerzen"),Frische,Mattigkeit,Behagen,Ekel,klarenKopf, müdeBeine .DiesesGegenstandsgebietdeseigentlichenSpürensistdurchstraffeStrukturenderStatikundDynamik,dieicheingehend durchforschtundcharakterisierthabe,übersichtlichorganisiert,seine leiblicheDynamik (mitEngeundWeitealswichtigsterDimension) überträgtsichdurch leiblicheKommunikation, dieGrundformderWahrnehmungundallerSozialkontakteundQuellederDu-Evidenz ( .) '„EinanderesgewichtigeresOpferderreduktionistisch-introjektionistischenVergegenständlichungistderLeib ;ichhabeihn,denBrenn-und DrehpunktallerResonanzundInitiativederMenschenundTiere,gleichsamausderGletscherspaltederVergessenheitzwischenKörperund Seelealseineigenes,statischunddynamischdurcheigentümlicheKategorienüberaschenddurchsichtigstrukturiertesGegenstandsgebiet erstwiederansLichtziehenmüssenunddabeiauchdieleiblicheKommunikationentdeckt ( . . .)(18,S.53) . Schulungsprofi Diabetes3/1997

Neo-phänomenologische Aspekte derdiabetischen …...Versuch, ebenso stetig (wie man sich betasten kann) an sich selbst 'herun-terzuspüren, ohne Augen und Hände oder auch nur das

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Page 1: Neo-phänomenologische Aspekte derdiabetischen …...Versuch, ebenso stetig (wie man sich betasten kann) an sich selbst 'herun-terzuspüren, ohne Augen und Hände oder auch nur das

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Aus ihrer Tradition verständlich, ver-steht die heutige Medizin den Men-schen als aus einer Seele (Bewußt-sein, ratio) und einem Körperzusam-mengesetzt („AnthropologischerDualismus"), wobei dieser als kom-plizierte Maschine aufgefaßt wird,die es möglichst geschmeidig undvollständig zu beherrschen gilt. DasBestreben medizinischer Arbeit undihre Selbstwertschätzung ist daherauf eine möglichst genaue Vermes-sung dieser Körpermaschine gerich-tet. Dort, wo ein rein somatologischerAnsatz offenkundig nicht ausreicht,dem Patienten zu helfen, wird dieserum die Dimension der „Seele" zurPsychosomatik erweitert. Obwohlhier, insbesondere bei chronischenErkrankungen, wesentliche Fortschrit-te erreicht werden konnten, bleibt -so zeigt es schon der Name der Dis-ziplin - in der Psychosomatik dieGrundauffassung des anthropologi-schen Dualismus erhalten . Der Be-griff des „Leibes"' in seiner origi-nären Form, als der ontologischenund anthropologischen Grundlagemenschlicher Existenz wird komplettvernachlässigt' . Die angloamerika-nische Sprachbildung, in der die we-sentlichen Forschungsergebnisse der

SCHWERPUNKT

Neo-phänomenologischeAspekte der diabetischenPolyneuropathie

. 11

,Naturwissenschaftliche' Medizin :. Primat der Körpermaschine gegenüber dem Leib

Medizin veröffentlicht und diskutiertwerden, kennt den Begriff des Leibesüberhaupt nicht, ein Phänomen, dasdie Problematik verstärkt. Die Erfas-sung der Körpermaschine wird nahe-zu ausschließlich über die genaueVermessung seiner Meßdaten ge-sucht. Zwischen den Patienten undsich selbst hat der Arzt, immer eineMaschine gestellt, die ihm zwar sol-che Meßdaten liefert, den Zugangzum Patienten aber verwehrt .Leibliche Phänomene sind aber gera-de solche, die dem Patienten wesent-lich näher sind als die Meßdaten, diean seinem Körper erhoben werdenkönnen. Hier entsteht Verständnis-und Sprachlosigkeit zwischen Arztund Patient. Treten diese auf, ver-sucht die sich als Naturwissenschaftmißverstehende Medizin durch Ver-mehrung der Meßdaten näher anden Patienten heranzukommen(„Panmathematismus" : = „Wucherndes Berechnungs- und Vermessungs-geistes") .

