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Platon Protagoras (Prôtagoras)

Platon - Zeit für Dich ...pokrates, für was haltet ihr denn den Protagoras, daß ihr willens seid, ihm Geld zu bezahlen?« -was würden wir ihm wohl antworten? Mit was für einem

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Page 1: Platon - Zeit für Dich ...pokrates, für was haltet ihr denn den Protagoras, daß ihr willens seid, ihm Geld zu bezahlen?« -was würden wir ihm wohl antworten? Mit was für einem

Platon

Protagoras

(Prôtagoras)

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2Platon: Protagoras

Sokrates und ein Freund desselben

In der Erzählung des Sokrates treten auf:Sokrates · Hippokrates · Protagoras · Alkibiades ·

Kallias · Kritias · Prodikos · Hippias

Der Freund: Ei, Sokrates, woher kommst du denn?Oder was frage ich? Sicherlich von der Jagd auf dieReize des Alkibiades. Und in der Tat, als ich ihnnur erst neulich sah, schien er mir doch immer einschöner Mann zu sein, aber doch schon ein Mann,lieber Sokrates, unter uns gesagt, mit bereits ziem-lich vollem Bartwuchse.

Sokrates: Was verschlägt denn das? Bist du dennwirklich nicht mit dem Homeros einverstanden, derda sagte, daß die Zeit der reizendsten Jugendblütedie des ersten kräftigen Bartwuchses sei, in welchereben jetzt sich Alkibiades befindet?

Der Freund: Nun, wie steht es also damit? Kommstdu von ihm? Und wie ist der junge Mann gegendich gesinnt?

Sokrates: Ich denke, gut, und zumal an dem heutigenTage. Sprach er doch vieles zu meinen Gunstenund leistete mir Beistand, und so komme ich aucheben erst von ihm. Etwas Seltsames jedoch mußich dir berichten. Trotz seiner Anwesenheit nämlich

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3Platon: Protagoras

schenkte ich ihm doch gar keine Aufmerksamkeit,ja, ich dachte oft gar nicht an ihn.

Der Freund: Was kann denn so Wichtiges mit dirund ihm vorgegangen sein? Denn schwerlich bistdu doch wohl auf einen anderen, schöneren Manngetroffen, wenigstens nicht hier in der Stadt.

Sokrates: Doch, und noch dazu auf einen viel schöne-ren.

Der Freund: Das wäre! Aus der Stadt oder aus derFremde?

Sokrates: Aus der Fremde.Der Freund: Woher denn?Sokrates: Aus Abdera.Der Freund: Und so schön dünkte dich der Fremde

zu sein, daß er dir noch schöner als des KleiniasSohn erschien?

Sokrates: Wie hätte mir denn nicht, mein Guter, dasWeisere auch als das Schönere erscheinen sollen?

Der Freund: Also von einer Zusammenkunft miteinem weisen Mann kommst du uns her, lieber So-krates?

Sokrates: Und zwar mit dem weisesten sogar, wenig-stens unter den Jetztlebenden, wenn dir anders Pro-tagoras dafür gilt.

Der Freund: Was du sagst! Protagoras ist bei unseingezogen?

Sokrates: Es ist heute schon der dritte Tag.

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4Platon: Protagoras

Der Freund: Und eben also bist du mit ihm beisam-men gewesen?

Sokrates: Jawohl, und ich habe viel mit ihm gespro-chen und seinen Reden zugehört.

Der Freund: So erzähle uns denn schnell diese Unter-haltung wieder, wenn dich anders nichts davon ab-hält! Komm, setze dich hier zu uns und laß jenenBurschen da aufstehen!

Sokrates: Recht gern, ich werde es euch sogar nochDank wissen, wenn ihr zuhören wollt.

Der Freund: Wahrlich auch wir dir, wenn du erzäh-len willst.

Sokrates: Da wäre also der Dank beiderseitig. Sohöret denn!

In dieser vergangenen Nacht, als kaum der Mor-gen graute, klopfte Hippokrates, der Sohn desApollodoros, Phasons Bruder, gar heftig mit demStocke an meine Türe, und sobald man ihm aufge-macht hatte, stürzte er sofort zu mir herein und riefmit lauter Stimme: Sokrates, wachst du oderschläfst du?

Ich aber, der ich seine Stimme erkannte, erwider-te: Das ist Hippokrates! Du bringst doch wohlkeine schlimmen Neuigkeiten?

Keineswegs, versetzte er, sondern nur gute.Mögest du wahr sprechen! sagte ich. Was gibt

es aber und warum kommst du schon so früh?

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5Platon: Protagoras

Protagoras ist angekommen, antwortete er,indem er zu mir herantrat.

Schon vorgestern, entgegnete ich, und du hast eserst eben erfahren?

Ja, bei den Göttern, versetzte er, erst gesternabend. Und dabei tastete er nach dem Bettgestell,setzte sich zu meinen Füßen und fuhr fort: Freilicherst gestern abend, weil ich nämlich erst ganz spätaus Oinoë zurückkehrte. Denn mein Sklave, derSatyros, war mir entlaufen, und ich hatte denn auchdie Absicht, dir zu sagen, daß ich ihm nachsetzenwollte, vergaß es aber über einer anderen Besor-gung. Als ich nun zurückgekehrt war und wir zuAbend gegessen hatten und uns zur Ruhe begebenwollten, da sagt mir mein Bruder, Protagoras seiangekommen. Da hatte ich denn nicht übel Lust,noch sogleich zu dir zu gehen: hinterher aberschien es mir doch schon allzu spät in der Nacht zusein. Sobald mich aber nach einer solchen Anstren-gung der Schlaf nur verlassen hatte, stand ich so-fort auf und machte mich hierher auf den Weg.

Ich nun, der ich sein heftiges und ungestümesWesen kenne, fragte ihn darauf: Was verschlägtdenn das dir? Hat dir Protagoras etwas zu Leidegetan?

Da lachte er und sagte: Ja, bei den Göttern, So-krates, daß er allein weise ist und mich nicht dazu

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macht!O doch, beim Zeus, entgegnete ich, wenn du ihm

Geld und gute Worte gibst, wird er auch dich weisemachen.

Möchte es doch, rief er aus, o Zeus und ihr Göt-ter, nur daran liegen, so wollte ich weder mit mei-nem eigenen Vermögen irgendwie kargen, nochauch mit dem meiner Freunde. Abei gerade deswe-gen komme ich eben jetzt zu dir, um dich zu bitten,meinetwegen mit ihm zu sprechen. Denn ich selberbin teils noch zu jung, teils habe ich den Protagorasniemals weder gesehen noch gehört: denn ich warnoch ein Kind, als er das vorige Mal sich hier auf-hielt. Aber alle, mein Sokrates, loben ja den Mannund schreiben ihm die höchste Gewandtheit derRede zu. Laß uns denn also gleich zu ihm gehen,damit wir ihn zu Hause treffen; er wohnt aber, wieich gehört habe, bei Kallias, dem Sohne des Hip-ponikos. Auf, laß uns gehen!

Ich aber wandte ein: Noch nicht, mein Guter,denn es ist noch zu früh: sondern hier in den Hofwollen wir hinabgehen und dort so lange umher-wandeln, bis es Tag wird; dann ist es Zeit. Über-dies hält sich ja Protagoras meistens zu Hause auf,so daß wir ihn aller Wahrscheinlichkeit nach auchdort antreffen werden; sei deshalb unbesorgt!

Und damit erhoben wir uns und wandelten im

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Hofe herum. Ich aber, um die Beharrlichkeit desHippokrates zu erproben, faßte ihn scharf ins Augeund fragte ihn: Sage mir, Hippokrates, zum Prota-goras hast du jetzt vor zu gehen, um ihm Geld fürseinen dir zu erteilenden Unterricht als Ehrensoldzu bezahlen: was denkst du denn dabei in ihm zufinden und was durch ihn zu werden? Wenn dunämlich zum Beispiel zu deinem Namensvetter,dem Hippokrates aus Kos, dem Asklepiaden, gehenund ihm Lehrgeld für dich bezahlen wolltest undnun jemand dich fragte: »Sage mir, Hippokrates,was denkst du denn in dem Hippokrates zu finden,wofür du ihm Lehrgeld zahlen willst?« - was wür-dest du dann wohl antworten?

Ich würde sagen, erwiderte er, »einen Arzt«.Und um was zu werden?Ein Arzt, sprach er.Wenn du aber zum Argeier Polykleitos oder zum

Athener Pheidias zu gehen und ihnen Lehrgeld fürdich zu zahlen gedächtest, und es fragte dich je-mand: »Für was gelten dir Polykleitos und Pheidi-as, daß du ihnen diese Geldsumme zu zahlen imSinne hast?« - was würdest du wohl antworten?

Da würde ich sagen: »für Bildhauer«.Und was gedenkst du selber bei ihnen zu wer-

den?Offenbar ein Bildhauer.

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Gut, sagte ich. Nun aber gehen wir beide jetztzum Protagoras und sind bereit, ihm das Lehrgeldfür dich zu bezahlen, indem wir unser eigenes Ver-mögen, wenn es anders dazu ausreicht und wir ihndamit zu gewinnen imstande sind, wo aber nicht,auch noch das unserer Freunde mit darauf verwen-den. Wenn nun jemand uns, da wir so eifrig hieraufaus sind, fragte: »Sagt mir doch, Sokrates und Hip-pokrates, für was haltet ihr denn den Protagoras,daß ihr willens seid, ihm Geld zu bezahlen?« -waswürden wir ihm wohl antworten? Mit was füreinem Namen hören wir den Protagoras sonst nochbezeichnen, wie den Pheidias als einen Bildhauerund den Homeros als einen Dichter? Was für einenNamen dieser Art hören wir dem Protagorasgeben?

Einen Sophisten, lieber Sokrates, nennen ja dieLeute den Mann, erwiderte er.

Als einem Sophisten also wollen wir ihm Lehr-geld zahlen?

Allerdings.Wenn dir nun aber jemand auch noch die weitere

Frage vorlegte: »Um was denn selber zu werdengehst du zum Protagoras?« - - -

Da errötete er - denn der Tag brach schon etwashindurch, so daß man es deutlich an ihm bemerkenkonnte - und sprach: Wenn es sich damit

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irgendwie ebenso wie mit den vorigen Beispielenverhält, offenbar, um ein Sophist zu werden.

Du aber, fuhr ich fort, bei den Göttern, würdestdich nicht schämen, vor den Hellenen dich selberals einen Sophisten hinzustellen?

Ja, beim Zeus, Sokrates, wenn ich doch sagensoll, was ich denke.

Aber vielleicht, mein Hippokrates, erwartest duauch gar nicht, daß deine Unterweisung beim Pro-tagoras von dieser Art sein soll, sondern ähnlichwie sie dir von deinem Elementarlehrer, deinemMusiklehrer und deinem Turnlehrer zuteil ward.Denn alle diese Gegenstände lerntest du nicht zumZwecke ihrer gewerbsmäßigen Ausübung, um einstselber als Meister in ihnen aufzutreten, sondernzum Zwecke deiner Bildung, wie es sich für einenfreien Mann geziemt, welcher ganz aus eigenenMitteln und seinen eigenen Zwecken lebt.

Allerdings, antwortete er, scheint mir die Unter-weisung beim Protagoras mehr von dieser Art zusein.

Weißt du denn nun, was du jetzt zu tun im Be-griffe bist, oder entgeht es dir? sagte ich.

Inwiefern?Daß du im Begriffe bist, deine Seele zur Pflege

einem Manne anzuvertrauen, den du einen Sophi-sten nennst, während es doch mich wundern sollte,

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wenn du weißt, was denn eigentlich ein Sophist ist.Und doch, wenn dir dies unbekannt ist, weißt duauch nicht, wem du deine Seele übergibst, noch obzu etwas Gutem oder Schlechtem.

Das glaube ich wenigstens, entgegnete er, denndoch zu wissen.

So sprich: Was denkst du dir denn unter einemSophisten?

Ich meinesteils, versetzte er, wie dies der Namebesagt, einen Mann, der im Besitze von Kenntnis-sen ist.

Aber ganz dasselbe, wandte ich ein, kann man jaauch von Malern und Baumeistern sagen, daß sieLeute sind, welche Kenntnisse besitzen; und wennuns daher jemand fragte; »Worauf erstrecken sichdenn die Kenntnisse, welche die Maler besitzen?«- so würden wir ihm wohl erwidern: »Auf alles,was dazu erforderlich ist, um Gemälde zu schaffen«und ähnlich verhält es sich auch mit allen anderenFällen. Wenn uns nun jemand ebenso fragte: »Aufwas erstrecken sich denn die Kenntnisse eines So-phisten?« - was mögen wir ihm dann antworten?Was für ein Werk versteht ein solcher zu schaffen?

Was für ein anderes Werk sollten wir ihm zu-schreiben, lieber Sokrates, als daß er sich daraufverstehe, Leute heranzubilden, welche geübt imReden sind?

