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Inhalt Einführung Die chinesische Herausforderung ................ 11 Teil I Zur Psychologie eines Volkes Vielfalt und kollektives (Unter-)Bewusstsein .......... 33 Das westliche China-Bild im Wandel der Zeiten Zwischen Faszination, Furcht und Verachtung ......... 48 Geistes- und kulturgeschichtliche Grundlagen Von Konfuzius und Laotse bis Mao und Deng ......... 63 Teil II Erziehung und Sozialisation Familie, Hierarchie, Bildung ........................ 109 Denken und Wahrnehmung Praktisch, ganzheitlich, dialektisch .................. 143 Sprache und Kommunikation Vieldeutig, indirekt, distanziert ..................... 164 Moral und Gesellschaft Nächstenliebe, Netzwerk, Gesicht ................... 177 Mann und Frau Sachlich, nüchtern, partnerschaftlich ................. 212 Lebenseinstellung und Temperament Vital, gewieft, gleichmütig ......................... 230

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Inhalt

Einführung Die chinesische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Teil IZur Psychologie eines Volkes Vielfalt und kollektives (Unter-)Bewusstsein . . . . . . . . . . 33Das westliche China-Bild im Wandel der Zeiten Zwischen Faszination, Furcht und Verachtung . . . . . . . . . 48Geistes- und kulturgeschichtliche Grundlagen Von Konfuzius und Laotse bis Mao und Deng . . . . . . . . . 63

Teil IIErziehung und Sozialisation Familie, Hierarchie, Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Denken und Wahrnehmung Praktisch, ganzheitlich, dialektisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143Sprache und Kommunikation Vieldeutig, indirekt, distanziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164Moral und Gesellschaft Nächstenliebe, Netzwerk, Gesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177Mann und Frau Sachlich, nüchtern, partnerschaftlich . . . . . . . . . . . . . . . . . 212Lebenseinstellung und Temperament Vital, gewieft, gleichmütig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

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Teil IIIWirtschaft und Arbeitswelt Paternalismus, Merkantilismus, Modernisierung . . . . . . 259Staat und Herrschaft Zwischen Meta-Konfuzianismus und Sino-Marxismus . 302China und die WeltFrieden, Stärke, Multipolarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

AusblickKonvergenz, Koexistenz oder Kampf der Kulturen? 404

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

Schreibweise chinesischer Namen und Wörter

Um chinesische Namen und Wörter in unser Alphabet zu transkribieren, haben wir die in der Volkrepublik China übli-che Pinyin-Umschrift benutzt. Ausnahmen wurden bei Namen gemacht, die in der zuvor lange Zeit gebräuchlichen Umschrift nach Wade-Giles dem Leser geläufiger sein dürften.

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Einführung

Die chinesische Herausforderung

Weltgeschichte ist nicht zuletzt, vielleicht sogar vor allem, die Geschichte großer Kulturen. Die vergangenen beiden Jahrhun-derte und besonders die zurückliegenden Jahrzehnte der Globa-lisierung wurden entscheidend von der westlichen, christlich-abendländischen Kultur geprägt.

Im 21. Jahrhundert wird diese jedoch nicht mehr die Richt-schnur sein, an der sich alle mehr oder weniger orientieren. Die Welt wird zunehmend multipolar. Vor 20 Jahren stellten die in der Gruppe der G-7 zusammengeschlossenen großen westlichen Industriestaaten plus Japan noch 44 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung (in Kaufkraft gemessen). Heute sind es nur noch etwa 30 Prozent. Gleichzeitig hat der Anteil der sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) von 18 auf über 30 Prozent zugenom-men.

Die ökonomischen und politischen Gewichte haben sich von Nord nach Süd und mehr noch von West nach Ost verscho-ben und verschieben sich weiter. Die Globalisierung frisst ihre Kinder. Der Schwerpunkt der Weltpolitik verlagert sich vom Abendland (zurück) nach Eurasien und vom atlantischen in den pazifischen Raum.