Annäherung an den vergessenenLeib

Im Gegensatz zum Körper, der - beiBetasten und Beschauen unschwer

zu erkennen - stetig ausgedehnt ist,zerfällt der Leib in ein unzusammen-hängendes Konglomeratvon „Leibes-inseln". Diese kann der geneigte Re-zipientan sich selbst entdecken, wenner versucht, an sich herunterzu-spüren, ohne von den Sinnesorga-nen Gebrauch zu machen :„Nun mache man aber einmal denVersuch, ebenso stetig (wie man sichbetasten kann) an sich selbst 'herun-terzuspüren , ohne Augen und Händeoder auch nur das durch Eindrückefrüheren Beschauens und Betastens be-reicherte Vorstellungsbild von sich zuHilfe zu nehmen. Man wird gleich se-hen, daß das nicht geht. Statt einesstetigen räumlichen Zusammenhangsbegegnet dem Spürenden jetzt bloßnoch eine unstete Abfolge von Inseln"(Schmitz, H . : Der Leib ; System derPhilosophie, Band II, 1 . Teil ; Bonn,1996, S. 25ff .) .Konstante Leibesinseln finden sichbei diesem Versuch als „orale", „ge-nitale" und „anale" Zone und als dieLeibesinseln der Füße . Alle dieseLeibesinseln haben einen unscharfenUmriß und eine über die Zeit abhän-gig vom Grad der momentanenpersonalen Emanzipation unter-schiedliche Ausdehnung . Diese Un-

"Mit Leib meine ich nicht den sichtbaren und tastbaren Tier- und Menschenkörper, sondern in erster Linie das, was jemand von sich in derGegend seines Körpers ohne Beistand der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Fühlen, Schmecken) spürt, wie z . B . Schmerz, Hunger, Durst,Schreck, Wollust, würgende Angst, Erleichterung („Es fällt mir wie ein Stein vom Herzen"), Frische, Mattigkeit, Behagen, Ekel, klaren Kopf,müde Beine. Dieses Gegenstandsgebiet des eigentlichen Spürens ist durch straffe Strukturen der Statik und Dynamik, die ich eingehenddurchforscht und charakterisiert habe, übersichtlich organisiert, seine leibliche Dynamik (mit Enge und Weite als wichtigster Dimension)überträgt sich durch leibliche Kommunikation, die Grundform der Wahrnehmung und aller Sozialkontakte und Quelle der Du-Evidenz( .)'„Ein anderes gewichtigeres Opferder reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung ist der Leib ; ich habe ihn, den Brenn- undDrehpunkt aller Resonanz und Initiative der Menschen und Tiere, gleichsam aus der Gletscherspalte der Vergessenheit zwischen Körper undSeele als ein eigenes, statisch und dynamisch durch eigentümliche Kategorien überaschend durchsichtig strukturiertes Gegenstandsgebieterst wieder ans Licht ziehen müssen und dabei auch die leibliche Kommunikation entdeckt ( . . .) (18, S. 53) .

Schulungsprofi Diabetes 3/1997

Page 2: Neo-phänomenologische Aspekte derdiabetischen …...Versuch, ebenso stetig (wie man sich betasten kann) an sich selbst 'herun-terzuspüren, ohne Augen und Hände oder auch nur das

