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Ober die bürokraUsdie Organisation in Ostasien Von Karl BilDger (Bonn) I. Japan: Das Ringisei und seine Problematik 1. Das bürokratische Verfahren 2. Heutige Ansichten über seine Herkunft und Idee II. Die chinesische Parallele 1. Das chinesische Entscheidungsverfahren und seine Geschichte 2. Die Idee des Verfahrens: Beamtenverantwortung und Rechtsstaat- lichkeit 3. Ein Exkurs über Schweden und Finnland 4. Zusätzliche Uberlegungen: Kampf gegen Amtsmißbrauch und Kor- ruption III. Vergleich der japanischen und chinesischen Institutionen 1. Das genetische Verhältnis 2. Die Ideen China Japan IV. Gegenwartsprobleme des Ringisei I. Japan: Das Ringisei und seine Probleme 1. Das Verfahren Das Ringi 1 -Verfahren ist die japanische Art der bürokratischen Abwick- lung und Entscheidung von Geschäftsvorgängen in Behörden und größeren Unternehmen der Privatwirtschaft. Es erfreut sich zunehmender Beachtung im heutigen Schrifttum, auch dem des Westens. Das Interesse resultiert aus dem weiten Anwendungsbereich des Verfahrens in Japan, aus seiner Ab- weichung von dem im Westen üblichen System sowie aus der Diskussion in Japan über seine Reform. In Japan wohl jedermann durch die Erfahrung- wenn auch nicht dem Namen nach- bekannt ist das System für Ausländer, die an ein anderes System gewöhnt sind, zuweilen Anlaß für Irritationen und Mißverständnisse. Ringisei ist eine der möglichen Arten, wie in einer bürokratischen Orga- nisation eine Entscheidl).Ilg zustandekommt Kurz gesagt erfolgt nach dem Ringi-System die bürokratisch-technische Abwicklung derart, daß der Vor- gang, der zu entscheiden ist, auf der untersten Stufe der bürokratischen 1 Der Ausdruck Ringi bedeutet im ersten Teil (rin) eine Eingabe an einen Höher- gestellten, in seinem zweiten Teil .beraten•, .erörtern• u. ä. Sei heißt Struktur, System, Institution; Ringisei ist also das Ringi-System oder das Ringi-Verfahren. Auf eine VerdeutsdlUng des Ausdrucks wurde verzidltet, weil es an einem treffen- den Wort in europäisdlen Sprachen fehlt. 141

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Ober die bürokraUsdie Organisation in Ostasien

Von Karl BilDger (Bonn)

I. Japan: Das Ringisei und seine Problematik 1. Das bürokratische Verfahren 2. Heutige Ansichten über seine Herkunft und Idee

II. Die chinesische Parallele 1. Das chinesische Entscheidungsverfahren und seine Geschichte 2. Die Idee des Verfahrens: Beamtenverantwortung und Rechtsstaat­

lichkeit 3. Ein Exkurs über Schweden und Finnland 4. Zusätzliche Uberlegungen: Kampf gegen Amtsmißbrauch und Kor­

ruption

III. Vergleich der japanischen und chinesischen Institutionen 1. Das genetische Verhältnis 2. Die Ideen

China Japan

IV. Gegenwartsprobleme des Ringisei

I. Japan: Das Ringisei und seine Probleme

1. Das Verfahren

Das Ringi 1-Verfahren ist die japanische Art der bürokratischen Abwick­lung und Entscheidung von Geschäftsvorgängen in Behörden und größeren Unternehmen der Privatwirtschaft. Es erfreut sich zunehmender Beachtung im heutigen Schrifttum, auch dem des Westens. Das Interesse resultiert aus dem weiten Anwendungsbereich des Verfahrens in Japan, aus seiner Ab­weichung von dem im Westen üblichen System sowie aus der Diskussion in Japan über seine Reform. In Japan wohl jedermann durch die Erfahrung­wenn auch nicht dem Namen nach- bekannt ist das System für Ausländer, die an ein anderes System gewöhnt sind, zuweilen Anlaß für Irritationen und Mißverständnisse.

Ringisei ist eine der möglichen Arten, wie in einer bürokratischen Orga­nisation eine Entscheidl).Ilg zustandekommt Kurz gesagt erfolgt nach dem Ringi-System die bürokratisch-technische Abwicklung derart, daß der Vor­gang, der zu entscheiden ist, auf der untersten Stufe der bürokratischen

1 Der Ausdruck Ringi bedeutet im ersten Teil (rin) eine Eingabe an einen Höher­gestellten, in seinem zweiten Teil .beraten•, .erörtern• u. ä. Sei heißt Struktur, System, Institution; Ringisei ist also das Ringi-System oder das Ringi-Verfahren. Auf eine VerdeutsdlUng des Ausdrucks wurde verzidltet, weil es an einem treffen­den Wort in europäisdlen Sprachen fehlt.

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Hierarchie der Behörde eingeht und bearbeitet wird. Der unterste Bearbeiter vermerkt seine Entscheidung und begründet sie soweit erforderlich. Von ihm läuft der Vorgang die Stufen der Organisation über Sektionen, Referate, Unterabteilungen und Abteilungen hinauf bis zum Chef der Behörde oder des Betriebes. Jeder von ihnen hat zu dem Entscheidungsvorschlag Stellung zu nehmen, sei es zustimmend, was bei Routineangelegenheiten und üblicher­weise durch einfachen Stempelaufdruck geschieht, sei es ergänzend, ab­ändernd oder ablehnend. Erst mit dem Stempel des Leiters der Behörde oder des Betriebes ist die Entscheidung perfekt. Das Schriftstück kehrt dann zu dem ersten Bearbeiter zurück und er fertigt die Antwort aus.

Das Ringisei setzt ebenso wie das in westlichen Ländern übliche System eine bereits fortgeschrittene bürokratische Organisation nach dem Ressort­prinzip und mit einem hierarchischen Aufbau voraus. Im Unterschied zu dem Ringisei ist aber bei uns regelmäßig schon eine mittlere, häufig auch eine verhältnismäßig niedrige Stufe in der Organisation mit der abschließenden Bearbeitung und der endgültigen Entscheidung betraut. Die übergeordneten Beamten sehen regelmäßig nichts von den Vorgängen, es sei denn, es han­dele sich um besonders wichtige oder grundsätzlich neue Entscheidungen. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß unser System zur Verwendung von sachverständigen Spezialisten tendiert, während das Ringisei - wenigstens ursprünglich - auf Generalisten zugeschnitten ist. Am bedeutsamsten -auch heute noch - aber ist, daß bei dem Ringisei eine größere Anzahl von Mitgliedern der Organisation an der Entscheidungsbildung selbst - und nicht nur mit Entwürfen nach Weisung - beteiligt ist, insbesondere auch solche der unteren Stufen. Das ist von nicht zu unterschätzender psycholo­gischer Auswirkung. Ihnen wird eine selbständige Entscheidung abverlangt, womit sie auch eine größere Verantwortung mittragen. Bei unserem System überwiegt dagegen der Grundsatz der Weisungsbefugnis der höheren Ränge, der die unteren Stufen unterworfen sind. Die unteren Beamten müssen bei ihren Entwürfen den Weisungen ihrer Vorgesetzten folgen, während sie nach dem Ringi-System eigenständig und mitverantwortlich einen Vor­sc:hlag zu machen haben.

Es liegt nahe anzunehmen, daß diese prinzipiellen Unterschiede sich in in der Praxis verwischen und keine bedeutsame Rolle spielen. Daß dem aber nicht so ist, daß vielmehr den Auswirkungen erhebliche praktische Bedeu­tung zukommt, zeigen die Untersuchungen des von der japanischen Regie­rung eingesetzten "Rates für die Reform der Offentliehen Verwaltung" wäh­rend der letzten 25 Jahre sowie die jüngsten Diskussionen über das Thema 1•

2. Heutige Ansichten über Herkunft und Idee des Ringisei

Nach Ansicht japanischer Kenner der Materie ist das Ringi-System histo­risch noch wenig erforscht worden 3• Seine Entstehung wird in die Meiji-Zeit,

1 Hierüber s. besonders K. TSUJI: "Decision-making in the Japanese government•, in: R. E. WARD (ed.): Political development in modern Japan, Princeton 1968, p. 470.