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Vielleicht, erwiderte ich, würden wir uns damitrichtig ausdrücken, aber doch nicht erschöpfend;denn diese unsere Antwort macht eine neue Fragenötig, nämlich was denn der Gegenstand der Redenist, in welchen der Sophist geübt macht, gleichwieder Zitherspieler doch wohl über eben denselbenGegenstand auch zu reden geübt macht, dessenKunde er überhaupt mitteilt, nämlich über das Zi-therspiel. Nicht wahr?

Ja.Gut; also der Sophist - im Reden worüber

macht er denn geübt? Offenbar im Reden über das,worauf er sich auch versteht?

Natürlich.Was für ein Gegenstand ist es denn also, dessen

der Sophist sowohl selber kundig ist, als auch des-sen er seinen Schüler kundig macht?

Beim Zeus, versetzte er, das weiß ich dir nichtweiter zu sagen.

Und ich sagte darauf: Wie nun? Weißt du, wel-cher Gefahr du deine Seele auszusetzen auf demWege bist? Oder würdest du, wenn du deinen Kör-per jemandem anvertrauen solltest, auf die Gefahrhin, daß derselbe dabei gedeihe oder verderbe, esnicht reiflich zuvor überlegen, ob du ihn ihm auchanvertrauen dürfest oder nicht, und deine Freundeund Anverwandten dabei zu Rate ziehen und ganze

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Tage lang die Sache in Erwägung nehmen? Was duaber höher anschlägst als den Körper, und von des-sen Gedeihen oder Verderben dein ganzes Wohlund Wehe abhängt, ich meine deine Seele, - hier-über hast du dich weder mit deinem Vater noch mitdeinem Bruder noch mit irgend einem von uns, dei-nen Freunden, beraten, ob du nämlich sie diesemgerade herzukommenden Fremdlinge anvertrauendürftest oder nicht; sondern kaum hast du gesternabend, wie du selber sagst, von seiner Ankunft ge-hört, da kommst du schon heute in aller Frühe undverlierst kein Wort noch verlangst Rat darüber, obdu dich ihm anvertrauen sollest oder nicht, sondernbist bereit, dein und deiner Freunde Vermögendaran zu wenden, als wärest du darüber schon imklaren, daß du dich jedenfalls dem Protagoras an-schließen müssest, da du doch nach deiner eigenenAussage ihn weder kennst noch jemals mit ihm ge-sprochen hast, sondern ihn nur als einen Sophistenzu bezeichnen weißt, dabei aber darüber, was einSophist eigentlich ist, eine offenbare Unkenntnis anden Tag legst, und dich doch ohne weiteres einemsolchen anzuvertrauen gedenkst.

Als er das vernommen, gab er zu: So scheint esallerdings, lieber Sokrates, nach deiner Erörterungzu stehen. Ist nun nicht, Hippokrates, der Sophisteine Art Großhändler oder Krämer mit solchen

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Waren, welche der Seele zur Nahrung dienen?Mir scheint er ein solcher zu sein.Was dient aber, fuhr ich fort, der Seele zur Nah-

rung?Kenntnisse doch wohl, lieber Sokrates.Nun, daß da nur nicht, lieber Freund, der So-

phist durch Anpreisung dessen, was er verkauft,uns betrüge, wie die Großhändler und Krämer mitNahrungsmitteln für den Leib! Denn auch diesewissen schwerlich weder selbst etwas davon, wasvon den Waren, die sie führen, heilsam oder schäd-lich für den Körper ist, preisen aber doch allesbeim Verkaufe an, noch auch wissen die etwasdavon, welche von ihnen kaufen, es müßte denn derKäufer gerade ein Turnlehrer oder ein Arzt sein.Ebenso nun preisen auch diejenigen, welche mitihren Kenntnissen von Stadt zu Stadt umherziehen,um diese einem jeden, welcher gerade nach ihnenBegehr trägt, im großen zu verhandeln und im klei-nen zu verhökern, ihm alles an, was sie feilbieten,und leicht möchten auch von diesen, mein Bester,manche nicht wissen, was von ihren Handelsarti-keln heilsam oder schädlich für die Seele ist, undebensowenig ihre Abnehmer, wenn nicht auch hierwieder einer von ihnen gerade ein Seelenarzt ist.Verstehst du dich also gerade darauf, was davonheilsam und schädlich ist, so kannst du ohne

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Gefahr Kenntnisse vom Protagoras so gut wie vonjedem anderen einkaufen: wenn aber nicht, dannsiehe dich vor, mein Bester, daß du nicht dein Teu-erstes auf das Spiel setzest und gefährdest! Dennweit größere Gefahr ist ja schon ohnehin beim Ein-kauf der Kenntnisse als bei dem der Speisen. Spei-se und Getränke nämlich, die man bei irgendwemerstanden hat, kann man in anderen Gefäßen weg-tragen und, bevor man sie durch Essen und Trinkenin den Leib aufnimmt, erst zu Hause hinstellen unddann einen Sachverständigen herbeiziehen und sichbei ihm darüber Rats erholen, was man davonessen und trinken soll und was nicht, und wievielund wann, so daß bei diesem Kaufe die Gefahrnicht groß ist. Kenntnisse dagegen kann man nichtin einem anderen Gefäße heimtragen; sondern diesekann man, wenn man den Kaufpreis dafür erlegte,nur dadurch, daß man sie in die Seele selber auf-nimmt, sich aneignen und so hernach mit ihnen vondannen gehen auf gut Glück, ob man sich dadurchSchaden oder Nutzen getan hat. Diese Angelegen-heit laß uns daher sogar auch noch mit solchen, dieälter als wir sind, überlegen; denn wir sind noch zujung, um über eine Sache von solcher Wichtigkeitentscheiden zu können. Zunächst indessen wollenwir, wie wir uns vorgenommen, hingehen und denMann hören, sodann aber über das Gehörte auch

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mit anderen uns beraten. Denn auch dort gleich anOrt und Stelle finden wir nicht den Protagoras al-lein, sondern auch den Hippias von Elis, ich denkeferner auch den Prodikos aus Keos und noch vieleandere weise Männer.

Nachdem wir nun dies beschlossen hatten,machten wir uns auf den Weg. Als wir aber aufdem Platze vor der Türe angelangt waren, bliebenwir stehen, um uns noch über einen Gegenstand zuunterhalten, auf welchen wir unterwegs verfallenwaren. Um also diesen nicht unausgeführt zu las-sen, sondern ihn noch vor unserem Eintreten zu er-ledigen, verweilten wir uns hier und besprachen ihnweiter, bis wir uns über ihn geeinigt hatten. Dasmochte nun wohl der Türhüter, ein Verschnittener,mit angehört haben, und überdies scheint er wegender Menge der herzuströmenden Sophisten gegenalle, welche das Haus betreten, mißtrauisch zu sein.Kurz, als wir an die Türe geklopft hatten, tiefer,nachdem er geöffnet und uns erblickt: »O weh,wieder Sophisten! Der Herr hat keine Zeit.« Undzugleich schlug er mit beiden Händen gar hastig, sostark er nur konnte, die Türe wieder zu, und als wirnun von neuem anpochten, da gab er uns hinterverschlossener Türe zur Antwort: »Ihr Leute, habtihr denn nicht gehört, daß der Herr keine Zeit hat?«

Aber, mein Guter, beschwichtigte ich ihn,

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beruhige dich nur, wir wollen weder zum Kallias,noch sind wir Sophisten. Wir wünschen vielmehrnur den Protagoras zu sprechen. Melde uns alsoihm an!

So erlangten wir es denn endlich mit genauerNot, daß uns der Mensch die Türe aufmachte.

Als wir nun eingetreten waren, trafen wir denProtagoras in dem vorderen Säulengange herum-wandelnd. Neben ihm aber gingen auf der einenSeite Kallias, der Sohn des Hipponikos, und seinBruder von mütterlicher Seite, Paralos, der Sohndes Perikles, und Charmides, der Sohn des Glau-kon, auf der anderen aber der andere Sohn des Peri-kles, Xanthippos, ferner Philippides, des Philome-los Sohn, und Antimoiros von Mende, der am mei-sten in Ruf steht von den Schülern des Protagorasund als eigentlicher Kunstjünger bei ihm lernt, umselber Sophist zu werden. Andere aber zogen hin-terdrein und hörten dem, was gesprochen wurde,zu, und von diesen schien der größte Teil ausFremden zu bestehen, welche Protagoras aus allenStädten, durch welche er auch kommen mag, hintersich herzieht durch den Zauber seines Mundes, wieOrpheus, sodaß sie alle willenlos diesem Zaubernachfolgen; es waren aber auch einige von den Ein-heimischen in diesem Reigen. An dem Anblickedieses letzteren nun hatte ich am meisten meine

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Freude, nämlich darüber, wie hübsch diese stum-men Zuhörer sich davor in acht nahmen, dem Pro-tagoras vorne in den Weg zu treten, vielmehr, soofter und die, die mit ihm gingen, sich umdrehten,sich sittig und wohlgeregelt auf beide Seiten ver-teilten, kehrtmachten und sich dann hinten in derschönsten Ordnung wieder anschlössen.

Jenem zunächst erblickt' ich, wie Homeros sagt,den Hippias aus Elis, welcher in dem gegenüberlie-genden Säulengange sich in einen Lehnsessel ge-streckt hatte; um ihn herum aber saßen auf BänkenEryximachos, des Akumenos Sohn, Phaidros ausMyrrinus, Andron, des Androtion Sohn, und vonFremden mehrere Landsleute des Hippias und eini-ge andere, und man konnte bemerken, daß sie ihmgerade Fragen aus der Welt - und Sternkunde,nämlich über die Natur des Alls und die Himmels-erscheinungen vorlegten, und wie er von seinemSessel aus einem jeden von ihnen Auskunft überdas Gefragte gab und es mit ihnen durchging.

Auch den Tantalos ferner schauet' ich. Denn eswar wirklich auch Prodikos aus Keos da und be-fand sich in einem Gemache, welches vordem Hip-ponikos als Vorratskammer benutzt hatte; jetztaber hat wegen der Menge der Einkehrenden Kal-lias auch dieses ausgeräumt und zur Aufnahme vonFremden eingerichtet. Prodikos nun lag noch im

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Bette, eingehüllt in Pelze und Decken, und zwar innicht wenig, wie der Augenschein lehrte; ihm zurSeite aber saßen auf den nahestehenden RuhebettenPausanias aus Kerameis und neben diesem einnoch sehr junger Mensch, von schönen und treffli-chen Anlagen, wie es mir vorkam, jedenfalls abervon Gestalt überaus schön. Wenn ich mich rechterinnere, so hörte ich, daß sein Name Agathon sei,und es sollte mich nicht wundern, wenn er der Ge-liebte des Pausanias wäre. Dieser junge Menschalso war dort zugegen, und die beiden Adeimantosferner, den Sohn des Kepis und den des Leukolo-phides, und noch einige andere erblickte man da-selbst. Worüber sie aber sprachen, konnte ich vondraußen nicht verstehen, so dringend ich auchwünschte, den Prodikos zu hören - denn gar hoch-weise und göttlich scheint mir der Mann zu sein -;sondern der dumpfe Widerhall, welchen der tiefeTon seiner Stimme in dem Gemache gab, machteseine Worte unvernehmlich.

Kaum nun waren wir eingetreten, da kamen hin-ter uns her noch Alkibiades der Schöne - so nennstdu ihn ja, und ich glaube gern, nicht mit Unrecht -und Kritias, der Sohn des Kallaischros.

Wir nun blieben nach unserem Eintritte noch einwenig stehen, um uns dies alles in Augenschein zunehmen; sodann aber gingen wir auf den

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19Platon: Protagoras

Protagoras zu, und ich sprach zu ihm: Protagoras,dir gilt unser Besuch, der meine und der des Hip-pokrates hier.

Wollt ihr, versetzte er darauf, mit mir alleinsprechen oder in Gegenwart auch der übrigen?

Uns, entgegnete ich, ist das einerlei. Vernimmden Zweck unseres Kommens und entscheide dannselber!

Nun, was ist denn dieser Zweck? fragte er.Hippokrates da ist von hier gebürtig, ein Sohn

des Apollodoros, und stammt aus einem angesehe-nen und wohlhabenden Hause, und was seine eige-ne Person betrifft, so dürfte er an natürlichen Anla-gen es wohl mit allen seinen Altersgenossen auf-nehmen, und so hat er denn auch, wie mir scheint,das Streben, sich im Staate einen Namen zu ma-chen; dies aber glaubt er am besten erreichen zukönnen durch deinen belehrenden Umgang. Dem-nach überlege du jetzt, ob du hierüber mit uns al-lein dich glaubst besprechen zu müssen oder imBeisein anderer!