Die diabetische Polyneuropathie zeigtsich auf der Ebene der Körpermaschi-ne als Störung der Nervenleitge-schwindigkeit, als Alteration der ab-leitbaren elektrischen Potentiale undggf. als Alteration klinischer Zeichen(Pallhypästhesie, Hypo-, Reflexive,Anhidrose, Hyp- und Allästhesie etc .) .Alle Versuche, auf diesem Niveau Ver-ständnis für die Beschwerden des Pa-tienten zu bekommen oder Thera-pieoptionen hieraus abzuleiten, sindgescheitert .Ein augenfälliges Symptom diesesfalschen Ansatzes ist der Jahrzehntewährende Versuch, mit Säureappli-kationen die Störung zu beeinflus-sen . Das Beharren auf einer Sicht-weise, die allein die Körpermaschineberücksichtigt, erklärt ggf. auch dasPhänomen, daß sich die Auffassungvon einer „diabetischen Mikroangio-pathie" als okklusive Mikroangio-pathie so lange im Verständnis derBehandler halten konnte (mit derKonsequenz unnötig hoher Am-putationen), erklärt ggf. auch die er-hebliche Latenz, bis Patienten mitDFS einer adäquaten Behandlungzugeführt werden, und ist der Grunddafür, daß somatologisch orientierteBehandele dem Phänomen mangeln-den affektiven Betroffenseins der Pa-tienten so hilflos, z . T. mit heftigemaggressivem Gegenagieren („indo-lenter Patient", „schlechte Com-pliance") gegenüberstehen .Auf der Ebene des Leibes, die für denPatienten subjektive Tatsächlichkeit,also reale Realität konstituiert, be-dingt die diabetische Polyneuropa-

schärfe im Umriß und zeitlich variie- 1renne Ausdehnung machen es für 1die traditionelle Medizin schwierig I

Ibis unmöglich, sie zu erfassen, ist sie 1 Schwerpunkt ,doch nur in der Lage, aufgrund ihrerForschungsmethode „feste Körperirr 1

Izentralen Gesichtsfeld" zu messen 1und, weil meßbar, als real und wich- 1

1tig anzuerkennen .

1

1

Das diabetische, symmetrische, j Haben Sie Fragen zusensible Polyneuropathie-

1 unseren Schwerpunkt- 1Syndrom 1 Beiträgen? Am 25 . Juni 1

1997 gibt es eine Hot-line :line : Sie können Privat- I

I dozent Dr. Bernhard I1 Greitemann (Bad Ro-thenfelde) und Dr. Alex-

1

1 ander Risse (Dortmund) 11 am Telefon erreichen, lund zwar von 10 bis 11 1

11 Uhr. Die Nummern: 1I II II

II II I

I

II

II

II

Privatdozent

1Dr. Bernhard

~

I

Greitemann

I

I

05424 / 220401

I

I

II II II II II

II 11 Dr. Alexander Risse I

0231 / 8482240

Hotline

Fußklinik

Schulungsprofi Diabetes 3/1997

SCHWERPUNKT

thie „Leibesinselschwund", ein Phä-nomen, das die Umkehrung an Am-putierten erhobener Phantomglied-erlebnisse darstellt . Ist bei diesen„Leib ohne Körper" das Problem, fin-

Idet sich bei Patienten mit diabeti-scher Polyneuropathie „Körper ohneLeib". Somatologische Therapie zieltin ihrem Bemühen auf den Körper,die Patienten aber leben in der Weltdes Leibes (subjektive Tatsachen/s. o .) .Ärzte bemühen sich somit auf einerEbene der Vergegenständlichung, diefür Patienten mit Polyneuroapthie-syndrom ohne Beschwerden nichtmehr relevant ist . Hiermit sind Kon-flikte zwischen Arzt und Patient vor-gebahnt. Erschwerend kommt hin-zu, daß nicht, wie vom anthropologi-schen Dualismus angenommen, dasBewußtsein den Körper (die Körper-maschine) steuert, sondern das„Bewußthaben" eine Funktion derleiblichen Ökonomie ist. Behandler(intakte leibliche Ökonomie) und Pa-tienten (defizitäre leibliche Ökono-mie) leben somit in unterschiedli-chen Welten .Entsprechend den o . g . Schilderun-gen bleibt sowohl die neurologische