1 TSUJI (Anm. 2) p. 457.

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also in die Zeit nach 1868 verlegt•. Die maßgebenden Ideen dabei seien traditionelle Werte gewesen, die aus der japanischen Familiengruppe stamm­ten, nämlich Patemalismus und das Consensus-Denken. M. Y. Yoshino be­merkt dazu 5 :

"Der dem Ringi-System zugrunde liegende Gedanke beruht weit­gehend auf dem der Entscheidungsbildung, wie sie im traditionellen japanisdlen Familiensystem üblich ist. Ebenso wie die Familie die grund­legende Struktur für alle Arten von Organisationen abgab, so diente die Konzeption, die der Entsdleidungsbildung in der Familie zugrunde liegt, als Musterbeispiel für das Treffen von Entsdleidungen in anderen Organisationen. •

Nachdem Yoshino dann die "absolute Autorität" des Familienoberhaupts, "die Entsdleidungen für die ganze Familie zu treffen" festgestellt hat, fährt er fort:

"Außer diesem gab es in dem traditionellen Familiensystem, beson­ders wenn es sich um ein Handelshaus handelte, noch ein zweites, ebenso widltiges Element, das die moderne Körpersmatt übernahm. Das war die starke Betonung von Zusammenarbeit, Harmonie und Ein­verständnis (consensus) e innerhalb der Gruppe gemäß den traditionel­len, sidl am Kollektiv orientierenden Werten."

Nach diesem Vorbild und gemäß den Anforderungen der Meiji-Zeit sei "das Ringi-System erfunden" 7 worden. Ähnlich spricht Professor K. Tsuji von einem "patriardlalisdlen Element" ähnlich dem in der feudalen Familie; ''The interest of the company comes first, not the interest of the individuals. The company is thought of as a family" 8• Professor Chie Nakane bezeidlnet das Ringisei als "eine Art Consensus-System" "Superiors do not force their ideas on juniors; instead juniors spontaneously lay their opinions before their superiors and have them adopted" 11 •

Gegen die Ableitung des Ringi-Verfahrens von Vorbildern und Werten des traditionellen japanischen Familiensystems erhebt Professor B. S. Silber-

4 TSUJI (Anm. 2) p. 457; M. Y. YosHINo: Japans Management, Düsseldorf 1970, p. 351 (engl. Ausgabe: Japan's managerial system, MIT Press 1968, p. 257). Japa­nische Literatur gibt verdienstvollerweise D. F. HENDERSON: Foreign enterprise in Japan, Chapel Hil11973, p. 421 Note 52 an.

5 YosmNo (Anm. 4) p. 350. 6 Das Wort .consensus• habe ich nach der amerikanischen Ausgabe (p. 257) in

die deutsche Ubersetzung eingefügt. 7 YosHINo (Anm. 4) p. 351. S. ARAI: An intersection of Bast and West, Tokyo 1972,

p. 132 sagt: •rungi may derive from the T'ang governmental system •. ARIA ist, soweit ich in der mir zugänglichen Literatur sehe, der einzige, der diese Vermutung äußert, ohne sie allerdings zu begründen. Offenbar stammt seine Vermutung aus der all­geme!nen Erwägung, daß viele der japanischen politischen Institutionen zur Zeit der T ang aus China übernommen wurden.

8 TSUJI (Anm. 2) p. 457. . ' . CHIE Nakane: Japanese society, Berkeley 1972, p. 65. Ähnlich sagt Ruth BENEDICT m Ihrem bekannten Werk: The Chrysanthemum and the sword, Boston 1946, P· 5~1: .. In any affair of importance the head of the family of any standing calls a famlly council at which the matter is debated, ... The master of the house saddles hirnself with g_reat difficulties if he acts without regard for group opinions. • Siehe hierzu auch Lily ABEGG: Japans Traum vom Muster land, Wien 1973, p. 98 f. und 42.

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man (Duke University) "starke Einwände• 10• Unter Berufung auf eine Be­merkung von Tsuji geht er davon aus, daß das Ringisei erst während der Meiji-Zeit ausgebildet worden ist. Sodann vergleidlt er das japanisdle Ver­fahren mit dem System, das heute in modernen amerikanischen Organisatio­nen der Wirtschaft und der Militärbürokratie üblidl ist, und findet dabei

· Ubereinstimmungen in wesentlidlen Punkten. Er kommt zu dem Schluß, das Ringisei sei die Lösung eines allgemeinen Problems, vor das sich viele Organisationen gestellt sehen, wenn sie sidl ausweiten und spezialisieren, gleidlzeitig aber audl Stabilität und Kontinuität des politischen Systems an­streben.

Die anregenden Ausführungen von Silberman werfen im einzelnen eine Fülle von Fragen auf, denen hier aber nicht nachzugehen ist. Zuzustimmen ist ihm darin, daß es sidl um ein generelles Problem für jede sich entwik­kelnde Bürokratie handelt. Unbefriedigend ist aber, daß seine Methode keine Erklärung dafür gibt, warum gerade die besondere Art des Entschei­dungsverfahrens in Japan ausgebildet wurde, die sidl grundsätzlich von dem amerikanischen - und dem audl sonst in westlichen Ländern üblichen -Verfahren unterscheidet. Diese Frage verschwindet völlig aus der Erörte­rung. Die Antwort bleibt offen. In den folgenden Ausführungen möchte ich versuchen, u. a. hierauf eine Antwort zu finden.

11. Die chinesische Parallele

Wenn ein Vergleich des japanischen mit modernen amerikanischen Syste­men zur besseren Erkenntnis der fremden - und wohl auch der eigenen -Organisationsprinzipien beiträgt, so liegt es nicht fern zu fragen, ob nicht auch aus einem Vergleich mit China, dem geographischen und kulturellen Nachbarn J apans, eine weitere Klärung bisher offen gebliebener Fragen ge­wonnen werden kann. Immerhin ist bekannt, daß China schon früh ein gut organisiertes und durchdachtes Behörden- und Verwaltungssystem aus­gebildet hat, und es ist erinnerlich, daß die besten und sachverständige Köpfe im Europa des 18. Jahrhunderts das chinesische Regierungssystem für das beste der damaligen Zeit hielten. Diese Ansicht, die damals auch von jenen geteilt wurde, die im übrigen den chinesischen Dingen kritisch gegen­überstanden, gilt zwar heute nicht mehr unter den Gelehrten, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht, aber die Tatsache der frühen und eigenständi­gen Ausbildung einer umfänglichen und spezialisierten Verwaltungsorgani­sation in China ist unbestritten. Damit waren also in China jene Voraus­setzungen gegeben, an die Silberman bei seiner Untersuchung anknüpft. Wie haben, so ist zu fragen, die Chinesen das generelle Probleme des bürokra­tischen Entscheidungsverfahrens gelöst, als sie vor dieser grundsätzlichen Frage der Verwaltungsorganisation standen?

1. Das chinesische Entscheidungsverfahren und seine Geschichte Noch im Jahre 1947 waren für Anträge bei chinesischen Behörden ge­

druckte Formulare zu benutzen, die in Papierläden käuflich und auf einfach-

11 B. S. SILBERMAN: •Ringisei- Traditional values or organizational imperatives in the Japanese upper civil service• in: JAS 32, 251-264 (Febr. 1913).