Eine zentrale Rolle spielt dabei China, das volkreichste Land der Erde. In den vergangenen vier Jahrzehnten ist das »Reich der Mitte« (Zhongguo), wie es sich selbst nennt, von einem der ärmsten Entwicklungsländer zur größten Handelsnation und nach Kaufkraft gemessen bereits auch größten Volkswirtschaft

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der Erde aufgestiegen, zu einer Weltmacht, die an Bedeutung nur noch von den USA übertroffen wird. Trotz zuletzt deutlich geringerer Dynamik entfallen auf das Land rund 40 Prozent des Wachstums der globalen Wirtschaft. Somit ist bereits jetzt das Wohlergehen der gesamten Menschheit eng mit dem des fernöstlichen Riesenreichs verknüpft. Und in der Zukunft wird dies noch mehr der Fall sein.

China ist in seiner Entwicklung an einer entscheidenden Schwelle angekommen: Gelingt es ihm, über sie hinwegzu-kommen, seine Wirtschaft tiefgreifend umzustrukturieren und auf das Niveau führender Industriestaaten anzuheben? Oder scheitert es daran, wie schon so viele andere Länder vor ihm, bricht die einzigartige Erfolgsgeschichte ab und die Wirtschaft stagniert bzw. verfällt oder kollabiert sogar?

Eng verbunden damit ist auch die Frage, welchen politischen Weg China künftig gehen wird. Bleibt es bei dem autoritären Herrschaftssystem, verhärtet sich dieses vielleicht sogar, oder nimmt es allmählich weichere Formen an und ist eines nicht allzu fernen Tages womöglich eine demokratische Verfassung denkbar? Und nicht zuletzt: Welche geopolitischen Ambitionen hegt die Führung in Peking? Strebt sie für das Land die Vor-herrschaft in Asien an oder will sie sogar den Platz der USA als Welt-Hegemon einnehmen und eine eigene Weltordnung etablieren?

Wegen Chinas schon heute enormen wirtschaftlichen und politischen Gewichts und seiner tiefen Verflechtung in die in-ternationale Arbeitsteilung sind diese Fragen für die gesamte Welt und nicht zuletzt für Deutschland von größter Bedeutung. David Shambaugh, renommierter Politik-Professor an der George Washington Universität, betrachtet die künftige Ent-wicklung Chinas als »die wichtigste Frage der Weltpolitik«. Auf dem Spiel steht dabei nicht nur unser Wohlstand, sondern auch unsere Identität  – und der Weltfrieden. Hierzulande bisher weithin unbeachtet ist zwischen den USA und China seit Jah-

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ren ein geopolitischer Wettbewerb im Gange, den Liu Mingfu, ehemals Dozent an der Nationalen Verteidigungsuniversität in Peking, als das »größte globale Machtspiel der Menschheits-geschichte« bezeichnet.

Historisch betrachtet hat die Rivalität zwischen einer alten Führungsmacht und einer aufstrebenden Macht immer wieder zu Kriegen geführt. Graham Allison, Politik-Professor an der Harvard-Universität, hat 16 Fälle untersucht, in denen eine auf-steigende Nation eine etablierte Macht herausforderte. In zwölf davon kam es zum Krieg.

Bekanntestes Beispiel für diese brisante Konstellation ist die Rivalität zwischen dem vorwärtsdrängenden Athen und dem um seine Vormachtstellung fürchtenden Sparta im Altertum. Sie endete im Peloponnesischen Krieg. Dieser führte nicht nur zur Zerstörung Athens, sondern ruinierte am Ende ganz Grie-chenland. »Was den Krieg unvermeidlich machte, war der Auf-stieg Athens und die Angst, die das in Sparta hervorrief«, so der griechische Geschichtsschreiber Thukydides. Die Konstellation wird daher allgemein als »Thukydides-Falle« bezeichnet.

Heute beunruhigt das aufsteigende China die dominierende Weltmacht USA. Im Weißen Haus in Washington wird Thu-kydides’ Werk über den Peloponnesischen Krieg als eine Art Menetekel betrachtet. Nicht nur Stephen Bannon, der Donald Trump als Wahlkampfmanager zuerst zum Präsidenten mach-te und ihm in den ersten Monaten im Amt dann als oberster strategischer Berater diente, auch Sicherheitsberater H.R. McMaster sowie Verteidigungsminister James Mattis zählen es zu ihren Lieblingsbüchern. Bannon sieht die USA schon seit längerem in einem »Wirtschaftskrieg« mit China, auf Sicht von fünf bis zehn Jahren hält er sogar einen Schießkrieg zwischen beiden Ländern im Südchinesischen Meer für »unvermeidlich«.