I

Ials auch die diabetologische Litera-tur bis ins letzte Jahrhundert hineinstumm, maximal stammelnd, wennes um Beschwerdeschilderungen vonPatienten mit Polyneuropathie geht :Immerwiederkehrende Beschwerde-schilderungen („Gefühl des zu en-gen Strumpfes", „Ameisenlaufen",„Brennende Füße", „TonnenschwereBettdecke", „Totes Gefühl") werden

I

Ivermischt mit medizinischen Fach-

I

Itermini, die bereits wieder weit vonder Patientenrealität entfernt sind(Hypästhesie, Analgesie, Pallhyp-ästhesie etc .) .

Patienten und Methode

Das Problem des Patienten mit feh-lenden Beschwerden - in phäno-menologischer Diktion: „reinerLeibesinselschwund" - findet keineoder wenig Beachtung. Der einzige,der diesem Symptomenkomplex zu-

41

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SCHWE RPUNKT

Tabelle 1 : Beschwerdeschilderungen

PnP, Stumme Form

„Ich bin gefühllos bis zum Knie"

„Wenn ich über den Teppich laufe, habe ich das Gefühl, alswürde ich über Kieselsteine laufen"

„Ich merke nicht richtig, ob ich im Schuh drin bin oder obich noch nachschieben muß"

„Am Arm habe ich ein 'taubes Gefühl' : wenn ich mich leichtkratze, ist es, als wäre da eine zweite Haut darüber, wennich fester kratze, merke ich mich wieder"

Konsequenzen für das Körperschema und die Gesamt-befindlichkeit :

„Durch die Gefühlsstörung habe ich immer Angst, daß ichhinfalle, obwohl ich den Stock benutze; dadurch ist meinKörper die ganze Zeit verkrampft - das merke ich richtig"

„Durch die Gefühllosigkeit bin ich unsicher im Laufen ;manchmal falle ich nach vorne ; d . h . ich bin nach vornegekippt ; das sehe ich an der Winkelstellung der Augen ; dannmuß ich meinen Gang mit den Augen korrigieren"

„Gelegentlich laufe ich vor einen Sessel ; und wenn ichruntergucke, dann liegt der Zehennagel daneben, aber ichhabe keine Schmerzen"

„Ich hab schon in Brackel gesagt : „Das Bein gehört mir jagar nicht, das schleife ich immer hinter mir her"'

Prominente Form:

„Gefühl, als ob trockener Zement in den Füßen wäre"

„Gefühl, als würde das Bein bis zum Knie dauernd elektri-siert"

„Es tut weh, als ob jemand von innen darin arbeitet"

„Dann kommt das Gefühl, als ob jemand die Zehen einzelnabreißt, das geht bis oben hin"

„Es brennt wie Feuer, besonders nachts"

Mischform :

„Dieses tote Gefühl und (beginnt zu weinen) dieses schmerz-hafte Kribbeln im Arm (weinend) : schneiden Sie ihn ab"

„Es ist ein taubes Gefühl in den Zehenspitzen, so pelzig,eigentlich nichtpelzig-ich nenne es nurso ; eigentlich ist es wieeine Blase, die unter dem Zelt ist, als ob da Fleisch zu viel wäre,

mindest protopathisch nahegekom-

men ist, ist Boulton mit seinem Be-griff des „painfull-painless leg" .

Diabetische Polyneuropathie bedingt

zunächst „Leibesschwund" mit kon-

sekutiv geänderter Personalität des

Patienten . Aufgrund des oben ausge-

führten neophänomenologischen

Ansatzes wurden an der Medizini-

schen Klinik Nord, Dortmund, Pati-

enten mit neurologischen Zeichen

der PNP, die auf die Eingangsfrage :

„Haben Sie Beschwerden?" mit

„Nein" geantwortet hatten, einer

näheren Befragung unterzogen . Sie

wurden gebeten, über ihre Empfin-

dungen an den Füßen eingehendere

Auskunft zu geben .