Das ist recht, lieber Sokrates, antwortete er, daßdu so rücksichtsvoll gegen mich bist. Denn einFremdling, welcher in große Städte kommt und inihnen gerade die ausgezeichnetsten Jünglinge über-redet, den Umgang mit allen anderen, Angehörigenund Nichtangehörigen, Älteren und Jüngeren,

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aufzugeben und sich ihm anzuschließen, um durchseinen Umgang sich zu veredeln, muß dabei vor-sichtig zu Werke gehen; denn es erwachsen ihmdaraus in nicht geringem Grade Mißgunst und an-dere Anfeindungen und Nachstellungen. Darum be-haupte ich denn auch, daß die Sophistenkunstschon alt ist, daß aber diejenigen von den Altvorde-ren, die sie ausübten, aus Furcht vor der ihr ankle-benden Gehässigkeit einen Vorwand und Deck-mantel für sie gebraucht haben, einige die Dicht-kunst, wie Homeros, Hesiodos und Simonides, an-dere wieder heilige Gebräuche und Sehersprüche,wie Orpheus und Musaios und ihre Anhänger. Ja,einzelne, habe ich bemerkt, gebrauchten sogar dieTurnkunst hierzu, wie z.B. Ikkos aus Tarent undHerodikos, der Selymbrianer genannt, ursprünglichaber aus Megara gebürtig, welcher noch jetzt alsSophist keinem anderen nachsteht. Die Tonkunstaber gebrauchte euer Landsmann Agathokles, eingroßer Sophist, als Aushängeschild, ferner Py-thokleides aus Keos und viele andere. Diese alle,wie gesagt, bedienten sich aus Furcht Vor demNeide dieser Künste als Deckmantel; ich aber binmit ihnen allen in diesem Punkte nicht einverstan-den, sondern glaube, daß sie doch ihre Absicht kei-neswegs erreicht haben. Sie täuschten nämlich die-jenigen doch nicht, welche in den Staaten Einfluß

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und Macht in Händen haben und auf welche dochallein diese Masken berechnet waren, da der großeHaufe, geradezu gesagt, überhaupt gar nichtsmerkt, sondern nur in den Ton mit einstimmt, denjene angeben. Wenn aber einer zu entwischen ver-sucht und nicht damit durchkommt, sondern sichdabei ertappen läßt, so hat er schon an sich ein sehrtörichtes Unternehmen begonnen, und außerdemmacht er notwendig die Leute dadurch nur nochviel mehr aufgebracht gegen sich; denn sie halteneinen solchen Menschen zu allem anderen auchnoch für einen Schelm. Ich habe daher auch dendem ihren ganz entgegengesetzten Weg eingeschla-gen und gebe zu, daß ich ein Sophist bin und michdamit abgebe, die Menschen zu bilden, und glaube,daß diese Vorsichtsmaßregel besser als Jene ist,nämlich es offen einzugestehen, anstatt es leugnenzu wollen. Dazu bin ich dann noch auf andere Vor-sichtsmaßregeln bedacht gewesen, so daß mir mitGottes Beistand noch nichts Übles durch diesesGeständnis widerfahren ist, daß ich ein Sophist sei,obschon ich doch bereits seit vielen Jahren dieseKunst betreibe. Zähle ich doch überhaupt derenschon viele, und es ist keiner unter euch allen, des-sen Vater ich nicht meinem Alter nach sein könnte.Darum ist es mir bei weitem am angenehmsten,wenn ihr über eure Wünsche in Gegenwart aller,

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die hier im Hause anwesend sind, mit mir redenwollt.

Ich nun - denn ich vermutete, daß er sich vordem Prodikos und Hippias zeigen und damit brü-sten wollte, daß wir als Verehrer von ihm gekom-men wären - bemerkte darauf: Wohlan, rufen wiralso schnell den Prodikos und Hippias mit ihrenJüngern herbei, damit sie uns zuhören!

Ja, allerdings, sagte Protagoras.Ist es euch dann nicht recht, fragte Kallias, daß

wir einen Sitzkreis einrichten, damit ihr euch sit-zend unterhalten könnt?

Alles war damit einverstanden, und hocherfreut,daß wir weise Männer hören sollten, griffen wirsogar alle selber nach den Bänken und Ruhebettenund richteten uns neben dem Hippias ein; denn dortwaren die Bänke bereits vorhanden. Unterdessenaber kamen Kritias und Alkibiades auch mit demProdikos, den sie zum Aufstehen von seinem Lagerbewogen hatten, und mit seinen Genossen herbei.

Als wir nun so alle beisammen saßen, da begannProtagoras: Jetzt, lieber Sokrates, da nunmehr auchdiese hier zugegen sind, sprichst du dich denn wohlüber die Angelegenheit dieses Jünglings aus, derendu kurz zuvor gegen mich gedachtest.

Und ich erwiderte: So beginne ich denn, lieberProtagoras, den Zweck meines Kommens ebenso

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wie vorher vorzutragen: Hippokrates hier trägtVerlangen nach deinem belehrenden Umgange.Welchen Gewinn er nun aber aus diesem ziehenwird, das, sagt er, möchte er gern erfahren. So weitnun unser Anliegen.

Da nahm denn Protagoras wieder das Wort undsprach: Junger Mann, den Gewinn wirst du aus ihmempfangen, daß du schon an dem Tage, an wel-chem du zuerst mit mir verkehrt hast, als ein tüchti-ger Mann nach Hause zurückkehrst, und am fol-genden desgleichen, und daß du so stets mit jedemTage zum Besseren fortschreiten wirst.

Als ich dies hörte, versetzte ich: Lieber Protago-ras, damit sagst du aber gar nichts Wunderbares,sondern etwas ganz Natürliches; denn auch du, ob-wohl du schon so alt und so weise bist, würdestdoch, wenn dich jemand das lehrte, was du geradenoch nicht weißt, dadurch tüchtiger werden; darumantworte mir nicht also, sondern wie wenn z.B.Hippokrates da sein Begehren änderte und viel-mehr nach der Unterweisung jenes jungen Mannes,welcher jetzt neuerdings hier angekommen ist, desZeuxippos von Herakleia, Verlangen trüge, demge-mäß zu ihm hinginge, so wie jetzt zu dir, und vonihm eben dasselbe hörte wie von dir, daß er vonTag zu Tag durch den Verkehr mit ihm tüchtigerwerden und Fortschritte machen werde, ihn dann

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weiter fragen würde: »Worin meinst du denn, daßich tüchtiger werden und Fortschritte machensoll?« und wie dann Zeuxippos ihm antwortenwürde: »In der Malerei«; oder wie, wenn er sich anden Thebaner Orthagoras wendete und auch vonihm eben dasselbe zu hören bekäme wie von dir, erauch an ihn ganz die gleiche weitere Frage richtenund von ihm zur Antwort bekommen würde: »ImFlötenspiel«: ebenso gib nun auch du diesem jun-gen Manne Auskunft und mir, der ich an seinerStatt frage: Hippokrates da wird also durch denVerkehr mit dem Protagoras schon am ersten Tageals ein tüchtigerer Mann vondannen gehen undebenso an jedem der folgenden Tage Fortschrittemachen; worin denn nun aber, lieber Protagoras,und in welcher Hinsicht?

Als nun Protagoras mich so reden hörte, versetz-te er: Du weißt gut zu fragen, Sokrates, und ichantworte denen, die dies tun, mit Vergnügen. WennHippokrates sich bei mir in die Schule begibt, wirdes ihm nicht so ergehen wie bei allen anderen So-phisten. Denn diese alle mißhandeln die jungenLeute. Nachdem die letztem nämlich eben erst denKünsten und Wissenschaften glücklich entronnensind, führen sie diese ganz gegen ihren Willengleich wieder gewaltsam in die Künste und Wis-senschaften hinein, indem sie sie in der

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Rechenkunst, Sternkunde, Meßkunst und Musikunterrichten - dabei warf er einen Seitenblick aufden Hippias -; wenn Hippokrates dagegen zu mirkommt, so wird er durchaus nichts anderes lernen,als was er eben dabei zu lernen bezweckt hat. DerGegenstand dieses Unterrichts aber ist Wohlbera-tenheit, sowohl in seinen eigenen Angelegenheiten,wie er nämlich am besten sein eigenes Hauswesenverwalten möge, als auch in denen des Staates, wieer nämlich am meisten fähig sein werde, im Staatedurch Tat und Rede zu wirken.

Verstehe ich, erwiderte ich, deine Erklärungrecht; Du scheinst mir die Staatskunst zu meinenund dich anheischig zu machen, die Leute zu tüch-tigen Staatsbürgern auszubilden.

Jawohl, das gerade eben ist es, wozu ich michanheischig mache.

Da besitzest du traun, erwiderte ich, eine schöneKunst, wenn du sie nämlich wirklich besitzest;denn ich will durchaus nicht anders zu dir reden,als wie ich denke. Ich dachte nämlich, lieber Prota-goras, daß sich so etwas nicht lehren lasse: nunaber, da du es sagst, muß ich es wohl glauben.Warum ich aber meine, daß es sich nicht lehrenlasse und von einem Menschen dem andern nichtbeigebracht werden könne, darüber will ich die Er-klärung nicht schuldig bleiben. Ich halte nämlich,

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wie dies die anderen Hellenen auch tun, die Athe-ner für gescheite Leute, und nun sehe ich, daß sie,wenn wir zur Volksversammlung zusammentretenund der Staat dann im Bauwesen etwas auszufüh-ren hat, die Bauverständigen als Ratgeber hierbeihinzuziehen, und wenn im Schiffbauwesen, dieSchiffbaumeister, und ebenso in allen anderen Din-gen, die sie für lehr- und lernbar halten; wenn da-gegen irgend ein anderer ihnen hierüber Rat ertei-len will, den sie nicht für einen Kunstverständigenansehen, mag er auch noch so wohlgestaltet, reichund edelgeboren sein, so nehmen sie doch nichtsde-stoweniger seinen Rat nicht an, sondern lachen ihnaus und lärmen so lange, bis er entweder, in seinemVersuche, zu Worte zu kommen, durch ihr Lärmenübertäubt, von selber wieder abtritt oder die Poli-zeisoldaten auf den Befehl der Prytanen ihn von derRednerbühne herunterziehen oder gar hinauswer-fen. Mit allen Dingen also, welche nach ihrer Mei-nung Sache der Kunst sind, verfahren sie in dieserWeise. Wenn es sich dagegen darum handelt, überdie Staatsverwaltung Beschlüsse zu fassen, danntritt auf und erteilt ihnen darüber seinen Rat in glei-cher Weise der Zimmermann wie der Schmied,Schuster, Kaufmann und Schiffsreeder, Reich undArm, Vornehme und Geringe, und niemand machtihm dann dies zum Vorwurfe, wie im vorigen Falle,

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daß er, ohne dies irgendwoher gelernt oder irgendeinen Lehrmeister hierin gehabt zu haben, dennochhierüber Rat zu erteilen sich unterfängt, offenbardoch, weil alle dafür halten, daß dies kein Gegen-stand des Lernens und Lehrens ist. Und diese An-sicht herrscht nicht etwa bloß in der Gesamtheit derVolksgemeinde, sondern auch für ihr Teil sind dieklügsten und besten unserer Mitbürger nicht im-stande, die Tüchtigkeit, welche sie selber besitzen,anderen mitzuteilen. Denn Perikles, der Vater die-ser Jünglinge hier, ließ diese in allem, was Lehrerbeibringen können, gut und trefflich unterrichten;in dem aber, worin er selber sich auszeichnet, un-terrichtet er sie weder selbst, noch überweist er sieeinem anderen, sondern sie laufen gleichsam ohneHirten auf der Weide umher, ob sie dabei etwa vonselbst darauf stoßen möchten. Oder, wenn du lieberwillst, den Kleinias, den jüngeren Bruder unseresAlkibiades hier, trennte eben dieser selbe Mann,nämlich Perikles, als sein Vormund, offenbar ausFurcht, er möge vom Alkibiades verdorben werden,von diesem letzteren und gab ihn in das Haus desAriphron, um ihn dort erziehen zu lassen; doch ehesechs Monate verstrichen waren, gab er ihn demAlkibiades zurück, weil er doch nichts mit ihm an-zufangen wußte. Und so kann ich dir noch viele an-dere nennen, welche trotz ihrer eigenen

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Trefflichkeit doch noch nie irgend einen anderenbesser gemacht haben, weder von ihren Angehöri-gen noch von Fremden. Ich für mein Teil, lieberProtagoras, kann daher im Hinblick hierauf mitnicht denken, daß sittliche Tüchtigkeit etwas Lehr-bares sei; nun ich aber dich dies behaupten höre,werde ich wankend und muß wohl glauben, daßetwas daran ist, indem ich von der Ansicht aus-gehe, daß du in vielen Dingen erfahren bist, vielesgelernt und manches auch selber gefunden hast.Vermagst du nun in überzeugenderer Weise unsdarzutun, daß die sittliche Tüchtigkeit ein lehrbarerGegenstand ist, so enthalte uns dies nicht vor, son-dern teile es uns mit!

Gewiß, lieber Sokrates, erwiderte er, ich will esnicht für mich behalten. Soll ich es euch aber, wiees wohl für einen älteren Mann Jüngeren gegenübernicht ungeziemend ist, in der Gestalt einer Sageoder einer gewöhnlichen Auseinandersetzung klar-machen?

Viele der um ihn her Sitzenden nun entgegnetenihm, er möge es damit machen, wie er wolle.

Dann, sagte er, dünkt es mich ansprechender,euch eine Sage vorzutragen.