Wenige Wochen nach Trumps Amtsantritt ließ McMaster zwei Dutzend Exemplare von Allisons Buch über die Thuky-dides-Falle bestellen und empfahl sie seinen Mitarbeitern zur

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Lektüre. Wenig später wurde der Autor selbst eingeladen, den Nationalen Sicherheitsrat zu dem Thema zu briefen, ob es auch zwischen den USA und China zum Krieg kommen werde wie zwischen Sparta und Athen.

Allisons Antwort: Ein solcher Krieg sei zwar »nicht unver-meidlich«, aber »sehr viel wahrscheinlicher als derzeit wahr-genommen«. Aus »übersteigerten Gefühlen der eigenen Be-deutung« werde auf der Seite der aufsteigenden Macht leicht »Hybris«; aus »unvernünftiger Furcht« entwickle sich auf Seiten der vorherrschenden Macht schnell »Paranoia«. Gerade in Zeiten moderner Cybertechnologie, die es ermöglicht, den Kontrahenten blind zu machen und seine Befehlsstrukturen lahmzulegen, ergibt sich aus einer solchen Gemütsverfassung ein besonders hohes Eskalations- und Kriegsrisiko.

Auch der Politikwissenschaftler Aaron Friedberg von der Princeton-Universität sieht die Zukunft der amerikanisch-chinesischen Beziehungen düster: »Wenn China immer reicher und stärker wird, ohne sich zu einer liberalen Demokratie zu entwickeln, wird die gegenwärtig noch zurückgenommene Ri-valität offener zutage treten und zu etwas Gefährlichem auf-blühen.«

Für Professor John Mearsheimer von der Universität Chica-go, der sich ebenso wie Allison intensiv mit dem Problem der Thukydides-Falle beschäftigt hat, gibt es gar kein Wenn mehr. Die Frage, ob China »friedlich aufsteigen« kann, beantwortet der einflussreiche Politikwissenschaftler mit einem klaren »Nein«.

Derselben Meinung ist offensichtlich auch Shinzo Abe, Re-gierungschef von Chinas Nachbar Japan. Schon 2014 verglich er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Pekings zunehmen-des Selbstbewusstsein und seine territorialen Besitzansprüche im Süd- und Ostchinesischen Meer mit der Situation vor Aus-bruch des Ersten Weltkriegs. Damals sah sich die etablierte Seemacht England durch das große Flottenbauprogramm des deutschen Kaiserreichs herausgefordert.

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Eine Studie der RAND-Corporation im Auftrag der US-Ar-mee (Titel: »War with China: Thinking Through the Unthinka-ble«) kam 2016 zu dem Ergebnis, ein Krieg zwischen den USA und China sei schon in den kommenden zehn Jahren »nicht unvorstellbar« und jedenfalls »realistisch genug, um eine umsichtige Politik zu verfolgen und effektive Vermeidungs-maßnahmen zu ergreifen«. Das Pentagon hat seine strategische Planung für Asien bereits entsprechend angepasst, spielt seit längerem mögliche Eskalationsszenarien durch und veranstal-tet regelmäßig dazu passende Kriegsspiele. Genauso wie das Verteidigungsministerium in Peking.

Mit Donald Trumps Einzug ins Weiße Haus hat sich die Lage zwischen den beiden Großmächten weiter zugespitzt. Trump beklagt schon seit vielen Jahren, die USA würden von China »ausgeplündert«. Der Präsident denkt ähnlich wie sein ehema-liger Berater Bannon, der das christlich-jüdische Amerika in ei-nem »globalen Existenzkampf« mit dem islamistischen Terro-rismus einerseits und dem gottlosen Kommunismus in Gestalt von China andererseits sieht. »Die fundamentale Frage unserer Zeit«, so Trump in einer Grundsatzrede bei seinem Staatsbe-such in Polen im Juli 2017, sei die Frage, »ob der Westen den Willen hat zu überleben«.