Tabelle 1 gibt eine selektionierte

Übersicht über die geäußerten Be-

schwerden . Zu beachten ist hier, daß

Patienten bei phänomenologisch in-

Schulungsprofi Diabetes 3/199 7

aber es ist da kein Fleisch zuviel - ich prüfe das immer s •. e-inach, aber da ist nichts"„Seit 2 Jahren „Schmerzen in beiden Füßen", „alle Zehen sinnttaub"

; „alle Zehen sind ohne Gefühl", „wie kann ich Schmerzen haben, wo ich gar nichtweiß, daß ich Zehen habe?" ; einer-seitca.2 Wochen Ausbreitung auf die Fußsohlen: im Bereich

der MPK : zusätzlich Schmerzen; beim Auftreten ist es „wie mNichts getreten"; „ich stolpere über meine eigenen Beine" ;„die Eltern werden schon gefragt : „trinkt Ihre Tochter?';„trotzdem tut es auch weh" ; „abends ist es, als wenn ichEisklumpen an den Füßen hätte, aber die Füße sind warm -wenn ich sie anfasse . Dann muß sich meine Katze auf die Fügelegen, die ist das schon gewohnt" ; „es gibt Tage, da liege ichden ganzen Tag im Bett, weil ich nicht laufen kann" ; „dieFußpflege ist besonders unangenehm : ich spüre, daß die dadran ist, aber das ist ein ganz komisches Gefühl, ganz unange-nehm; ich sage dann, sie soll aufhören, weil ich das nichtaushalten kann ."

„Die Schmerzen sind ganz komisch ; das sind keine Schmerzen,das ist ein unangenehmes Kribbeln ; von dem könnte ichverrückt werden ; das kommt immer nachts, und sobald ichaufstehe, ist es weg, ich ziehe mir schon Stützstrümpfe an,denn dann spür ich meine Beine, die sind sonst gar nicht da .Der Druck ist dann angenehm, ja, weil ich die Beine spüre .Manchmal, wenn ich ins Bett gehe, stecke ich die Beinezwischen die Matratzen, das macht auch Druck, dann kann ichschlafen . Die Leute können das nicht verstehen, wenn ichihnen von dem Kribbeln erzähle . Da hat mich übrigens auchnoch kein Arzt nach gefragt, die interessiert das überhauptnicht . Einmal war ich bei einem, dem habe ich das erzählt, derhat mir dann sofort ein Medikament gegeben, mit-cid oder soähnlich, das hat überhaupt nicht geholfen ."

„Kein Gefühl in den Füßen, besonders seitlich / fühlt sichunsicher beim Gehen, muß einen Stock benutzen / StändigesKältegefühl in den Füßen : „Ich habe kein Blut mehr im Körper"/ Dann wird es plötzlich ganz heiß und brennt / Beim Gehendas Gefühl, „als ob jemand die Füße nach hinten wegziehenwürde / Zu Beginn der Beschwerden (vor 1,5 Jahren) : an denZehen das Gefühl, „als würde dauernd kalte Luft angeblasen"/ Jetzt beim gehen : „Auch ganz kleine Kieslsteine merke ichdurch die Schuhsohle - die tun sehr weh" / Benutzung einesGehstockes: „Ohne Stock fühle ich mich beim Gehen zuunsicher" und „Die Schmerzen im Rücken werden weniger,wenn ich den Stock benutze"

duziertem Nachfragen auch positive

Symptome äußerten .