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stem Papier gedruckt waren. Aus dem Vordruck für diese Routineanträge ergab sich die Arbeitsweise der chinesischen Behörden auch für jene, die mit der Behördenpraxis nicht aus eigener Erfahrung vertraut waren. Das For­mular war in Felder aufgeteilt, die jeweils mit Hinweisen für die Ausfüllung versehen waren. Ein Teil der Felder war von dem Antragsteller auszufüllen, der Rest für den inneren Dienstverkehr der Behörde freizulassen. Für den Antragsteller waren Felder für Datum, Namen, Adresse sowie für die For­mulierung des Antrags und seine Begründung vorgesehen. Der für die Be­hörde reservierte Raum des Formulars zeigte zunächst den Platz, wo das Ein­gangsdatum zu vermerken und sodann ein unterer Beamter seinen Entschei­dungsvorschlag einzutragen und zu begründen hatte. Anschließend waren Rubriken für Stempel und Bemerkungen höherer Beamter und letztlich für den Behördenchef vorgesehen. Am Schluß auf dem Vordruck war der Platz für den Abgangsvermerk der Antwort und für etwaige weitere innerdienst­lieile Verfügungen wie "Ablegen., usw.

Bürokratischer Geschäftsgang und Entscheidungsverfahren innerhalb einer chinesischen Behörde im Jahre 1947 waren also die gleichen wie bei dem japanischen System des Ringi. Sie wichen in entscheidenden Punkten von unserem System ab.

Das noch im Jahre 1947 geübte Verfahren findet sich bereits im T'ang­Gesetzbuch (4. Artikel im 5. Kapitel) 11• Da dieses Gesetzbuch mit nur weni­gen Änderungen das Gesetzbuch der vorangehenden Sui-Dynastie (581-618) wiedergibt, und dieses wiederum eine Kompilation aus früheren Gesetz­büchern ist, dürfte das bürokratische Verfahren schon vor der Sui-Dynastie ausgebildet worden sein. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung mag die Feststellung genügen, daß das chinesische Entscheidungsverfahren, das das gleiche ist wie das Ringisei, auf ein hohes Alter zurückblicken kann.

Das chinesische Verfahren hatte zur T'ang-Zeit jedoch noch keinen be­stimmten Namen, wenigstens habe ich weder den Ausdruck pin-yi 12, der die dlinesische Lesart des japanischen Wortes Ringi ist, noch einen anderen Namen für das Verfahren in der T'ang-Zeit oder früher feststellen können. Auch im T'ang-Gesetzbuch kommt der Ausdruck nicht vor. Er findet sich­offenbar erstmalig - zur Sung-Zeit, aber auch hier noch nicht mit einer präzisen Bedeutung. Als Fachausdruck scheint er erst im Ming-Gesetzbuch 13

aufzutauchen.

11 Das Verfahren habe ich früher kurz beschrieben in Studla Serica VI (1947) 171. 1! Das hier mit pln wiedergegebene chinesische Zeichen wird auch plng, ursprüng­

lich auch lin gelesen. In der Lesart lin bedeutet es gemeinhin einen Kornspeicher, das Einliefern von Korn in ihn und auch das Empfangen aus ihm. Von der Bedeutung der Zuteilung aus einem öffentlichen Speicher kommt dann die Bedeutung: etwas vom Vorgesetzten erbitten und empfangen. Siehe KARLGREN: Analytical dictionary, p. 179 f. Nr. 554. Ins Japanische ist offenbar die Lesart hin oder lin gelangt, die zu rin wurde.

11 Nach MoaoHAsm: Dai Kanwa Jiten 25127. Siehe Ming-Gesetzbuch Kap. 3 Art. 5. Der Artikel steht in dem Abschnitt über Beamtenwesen. PmLASTRE: te code annamite, 2e ed., Paris 1909, p. 332, übersetzt den Ausdruck pin-yi mit .rapport contenant une delibthation •. Der Artikel im annamitischen Codex stimmt wörtlich überein mit dem im Ming-Gesetzbucb.

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Von dem Ming-Gesetzbuch ist das Wort und auch das Verfahren na<h Annam gelangt, wo wir beides im Codex Gia-Long von 1812 finden 14• Jedoch ist nicht auszuschließen, daß sich die Institution sch?n in einem früheren annamitischen Gesetz findet. Dort habe ich es aber bisher nicht feststellen können. Ebenso waren meine bisherigen Versuche vergeblich, Institution und Wort in Korea nachzuweisen, wo ja auch eine weitgehende Rezeption des chinesischen Regierungs- und Rechtssystems stattgefunden hat.

2. Die Idee des Verfahrens: Beamtenverantwortlichkeit und Rechtsstaatlichkeit

Die Besonderheit des chinesischen und ebenso des Ringi-Verfahrens, die es von dem westlichen System abhebt, ist das Prinzip, sämtliche Beamten des hierarchischen Instanzenzuges in einer Behörde vom untersten Sach­bearbeiter bis zum Behördenleiter nicht nur an der Bearbeitung sondern auch an der Entscheidung selbst zu beteiligen. Jeder muß zu ihr Stellung nehmen und abzeichnen. Diese Eigenart wird erst sinnvoll und die hinter ihr stehende Idee wird deutlich, wenn man das Verfahren mit dem komple­mentären chinesischen System der Beamtenverantwortlichkeit zusammen­hält. Die Zusammengehörigkeit der beiden Institutionen wird audl dadurch bekräftigt, daß das bürokratisdle Entsdleidungsverfahren im amtlidlen Kom­mentar zu dem Artikel über die Beamtenverantwortlichkeit im Gesetzbuch er klärt wird 15•

Der Artikel stipuliert die Verantwortung für die Gesetzmäßigkeit aller behördlichen Entscheidungen in Verwaltung und Justiz 18• Sie traf alle Be­amten einer Behörde, die an eirier gesetzwidrigen Entsdleidung zustimmend teilgenommen hatten, und sie war durch Sanktionen gesidlert. Verantwor­tung war also nicht zu jener "Zuständigkeit" verblaßt wie heute weitgehend in der westlichen Welt, wo Verantwortung häufig im Sinne von Zuständig­keit gebraucht wird. Das chinesische System hielt alle Beamte für verant­wortlich, die eine gesetzwidrige Entscheidung oder Maßnahme vorgesdlla­gen oder für sie votiert hatten, einschließlidl des Behördenleiters, der sie endgültig abgezeidlnet hatte. Wer innerhalb der hierarchisdlen Kette der Behörde nicht für die falsdle Entscheidung gestimmt hatte, blieb von Sank­tionen frei. Ebenfalls blieben alle nachgeordneten Beamte, gleichgültig wie sie votiert hatten, von Verantwortung und Sanktion frei, wenn der Behör­denleiter entgegen vorangegangener unridltiger Vorschläge und Voten sich. für die korrekte gesetzmäßige Entscheidung entschied. Die Sanktionen für

14 PHILASTRE (Anm. 13) p. 332 und 225. 15 Der Ausdruck pin-yi (= Ringi) kommt im Ming-Gesetzbuch in einem Artikel

vor, der allgemein von den Erfordernissen und der Form eines Berichts an einem Vorgesetzten, insbesondere von Throneingaben handelt (s. Anm. 13). Das büro­kratische Verfahren dagegen ergibt sich aus Kap. 1 Art. 27 des Ming-Gesetzbuchs. Dieser Artikel handelt von der Beamtenverantwortlichkeit und in ihm taucht der Ausdruck pin-yi nidlt auf. Siehe für das annamitisdle Gesetzbudl PHILASTRE (Anm. 13) p. 225 und 332.

11 T'ang-Gesetzbudl Kap. 5 Art. 4. Deutsche Ubersetzung in Studia Serica VI (1947) 184.

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gesetzwidrige Entscheidungen war im Gesetzbuch formell in kriminellen Strafen abgestuft ausgedrückt. Diese wurden jedoch in disziplinäre Maß­nahmen umgewandelt, und nur in schweren Fällen verblieb es bei der krimi­nellen Strafe.

Diese Regelung entspricht weder unserem sog. bürokratischen Prinzip, wonadl der zuständige leitende Beamte allein die Entsdleidung trifft, sie abzeidlnet und für sie verantwortlich ist, während sein Stab, den einzu­sdlalten in seinem Belieben steht, nur als weisungsgebundene Hilfskräfte angesehen werden; nodl entspridlt sie einem Kollegialprinzip, das Ab­stimmung vorsieht. Vielmehr wirken bei dem dünesisdlen System auch die unteren Beamten der Hierardlie bei der Entsdleidung mit, und zwar eigen­ständig und selbstverantwortlidl. Sie haben also nidlt etwa nur eine von dem Vorgesetzten generell oder für den Einzelfall angeordnete Entscheidung zu entwerfen und zu begründen. Dementspredlend haben die Junioren, d. h. die rangmäßig niedrigen Beamten, zuerst ihre Entscheidung zu formulieren, wie dies auch bei anderen Gelegenheiten einem chinesischen Grundsatz in politischen Beratungen entspricht. Gemäß ihrer Mitwirkung an der Entschei­dungsbildung tragen die Beamten einen Teil der Verantwortung.