Es war einst eine Zeit, in welcher es zwar Göttergab, sterbliche Wesen aber noch nicht. Als nunaber auch für diese die vom Schicksal bestimmte

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Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, da bilden dieGötter sie in der Erde Schoß aus einer Mischungvon Erde und Feuer und allem dem, was sich mitbeiden verbindet. Und als sie diese nun ans Lichtzu fördern gedachten, da trugen sie dem Prome-theus und Epimetheus auf, sie auszustatten undeinem jeden von ihnen seine Kräfte zuzuteilen nachGebühr. Den Prometheus aber bittet Epimetheus,ihm allein die Austeilung zu überlassen. »Wenn ichdamit fertig bin«, sprach er, »kannst du es ja in Au-genschein nehmen.« Prometheus gab nach, und soübernahm er denn die Verteilung. Dabei nun ver-lieh er einigen Stärke ohne Schnelligkeit; andere,Schwächere, stattete er dafür wieder mit Geschwin-digkeit aus; einige versah er mit Waffen, anderen,denen er eine wehrlose Natur gab, sann er ein ande-res Schutzmittel aus. Die er nämlich von ihnen inKleinheit gehüllt hatte, denen teilte er geflügelteFlucht oder unterirdische Behausung zu, andere da-gegen, die er durch Größe erhob, die beschützte erauch eben durch diese. Und so verteilte er ausglei-chend auch alles übrige. Das ersann er aber, umdem vorzubeugen, daß irgend eine Gattung ausge-rottet werde. Nachdem er ihnen aber so Mittel ver-schafft hatte, der wechselseitigen Vertilgung zuentrinnen, ersann er ihnen Schutz gegen den vonZeus herrührenden Wechsel der Jahreszeiten,

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30Platon: Protagoras

indem er sie mit dichten Haaren und starken Fellenumkleidete, die da hinreichend waren, die Kälte,und ebenso vermögend, die Hitze abzuwehren, undin denen, wenn sie ihre Lagerstätten aufsuchten,zugleich ein jedes seine ihm eigene und mit ihmselber verwachsene Lagerdecke habe, und indem ersie ferner unten an den Füßen teils mit Hufen, teilsmit Nägeln und starken und blutlosen Schwielenversah. Hierauf verschaffte er den einen diese, denanderen eine andere Nahrung; den einen der ErdeKräuter, den andern der Bäume Frucht, und nochanderen Wurzeln; einigen auch wies er andereTiere zu ihrer Nahrung an. Und diesen gewährte ernur geringe Fortpflanzung, denen aber, die ihnenzum Fräße dienen, eine starke, um so ihre Gattungzu erhalten. Weil nun aber Epimetheus eben nichtsehr weise war, so entging es ihm, daß er bereitsalle vorhandenen Kräfte verwandt hatte, und nunblieb ihm noch unausgestattet das Menschenge-schlecht zurück, und er wußte nicht, was er mit die-sem anfangen sollte. In dieser seiner Ratlosigkeitfindet ihn Prometheus, als er kommt, um die Ver-teilung zu besichtigen, und erblickt alle andern Ge-schöpfe angemessen mit allem versehen, den Men-schen aber nackt, ohne Fußbekleidung und Deckeund ohne Bewaffnung. Und schon war auch dervom Schicksal bestimmte Tag erschienen, an

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welchem auch der Mensch aus der Erde ans Lichthervortreten sollte. In seiner Verlegenheit nun, wel-ches Mittel zum Schutze und zur Erhaltung dessel-ben er ausfindig machen sollte, stiehlt Prometheusdes Hephaistos und der Athene kunstreiche Weis-heit zusamt dem Feuer - denn es war unmöglich,daß sie ohne das Feuer von irgend jemandem er-worben oder ihm nützlich werden konnte - undbeut sie also zur Gabe dem Menschen. So gelangtenun auf diese Weise allerdings der Mensch zu derfür das tägliche Leben erforderlichen Einsicht; aberdie staatsbürgerliche besaß er noch nicht. Denndiese war beim Zeus, und dem Prometheus warnoch nicht der Weg auch in die Burg, die Behau-sung des Zeus, eröffnet, und überdies hatte nochZeus furchtbare Wachen davorgestellt; sondern nurin der Athene und des Hephaistos gemeinsameWohnung, in welcher sie ihrer Liebe zur Kunstnachgingen, weiß er sich einzuschleichen, stiehlthier die im Feuer schaffende Kunst des Hephaistosund die andere, die der Athene, und schenkt siedem Menschen; und von da an beginnt für denMenschen die Bequemlichkeit des Lebens; denPrometheus aber erreichte durch des EpimetheusSchuld nachmals, wie die Sage geht, die Strafe fürseinen Diebstahl.

Da aber so der Mensch teilhatte an den

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Vorzügen der Götter, war er erstens wegen dieserVerwandtschaft unter allen Geschöpfen das ein-zige, welches an Götter glaubte, und begann Altäreund Götterbilder zu errichten: ferner aber gestalteteer Sprache und Worte durch seine Kunstfertigkeitaus und erfand sich Wohnung, Kleidung, Beschu-hung und Betten, sowie seine Nahrung aus den Ge-wächsen der Erde. Obschon aber so ausgerüstet,wohnten doch anfangs die Menschen vereinzelt,und Städte und Staaten gab es noch nicht. So aberkamen sie durch die wilden Tiere um, weil sie inallen Stücken schwächer als diese waren: auch ge-währte ihnen die Kunst ihrer Hände zwar hinlängli-che Hilfe zum Unterhalt ihres Lebens, aber zur Be-kriegung der wilden Tiere war sie nicht ausrei-chend, weil sie die staatsbürgerliche Kunst nochnicht besaßen, von welcher eben die Kriegskunstein Teil ist. So versuchten sie denn, sich zu vereini-gen und zu erhalten, indem sie Städte gründeten.Aber als sie zusammengetreten waren, da taten siewieder einander Unrecht und Schaden an, weil sieeben die Kunst, den Staat zu verwalten, noch nichtbesaßen, so daß sie sich von neuem zerstreuten undumkamen. Da nun ward Zeus besorgt, daß unserGeschlecht ganz untergehen möchte, und er schicktdaher den Hermes ab, um den Menschen sittlicheScheu und Gerechtigkeit zuzuführen, auf daß diese

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der Staaten Ordner und Freundschaft knüpfendeBande seien. Hermes aber fragt den Zeus, in wel-cher Weise er beide den Menschen mitteilen solle:»Soll ich, wie die Künste unter sie verteilt sind, soes auch hiermit machen? Jene aber sind es in fol-gender Weise: ein einziger, der die Heilkunde ver-steht, ist hinreichend für viele Unkundige, undebenso ist es mit den Meistern aller übrigen Kunst-fertigkeiten. Soll ich nun auch Gerechtigkeit undScham ebenso den Menschen mitteilen, oder sollich sie unter alle verteilen?« - »Unter alle«, erwi-derte Zeus, »und alle sollen teil an ihnen haben.Denn es könnten keine Staaten zustande kommen,wenn nur wenige ihrer teilhaftig wären, so wie beiden anderen Künsten. Ja, gib sogar das Gesetz inmeinem Namen, daß man den der Scham und Ge-rechtigkeit Unfähigen als einen Krebsschaden desStaates vertilge!«

Unter diesen Umständen also, lieber Sokrates,und aus diesen Gründen glauben so die anderenwie die Athener, daß, wenn es sich um die Tüchtig-keit im Bauwesen oder in irgend einer anderenKunstfertigkeit handelt, nur wenigen Anteil an derBeratung zukomme: und wenn trotzdem jemandnoch außer diesen wenigen seinen Rat erteilen will,so lassen sie sich dies nicht gefallen, wie du sagst,und ganz mit Recht, wie ich hinzusetze; treten sie

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dagegen über einen Gegenstand in Beratung, beiwelchem es nur auf bürgerliche Tüchtigkeit an-kommt, welche ganz auf dem Wege der Gerechtig-keit und Besonnenheit wandeln muß, dann hörensie mit Recht jedermann, weil es einem jeden ge-bührt, an dieser Tüchtigkeit teilzuhaben, wennüberhaupt Staaten bestehen sollen. Das, Sokrates,ist davon die Ursache.

Damit du aber nicht glaubst, ich wolle dich nurtäuschen, so nimm auch noch dies zum Beweisedafür, daß wirklich alle Menschen annehmen, je-dermann habe Anteil an der Gerechtigkeit und son-stigen Bürgertugend: Mit jeder anderen Tüchtigkeitsteht es so, wie du sagst: wenn sich einer für einenguten Flötenspieler oder für geschickt in irgendeiner anderen Kunst ausgibt, ohne es doch zu sein,so lacht man ihn aus oder wird ungehalten auf ihn,und seine Angehörigen treten hinzu und halten ihmvor, daß er sich wie ein Verrückter benehme. An-ders aber steht es mit der Gerechtigkeit und dersonstigen Bürgertugend: nämlich wenn hier dieLeute auch von jemandem wissen, daß er ungerechtist, so würden sie doch, wenn eben dieser über sichselbst die Wahrheit sagte in Gegenwart vieler, das,was sie dort für Besonnenheit und Bescheidenheithielten, nämlich die Wahrheit auszusprechen, hierfür Verrücktheit halten und sagen, jeder müsse sich

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35Platon: Protagoras

selber für gerecht erklären, möge er es nun seinoder nicht, und der sei von Sinnen, welcher keineAnsprüche auf Gerechtigkeit mache, da jeder not-wendig auf irgend eine Weise Anteil an ihr habenmüsse oder gar nicht unter Menschen leben dürfe.

Daß sie also mit Recht jedermann da, wo es aufdiese Tugend und Tüchtigkeit ankommt, als Ratge-ber zulassen, weil sie von der Ansicht ausgehen,daß ein jeder an ihr teilhabe, das will ich hiermitgesagt haben; daß sie aber darum doch nicht glau-ben, sie lasse sich lehren, und wer sie erlange, demwerde sie nur durch sorgfältiges Bemühen zuteil,das will ich nunmehr dir zu beweisen suchen.Wegen aller derjenigen Fehler nämlich, welche dieMenschen an einander der Natur oder dem Zufallezuschreiben, zürnt niemand denen, die sie an sichtragen, noch vermahnt oder belehrt oder bestraftman sie deshalb, damit sie sie ablegen, sondernman hat vielmehr Mitleiden mit ihnen. Wer z.B. istso unverständig, gegen häßliche, kleine oderschwächliche Personen so etwas tun zu wollen!Denn man weiß, sollte ich denken, daß dergleichenden Menschen von Natur oder durch Zufall zuteilwird, sowohl die Mängel dieser Art als die ihnenentgegengesetzten Vorzüge. Wenn dagegen jemandalle die Vorzüge, von denen man meint, daß siedurch Fleiß, Übung und Belehrung von den

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Menschen erworben werden, nicht besitzt, sondernvielmehr die ihnen entgegenstehenden Fehler, dannund in bezug hierauf dürfte Erbitterung, Zurecht-weisung und Strafe eintreten. Einer von den letzte-ren nun ist die Ungerechtigkeit und Gottlosigkeitund überhaupt alles, was der bürgerlichen Tugendund Tüchtigkeit entgegengesetzt ist, und hier zürntdenn auch jeder auf jeden und weist ihn zurecht, inder Überzeugung nämlich, daß man durch sorgfälti-ges Bemühen und durch Belehrung in ihren Besitzzu gelangen vermag. Willst du nämlich, lieber So-krates, nur ins Auge fassen, was die Bestrafung derUnrechthandelnden eigentlich zu bedeuten hat, sowird dieses selbst dich lehren, daß die Menschender Ansicht sind, Tugend könne erworben werden.Denn niemand bestraft die Unrechthandelnden,indem er darauf sein Augenmerk richtet und umdeswillen, weil sie eben Unrecht getan haben,außer wer, wie ein Tier, sich unvernünftig zu rä-chen sucht; sondern wer auf eine vernünftige Weisezu strafen gedenkt, der züchtigt nicht wegen desschon begangenen Unrechts - denn das Gesche-hene kann er ja doch nicht ungeschehen machen -,sondern um des zukünftigen willen, damit hinfortweder der Täter selbst wieder Unrecht begehe, nochauch die anderen, welche sehen, wie er bestraftwird. Und wer von dieser Absicht ausgeht, der

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37Platon: Protagoras

spricht damit die Ansicht aus, daß die Tugend an-erzogen werden kann, denn er straft ja um der Ab-schreckung willen. Diese Überzeugung also habenalle diejenigen, welche im eigenen Hause oder vonStaats wegen Strafen verhängen. Es bestrafen aberund züchtigen sowohl alle anderen Menschen die,welche nach ihrer Meinung Unrecht getan haben,als auch, und zwar nicht zum mindesten, die Athe-ner, deine Mitbürger, so daß dieser Erörterung zu-folge auch sie zu denen gehören, welche dafür hal-ten, daß die Tugend sich erwerben und lehren lasse.Daß demnach mit Recht deine Mitbürger auch denRat eines Schmiedes und Schusters in Staatsange-legenheiten nicht verschmähen, und daß sie die Tu-gend für etwas halten, was gelehrt und erworbenwerden könne, habe ich dir nunmehr, lieber Sokra-tes, zur Genüge dargetan, wie ich glauben möchte.