Auch nach Bannons Ausscheiden aus dem Präsidententeam gibt es im Weißen Haus eine Reihe führender Mitarbeiter, die ihren Chef in seiner Haltung zu China bestärken. Zu ihnen zäh-len vor allem der Handelsbeauftragte Robert Lighthizer sowie Peter Navarro, Chef des Büros für Handel und Industrie.

Lighthizer, ein erklärter Wirtschaftsnationalist, macht Chi-na für »die Krise der US-Industrie« verantwortlich. Der Wirt-schaftsprofessor Navarro hat in Büchern wie »The Coming China Wars«, »Death by China« und zuletzt »Crouching Ti-ger – What Chinas Militarism Means for the World« seit Jah-ren einen konfrontativen Kurs gegen den fernöstlichen Rivalen vertreten. Peking ist für ihn »das neue Herz der Finsternis«.

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Wenngleich ein heißer Krieg zwischen den USA und China zumindest in absehbarer Zukunft eher unwahrscheinlich ist – ein neuer Kalter Krieg wie einst zwischen Washington und Moskau, zumindest aber ein Handelskrieg zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt steht ernsthaft zu befürch-ten. Trotz intensiver ökonomischer Verbindungen, so der Buch-autor und China-Kenner James Bradley, führe über den Pazifik »nur eine schmale und wacklige Brücke der Gemeinschaft«.

Die Landbrücke der Gemeinschaft von Europa nach China ist leider kaum breiter und stabiler. Das bilaterale Klima hat sich hier zuletzt ebenfalls deutlich eingetrübt. Die chinakritischen Stimmen nehmen auch auf diesem Kontinent ständig zu. We-gen heftiger Meinungsverschiedenheiten über Handels- und Investitionsfragen endete der jährliche EU-China-Gipfel im Juni 2017 schon zum zweiten Mal in Folge ohne eine gemein-same Abschlusserklärung.

Obwohl China nun seit über anderthalb Jahrzehnten der Welthandelsorganisation WTO angehört, verweigern ihm EU und USA nach wie vor den einst versprochenen Status einer Marktwirtschaft und damit verbundene Handelserleichterun-gen. China hat bei der WTO dagegen Klage erhoben und wird wohl auch recht bekommen.

Die Europäische Kommission wirft China vor, Kosten und Preise einzelner Güter durch staatliche Eingriffe zu verzerren, und hat ein neues Anti-Dumping-Regelwerk beschlossen, das an diesem Verdacht ansetzt. Daneben will sie ähnlich wie die USA chinesischen Investoren, die sie als staatsnah betrachtet, die Übernahme von Hightech- und sicherheitsrelevanten Un-ternehmen in Europa verwehren.

Die Aversion gegenüber China beschränkt sich auch in Eu-ropa nicht nur auf Fragen des wirtschaftlichen Wettbewerbs, sondern reicht tiefer. Eine Bemerkung des deutschen EU-Kom-missars und ehemaligen baden-württembergischen Minister-präsidenten Günther Oettinger hat dies 2016 schlaglichtartig

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sichtbar gemacht. Oettinger bezeichnete Chinesen öffentlich als »Schlitzaugen« und spottete über Gesprächspartner aus Peking, alle hätten »die Haare mit schwarzer Schuhcreme von links nach rechts gekämmt«.

Oettingers Chinesenbild ist, bewusst oder unbewusst, of-fenbar durch die Gestalt des Dr. Fu Manchu aus der vielfach verfilmten gleichnamigen Romanserie geprägt, in der der chi-nesische Finsterling mit teuflischen Methoden versucht, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Und wie Oettinger geht es vielen im Westen.

Bahnt sich zwischen dem in die Defensive geratenen Westen und dem vorwärtsstürmenden China also ein »Zusammenprall der Kulturen« an, vor dem der Politikwissenschaftler Samuel Huntington in seinem gleichnamigen Bestseller schon 1996 gewarnt hat und den wir in anderer Form mit Teilen der isla-mischen Kultur bereits heute erleben?