Es handelt sidl also um eine besondere Art gemeinsamer Verantwortung und Haftung, nicht aber um eine Kollektivhaftung im eigentlichen Sinne des Wortes, wie sie übrigens im klassischen chinesischen Recht auch anzutreffen ist. Denn der einzelne Beamte ist nur dann verantwortlidl, wenn und soweit er persönlich an dem Zustandekommen der gesetzwidrigen Entscheidung mitgewirkt hat. Auch sind die Sanktionsfolgen abgestuft nach der persön­lichen Stellung und RoHe, die der einzelne Beamte bei dem Vorgang gespielt hat 17•

Voraussetzung für die Durchführung dieser Art von Verantwortlichkeit war, daß das Zustandekommen der Entscheidung aktenmäßig festgehalten W1Irde und damit nachprüfbar war. Dafür sorgte das "dlinesisdle Ringiver­fahren u. Beide - das bürokratische Entscheidungsverfahren und das System der gemeinsamen Verantwortlichkeit der Behördenmitglieder- gehören zu­sammen. Letzteres ist ohne das erstere nicht durchführbar. Das Prinzip der strengen Verantwortlichkeit der Beamten für gesetzwidrige Maßnahmen findet sich auch sonst in Sondergesetzen über die chinesische Staatsverwal­tung. Es ist die Ausprägung des rechtsstaatliehen Prinzips, wie es bei uns bekannt, aber nicht so extrem hinsichtlich der Sanktionsfolgen ausgeprägt ist. Das rechtsstaatliche Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung einschließlich der Justiz durchzieht wie ein Leitmotiv das gesamte klassische dlinesische Staatswesen. Ich habe hier diese Idee nur bis zur T' ang-Zeit zurückverfolgt. Wann sie zuerst in China auftaucht und welcherstaatsphilosophischen Schule ihre Ausbildung zuzusdlreiben ist, gehört nicht mehr zu dem hier behandel­ten Thema.

17 In Studia Serica VI 167 f. habe ich selbst den Ausdruck kollektive Haftung für die besondere Art der chines. Beatmenverantwortlichkeit verwandt. Heute vermeide ich diese Bezeichnung, weil ich sie für irreführend halte. Vgl. über die entsprechende japanische Bestimmung W. Röm.: Jinkaishu, Tokyo 1960, p. 11.

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Die besondere Art des bürokratisdlen Entsdleidungsverfahrens in China erweist sich damit als ein Ausfluß des Systems der strengen Beamtenhaftung und letzten Endes des dahinter stehenden Prinzips der Rechtsstaatlichkeil in der Staatsverwaltung. Dieses Prinzip bliebe eine bloße Idee ohne die Sank­tionen der Beamtenverantwortlichkeit; diese aber wäre nicht vollziehbar ohne das besonders geartete bürokratische Verfahren. Auch in Europa -beken­nen wir uns zu dem Prinzip der Rechtsstaatlidlkeit, jedoch besteht ein Unter­schied in der Art, wie das Prinzip in der Praxis gesichert wird. In Ländern der westlichen Rechtskultur werden den Bürgern Rechtsmittel gegen rechts­widrige Verwaltungsentsdleidungen gegeben. Es wird also dem einzelnen Bürger überlassen, sich dagegen zu wehren und die damit verbundenen Risiken und Kosten zu tragen 18• Das ist ein Erbe unseres Denkens in "Rech­ten" (subjektiven Rechten) und unserer historischen Erfahrung mit dem Absolutismus. Ein anderer Weg zu versuchen, die Rechtsstaatlidlkeit von Maßnahmen der Staatsverwaltung praktisch zu sichern, ist der, Sanktionen und Vorkehrungen für die gegenseitige Kontrolle der Beamten einer B~hörde untereinander in das Verwaltungssystem einzubauen. Diesen Weg ist China gegangen.

3. Ein Exkurs über Schweden und Finnland

China ist nicht das einzige Land, das den Weg der Sicherung der Rechts­staatlichkeit durch eine strenge persönliche Beamtenverantwortlichkeit mit strafredltlichen Sanktionen gegangen ist. Wenn im vorhergehenden Absatz von den westlichen Ländern die Rede war, die den Bürger grundsätzlich auf den geridltlichen Klageweg verweisen, so müssen Schweden und Finnland ausgenommen werden. Beide Länder, die übrigens wie das geschichtliche China das Institut des Ombudsmannes kennen und zwar Schweden ursprüng­lich als eine Institution des Monarmen und nicht des Parlaments, teilen zwei Eigenheiten mit dem historischen chinesischen Staatswesen: Erstens sind in den beiden Ländern "nicht nur die Richter, sondern auch die Beamten unab­hängig, d. h. Weisungen Vorgesetzter nicht unterworfen. Ein Beamter, der nicht ebenso wie ein Geridlt in eigener Verantwortung das Gesetz auf einen konkreten Fall anwendet, sondern der Weisung des Vorgesetzten folgt, macht sich strafrechtlich verantwortlich •. Zweitens besteht wie im histori­schen China eine strafrechtliche Verantwortung der Beamten: .,Die umfas­sende strafredltlidle Verantwortung der Beamten ist ein weiterer hervor­stedlender Zug des schwedischen und finnischen öffentlichen Rechts. Grund­sätzlich begründet jede Pflichtverletzung eines Beamten die strafrechtliche Verantwortung und die persönliche Verpflichtung zum Schadensersatz 11• •

Das ist der heutige Rechtszustand in Schweden und Finnland.

18 Vgl. zu diesem Problem neuerdings die umfassende Publikation des Max­Plandc-Instituts für Ausländisdles Offentlidles Recht und Völkerrecht: Gerldlts­schutz gegen die Exekutive, Köln/Dobbs Ferry 1969/1970, 3 Bde.

1' H. WALTEll in dem vorgenannten Werk Bd. 3 p. 18. Die Systeme Schwedens und

Finnlands sind eingehender dargestellt ebenda Bd. 2 p. 921-941 vo.n B. WENNERGREN und Bd. 1 p. 185-219 von V. MERIICOSD.

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Diese beiden Länder haben zwar nicht das bürokratische Durchlaufver­fahren von der Basis bis zur Spritze einer Behörde mit Japan und China gemeinsam und daher auch nicht die grundsätzlich gemeinsame Verantwort­lidlkeit der Beamten einer Behörde, die wir im historischen China finden. Jedodl teilen sie mit den beiden ostasiatischen Staaten das Prinzip der eigen­ständigen, an keine Weisungen der Vorgesetzten gebundenen Entscheidun­gen der Beamten. Sie teilen ferner mit dem historisdlen chinesisdlen Staats­redlt die Gleidlstellung der Verwaltungsbeamten mit den Richtern in bezug auf die korrekte Gesetzesanwendung, die strenge Verantwortung aller Be­amten für die Gesetzmäßigkeit aller Entsdleidungen und schließlidl die strafredltlidle Sa.nktion für Gesetzesverletzungen.