Noch ist indessen das Bedenken übrig, welchesdu in betreff der tüchtigen Männer hegst, warumdiese doch in allen übrigen Stücken, welche vonLehrern abhängen, ihre Söhne unterrichten undwissenschaftlich ausbilden lassen, in betreffderjenigen Tüchtigkeit aber, durch welche sie sichselber auszeichnen, sie um nichts besser machen,als andere sind. Hierauf, lieber Sokrates, will ichdir nicht mehr durch eine erdichtete Erzählung,sondern durch Gründe antworten. Betrachte es

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nämlich einmal aus folgendem Gesichtspunkte:Gibt es irgend etwas oder nicht, dessen notwendigalle Bürger teilhaftig sein müssen, wenn ein Staatbestehen soll? Denn hierin findet jenes dein Beden-ken seine Lösung oder sonst nirgends. Nämlichwenn es ein solches gibt und dieses nicht in derBaukunst oder im Schmiede- und Töpferhandwerkbesteht, sondern in der Gerechtigkeit, Besonnenheitund Frömmigkeit, - kurz, in dem, was ich miteinem Worte des Mannes Tugend nenne, - wenn esdas ist, woran alle teilhaben müssen, und wenn je-dermann, indem er dies dabei festhält, lernen undtun muß, was er sonst noch will, nicht aber ohnedasselbe, oder aber, wenn, wer dies nicht besitzt,zu belehren und bestrafen ist, sei es Knabe, Mannoder Weib, bis er durch die Strafe gebessert ist,und falls er der Strafe und Belehrung nicht achtet,als unheilbar aus den Staaten verbannt oder getötetwerden muß; - wenn sich dies so verhält und dochauch unter diesen Umständen die tüchtigen undwackeren Leute wirklich in allen anderen Gegen-ständen ihre Söhne unterweisen lassen, hierin abernicht: so siehe doch, wie sonderbar dann dieseLeute verfahren würden! Denn daß sie es für lehr-bar halten sowohl durch häusliche als durch öffent-liche Unterweisung, haben wir gezeigt, und nunsollten sie, obwohl es durch Belehrung und Pflege

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39Platon: Protagoras

beigebracht werden kann, dennoch in allen anderenGegenständen ihre Söhne unterrichten lassen, aufderen Unkenntnis keine Todesstrafe steht; was aberfür ihre Söhne, wenn sie es nicht gelernt haben undalso nicht zur Tugend erzogen sind, als Strafe Todund Landesverweisung nach sich zieht und außerdem Tode noch Einziehung des Vermögens, kurz,um es mit einem Worte zu sagen, den Untergangganzer Familien, - darin sollten sie nicht unterrich-ten lassen und darauf nicht alle erdenkliche Sorg-falt verwenden? Man sollte doch meinen, lieber So-krates.

Und in der Tat, gleich von den frühesten Jahrenihrer Kinder an belehren sie sie ja, solange sieleben, und weisen sie zurecht. Sobald nur das Kindversteht, was ihm gesagt wird, mühen sich Amme,Mutter, Aufseher und der Vater selber wetteifernd,daß es so gut als irgend möglich werde, indem siees bei jeder Handlung und jedem Worte belehrenund darauf aufmerksam machen: das ist recht, unddas ist unrecht, dies löblich und das schändlich,dies fromm und das gottlos, dies tue und das tuenicht! Und gehorcht es willig, dann ist es gut; woaber nicht, so geben sie ihm, wie einem verbogenenund verkrümmten Holze, durch Drohungen undSchläge wieder die gerade Richtung. Schicken siees darauf in die Schule, so legen sie es den Lehrern

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weit dringender ans Herz, auf die gute Zucht ihrerKinder zu sehen, als auf Lesen, Schreiben, Rech-nen und Lautenspiel. Und die Lehrer sehen auchdarauf; und haben dann jene das Lesen gelernt undbeginnen nun die Schrift ebenso gut wie vorher diemündliche Rede zu verstehen, so legen sie ihnenauf ihren Bänken die Verse guter Dichter zumLesen vor und halten sie an, diese auswendig zulernen, in denen viele gute Lehren und ferner vieleSchilderungen, Lobeserhebungen und Verherrli-chungen trefflicher Männer aus alter Zeit enthaltensind, damit der Knabe ihnen nacheifere und ihnenähnlich zu werden bestrebt sei. Und in ähnlicherWeise wie die Elementarlehrer sind auch die Mu-siklehrer bei der Jugend auf gute Sitte bedacht undsorgen dafür, daß diese nichts Übles tue, und auchsie bringen überdies, nachdem die Knaben so weitsind, daß sie die Zither spielen können, ihnen wie-derum die Lieder anderer guter Dichter, nämlichder lyrischen, bei, welche sie dem Zitherspiele un-terlegen, und arbeiten mit aller Kraft dahin, dasGefühl für Takt und Einklang den Gemütern derKnaben zu eigen zu machen, auf daß sie sanfterund durch die gewonnene höhere Empfänglichkeitfür Maß und Wohlklang tauglich werden zu redenund zu handeln: denn das ganze Leben der Men-schen bedarf des Ebenmaßes und des inneren

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Einklangs. In Übereinstimmung damit aberschicken die Väter sie noch außerdem zum Turn-lehrer in die Schule, damit auch ihr Körper veredeltwerde und so die veredelte Gesinnung unterstützeund sie nicht genötigt werden, wegen der schlech-ten Beschaffenheit des Körpers zu zagen im Kriegeund in allen anderen Unternehmungen. Und diesalles tun gerade erst recht diejenigen, die es am be-sten vermögen. Am besten aber vermögen es dieReichsten, und so fangen denn deren Kinder aucham frühesten an, die Schule zu besuchen, und ver-lassen sie am spätesten. Sobald sie aber die Schuleverlassen haben, dann zwingt sie wieder der Staat,die Gesetze kennenzulernen und nach ihrer Vor-schrift zu leben, damit sie nicht nach ihrem eigenenGutdünken unbedacht handeln; sondern gerade so,wie die meisten Schulmeister denjenigen Knaben,die noch nicht ordentlich schreiben können, mitdem Griffel Linien vorziehen und ihnen dann erstdie Schreibtafel in die Hand geben und sie derge-stalt nötigen, nach Anleitung dieser Linien zuschreiben, zieht auch der Staat in den Gesetzen,den Schöpfungen trefflicher alter Gesetzgeber, sol-che Linien und zwingt seine Bürger, nach ihnen zuregieren und sich regieren zu lassen, und bestraftihre Übertretung: und diese Strafe heißt danach beieuch und an vielen anderen Orten, weil sie auf

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Herstellung der Ordnung berechnet ist, Ordnungs-strafe. Wird nun aber so große Sorgfalt von Einzel-nen wie von Staats wegen auf die Tugend ver-wandt, da wunderst du dich noch darüber, lieberSokrates, und trägst Bedenken dagegen, daß dieTugend wirklich etwas Lehrbares sei? Nein, mandarf sich nicht darüber wundern, sondern vielmehrdarüber müßte man sich wundern, wenn sie nichtlehrbar wäre.

Aber warum mißraten denn viele Söhne tüchti-ger Väter? Auch das sollst du jetzt hören. Es istdas nämlich gar nichts Wunderbares, wenn ich an-ders im vorigen die Wahrheit sprach, daß, wennüberhaupt ein Staat bestehen soll, dieser Gegen-stand, ich meine die Tugend, niemandem fremdsein darf. Wenn es sich nämlich wirklich so ver-hält, wie ich sage - nichts ist aber gewisser alsdas -, so erwäge dir die Sache einmal an irgendeiner anderen beliebigen Beschäftigung und jedemanderen Unterrichtsgegenstand: Wenn es zum Bei-spiel nicht möglich wäre, daß ein Staat bestehenkönnte, außer wenn wir alle Flötenspieler wären,ein jeder so gut er vermöchte, und immer einer denandern sowohl zu Hause als auch öffentlich darinunterrichtete und dem Schlechtspielenden Vorwürfemachte, und keiner dem anderen die Fertigkeit imFlötenspiel mißgönnte, so wie jetzt niemand einem

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anderen die Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit miß-gönnt oder sie geheim hält, wie es bei den anderenKünsten der Fall ist - denn es nützt uns, sollte ichmeinen, gegenseitig die Gerechtigkeit und Tugend,und daher lehrt jeder den anderen bereitwillig, wasgerecht und gesetzmäßig ist - , wenn wir alsoebenso auch im Flötenspiel alle mögliche Bereit-willigkeit ohne jegliche Mißgunst besäßen, einan-der zu unterrichten, - glaubst du da, lieber Sokra-tes, daß dann die Söhne guter Flötenspieler darumeher auch gute Flötenspieler werden würden als dieSöhne schlechter Flötenspieler? Ich glaube esnicht: sondern wessen Sohn die besten Anlagenzum Flötenspiel hätte, der würde auch darin Fort-schritte machen und sich einen Namen erwerben:wessen Sohn aber ohne Anlagen dazu wäre, derwürde es auch nicht dazu bringen, und oft würdeder Sohn eines guten Flötenspielers ein schlechterund der Sohn eines schlechten Flötenspielers einguter werden. Aber alle würden doch wenigstensleidliche Flötenspieler werden im Vergleich mitdenen, die ganz ungeübt sind und gar nichts vomFlötenspiel verstehen. So glaube auch jetzt, daß,wer dir als der Ungerechteste erscheint von denen,die unter Gesetzen und gebildeten Menschen aufge-wachsen sind, nicht bloß gerecht, sondern auch einMeister in der Gerechtigkeit sein würde, wenn man

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ihn mit Menschen vergleichen sollte, welche wederErziehung noch Bildung empfangen hätten, nochunter Gerichtshöfen und Gesetzen und unter demZwange lebten, welcher sie fortwährend dazu an-hält, sich der Tugend zu befleißigen, sondern soeine Art von Wilden wären, wie sie voriges Jahrder Dichter Pherekrates im Lenaion auf die Bühnebrachte. Wahrlich, du würdest, wenn du wie dieMenschenfeinde, die dort den Chor bilden, untersolche Menschen gerietest, sehr zufrieden sein,wenn du einen Eurybatos und Phrynondas fändest,und würdest mit lauter Wehklage nach der Sittenlo-sigkeit der hier lebenden Menschen dich zurück-sehnen. Jetzt aber bist du verwöhnt, weil eben alleLehrer der Tugend sind, so gut es ein jeder vermag,und nun siehst du gar keinen dafür an, gerade wiewenn du einen Lehrer im Griechischen suchtest,sich kein einziger dir zeigen würde, ja nicht einmal,glaube ich, wenn du dich nach jemandem umsähest,der uns die Söhne der Handwerker in eben derKunst unterrichtete, die sie von ihrem Vater gelernthaben, so gut dieser im Verein mit den ihm be-freundeten Gewerbsgenossen sie ihnen beizubrin-gen imstande war: wenn du, sage ich, dich nach je-mandem umsähest, der diese noch ferner zu unter-richten vermöchte, würde es nicht leicht sein, fürsie einen solchen zu finden, leicht aber, einen

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Lehrer für die gänzlich dieses Gegenstandes Un-kundigen zu finden. Ebenso steht es denn auch mitder Tugend und allen anderen Dingen, und manmuß daher zufrieden sein, wenn es jemand auch nurum ein Weniges besser als wir versteht, andere inder Tugend zu fördern. Und von diesen nun glaubeich einer zu sein und vor allen übrigen Menschenin manchen Stücken zu geistiger und sittlicher Bil-dung verhelfen zu können und des Soldes wert zusein, den ich dafür fordere, und wohl eines nochgrößeren, so daß ihn meine Schüler selber mir zu-gestehen. Deswegen habe ich denn auch beim Ein-fordern desselben folgendes Verfahren eingeführt:Hat jemand meinen Unterricht genossen, so zahlter, wenn er will, den von mir festgesetzten Geldbe-trag; wo aber nicht, so geht er in einen Tempel, lei-stet dort einen Eid darauf, wieviel nach seinem Er-messen die bei mir erworbenen Kenntnisse wertseien, und so viel erlegt er dann.

Durch diese Sage, lieber Sokrates, so schloßProtagoras, und diese Auseinandersetzung habe ichdir dargetan, daß die Tugend etwas Lehrbares ist,und daß die Athener derselben Meinung sind, unddaß es endlich gar nicht wundersam ist, wennSöhne guter Väter schlecht und Söhne schlechterVäter gut geraten, da ja auch die Söhne des Poly-kleitos, die Altersgenossen des Paralos und

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Xanthippos hier, in keinem Stücke mit ihrem Vaterzu vergleichen sind und es ebenso mit denen ande-rer Meister steht. Diese beiden indessen verdienennoch gar nicht einen solchen Vorwurf; denn anihnen ist noch Hoffnung, da sie noch jung sind.