In den vergangenen Jahren, so Stephen Schwarzman, Eigen-tümer der amerikanischen Investmentgesellschaft Blackstone Group, seien ihm »die großen Kulturunterschiede« zwischen dem Westen und China immer »bewusster geworden« und hätten ihn zunehmend »beunruhigt«. Es gelte »eine Kluft des Verstehens zu überbrücken, um die Welt sicherer zu machen«, so Schwarzman  – und spendete Hunderte Millionen seines Vermögens für ein hochkarätiges Stipendiaten-Programm, bei dem künftige Führungskräfte aus aller Welt China besser ken-nenlernen sollen.

Auch wenn der Zusammenprall des Westens mit dem fern-östlichen Riesenreich anders als der mit dem islamistischen Terrorismus – bisher zumindest – vor allem auf dem Feld der Wirtschaft ausgetragen wird, stellt er für die bestehende Welt-ordnung doch die weitaus größere Herausforderung dar. »Der Westen hat keine Ahnung, was ihn mit Chinas Aufstieg erwar-tet«, so Kevin Rudd, ehemals Regierungschef von Australien und einer der besten China-Kenner in der internationalen Po-

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litik. Die USA, als globaler Hegemon und Hüter der Pax Ameri­cana an erster Stelle von diesem Aufstieg betroffen, werden sich der Herausforderung zunehmend bewusst. Hierzulande lassen die Aufmerksamkeit für und Beschäftigung mit dem »Reich der Mitte« und dem epochalen Zeitenwandel, den es erfährt, da-gegen weiter sehr zu wünschen übrig. Gerade heute, da China den Westen »zum ersten Mal real bedrängt«, konstatiert Mark Siemons, langjähriger Feuilleton-Korrespondent der »F.A.Z.« in dem Lande, wirke sich »dieser blinde Fleck besonders fatal aus«.

Deutschland kann es jedoch nicht gleichgültig sein, wenn die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China um Platz eins in der Hierachie der Weltmächte auf einen Handelskrieg oder gar eine militärische Auseinandersetzung zutreibt. Unser Wohlstand hängt in besonderem Maße von Frieden, freiem Handel und einer florierenden Weltwirtschaft ab.

Mehr noch als der islamistische Terror droht ein Fernost-West-Konflikt die gesamte Welt ins Chaos zu stürzen. Ein Krieg, selbst wenn nur regional und auf konventionelle Waffen begrenzt, würde einer Studie der RAND-Corporation zufolge eine globale wirtschaftliche Depression wie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts auslösen. Schon ein Handels-krieg der USA mit China zöge eine schwere Rezession nach sich.

Nach Jahrzehnten der Globalisierung ist die Weltwirtschaft bereits viel zu stark verflochten, als dass ein Konflikt zwischen zwei so großen Ländern sich auf diese begrenzen ließe. China und die USA stellen zusammen rund 40 Prozent des globalen Sozialprodukts, fast ein Drittel aller Auslandsinvestitionen und ein Viertel aller Exporte.

25 Prozent der gesamten amerikanischen Importe kommen aus China. Höhere Zölle, Steuern oder Abgaben darauf würden die Inflation in den USA anfachen, die Notenbank müsste die Zinsen erhöhen, der Dollar stiege auf neue Höhen, die Aus-fuhr des Landes ginge – nicht zuletzt durch entsprechende Ver-geltungsmaßnahmen Pekings – spürbar zurück. Und mit ihm

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das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft. Das wiederum ließe auch die US-Einfuhr aus anderen Ländern einbrechen, allen voran aus Deutschland.

Auch China käme ins Schlingern. 15 Prozent seiner wirt-schaftlichen Wertschöpfung entfallen auf den Export. Das größte Abnehmerland sind die Vereinigten Staaten, die größte Abnehmerregion ist Südostasien. Diese ist zum Teil stark in US-Dollar verschuldet. Ein hoher Dollarkurs würde ihre Wirt-schaft und mit ihr den chinesischen Export dorthin schwächen.