4. Zusätzlidle Uberlegungen: Bekämpfung von Amtsmißbraudl und Korruption

Häufig spielen bei politisdlen Institutionen wie audl bei einzelnen poli­tischen Entsdleidungen in China bis heutigentags neben ihrer Ausridltung nadl einem Prinzip oder einer Generallinie handfeste praktisdle Uberlegun­gen eine Rolle. Das pragmatische Element im dlinesisdlen Denken und Han­deln ist oft festgestellt worden zo. Bei der Konzeption der bürokratischen Verfahrensmethode, der diese Untersudlung gewidmet ist, dürfte mitge­sprodlen haben, daß sie nidlt nur der Legalität der Staatsverwaltung und damit als Sdlranke gegen Amtsmißbraudl dienen sollte, sondern daß sie auch als konkretes Mittel zur Bekämpfung der Korruption gedacht war. Mit dem Durchlaufverfahren der Akten durdi die gesamte Behörde waren alle ihre Mitglieder gewissermaßen aufgefordert, die Augen gegen Korruptions­erscheinungen einzelner offen zu halten. Andernfalls riskierten sie, selbst in die Affaire hineingezogen zu werden.

Allerdings hat audl das strenge dlinesisdle System nicht verhindert, da.ß zu gewissen Zeiten des politisdlen oder moralischen Zerfalls in der dlinesi­schen Gesdlidlte Korruptionsfälle häufig waren, ja überhandnahmen. Diese Ersdleinung teilt das chinesisdle System mit allen mensdllidlen Einridltun­gen. Letztlidl kommt es in jeder Staatsverwaltung mehr auf die dienstlidle Moral der Beamten an, als auf noch so klug ausgedachte Institutionen der Kontrolle. Nur ein V ergleim mit den Zuständen westlicher Staaten mit ihrem anderen System kann zeigen, welches System die besseren Resultate im Kampf gegen die Korruption erbradlt hat.

Daß das chinesische System der strafredltlichen Sanktionierung der Be­amtenverantwortlidlkeit nicht nur auf dem Papier stand, sondern tatsädllich praktiziert wurde, zeigen uns die Beispiele aus den Biographien von Bea.m­ten, die in großer Zahl überliefert worden sind.

Das öffentli<he Redlt Chinas kannte noch andere Regelungen, die gleidl­falls präventiv dazu dienten, die Möglidlkeiten zu Korruption und persön­lichen Durchstedlereien der Beamten auszusdlalten: Kein Beamter durfte

tt Vgl. z. B. N. NAuMUBA: Ways of thinking of Easlern peoples, (1964) Nadldruck Honolulu 1971, und F. W. MOTE: Intellectual fundatlons ol Chlna, New York 1971.

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in seiner Heimatprovinz einen Posten erhalten, und zweitens war die Dienst­zeit des Beamten auf einem Posten gesetzlich auf wenige Jahre beschränkt 21.

Die erste der beiden Maßnahmen bezweckte wohl in erster Linie, eine einheitliche Staatsverwaltung in dem chinesischen Großraumstaat mit seiner kulturell und nach Brauchtum recht unterschiedlichen Bevölkerung durchzu­setzen. Mit einer gleichförmigen Verwaltung sollte dem politischen Zerfall des Reiches in selbständige regionale Herrschaftsgebiete, wie er wiederholt in der chinesischen Geschichte eintrat, entgegengewirkt werden.

Daneben sollten beide der genannten Beschränkungen der dienstlichen Verwendung der Beamten auch Verlockungen zu Korruption und Favoriten­turn entgegengesetzt wirken, die sich aus der Rücksicht auf Verwandte und Bekannte der Beamten ergeben konnten. Bei dem Verbot der dienstlichen Verwendung des Beamten in seiner Heimatprovinz ist das ohne weiteres ersichtlich. Aber auch die kurze Amtszeit eines Beamten in einem Amtsbezirk verhinderte, daß er in ihm allzu verwachsen und intim wurde.

Schließlich wirkten sich die Dienstbeschränkungen auch unmittelbar auf das bürokratische Entscheidungsverfahren aus. Sie hatten einen raschen Wechsel der Beamten zur Folge, und das bedeutete- und war beabsichtigt -daß sich die Beamten nur oberflächlich mit den lokalen Verhältnissen ver­traut madlen konnten, zweifellos ein Mangel bei der Erledigung der Dienst­geschäfte. Die notwendigen Lokalkenntnisse konnten den Beamten nur von den unteren Stufen der Behördenmitglieder vermittelt werden. Diese hatten keinen Beamtenstatus, wurden zumeist lokal rekrutiert und waren oft lang­ansässig. Wir können sie die lokalen Angestellten oder- mit einem neueren Ausdruck - die Ortskräfte nennen. Während die Beamten mit den Kennt­nissen des allgemeinen Staats- und Verwaltungssystems des ganzen Reiches ausgestattet waren, das sie im ganzen Reich auf lokaler Ebene einheitlich durchzusetzen hatten, besaßen die Angestellten regionale Kenntnisse über Personen und Sachverhältnisse im Amtsbezirk. Diese Kenntnisse waren fur eine erfolgreiche Tätigkeit der Beamten unentbehrlich. Beide Gruppen der Behördenmitglieder - ausgestattet mit unterschiedlichen aber sich ergän­zenden Erfahrungen und Informationen- waren durch das besondere büro­kratische Entscheidungsverfahren in eigenartiger Weise zusammengespannt. Das Verfahren war ein institutionalisiertes Kommunikationsmittel für den Austausch der sich ergänzenden Kenntnisse und für den Ausgleich sich widersprechender Interessen in der Praxis.

111. Vergleich der japanischen und chinesischen Institutionen

Die vorstehende Untersuchung ergab die verfahrensmäßig-technische Ubereinstimmung von Ringisei und dem chinesischen Entscheidungssystem. Wenn das richtig ist, so ergeben sich eine Reihe von anderen Fragen. Dazu gehören ihr genetisches Verhältnis, also ihre eventuelle Abstammung von einander oder von einer gemeinsamen dritten Quelle sowie das Verhältnis

11 Derartige Maßnahmen finden sich übrigens nicht nur in China, sondern auch in der europäischen Staatengeschichte.

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der Ideen und Motivationen, aus denen die Institutionen entsprungen sind und die sich heute mit ihnen verbinden.

1. Das genetische Verhältnis

Theoretisch ist es möglich, daß das gleidle Verfahren unabhängig von einander in Japan und China ausgebildet worden ist. Beispiele für derartige Parallelen finden sich häufig in der Geschidlte der Kulturen und Länder. Die Möglidlkeit der unabhängigen Ausbildung gleicher Institutionen ist daher nicht ohne weiteres zu übergehen, vielmehr stets zu prüfen. Meist handelt es sich dabei um in der Sache liegende Gründe, die zur gleidlen Lösung an verschiedenen Orten geführt haben. Offenbar nimmt Silberman einen solchen Fall für das Ringisei an, wenn er von ,.organisatorisdlen Sadlzwängen .. (organizational imperatives) spricht und die selbständige Entwi<klung des Ringisei und des Entsdleidungsverfahrens in modernen amerikanischen Organisationen damit erklärt, daß in beiden Ländern die gleichen Probleme angestanden hätten: Expandierende und sidl speziali­sierende Organisationen hatten zugleich für Kontinuität und Stabilität zu sorgen. Jedoch verlangen derartige sachliche Notwendigkeiten zunächst nur allgemein den Aufbau oder die Erweiterung einer bürokratischen Orga­nisation, nidlt aber eine bestimmte Spielart derselben. Es muß erst ein be­sonderes Element vorhanden sein, daß gerade zu dieser oder jener Spielart der Organisation zwingt oder dodl anregt. Dieses Element kann in äußeren Umständen begründet sein- z. B. wie des öfteren in der Gesdlichte in der militärisdlen Lage des Landes -, es kann aber auch in einer Idee oder sonsti­gen etwa sozialen Motivation liegen. Hierüber können wir bei der von Silberman angewandten Methode, die auf Oscar Grusky zurückgeht, keine Aufklärung erhalten.

Audl sein Vergleich des Ringisei mit der modernen amerikanischen Me­thode, wobei er wesentliche Gleichheiten feststellt, sind unergiebig für die Beantwortung der Frage. Vielmehr wird durch den Vergleich die Frage noch drängender, warum es trotzder Ubereinstimmungen zwischen den Systemen zu einer grundlegend verschiedenen Ausgestaltung des Organisationssy­stems in beiden Ländern gekommen ist. Warum eine Antwort auf diese Frage offen bleibt, mag an der Methode, die sich auf die organisatorische Seite des Problems konzentriert, oder auch bei einer der Ubereinstimmungen liegen, die Silberman zwischen Ringisei und dem amerikanischen System teilweise nur vermutet aber nicht nachweist. Das aber ist hier nicht weiter zu erörtern, wenn, wie zu zeigen sein wird, das Ringisei nicht eigenständig in Japan entwickelt sondern von China übernommen worden ist.