Nach einer so ausführlichen und glänzendenAuseinandersetzung beschloß nun Protagoras seineRede; ich aber blickte noch lange wie verzaubertauf ihn hin, als ob ich noch eine Fortsetzung erwar-tete, begierig, ihn zu hören. Sobald ich aber merk-te, daß er wirklich geschlossen hatte, sammelte ichmich endlich mit Mühe und sagte, indem ich michzum Hippokrates wandte: Sohn des Apollodoros,wie dankbar bin ich dir dafür, daß du mich dazuveranlaßt hast, dich hierher zu begleiten! Dennnicht hoch genug kann ich das anschlagen, was ichsoeben vom Protagoras gelernt habe. Bisher näm-lich glaubte ich, daß es nicht menschliche Sorgfaltsei, durch welche die Guten gut werden; jetzt aberbin ich davon überzeugt. Nur eine Kleinigkeit istmir dabei noch im Wege, über welche mich indes-sen ohne Zweifel Protagoras leicht gleichfalls nochbelehren wird, nachdem er mich ja über so vielesschon gründlich belehrt hat. Wenn sich nämlich je-mand über eben diese Gegenstände mit irgendeinem unserer Volksredner in ein Gespräch ein-ließe, sei es mit dem Perikles oder irgend einem

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anderen von denen, welchen die Gewandtheit derRede zu Gebote steht, so würde er vielleicht auchvon ihnen ähnliche Vorträge hören; wenn er sie so-dann aber von neuem fragt, dann geht es mit ihnengerade entgegengesetzt wie mit den Büchern, dieweder antworten noch selber fragen: denn auf jedeNachfrage auch nur über die geringste Kleinigkeitvon dem, was in ihren Reden enthalten ist, spinnensie, ebenso wie kupferne Gefäße, wenn man sie an-geschlagen hat, lange nachklingen und forttönen,sobald man sie nicht anhält, ihre Antworten sofortwieder zu ellenlangen Vorträgen aus. Unser Prota-goras hier dagegen versteht zwar gleichfalls langeund schöne Reden zu halten, wie die soeben abge-legte Probe beweist; aber er versteht auch, wenn ergefragt wird, kurz zu antworten und, wenn er selberfragt, die Antwort abzuwarten und auf sie einzuge-hen, worauf nur wenige geübt sind. Jetzt nun, lie-ber Protagoras, fehlt es mir nur noch an einer Klei-nigkeit, um ganz befriedigt zu sein: wenn du mirnämlich folgendes beantworten willst... Du sagst,daß diese Tugend etwas Lehrbares ist, und wennich das irgend einem in der Welt glauben kann, soglaube ich es dir; was mich aber in deiner Rede be-fremdete, darüber hilf meinem Denken nach: Dusagtest nämlich, daß Zeus die Gerechtigkeit undsittliche Scheu den Menschen gesandt habe, und

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wiederum wurde an vielen Stellen deines Vertragsvon dir die Gerechtigkeit, Besonnenheit, Frömmig-keit und alles, was dahin gehört, zusammengenom-men als ein Ganzes, nämlich als die Tugend be-zeichnet. Eben dies nun setze mir genau auseinan-der, ob die Tugend zwar Eins ist, aber so, daß esTeile von ihr gibt und dies die Gerechtigkeit, Be-sonnenheit und Frömmigkeit sind, oder ob allediese eben genannten Eigenschaften bloße Namenfür eins und dasselbe, nämlich für jenes Eine sind.Das ist es, was ich noch vermisse.

Ei, das ist ja leicht zu beantworten, erwiderte er,lieber Sokrates, daß von jenem Einen, nämlich derTugend, das, wonach du fragst, Teile sind.

Sind sie es denn so, fragte ich weiter, wie dieTeile des Gesichtes Teile sind, Mund, Nase, Augenund Ohren, oder so, wie die Teile des Goldes nichtverschieden sind weder von einander noch vomGanzen, außer nach Größe und Kleinheit?

Auf jene Weise scheint es mir, lieber Sokrates,wie sich die Teile des Gesichts zum ganzen Gesichtverhalten.

Besitzen denn ferner, fuhr ich fort, die Menschenvon diesen Teilen der Tugend die einen diesen unddie anderen einen anderen, oder besitzt, wenn je-mand einen hat, er damit auch alle?

Keineswegs, war seine Antwort, sondern viele

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sind tapfer, aber ungerecht, und andere gerecht,aber nicht weise.

Also sind auch das, fragte ich. Teile der Tugend,nämlich Weisheit und Tapferkeit?

Doch wohl erst recht, versetzte er; wenigstensdie Weisheit ist gerade der bedeutendste von allendiesen Teilen.

Und jeder dieser Teile, sprach ich, ist also vondem anderen unterschieden?

Ja.Und jeder von ihnen hat demnach auch seine be-

sondere Eigentümlichkeit und seinen besonderenWirkungskreis, ebenso wie es bei den Teilen desGesichtes der Fall ist, wo ja auch das Auge nichtvon der gleichen Beschaffenheit mit dem Ohre ist,weder an sich noch auch dem Kreise seiner Wirk-samkeit nach, und wo überhaupt kein Teil diesel-ben Verrichtungen ausübt wie der andere oder inirgend einem anderen Stücke ihm gleich ist? Ist esalso ebenso auch mit den Teilen der Tugend? Oderist es klar, daß es sich wirklich ebenso damit ver-hält, wenn es anders wirklich ähnlich damit steht,wie mit dem von uns gewählten Beispiele?

Gewiß, lieber Sokrates, erwiderte er.Da faßte ich denn die Sache noch einmal in fol-

gender Weise zusammen: Somit ist kein andererTeil der Tugend von der gleichen Beschaffenheit

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wie die Einsicht, noch auch wie die Gerechtigkeit,Tapferkeit, Besonnenheit oder Frömmigkeit.

Nein, sagte er.Wohlan denn, fuhr ich fort, laß uns dann ge-

meinsam erwägen, von welcher Beschaffenheitdenn ein jedes von ihnen ist. Zuvörderst nun fragenwir so: die Gerechtigkeit - ist sie ein bestimmtesTun oder nicht? Mir nun scheint sie es zu sein; wieaber dir?

Mir gleichfalls, antwortete er.Wenn uns beide nun jemand fragte: »Protagoras

und Sokrates, so sagt mir denn, ist also die Gerech-tigkeit, dieses bestimmte Tun, wie ihr es eben be-zeichnet habt, eben selbst ein gerechtes oder unge-rechtes?« Ich für mein Teil würde ihm antworten:»Das erstere!« Du aber, wie würdest du deineStimme abgeben? Ebenso wie ich, oder anders?

Ebenso, entgegnete er.»Die Gerechtigkeit ist ihrer Beschaffenheit nach

ein gerechtes Tun«, würde ich also dem Frager zurAntwort geben. Und nicht auch du?

Ja, erwiderte er.Wenn er uns nun weiter fragte: »Ihr nehmt doch

auch wohl an, daß es eine Frömmigkeit gibt?« - sowürden wir dies, denke ich, bejahen.

Jawohl, versetzte er.»Also haltet ihr auch wohl diese für ein

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bestimmtes Tun?« würde er fortfahren, und wirwürden ihm recht geben; oder würden wir nicht?

Auch darin stimmte Protagoras bei.»Welche Beschaffenheit legt ihr denn diesem

Tun bei? Ist es eine gottlose oder fromme Hand-lungsweise?« - wenn er so weiter fragte, würde ichmeinerseits darüber entrüstet werden und ihmsagen: »Frevle nicht, Mann! Gewiß dürfte dochüberhaupt nichts mehr eine fromme Handlungswei-se genannt werden, wenn die Frömmigkeit selbernicht mehr diesen Namen verdienen soll.« Und du?Würdest du nicht ebenso antworten?

Allerdings, sagte Protagoras.Wenn er uns nun hierauf die Frage vorlegte:

»Wie sagtet ihr doch kurz vorher? Habe ich euchauch recht verstanden? Ihr scheint mir zu behaup-ten, die Teile der Tugend verhielten sich so zu ein-ander, daß keiner von ihnen dem anderen glei-che«; - so würde ich erwidern: »Im übrigen hast durecht gehört; wenn du aber glaubst, auch ich hättedies behauptet, so hast du darin dich verhört.«Wenn er sich nun dann an dich mit der Frage wen-dete: »Sagt Sokrates die Wahrheit, Protagoras? Be-hauptest du wirklich, daß ein solches Verhältnisunter den Teilen der Tugend bestehe? Ist dies wirk-lich deine Ansicht von der Sache?« - was würdestdu ihm antworten?

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Ich müßte mich, sagte er, notwendig dazu beken-nen, lieber Sokrates.

Was aber, mein Protagoras, werden wir ihm,nachdem wir solches zugestanden, erwidern, wenner uns weiter fragte: »Somit ist also die Frömmig-keit nicht ein gerechtes Tun, noch die Gerechtigkeitein frommes, sondern diese ein nicht frommes, jeneein nicht gerechtes, also auch wohl vielmehr einungerechtes, sowie die erstere ein unfrommes undgottloses Tun?« - was (sage ich) werden wir ihmerwidern? Ich für meine Person wenigstens, daßdoch auch die Gerechtigkeit eine fromme und dieFrömmigkeit eine gerechte Handlungsweise ist: jaauch für dich würde ich, wenn du es mir nur ver-stattetest, ganz dieselbe Antwort geben: daß dieGerechtigkeit entweder einerlei mit der Frömmig-keit oder ihr doch so ähnlich als möglich ist, unddaß es keine zwei Dinge von verwandterer Be-schaffenheit gibt als diese beiden. Siehe also zu, obdu etwas dagegen hast, wenn ich also antwortete,oder ob auch du damit einverstanden bist!

Mein lieber Sokrates, mir scheint das noch garkeine so ausgemachte Sache zu sein, daß man not-wendig so schlechthin einräumen müßte, daß dieGerechtigkeit ein frommes und die Frömmigkeitein gerechtes Handeln sei, sondern es scheint mirdoch noch ein wesentlicher Unterschied zwischen

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beiden obzuwalten. Aber was macht das aus?meinte er: wenn es dir so gefällt, mag es immerhinunter uns auch so gelten.

Nicht doch! sagte ich, denn daran liegt mirnichts, ein beliebiges »wenn du willst« und »wennes dir gefällt« der Prüfung zu unterwerfen, sondernunsere wirkliche beiderseitige Ansicht. Meine unddeine wirkliche Ansicht aber will ich haben, weilich überzeugt bin, die Sache selber werde dadurcham besten klar werden, wenn man alles Wenn undAber dabei aus dem Spiele läßt.

Nun denn, sagte er, freilich ist die Gerechtigkeitder Frömmigkeit einigermaßen ähnlich; gleichtdoch in irgend welchem Betrachte sogar ein jedesDing dem anderen. Denn das Weiße hat eine ge-wisse Ähnlichkeit mit dem Schwarzen, und dasHarte mit dem Weichen, und so alles übrige untereinander, was scheinbar das Allerentgegengesetzte-ste von einander ist. Und so sind denn auch dieDinge, welche wir vorhin nach ihrer Wirksamkeitund sonstigen Beschaffenheit unterschieden, dieTeile des Gesichts, doch wieder in gewisser Hin-sicht einander ähnlich und von gleicher Beschaffen-heit, so daß du auf diese Weise, wenn du wolltest,sogar dartun könntest, daß alles einander ähnlichist. Aber es ist nicht recht, Dinge, die etwas Ähnli-ches haben, darum schon ähnlich zu nennen,

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ebensowenig wie die, welche etwas Unähnlicheshaben, darum schon unähnlich, auch wenn dieÄhnlichkeit oder Unähnlichkeit, die sie haben, nurgering ist.

Und erstaunt sprach ich zu ihm: Verhält sichdenn etwa das gerechte und das fromme Handelnnach deiner Meinung so zu einander, daß beidesnur eine geringe Ähnlichkeit mit einander hätte?

Das freilich nicht gerade eben, antwortete er,aber auch wiederum nicht so, wie du mir zu glau-ben scheinst.

Nun, wir wollen, lenkte ich ein, diesen Punkt, daer dich unangenehm zu berühren scheint, fallen las-sen und uns zu einem anderen Teile deiner Behaup-tungen wenden. - Nennst du etwas Unverstand?

Er bejahte es.Und das gerade Gegenteil hiervon ist doch die

Weisheit?Nach meinem Bedünken wenigstens.Wenn nun die Menschen richtig und zu ihrem

Vorteile verfahren, scheinen sie dir dann in dieserihrer Handlungsweise bedachtsam und besonnen zusein oder das Gegenteil?

Besonnen.Wenn sie dies aber sind, so sind sie es vermöge

der Besonnenheit?Notwendigerweise.

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55Platon: Protagoras

Wer dagegen unrichtig verfährt, dessen Handelnist ein unverständiges, und er ist nicht besonnen indieser seiner Handlungsweise?

Das ist auch meine Meinung, antwortete er.Das Gegenteil ist demnach das Unverständig-

handeln von dem Besonnenhandeln.Das bejahte er.Sind nun nicht ferner unverständige Handlungen

erst eine Wirkung des Unverstandes, und beson-nene Handlungen eine Wirkung der Besonnenheit?

Das gab er zu.Denn die Kraft im Handeln erzeugt ein kräftiges

Handeln und die Schwäche ein schwaches Han-deln?

So schien es ihm.Und aus der Schnelligkeit entsteht ein schnelles

und aus der Langsamkeit ein langsames?Er bejahte.Und die gleiche Handlungsweise geht also auch

aus der gleichen und die entgegengesetzte aus derentgegengesetzten Ursache hervor?