Ein Rückgang des Wachstums in den beiden größten Volks-wirtschaften und der wachstumstärksten Region der Welt ließe zudem die Rohstoffpreise verfallen und brächte damit auch die rohstoffproduzierenden Länder in Bedrängnis. Die Schleifspur zöge sich so immer weiter durch die Weltwirtschaft und würde nicht zuletzt den Exportweltmeister Deutschland hart treffen.

Nie zuvor war unsere Zukunft daher mehr mit der von China verbunden als heute. In den Augen des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping sind Deutschland und China öko-nomisch sogar bereits »unverzichtbar« füreinander geworden.

Zumindest sind sie füreinander die größten Handelspartner in ihrer jeweiligen Weltregion. Tag für Tag tauschen sie Waren im Wert von fast einer halben Milliarde Euro aus. Im Ham-burger Hafen werden sieben Mal so viele Container aus China umgeschlagen wie aus den USA. Für Deutschlands Unterneh-men ist das fernöstliche Riesenreich inzwischen der wichtigste Absatzmarkt überhaupt. Der VW-Konzern etwa verkauft dort allein 40 Prozent seiner gesamten Automobile.

Mehr als 8000 deutsche Unternehmen mit über 30 000 deutschen Experten sind in China tätig. Umgekehrt sind es bereits über 1000 chinesische Unternehmen bei uns, und ihre Zahl nimmt rapide zu.

In Deutschland leben inzwischen rund 150 000 Chine-sen. Ihre Zahl wächst von Jahr zu Jahr. 2016 schnellte allein in Frankfurt die Zahl der beim Einwohnermeldeamt mit Erst-

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wohnsitz registrierten Chinesen von zehn- auf vierzehntausend in die Höhe.

Über 8000 Deutsche studieren in China. Fast 50 000 Chi-nesen studieren bei uns  – die größte Gruppe unter den aus-ländischen Hochschülern. Hinzu kommen Tausende Internats-schüler. Ihre Zahl steigt so schnell, dass immer mehr Schulen sich gezwungen sehen, eine Obergrenze einzuführen.

Pro Jahr besuchen gut anderthalb Millionen Chinesen Deutschland als Touristen und umgekehrt über eine Million Bundesbürger das »Reich der Mitte«. Allein die Lufthansa fliegt mehr als 70 Mal in der Woche chinesische Metropolen an. Die meisten Flüge sind ausgebucht.

Regierungsvertreter und Abgeordnete aus Berlin und Peking reisen regelmäßig zu Konsultationen hin und her. Über 90 deutsche Städte und Bundesländer unterhalten Partnerschaften mit chinesischen Kommunen und Provinzen. Inzwischen gibt es hierzulande bereits 19 Konfuzius-Institute.

Die Deutschen haben – ob als Politiker oder Geschäftsleute, Kunden oder Touristen, Kommilitonen oder Kollegen, Freun-de oder Nachbarn – mit Chinesen heute also mehr zu tun als je zuvor. Nie zuvor war es daher für sie so wichtig zu wissen, wie diese denken und fühlen, salopp ausgedrückt: wie sie ti-cken. Denn nur so lassen sich die politischen, ökonomischen und menschlichen Chancen der Zusammenarbeit und des Zu-sammenlebens optimal nutzen und schädliche, ja womöglich zerstörerische Irrtümer und Missverständnisse vermeiden.

Chinas Geschichte und Kultur sind den meisten Menschen hierzulande jedoch nach wie vor unbekannt, das Denken, Füh-len und Handeln seiner Bürger ein Rätsel: irgendwie faszinie-rend, aber fremd, undurchsichtig und unbegreiflich. Der Aus-druck »Fachchinesisch« spricht für sich.

Im Geschichtsunterricht und in anderen Fächern spielt Chi-na an deutschen Schulen so gut wie keine Rolle. Selbst rudi-mentäre Kenntnisse über das älteste und volkreichste Land der

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Welt fehlen – bis in die Spitzen der Gesellschaft. Chinesisch als Fremdsprache wird immer noch viel zu selten angeboten. Im Vergleich etwa zu den USA fristet Sinologie an unseren Uni-versitäten nur ein Schattendasein. Während sich amerikanische China-Forscher auf praktische Probleme der Gegenwart und Zukunft konzentrieren, vertiefen sich ihre deutschen Kollegen vielfach in esoterische Themen aus oft ferner Vergangenheit.