Für ein genetisches Verhältnis, d. h. für eine die historische Abstammung des Ringisei von dem chinesischen Verfahren spricht zunächst eine allge­meine Vermutung. Sie kann sich darauf stützen, daß Japan mehrmals in sei­ner Geschichte staatspolitische Ideen und Institutionen von China übernom­men hat. Am umfassendsten geschah das im 7./8. Jahrhundertl als ein er­starktes japanisches Kaisertum erstmalig ein zentralistisches Regierungs-

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und Behördensystem und ein umfassendes Gesetzgebungswerk nach dem Muster der damaligen chinesischen T' ang-Dynastie einführte.

Im sog. Yoro-Codex von 718 findet sich die gleiche Bestimmung über die strenge gemeinsame Verantwortlichkeit der Beamten wie im T'ang-Gesetz­buch 22, und es besteht kein Zweifel, daß diese Bestimmung mit zahlreichen anderen Artikeln des T' ang-Gesetzbuches aus China übernommen worden ist. Bei dem damaligen intensiven Studium des kommentierten chinesisdten Gesetzbuches in Japan wurde selbstverständlidl auch das hinter der Beamten­haftung stehende bürokratische Verfahren in Japan bekannt. Wie lange dieses Verfahren in Japan aber tatsächlich angewandt wurde, bleibt zu prüfen. Es mag sehr wohl sein, daß es zunächst übernommen wurde, dann aber mit zunehmender Feudalisierung des Landes in Vergessenheit geriet. Das war das Schic:ksal mancher der im 7./8. Jahrhundert in Japan eingeführ­ten chinesischen Institutionen. Beispiele sind das chinesische Examenssystem, das nur kurze Zeit in Japan praktiziert wurde, und das System der Land, zuteilung (jap. Handen, chines. chün-t'ien), das allmählich außer Gebrauch kam. Es spricht aber manches dafür, daß das bürokratische Entscheidungs­verfahren später in manchen Teilen des Landes oder auch allgemein wieder zu Ehren kam, zum Beispiel während der Tokugawa-Zeit, als die Zivil­verwaltung ausgebaut wurde. Die Verwaltung der Tokugawa verlangte anders als die vorausgegangene Form des Feudalismus nach einer zentrali­stischen Zivilverwaltung und Organisationsform. Es war audl zur Zeit der Tokugawa, daß das Gesetzbuch der chinesischen Ming-Dynastie Einfluß in Japan gewann und teilweise rezipiert wurde 21, und es ist im Ming-Gesetz­budl, wo, wie oben bemerkt, der Fachausdruc:k pin-yi, d. i. japanisch Ringi zum ersten Male auftaucht 2'.

2. Die Ideen

China

Wie oben dargelegt {2) entsprang das chinesische Entscheidungsverfahren dem Gedanken der strengen und gemeinsamen Beamtenhaftung für korrekte Gesetzesanwendung und letztlich dem rechtsstaatliehen Prinzip. Es sollte die Feststellung der Verantwortlidlen ermöglichen. Es war das technisch­bürokratisdle Mittel zur Durdlführung jener Grundsätze und diente dem Schutz der Bürger vor ungesetzlidlen oder geradezu willkürlidlen Hand­lungen der Beamten.

Die Konzeption dieses Systems strahlte mannigfadl auch in andere Gebiete des Staatswesens aus. Beispielsweise erforderte es, daß die Gesetze auf den Gebieten des Straf- und Verwaltungsrechts sehr genau formuliert waren und möglichst keinen Spielraum für Ermessensentscheidungen ließen. Beides

u Kokushi Taikel (Ausgabe 1966) vol. 22 p. 101 f. Tang-Gesetzbudl Kap. 5 Art. 4. n Vgl. z. B. D. F. HENDERSON: ,.Legal sturlies in early 18th century Japan• in JAS

30, 21-56 (Nov. 1970). u S. Anm. 13 und 15.

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finden wir in der chinesischen Gesetzgebung: Das Strafrecht setzte die Straf­höhe absolut fest, gab also dem Richter keinen Strafrahmen, innerhalb des­sen er im Einzelfall freie Hand hatte, besonderen Umständen Rechnung zu tragen, wie das bei uns der Fall ist. Ebenfalls im Verwaltungsrecht war dem Beamten nur in unumgänglichen Ausnahmefällen ein Ermessenspielraum eingeräumt. Man entschied sich also für eine weitgehende Bindung des Ver­waltungsbeamten und gegen das Prinzip, das in manchen westlichen Ländern im Interesse der Effizienz der Staatsverwaltung den Beamten einen weiten Spielraum für eigene Initiative gewährt. Welchem der beiden Prinzipien in der politischen Praxis der Vorzug einzuräumen ist, wird ein immer wieder­kehrendes und erneut zu lösendes Problem in der Staatengeschichte bleiben. Die westlichen Länder weichen hier erheblich voneinander ab. Die Unter­schiede in dieser Hinsicht bestimmen weitgehend den politischen Charakter, den Stil, des ganzen Staatswesens, vielleicht mehr als die Unterschiede ihrer Verfassungen. Denn auch Staaten, die sich emphatisch zu dem rechtsstdat­lichen Prinzip bekennen, können das dadurch zu einer leeren Fassade machen, daß sie in die Gesetze Allgemeinformeln einbauen, die nur äußer­lich die Form von Gesetzesbestimmungen haben, in Wirklichkeit aber dem Ermessen, wenn nicht der Willkür die Tür öffnen.

Es besteht hier ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der westlichen und der klassischen chinesischen Staatsauffassung. Er wirkt sich bis in die Verästelungen tedmiseher Art in dem Staats- und Rechtssystem aus, wie das Beispiel des bürokratischen Entscheidungsverfahrens zeigt.

Das zeigte sich, als China zu Beginn dieses Jahrhunderts begann, von Europa politische Ideen und staatliche Institutionen zu übernehmen und in Gesetzesform zu gießen. In dem Augenblick, in welchem den chinesischen Richtern und Gerichten nach europäischem Muster eine unabhängigere Stel­lung und ein größerer Spielraum für ihre Entscheidungen eingeräumt wurde, als ihnen z. B. in neuen ~trafgesetzen ein Ermessensspielraum für die Höhe der Strafen eingeräumt wurde, mußte sich das auf die strenge Beamten­haftung auswirken, denen die Richter wie andere Beamte unterlagen. Sie verlangten, wie tatsächlich geschehen, die Aufhebung der überkommenen einschlägigen Vorschriften über Richterhaftung für Redltsbeugung, was von den ausländischen Beobadltern, die die Zusammenhänge nidlt genau kann­ten, mit einigem Erstaunen vermerkt wurde. Ähnlich wirkten sich audl sonst die neuen Ideen und Institutionen in der Staatsverwaltung aus.

Die strenge Beamtenverantwortlichkeit verschwand. Zunächst klang sie noch für einige Zeit in den modernen chinesischen Gesetzen nach. Im Straf­gesetzbuch von 1928 findet sich zwar nidlt mehr die Gesamthaftung der Mit­glieder einer Behörde, aber immerhin blieben die Bestimmungen über Amts­vergehen noch wesentUrn schärfer als in den europäisdlen Vorbildern. Sdlließlich, im Strafgesetzbuffi von 1935, entfällt auch dieses Charakteristi­kum des klassischen Chinas. Und damit entfiel eine Institution, die dem Redltsdlutz der Einzelnen vor Ubergriffen der öffentlichen Madlt mit wech­selndem Erfolg gedient hatte, ohne daß eine andere Einridltung zunächst diese Aufgabe übernommen hätte.