Er stimmte bei.Sprich weiter, sagte ich: es gibt doch ein Schö-

nes?Das gab er zu.Und ist diesem etwas anderes entgegengesetzt

außer dem Häßlichen?

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Nein.Und ferner ein Gutes?Freilich.Und hat dieses einen anderen Gegensatz als das

Schlechte?Nein.Und endlich, gibt es nicht so etwas wie einen

hohen Ton?Er bejahte.Und gibt es für diesen einen anderen Gegensatz

als den tiefen?Er verneinte.Jedes Ding also, schloß ich, hat demnach nur

einen ausdrücklichen Gegensatz und nicht mehre-re?

Er stimmte bei.Wohlan denn, sagte ich, rechnen wir nun einmal

alles zusammen, worüber wir übereingekommensind: Wir sind dahin übereingekommen, daß Einemnur Eins entgegengesetzt ist?

Das sind wir.Sodann dahin, daß entgegengesetzte Handlungs-

weisen auch aus entgegengesetzten Ursachen her-vorgehen?

Er bejahte.Und daß die unverständige Handlungsweise der

besonnenen entgegengesetzt sei?

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Er bejahte wiederum.Und daß die erstere aus dem Unverstande, die

letztere aber aus der Besonnenheit hervorgeht?Er räumte ein.Wenn also beides wirklich entgegengesetzte

Handlungsweisen sind, so ist (wie gesagt) auch daseinander entgegengesetzt, woraus sie hervorgehen?

Ja.Und hervorgeht die letztere aus der Besonnenheit

und die erstere aus dem Unverstande?Ja.Und beides sind wirklich entgegengesetzte

Handlungsweisen?Allerdings.Und einander entgegengesetzt ist daher auch

wirklich das, woraus sie entspringen?Ja.Entgegengesetzt ist folglich der Unverstand der

Besonnenheit?Offenbar.Erinnerst du dich nun, wie wir im vorigen dahin

übereinkamen, daß der Unverstand gegen die Weis-heit den Gegensatz bilde?

Er gestand es zu.Und daß ein jedes nur einen ausdrücklichen Ge-

gensatz habe?So ist es.

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Welche von beiden Behauptungen, lieber Prota-goras, sollen wir also aufgeben? Die, daß es immernur einen wirklichen Gegensatz gebe, oder die frü-here, nach welcher die Weisheit etwas anderes alsdie Besonnenheit und beides Teile der Tugend, undnoch dazu nicht bloß etwas anderes, sondern auchan sich sowie in seiner Wirksamkeit einander un-ähnlich sein sollte, ebenso wie die Teile des Ge-sichtes? Welche von ihnen, sage ich, wollen wiraufgeben? Denn beide neben einander vertragensich nicht wohl mit den Vorschriften der Musik,denn sie stimmen nicht zu einander und stehennicht mit einander im Einklang. Denn wie solltensie, wenn es notwendig ist, daß jeder Gegensatzsich nur auf Eins und nicht auf mehrere erstreckt,und doch dem Unverstande, der doch nur Eins ist,die Weisheit sich als entgegengesetzt zeigt unddann auch wieder die Besonnenheit? Ist es nicht so,lieber Protagoras, sprach ich, oder läßt es sich ir-gendwie anders denken?

Er gab es zu, wenn auch sehr ungern.Also wären die Besonnenheit und Weisheit wohl

Eins? Vorher aber ergaben sich uns schon die Ge-rechtigkeit und Frömmigkeit als ziemlich einerlei.Auf denn, fuhr ich fort, lieber Protagoras, laß unsnicht ermüden, sondern auch die noch übrigen Tu-genden in Betracht ziehen: Scheint dir ein Mensch,

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welcher unrecht handelt, eben damit besonnen zusein?

Ich meinesteils, erwiderte er, lieber Sokrates,würde mich schämen, dies zuzugeben, wenn auchimmerhin viele Leute so urteilen.

Soll ich also, sprach ich, an jene Leute mit mei-ner Rede mich wenden oder an dich?

Wenn es dir recht ist, entgegnete er, so fasse zu-erst diese Behauptung jener vielen ins Auge!

Nun, mir kommt es darauf nicht an, wenn du nurantwortest, magst du nun selbst dieser Ansicht seinoder nicht. Denn ich für mein Teil unterwerfe nurdie aufgestellte Behauptung als solche einer Prü-fung; nur aber geht es dabei freilich nicht wohl an-ders ab, als daß auch meine, des Fragenden, unddeine, des Antwortenden, Ansichten eben damitselber die Probe zu bestehen haben.

Anfänglich nun sträubte sich Protagoras undwandte ein, daß die Sache ihre großen Schwierig-keiten habe; endlich aber verstand er sich dazu, zuantworten.

Wohlan denn, fuhr ich fort, antworte mir nocheinmal von vorne an: Scheinen dir gewisse Leute,indem sie Unrecht tun, dabei besonnen zu verfah-ren?

Es sei, antwortete er.Und unter dieser Besonnenheit verstehst du dann

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die Klugheit in ihrem Verfahren?Er bejahte es.Unter dieser Klugheit aber wiederum, daß sie

sich wohl beraten mit dieser ihrer ungerechtenHandlungsweise?

Es mag gelten, sagte er.Ist nun das der Fall, fragte ich weiter, wenn es

ihnen infolge derselben wohl ergeht und ihnendiese zugute kommt, oder wenn es ihnen übel er-geht?

Wenn es ihnen wohl ergeht.Damit sprichst du aus, daß gewisse Dinge gut

und heilsam sind?Freilich tue ich das.Ist nun, sagte ich da, dies nicht dasjenige, was

den Menschen nützlich und ersprießlich ist?Ja, beim Zeus, erwiderte er; aber auch manches,

was den Menschen nicht ersprießlich ist, nenne ichwenigstens darum doch noch gut. Und schon schienmir Protagoras ärgerlich und gereizt zu werden undbereit, mir eins zu versetzen beim Antworten. Daich ihn also in dieser Stimmung sah, so trat ich vor-sichtig auf und fragte gelassen weiter:

Meinst du, lieber Protagoras, das, was nur kei-nem Menschen, oder auch das, was überhaupt nichtnützlich ist? Nennst du auch dergleichen gut?

Keineswegs, versetzte er: wohl aber kenne ich

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viele gute Dinge, welche doch den Menschen nach-teilig sind, Speisen, Getränke, Arzneien und tau-senderlei anderes; andere freilich sind ihnen vorteil-haft; noch andere endlich sind den Menschen zwarkeines von beiden, wohl aber sind sie den Pferdendas eine oder das andere: andere sind es bloß denKühen, und noch andere den Hunden, andere die-sen allen nicht, wohl aber den Bäumen; ja manchesist für die Wurzeln des Baumes gut und taugt dochfür seine Sprossen nichts, wie z.B. gleich der Mistfür die Wurzeln aller Gewächse gut ist, wenn manihn auf diese aufträgt; wolltest du ihn aber auf dieTriebe und die jungen Zweige werfen, so richtet eralles zugrunde; ja auch das 01 ist für alle Pflanzenhöchst schädlich und den Haaren aller Tiere sehrverderblich, bloß nicht denen der Menschen, son-dern denen der Menschen und seinem ganzen übri-gen Körper ist es förderlich. Etwas so Verschieden-artiges und Mannigfaltiges aber ist das Gute, daßes auch hier für die äußeren Teile des Körpers beidem Menschen zwar gut, für die inneren aber wie-derum höchst nachteilig ist. Daher verbieten dennauch alle Ärzte den Kranken den Genuß des Öles,bis auf eine sehr geringe Quantität, um sie an daszu tun, was sie zu sich nehmen wollen, und zwarnur so viel, als hinreicht, um diesem den widerwär-tigen Eindruck zu benehmen, welchen manche

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Gebäcke und Zugemüse auf die Nase machen.Als er nun so gesprochen hatte, brachen alle An-

wesenden in lauten Beifall aus. Ich aber bemerkte:Lieber Protagoras, ich bin nun einmal ein vergeßli-cher Mensch, und wenn mir jemand einen langenVortrag hält, vergesse ich, wovon eigentlich dieRede ist. Wie du nun, wenn ich schwerhörig wäre,dich für verbunden erachten würdest, wenn du dichmit mir unterhalten wolltest, lauter zu mir als zuallen anderen Leuten zu sprechen, so beschneide,da du an einen Vergeßlichen geraten bist, zu mei-nen Gunsten auch jetzt deine Antworten und richtesie kürzer ein, wenn ich dir folgen soll!

Was verstehst du denn unter kurzen Antworten?erwiderte er.

Soll ich dir etwa kürzer antworten, als nötig ist?Keineswegs, entgegnete ich.Sondern so ausführlich, als nötig ist? fragte er.Ja, sagte ich.Soll ich dir denn so ausführlich antworten, wie

es mir oder wie es dir nötig zu sein scheint?Ich habe ja gehört, sagte ich, daß du sowohl sel-

ber imstande dazu bist als auch andere darin zu un-terrichten vermagst, über denselben Gegenstandnach Belieben entweder so ausführlich zu reden,daß niemals der Stoff ausgeht, oder auch wiederumso kurz, daß sich niemand kürzer fassen kann als

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du. Wenn du also mit mir ein Gespräch führenwillst, so bediene dich gegen mich der letzteren Re-deweise, der gedrängten!

Freund Sokrates, versetzte er, schon mit vielenMenschen habe ich mich in den Kampf der Redeeingelassen; aber hätte ich es dabei so gemacht,wie du begehrst, und die Unterredung so geführt,wie sie mein Gegner verlangte, dann wäre ich kei-nem überlegen erschienen, und Protagoras hättekeinen Namen unter den Hellenen.

Ich nun mußte hieraus wohl merken, daß er mitseinen bisherigen Antworten sich selber nicht ge-nügt hatte und aus eigenem Antriebe nicht mehr ge-sonnen war, sich als Antwortender bei dem Gesprä-che zu beteiligen: und so war ich denn meinerseitsauch der Ansicht, daß es nun nicht weiter meinBeruf sei, dieser Zusammenkunft beizuwohnen,und sagte daher: Nun wahrlich, Protagoras, auchich bestehe ja nicht darauf, daß wir die Unterhal-tung anders, als es dir zusagt, führen, sondern binja bereit, mich mit dir zu unterreden, wenn du esnur so dabei halten willst, daß ich dir dabei auch zufolgen vermag. Denn du bist ja, wie man von direrzählt und du auch selber aussagst, imstande,ebensogut in gedrängter wie in ausführlicher Redeeine Unterhaltung zu führen - bist du doch ebenein weiser Mann! -, ich dagegen vermag dieser

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langen Reden nicht Herr zu werden, so gern ich esauch möchte. Daher solltest du, der du dich auf bei-des verstehst, mir nachgeben, damit überhaupt einwissenschaftliches Gespräch zustande komme; dadu es jetzt aber nicht willst und ich keine Mußedazu habe und daher außerstande bin, wenn dudeine Reden lang ausspinnen willst, ihr Ende abzu-warten - denn mich ruft ein Geschäft anderswo-hin -, so will ich mich entfernen, obschon ich ge-wißlich auch dergleichen nicht ungern von dir an-gehört hätte.

Und mit diesen Worten stand ich auf, um fortzu-gehen. Aber kaum war ich aufgestanden, da faßtmich Kallias mit seiner Rechten bei der Hand; mitder Linken aber hielt er mich hier bei dem Mantelfest und sagte: Wir werden dich nicht fortlassen,Sokrates: denn wenn du fort bist, wird das Ge-spräch hier bei uns keinen gehörigen Fortgangmehr haben. Ich bitte dich daher, bei uns zu blei-ben; denn ich möchte keinem Menschen lieber zu-hören als dir und dem Protagoras, wenn ihr euchunterredet. Tue also uns allen diesen Gefallen!

Da sagte ich (und zwar war ich schon aufgestan-den und im Begriffe, das Haus zu verlassen): Sohndes Hipponikos, immer schätze ich dein Strebennach wissenschaftlicher Bildung hoch, und auchjetzt finde ich es lobens- und liebenswert, so daß

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ich dir gerne gefällig wäre, wenn du nur etwas ver-langtest, was in meinen Kräften steht. Nun aber istes gerade so, als wenn du mich bätest, mit Krisenaus Himera, dem jugendkräftigen Wettläufer, glei-chen Schritt zu halten oder mich mit irgend einemanderen Bahnrenner oder Eilboten im Laufen zumessen und es ihnen gleichzutun. Ich würde dirdann sagen, daß ich um meiner selbst willen weitmehr noch als du wünschen möchte, es mit solchenLeuten im Laufen aufnehmen zu können, daß ich esnun aber doch einmal nicht vermag, und daß dudaher, wenn du dennoch irgend Begehr trägst, michund den Krison zusammen laufen zu sehen, viel-mehr diesen letzteren bitten mußt, sich nach mir zubequemen: denn ich kann nicht schnell laufen,wohl aber er langsam. Wünschest du also mich undden Protagoras zu hören, so bitte ihn ebenso, wie ermir anfänglich kurz und nur auf das unmittelbarGefragte antwortete, es auch fernerhin zu machen:Denn was soll sonst das unterscheidende Kennzei-chen eines Gespräches sein? Ich wenigstens habebisher noch immer geglaubt, ein anderes sei es,sich gesprächsweise zu unterhalten, und ein ande-res, fortlaufende Reden zu halten.