Wenn der renommierte amerikanische Geschichtsprofessor und China-Kenner Arthur Waldron angesichts der aktuellen Diskussion in außenpolitischen Zirkeln seines Landes einen »tiefgreifenden Mangel an Wissen über China« beklagt, ja von einem »schwarzen Loch« spricht, müsste er Deutschland einen schwarzen Krater bescheinigen.

In unserem öffentlichen Diskurs nimmt China immer noch kaum mehr Platz ein als ein Dritte-Welt-Land. Während sich in den USA ein gutes Dutzend angesehener Forschungsinstitute und Denkfabriken intensiv mit dem zeitgenössischen China beschäftigen, tut dies hierzulande nur das Mercator Institut für China-Studien (Merics). Erst 2017 hat das Auswärtige Amt in Berlin eine eigene Asien-Abteilung eingerichtet. Die Chi-na-Wahrnehmung und -Expertise in unseren Medien ist zum großen Teil atemberaubend mangelhaft.

Sprecher und Moderatoren der Hauptnachrichtensendungen im deutschen Fernsehen können meist nicht einmal chinesische Vor- und Nachnamen auseinanderhalten. Anders als bei ande-ren Sprachen geben sie sich auch kaum Mühe, sie richtig aus-zusprechen.

Der angesehene britische »Economist« hat 2012 für Chi-na eine eigene Rubrik eingeführt, die erste und einzige feste Länderrubrik neben der für die USA seit 1942. Die »New York Times« und das »Wall Street Journal« beschäftigen rund ein Dutzend, die Nachrichtenagentur »Bloomberg« sogar an die 50 Mitarbeiter vor Ort; deutsche Medien sind – wenn überhaupt – höchstens mit zwei bis drei Journalisten in China vertreten.

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Mit ganz wenigen Ausnahmen ist ihre Berichterstattung aus dem »Reich der Mitte« gemessen an dessen wirtschaftlicher und geopolitischer Relevanz denn auch spärlich und dünn. Während jeder Tweet von US-Präsident Donald Trump seit dessen Amtsantritt hin und her gewendet wird, fand etwa die fast dreieinhalbstündige Rede des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping auf dem 19. Parteitag der KP Chinas im Oktober 2017 in deutschen Medien weithin nur oberflächliche Beachtung. Dabei stellt sie das wichtigste politische Dokument von Xis erster fünfjähriger Amtsperiode dar und gibt detailliert Aufschluss darüber, was das Land, das die Zukunft der Welt be-reits heute wesentlich mitbestimmt, in den kommenden fünf Jahren und darüber hinaus vorhat. Nur der »Spiegel« hat in einer Titelgeschichte (»Xing lai – Aufwachen!«) einige Wochen danach prominent auf die chinesische Herausforderung auf-merksam gemacht und dies selbst als »Weckruf für den Wes-ten« bezeichnet.

Meist bleibt die Berichterstattung der deutschen Medien über China aber nicht nur seicht – in der Regel ist sie auch ein-seitig und stereotyp. Die Themen sind immer wieder dieselben: Demokratie, Menschenrechte, Umweltverschmutzung, Tech-nologieklau und neuerdings auch Aufrüstung. Und natürlich: Absonderliches. Oder besser, was man dafür hält.

Im Umfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking ließ die Heinrich-Böll-Stiftung rund 4000 Artikel deutscher Medien über China auswerten. Fazit: Die Journalisten hätten weithin »Klischees über China unreflektiert kolportiert«. Daran hat sich seitdem nichts geändert.

So kann es kaum verwundern, wenn das Bild, das die Deut-schen insgesamt von China haben, große Lücken aufweist und mehrheitlich negativ ist. Konfuzius, der wichtigste Denker des Landes und einer der bedeutendsten der Weltgeschichte, gilt den meisten, wenn sie denn überhaupt je von ihm gehört ha-ben, als eine Art Spruchbeutel.

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