Ebenen der Interpretation von

Patientenbeschwerden

Neben der menschlich anrührenden

Dimension der geschilderten Be-

schwerden, die auf der rein meßtech-

nischen Ebene nicht erfaßt werden,

lassen neophänomenologische Ge-

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SCHWERPUNKT

Tabelle 2Interpretationsniveaus derdiabetischen Polyneuropathie

BEISPIEL 1Beschwerde :„1 feel as though I'am walking onstumps", or „1 feel there is a layer ofsomething ever my skin" (2)

Panmathematisch :„Negative symptoms ( . . .) includereduction of cutaneous touch-pressuresensivity and hypalgesi"a (2)„Both large and small fiber modalitiesmay be involved ( . . .) a disproportio-nale loss of large fiber functions . . ."(4)

Phänomenologisch :„Hier scheint ein Entfremdungser-leben im Spiel zu sein, das nicht denganzen Leib oder, wie beiDepersonalisation und Derealisation,den ganzen Menschen betrifft, son-dern nur die einzelne, neuropathischgestörte Leibesinsel ( . . .) . Die Chan-cen taktiler Einleibung oder, wie manvolkstümlichersagt, desAufnehmensvon Kontakt in der Berührung, dürf-ten durch eine solche Störung imSinne eines partiellen Entfremdungs-erlebens beeinträchtigt sein" (15)

BEISPIEL 2 :Symptom :Pallhypästhesie

Panmathematisch :„( . . .) hängt vermutlich mit der Unfä-

higkeit geschädigter, insbesondereentmarkter Nervenfasern, Impuls-serien frequenzgetreu zu leiten, zu-sammen" (5)

Phänomenologisch :Schwer gestört, dürfte dagegen dervitale Antrieb auf den betreffenden,neuropathisch affizierten Leibesinselnsein; fruchtbar wird hierdie Hypothe-se, daß es einen vitalen Antrieb nichtnur für den Leib im ganzen gibt,sondern auch für die einzelnen Leibes-inseln ( . . .), vielleicht besonders imBereich der rhythmischen Schwin-gung, wofür der öfters hervorgeho-bene Ausfall des Vibrationsempfin-dens sprechen könnte (15) .

sichtspunkte verschiedene Deutun-gen zu, die näher an die Patienten-

realität herankommen und mögli-cherweise therapeutische Optionenbieten, die bisher nicht genutzt wer-den konnten .Tabelle 2 zeigt zunächst ein Literatur-beispiel einer Patientenbeschwerde

(Beisp. 1), anschließend ein Patienten-beschwerden verkürzend zusammen-fassendes neurologisches Zeichen

(Beisp . 2). Beide Begrifflichkeitenwerden dann auf den beiden unter-schiedlichen Interpreationsniveaus,dem panmathematischen auf derEbene der „Körpermaschine", undanschließend dem neophänomeno-

logischen auf der Ebene des Leibesbeleuchtet .Während der panmathematische Zu-gang, wenngleich wesentliche Deu-tungen zur Genese bietend, diePatientenrealität außer Acht läßt unddie therapeutischen Konsequenzendem Zufall der ärztlichen Charakter-organisation überläßt, bietet der neo-phänomenologische Zugang Ansät-ze zur Deutung der geänderten leib-lichen Ökonomie und somit zu ei-nem vertieften Verständnis der Situa-

tion des Patienten .Unabhängig vom philosophischenHintergrund zeigen die Patienten-

schilderungen, daß es sich bei diabe-tischer PNP auch bei fehlenden pro-minenten Symptomen um ein schwe-

res Krankheitsbild handelt, das zuweiterer phänomenologischer For-schung Anlaß geben sollte, wenn wirunsere Aufgabe ärztlichen Handelns,

also Leiden zu lindern, nicht überdem Faszinosum technischer Beherr-schung von Detailproblemen verges-sen wollen .

Patienten intensiv befragen

Als erste Konsequenz schlagen wirvor, bei Beleg neurologischer Zei-chen (Pallhypästhesie, Areflexie etc .),Patienten intensiviert zu befragen(„Können Sie bitte Ihre Empfindun-gen an den Füßen näher beschrei-ben?"; „Wie fühlt sich das an, 'nichts'zu spüren?" etc .) .