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Bemerkenswert aber ist, daß das technisch-bürokratische Entscheidungs­verfahren beibehalten wurde, obwohl es mit dem Fortfall der gemeinsamen Beamtenverantwortlichkeit seinen ursprünglichen Zweck, seine Motivation, verloren hatte. Das kann meines Erachtens nicht allein mit bürokratismem Beharrungsvermögen erklärt werden. Vielmehr sdleint sich hier zu erweisen, daß das Verfahren sich auch für andere Zwecke als nützlich erwies und­eventuell neue - Aufgaben übernahm, deren wegen es sich lohnte, es bei­zubehalten.

Wir können also feststellen:

1. Das chinesische Entscheidungsverfahren hat den Fortfall seiner ursprüng­lich begründeten Idee überlebt.

2. Sein motivierendes Prinzip hat nur kurze Zeit nadlgeklungen.

3. Die Verbindung zwischen technischem Verfahren und seiner ursprüng­lichen Motivation ist heute vergessen oder doch ohne Bedeutung 25•

Japan

Eine parallele, wenn auch nicht völlig gleiche Entwicklung sehen wir in Japan.

Das chinesische Verfahren wurde in Japan um die Wende des 7./8. Jahr­hunderts in der gleichen Verbindung übernommen, wie es sidi im chinesi­schen Gesetzbudl der damaligen Zeit findet, nämlich zusammen mit der Insti­tution der strengen gemeinsamen Verantwortlichkeit der Beamten einer Behörde. Die Idee hinter dem Ringisei, das damals allerdings diesen Namen noch nicht trug, war also ursprünglich die gleiche wie in China. Auch das allgemeine rechtsstaatliche Prinzip fand damals in der japanischen Gesetz­gebung Ausdruck.

Wie lange sich dieser Zusammenhang zwischen Verfahren und Idee in Japan gehalten hat, ist bisher nicht erforscht. Ebenso fehlt es noch an Nach­weisen über die tatsächliche Anwendung des Ringisei in der Zeit zwischen seiner Rezeption und der Meiji-Zeit.

Mit der modernen japanischen Gesetzgebung Ende des 19. Jahrhunderts und dem Vordringen europäischer Staatsgedanken verschwindet wie in China die strenge Beamtenverantwortlichkeit auch in Japan. Das Proviso­rische Strafgesetzbuch von 1868, das im übrigen noch große Teile aus den chinesischen Gesetzbüchern der T' ang und der Ming beibehält, enthält keine Bestimmungen mehr über Beamtenvergehen. R. Ishii bemerkt dazu 28 :

"the Provisional Penal Code is labeled as basically of Ming origin. Another striking feature of this code is its omission of any provisions for the punishment of offenses committed by officials ... Owing to its disregard for any offenses that might be perpetrated by government officials and owing to its heavy emphasis on punitive provisions, the

15 Mir ist keine Arbeit bekannt, die sich mit diesem Thema beschäftigt. 18 R. Isun: Japanese Culture in the Meiji Era, Vol. IX Legislation. Tokyo 1959,

p. 337.

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Provisional Penal Code has been regarded as a legal instrument for enforcing feudal rule over the J apanese."

Der letzte Satz ist bemerkenswert. Er könnte Anlaß geben, auch unser westliches System unter diesem Gesichtspunkt neu zu überdenken. Das Fehlen spezieller Strafvorschriften für Beamte wird als Merkmal einer feuda­listischen Herrschaftsform angesehen. Kann man daraus schließen, daß strenge Sanktionen für Pflichtverletzungen der Beamten ein Zeichen für eine andere, nicht-feudalistische, bessere Staatsordnung kennzeidmend sind? Ich denke, daß sich in Schweden und Finnland Menschen finden, die geneigt sind, diese Frage zu bejahen 27•

Wie in China hat auch in Japan das traditionelle bürokratische Verfahren grundlegende Wechsel in der politischen Ordnung überlebt, sowohl die Meiji-Reform wie die Reformen während der amerikanischen Okkupation 28•

Und wie in China hat das Verfahren den Fortfall seiner ursprünglich tragen­den Idee, nämlich die Effektuierung der gemeinsamen Beamtenverantwort­lichkeit überlebt. Offenbar erfüllt es heute in Japan andere Aufgaben.

Aber es tritt bei dem Ringisei eine Veränderung ein, die keine Parallele in der Entwicklung der chinesischen Institution hat. Die Veränderung wird durch die heutigen japanischen Ansichten über die Herkunft und den ge­danklichen Hintergrund des Ringisei deutlich. Wie oben ausgeführt wird das Ringisei in der heutigen Literatur von traditionellen Werten abgeleitet, die sich im japanischen Paternalismus und Consensus-Denken finden. Hier­aus soll das Verfahren entwickelt worden sein. Der ursprüngliche Sinn des Verfahrens ist vergessen oder doch aus dem allgemeinen Bewußtsein ver­schwunden, soweit er hier jemals vorhanden war. Auch in China ist das der

27 Aufschlußreich für die weitreichenden und kaum voraussehbaren Folgen der politischen Reform Japans in der Meiji-Zeit ist auch folgende Bemerkung von lsHn (1. c. Anm. 25 p. 282): "By attempting to separate the courts of law from the exe­cutive branch, the judiciary was set upon a course leading to modernization; yet, at the same time, we should perhaps not fail to suggest that this beginning signaled the completion of preparations of Japan's emergence as a modern state and, what is more, this beginning meant that a major contribution had been made toward the creation of a totalitarian state." Ganz anders sieht diese Zusammenhänge AoMI Junichi: "The main currents of legal philosophy in Japan" in: Archiv I. Rechts- u. Sozialphilosophie 44 (1958) p. 557: "today Japan's legal philosophy is fairly in­dependent of the ideological and scholastic tradition of the nation before the Meiji Era. Many attempts, it is true, have been made especially during World War 11, torevive this tradtion in the totalitarian direction."

28 Während der amerikanischen Okkupation Japans erging e.in neues ,.Gesetz über den nationalen öffentlichen Dienst" (Gesetz Nr. 120 vom 21. Okt. 1947), dessen Art. 98 unter der Oberschrift ,.Pflicht zur Befolgung von Gesetzen, Verordnungen und Wei­sungen der Vorgesetzten• be.stimmt: ,.Personal of the service in the performance of their duties shall comply with laws and orders (orders hier im Sinne von Verord­nungen, nicht von Befehlen) and observe the orders of their superiors on matters pertaining to the performance of their official duties. They may, however, express their opinions regarding the orders of their superiors. • (Zitiert nach der engl. Uber­setzung in: Political Reorientation of Japan, Sept. 1945 to Sept. 1948. Washington, Government Printing Office, o. J., vol. 2 p. 1032.) Demnach wäre der japanische Beamte weisungsgebunden, wie das dem amerikanischen System entspricht. Die Vor­schrift könnte streng genommen das Ende des Ringi-Systems mit seiner Pflicht zur eigenständigen Entscheidung des Beamten bedeuten. Jedoch scheint diese Aus­legung tatsächlich nicht zu gelten.

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Fall, aber die Substituierung einer anderen tragenden Idee wie in Japan vermag ich nicht zu sehen.

Das Ringisei ist damit in Japan als eine authochtone japanische Institution anerkannt. Es ist in das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben des Landes integriert. Der Vorgang bestätigt die historische Erfahrung, daß eine Rezeption politischer Institutionen nur dann von Dauer und damit erfolgreich zu sein pflegt, wenn die Obernahme freiwillig erfolgt und wenn ein.e geistige Bereitschaft für die Annahme der Institution im akzeptierenden Lande vor­liegt. Es genügt nicht nur die reine Nützlichkeit der Institution, auch die hinter ihr stehende Idee muß "einleuchten•. Jeder äußere Zwang bei einer Rezeption steht dem Erfolg im Wege. Eine Affinität der kulturellen Grund­konzeptionen des annehmenden Landes mit der hinter der übernommenen Institution stehenden Idee erleichtert dagegen die Rezeption und kann zur vollen Integration führen. Dabei kann, wie der Vorgang in Japan zeigt, die ursprüngliche Idee, die ursprüngliche Motivation, der Institution durch eine andere, passendere ausgewechselt werden.