Schulungsprofi Diabetes 3/1997

Angesichts der schweren Beeinträch-tigung der Patienten, insbesondereauch der tiefgreifenden Störung des

„In-der-Welt-Seins", bestand diezweite Konsequenz an der Medizini-schen Klinik Nord darin, auch beifehlenden faßbaren Beschwerden,bewußt und aktiv auf das Problemder Suizidalität einzugehen : „VielePatienten fühlen sich durch das akti-veAnsprechen der möglichen Suizid-gedanken entlastet und - erstmalig -auch in der Schwere ihres Leidensverstanden ."Die dritte Konsequenz besteht in demin unserer Abteilung bereits umge-setzten Vorschlag, die diabetischenPolyneuropathien zusätzlich neo-phänomenologisch zu klassifizieren(Tab. 3) .

Anthropologische Dimensionen

Das diabetische Polyneuropathie-Syndrom ist unabhängig von den

quantifizierbaren Parametern eine

Tabelle 3Klassifikation der diabetischenPolyneuropathien

1 . Phänomenologisch stummeForm :Neurologische Zeichen ohne„positive" Beschwerden*Reiner Leibesinselschwund :Störung des vitalen Antriebs,Entfremdungserlebnisse; Störungvon Intensität und Rhythmizität

2. Phänomenologisch prominenteForm :Neurologische Zeichen+ Beschwerden*Dissoziierte Leibesinselbildung;Störung der leiblichen Ökonomie derbetroffenen Leibesinsel

3. Mischform :Neurologische Zeichen + Beschwer-den + Anzeichen des Leibesinsel-schwundes*Störung des vitalen Antriebs bei erhal-tener protopathischer und epikritischer

Tendenz der leiblichen Ökonomie derLeibesinseln

I

*Neophänomenologische Deutung inbezug auf die Kategorialanalyse derleiblichen Ökonomie

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schwere Beeinträchtigung des Pati-enten, nicht nur seines Wohlbefin-dens, sondern auch seiner gesamtenPersonalität . Ohne hier näher auf dieanthropologischen Dimensionen desProblems oder seiner therapeutischenOptionen eingehen zu können (wei-terführende Literatur bei Schmitz undRisse, s . u .), kann die vorgeschlageneKlassifikation helfen, eine größereSensibilität für das Leiden der Patien-ten zu entwickeln . In der jetzigenSituation apparategesteuerter Medi-zin ist es schon ein Fortschritt, Fragenformulieren zu können, auch wennspektakuläre Lösungen noch nicht inSicht sind .

Therapeutische Optionen?

Zur Entwicklung therapeutischerOptionen bietet der neophänome-nologisch zentrale Begriff der „Ein-leibung" (= Bildung eines übergrei-fenden Leibes mit konsekutiver Um-organisation der je individuellen leib-lichen Ökonomie) Ansätze sowohlder Hypothesengenerierung als aucheiner systematischen Betrachtungs-weise derArzt-Patient-Interaktion . Zu-sätzlich werden z . B. bisher nur schwererklärbare und die somatologischeForschung unkontrolliert verzerren-de„Placebo-Effekte" wissenschaftlichexakt eingrenzbar. Ein Umdenken inder Forschungsmethodologie, die al-lerdings auch eine Umverteilung derderzeit betoniert kanalisierten For-schungsgelder und Sponsorressour-cen impliziert, scheint sowohl ausneophänomenologischer Sicht alsauch durch die sich rasch änderndensozioökonomischen Bedingungendringend angeraten .

Literatur beim Verfasser

Dr. Alexander RisseMedizinische Klinik Nord - Diabetologie(Dir . Prof . Dr . B . Angelkort)Münsterstraße 24044145 Dortmund

Bitte senden Sie0 . . .Videos „echt Intensiv!"

Bestell-Nr . 420228ä 49,90 DM/46 sFr/364 öS

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Schulungsprofi Diabetes 3/199 7

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