IV. Gegenwartsprobleme des Ringisei

Ursprünglich in China rein rationalen Uberlegungen mit bestimmten und begrenzten staatspolitischen Zielen entsprungen gilt das Ringisei heute in Japan als diffuser Ausfluß eigenständiger traditioneller Grundanschauungen über die Organisation von Gruppen und deren Entscheidungsbildung. Damit hat das Verfahren eine neue gedankliche Basis erhalten. Seine Legitimation ist eine andere geworden und seine soziale Dimension hat sich erweitert. Das hat praktische Folgen für die Gegenwart, vor allem für die beabsichtigte Re­form. Alle Bestrebungen einer Reform des Ringisei haben davon auszugehen.

Dazu ist zunächst zu sagen, daß die Reform des Ringisei durch seine Ver­ankerung in der nationalen Tradition erschwert wird. Solange das Ringisei durch seine Zwe<kbestimmung mit dem System der Beamtenhaftung verbun­den war, handelte es sich um eine staatspolitische Angelegenheit. Mit dem ersatzlosen Fortfall dieser Zwe<kbestimmung würde das Ringisei zu einer rein innerorgarU:satorischen Frage der Regierungsverwaltung geworden sein. Ist es aber, wie jetzt angenommen wird, mit weithin anerkannten Wer­ten der sozialen Tradition verbunden, so ist jede Änderung ein Eingriff nicht mehr nur in eine innerbetriebliche Ordnung, sondern in die allgemeine Sozialordnung. Daß dies tatsächlich der Fall zu sein scheint, zeigen die jahre­langen Diskussionen und Beratungen über die Reform. Würde es sich um eine rein technische Frage der Verwaltungsorganisation handeln, so wäre sie leicht zu lösen, soweit die Regierung betroffen ist; soweit das Ringisei in der Wirtschaft angewandt wird, wäre diese längst zu Änderungen ge­schritten, soweit es ihr nützlich erschiene, würde dies nicht auch soziale Vor­stellungen berühren und vielleicht in einen sozialen Besitzstand eingreifen.

Eine eventuelle Reform verspricht um so erfolgreicher zu sein, als sie diese gegenwärtigen sozialen lmplikationen berü<ksichtigt. Sie wird sich außerdem von den japanischen Bedürfnissen, wie sie jetzt und in der voraus-

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sehbaren Zukunft bestehen, leiten lassen. Sie wird sich also von gewissen Ansichten des 19. Jahrhunderts freimachen müssen, die teilweise heute nodl anzutreffen sind, selbst in den Argumenten, die von japanischer Seite für die Reform des Ringisei vorgebracht werden. Ausgerichtet an einer bestimmten Gesdlichts- und Sozialphilosophie glaubte man im 19. Jahrhundert an einen linearen Ablauf der Entwicklung, die in die Richtung wies, die die westlichen Länder eingesdllagen hatten und als deren Höhepunkt jeweils der letzte Zustand im Westen allgemein oder noch bestimmter im Lande des west­lidlen Autors galt. Die in nicht-westlichen Ländern entwickelten Institutio­nen und Ideen wurden allenfalls als Vorstufen auf dem Wege zur westlichen Kultur gewertet, wenn nicht, wie nicht selten, schlechthin als Fehlentwick­lungen abgetan. Das westliche Schrifttum über Ostasien ist voll von der­artigen Urteilen, und nicht wenige ostasiatische Politiker und Intellektuelle teilten diese Ansicht. Es liegt auf der Hand, daß bei einer derartigen Grund­einstellung Wesen und Funktionen ostasiatischer Einrichtungen nicht er­kannt wurden. Die Möglichkeit, ja die vielleicht die Notwendigkeit, gewisse alte Einrichtungen für die Zukunft beizubehalten und zu verwenden, blieben vielfach ungeprüft. Ein Nachdenken darüber war von vornherein weitgehend abgeschnitten. Statt dessen setzte in den ostasiatischen Ländern eine kritik­lose Propagierung westlicher politischer und sozialer Einrichtungen ein, ge­kopp~lt mitunter mit starkem politischen Druck. In einigen der Länder er­wies sich die Rezeption westlicher Einrichtungen als zeitweise nützlich für die Erhaltung ihrer Unabhängigkeit, in anderen aber führte sie zu schweren und voraussehbaren Nachteilen.

Durch diese Erfahrungen gewarnt sowie durch die offenbaren Unzuläng­lic:hkeiten, die sich in den letzten Jahrzehnten in der sozialen und politischen Ordnung der westlichen Welt zeigen, kritischer geworden, sind auch die heutigen Ansichten über Vorbildlichkeit westlicher Institutionen vorsichtiger und selektiver geworden sowohl in den westlichen wie in den ostasiatischen Ländern. Das hat nach meinen Beobac:htungen schon zu einer unbefangeneren und sachlicheren Diskussion dieser Dinge geführt. Herkunft und Alter einer Institution treten in ihrer Bedeutung zurück, wenn allein ihre Nützlic:hkeit und Anwendbarkeit unter den heutigen Umständen und der gegenwärtigen Interessenlage diskutiert wird.

Ohne in die besser den Japanern vorzubehaltene Erörterung über die Angemessenheil von Reformen des Ringisei einzugreifen, kann unter dem genannten Blickwinkel zu einzelnen Argumenten Stellung genommen wer­den, die sich in der japanischen Diskussion finden.

Ringisei wird gern als "feudalistisch •, "prä-modern • u. ä. qualifiziert, und zwar bemerkenswerterweise auch von denen, die seine Entstehung in die Meiji-Zeit verlegen. Hinter diesem Urteil steht offenbar der Wille zur Reform oder gänzlichen Abschaffung des Verfahrens. Es ist ein Argument für "Modernisierung• d. h. Verwestlichung. Stellt man sich auf den oben skizzierten Standpunkt, daß Nützlichkeit und die gegenwärtigen Gegeben­heiten das Kriterium sein sollen, so verliert das Argument "prä-modern" usw. an Uberzeugungskraft, ja es wirkt wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhun-

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dert mit seiner einseitigen und europazentrischenEinstellung und Geschiehts­und Sozialphilosophie. Weder Herkunft noch Alter einer Institution allein sagen etwas über ihren heutigen Wert aus. Immerhin tragen viele der heuti­gen politischen Institutionen des Westens noch deutlich die Züge ihrer mittel­alterlichen Herkunft, ohne daß dies ihre heutige Relevanz beeinträchtigt. Schließlich sind auch der demokratische Gedanke und demokratische Institu­tionen archaischen Alters, ohne von ihrem heutigen Wert etwas eingebüßt zu haben.

Das Wort "Modernisierung" kann überhaupt kaum noch unqualifiziert als Argument gebraucht werden, seit Historiker seine häufige Verwendung als Feigenblatt für Verwestlichung aufgedeckt haben. Die japanischen Reformer wissen, daß sie mit der Obernahme politischer und sozialer Modelle aus dem Westen nicht nur deren Vorzüge einführen, sondern auch die Mängel von Systemen übernehmen, deren Reformbedürftigkeit täglich in den Zeitungen und Parlamenten ihrer Herkunftsländer diskutiert werden.

Zum Schluß ist noch das Argument der "Demokratisierung" des Ringisei zu erwähnen, das wir in der japanischen Reformdiskussion antreffen. Es ist aber, wie ich hier nur andeuten kann, durchaus fraglich und einer eingehen­den Untersuchung wert, ob das Ringisei oder das im Westen übliche bürokra­tische Verfahren dem demokratischen Gedanken besser entspricht. Wenn Teilnahme als Grundelement der Demokratie anzusehen ist, so dürfte das Ringlsei dem mehr entsprechen. Zumindest gibt es auch den unteren Beamten das Gefühl der Mitwirkung, wenn nicht auch der Mitbestimmung, und dieses Gefühl hat seinen Wert. Auf diesem Gefühl beruhen- auf anderer Ebene -die Legitimation und der psychologische Wert demokratischer Parlaments­wahlen.

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