Aber du siehst doch ein, lieber Sokrates, wandteKallias ein, daß Protagoras kaum im Unrechte ist,wenn er verlangt, es müsse ihm so gut freistehen,

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sich zu unterreden, wie er will, als dir, wie duwillst.

Da nahm Alkibiades das Wort und sagte: Duhast Unrecht, Kallias; denn Sokrates da gesteht jaselber ein, daß er sich mit langen Reden nicht be-fasse, und räumt darin dem Protagoras den Vorrangein; aber in der Gewandtheit in wissenschaftlicherUnterredung und der Geschicklichkeit, Rede undAntwort zu geben und sich geben zu lassen, solltees mich Wunder nehmen, wenn er irgend einemMenschen den Vorrang zugesteht. Gibt nun Prota-goras seinerseits wiederum zu, in der Kunst derGesprächführung hinter dem Sokrates zurückzuste-hen, so ist Sokrates zufrieden; macht er ihm aberdarin den Vorrang streitig, so unterrede er sichauch wirklich mit ihm in Frage und Antwort undspinne nicht jede Antwort zu einer langen Redeaus, um nur ihrer Prüfung auszuweichen und nichtweiter darüber Rechenschaft geben zu müssen,indem er immer fortspricht, bis die meisten Zuhörervergessen haben, was der eigentliche Gegenstandder Frage war; für den Sokrates freilich stehe ichein, daß dies bei ihm nicht der Fall sein wird, unddaß er nur scherzt, wenn er vorgibt, vergeßlich zusein. Mir scheint daher das Verlangen des Sokratesdas billigere zu sein, wenn doch ein jeder seineMeinung abgeben soll.

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Nach dem Alkibiades war es, meine ich, Kritias,welcher das Wort ergriff: Lieber Prodikos und Hip-pias, Kallias scheint mir sehr auf des ProtagorasSeite zu sein; Alkibiades aber ist in allem, was erergreift, streitsüchtig; wir aber wollen uns nichtauch an dem Streite beteiligen und weder für denSokrates noch für den Protagoras Partei ergreifen,sondern nur gemeinschaftlich beide bitten, die Un-terhaltung nicht in der Mitte abzubrechen.

Auf diese seine Bemerkung erwiderte Prodikos:Du scheinst mir recht zu haben, Kritias; denn dieje-nigen, welche solchen Gesprächen beiwohnen,müssen beiden, die sich unterreden, gleichmäßigeZuhörer sein, wenn auch nicht gleiche. Beides näm-lich ist nicht einerlei; sondern man muß beidegleichmäßig anhören, aber nicht beiden gleichenWert zuerteilen, sondern dem Kundigeren größe-ren, dem Unwissenderen aber geringeren. Auch ichmeinesteils, Protagoras und Sokrates, wünsche,daß ihr euch einander fügt und über eure Behaup-tungen zwar streitet, aber nicht zankt; denn streitenkönnen sich in Wohlwollen auch Freunde mitFreunden, nur Widersacher und Feinde aber zankensich mit einander. Und in dieser Weise wird dennauch diese unsere Zusammenkunft am befriedi-gendsten ausfallen: denn ihr, die Redenden, dürftetso am meisten bei uns, den Hörenden, Beifall

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finden - ich sage Beifall und nicht Lob, denn derBeifall erzeugt sich in den Herzen der Hörendensonder Trug, Lob in Worten aber wird lügnerischoft der Überzeugung zuwider gespendet; - und wirwieder, die Hörenden, dürften so am meisten Freu-de davon haben - ich sage Freude und nicht Lust;denn Freude wird man empfinden, wenn man ver-möge geistiger Tätigkeit etwas lernt und der Ein-sicht teilhaftig wird, Lust aber, wenn man beimEssen oder sonst durch Vermittlung der Sinneeinen angenehmen Eindruck erfährt.

Diese Bemerkungen des Prodikos nun nahmenviele der Anwesenden sehr beifällig auf.

Nach dem Prodikos aber ließ sich der weise Hip-pias vernehmen: Ihr Männer, die ihr anwesend seid,ich betrachte euch alle als Verwandte, Angehörigeund Mitbürger der Natur, wenn auch nicht dem Ge-setze nach; denn das Ähnliche ist mit dem Ähnli-chen von Natur verwandt, das Gesetz aber, welchesein Tyrann der Menschen ist, erzwingt vieles gegendie Natur. Für uns daher wäre es ein wahrerSchimpf, die Natur der Dinge zwar zu kennen, aberdennoch und obgleich wir die Weisesten aller Hel-lenen und demgemäß auch gerade in dieser Stadt,dem Mittelpunkte aller griechischen Bildung undgerade in ihrem angesehensten und glänzendstenHause gegenwärtig versammelt sind, nichts dieser

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hohen Vorzüge Würdiges zutage zu fördern unduns, wie Menschen des gemeinsten Schlages, nurmit einander herumzustreiten. Ich bitte und ratedaher, lieber Protagoras und Sokrates, daß ihr ein-ander entgegenkommt und durch uns als Schieds-richter euch auf einen Mittelweg bringen laßt, sodaß weder du, Sokrates, auf jene strenge, auf Kürzeberechnete Form des Wechselgespräches allzusehrdrängest, wenn es dem Protagoras nicht genehm ist,sondern dem Laufe der Rede Raum gebest und dieZügel schießen lassest, damit er um so großartigerund herrlicher unter euch hervorspringe, noch auchandererseits Protagoras alle Segel beisetzen und,sich ganz den günstigen Fahrwinde überlassend, indie offene See der Reden hinausfliehen und dasLand ganz aus den Augen verlieren möge, sondernihr beide mitten durch beide Klippen hindurchse-gelt. So also macht es und wählt, wenn ihr meinemRate folgen wollt, einen Kampfrichter, Vorsitzen-den und Obmann, der bei jedem von beiden dasrichtige Maß der Reden überwache!

Dieser Vorschlag gefiel den Anwesenden, undalle gaben ihren Beifall zu erkennen; Kallias abererklärte, er werde mich nicht gehen lassen, und siebaten, einen Vorsitzenden zu wählen. Da erklärteich denn, es würde unangemessen sein, einenSchiedsrichter für unsere Unterredung zu ernennen.

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Denn wäre der Gewählte schlechter als wir, sowürde es doch wohl nicht in der Ordnung sein, daßder Schlechtere über die Besseren den Aufsehermache: und auch wenn er uns gleichstände, so wärees auch so noch nicht besser damit: denn der unsGleichende wird auch auf eine ähnliche Weise wiewir verfahren, so daß seine Wahl eine überflüssigesein wird. Aber freilich, ihr werdet einen Besseren,als wir sind, wählen wollen. Allein in Wirklichkeit,glaube ich, ist es für euch unmöglich, jemanden zuwählen, der weiser ist als hier unser Protagoras.Wählt ihr aber einen solchen, der um nichts besserist, sondern den ihr nur dafür ausgebt, so ist auchdas ehrenrührig für den Protagoras; denn nur einuntauglicher Mensch bedarf eines Aufsehers, wennes auch auf mich freilich dabei weiter nicht an-kommt. Wohl aber will ich es so machen, damit,wie ihr wünscht, Unterhaltung und Gespräch unteruns ihren Fortgang nehmen: wenn Protagoras nichtantworten will, so frage er vielmehr, und ich willder Antwortende sein und ihm dabei zu zeigen su-chen, wie nach meiner Meinung der Antwortendeseine Antworten einzurichten hat, und wenn ichihm dann alles beantwortet habe, was er zu fragenLust hat, so stehe er mir gleichermaßen wiederumRede, und wenn er dann nicht geneigt zu seinscheint, auf den eigentlichen Gegenstand der Frage

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einzugehen, dann wollen wir alle gemeinsam ihnum eben das bitten, worum ihr nun mich bittet,nämlich uns die Unterhaltung nicht zu verderben.Und zu diesem Zwecke bedarf es nicht eines einzel-nen besonderen Aufsehers, sondern ihr werdet allegemeinschaftlich die Aufsicht darüber führen.

Da meinten denn alle: ja, so müsse man es ma-chen; und Protagoras wollte freilich anfangs garnicht recht daran, sah sich aber genötigt, sich dazuzu verstehen, daß er fragen und, wenn er genug ge-fragt, wieder Rede stehen und in seinen Antwortensich kurz fassen wolle. Er begann also ungefährfolgendermaßen zu fragen:

Ich halte, sagte er, lieber Sokrates, es für einHaupterfordernis für einen gebildeten Mann, daß erin Dichterwerken wohlbewandert sei, d.h. daß erdie Worte des Dichters dem verschiedenen Gradeihres Wertes nach zu beurteilen und ferner sie aus-zulegen und auf Befragen Bescheid über sie zu er-teilen verstehe. Und so soll denn auch jetzt meineFrage zwar denselben Gegenstand betreffen, überwelchen wir beide im Gespräche begriffen sind,nämlich die Tugend, aber mit Beziehung auf einGedicht, und dies soll den einzigen Unterschiedbilden. Es sagt nämlich irgendwo Simonides zuSkopas, dem Sohne des Thessaliers Kreon:

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Wohl ist es schwierig, in Wahrheit werden einwackerer Mann,

An Haupt und Gliedern und Geiste kraftvoll, derjeglichen Tadels bar und ledig ist.

Kennst du das Lied, oder soll ich dir es ganzhersagen?

Hierauf erwiderte ich: Es bedarf dessen nicht,denn ich kenne es und habe mich gerade mit diesemGedichte viel beschäftigt.

Desto besser, sprach er. Scheint dir das also nunschön gesagt und richtig oder nicht?

Ja, gar sehr, antwortete ich.Scheint dir denn etwas schön gesagt, wenn dabei

der Dichter mit sich selber in Widerspruch gerät?Nein, versetzte ich.So überlege dir die Sache noch einmal genauer,

sprach er.Nein, mein Bester, ich habe sie mir bereits hin-

länglich bedacht.So weißt du, daß er im weiteren Verlaufe des

Liedes irgendwo sagt:

Nicht drum geziemend bedünkte immer michPittakos' Wort,

Ob klug der Mann, der es sprach, auch war, - jenesWort: Es ist schwer, in Wahrheit gut zu sein.

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Bedenkst du, daß ein und derselbe Mann diesund auch jenes Frühere sagt?

Das weiß ich, war meine Antwort.Scheint dir nun, fragte er, beides mit einander

übereinzustimmen?Mir wenigstens scheint es (- dabei aber besorgte

ich, er möge in der Tat nicht ganz Unrecht haben-), dir aber nicht? erwiderte ich.

Wie könnte denn der, welcher diese beiden Aus-sprüche tut, mit sich selber in Übereinstimmungerscheinen, der da zuerst selbst die Behauptungaufstellte, es sei schwer, in Wahrheit ein wackererMann zu werden, und ein wenig später im Verfol-ge seines Gedichtes diese bereits wieder vergessenhat und den Pittakos, der doch gerade dasselbe wieer sagt, es sei schwer, gut zu sein, tadelt und er-klärt, daß er das nicht gelten lassen könne, was der-selbe doch ganz in Übereinstimmung mit ihm sel-ber behauptet? Tadelt er doch offenbar mit demTadel gegen ihn demnach sich selber, so daß er ent-weder vorher oder nachher sich nicht richtig aus-drückt.

Durch diese Erörterungen erwarb sich Protago-ras bei vielen seiner Zuhörer lauten Beifall und Lo-beserhebungen. Und mir ward anfangs, als wennich von einem tüchtigen Faustkämpfer getroffenwäre, schwarz vor den Augen und schwindlig, als

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er so gesprochen und die anderen ihm Beifall zuge-jubelt hatten; darauf aber - um wenigstens dir dieWahrheit zu gestehen - wende ich mich, um Zeitzum Nachdenken über die wahre Meinung desDichters zu gewinnen, an den Prodikos, rufe ihn anund sprach:

Lieber Prodikos, Simonides ist ja dein Lands-mann, und daher ist es deine Pflicht, dem Mannebeizustehen; dich also glaube ich zu Hilfe rufen zumüssen, wie nach Homeros der vom Achilleus be-drängte Skamandros den Simoeis mit den Wortenzu Hilfe ruft:

Bruder, wohlan! Die Gewalt des Mannes da müssenwir beid' itzt Bändigen.

So rufe denn auch ich dich herbei, damit unsProtagoras nicht den Simonides in Staub werfe;denn zu seiner Rechtfertigung bedarf es eben deinerKunst, durch die du Wollen und Begehren als zweiWörter, die gar nicht dasselbe bezeichnen, unter-scheidest, und was du eben erst noch sonst alles fürschöne Dinge vorbrachtest. So erwäge denn auchjetzt, ob du hierin gleicher Ansicht mit mir bist!Denn offenbar widerspricht sich Simonides garnicht. Indessen sage du, lieber Prodikos, zuerstdeine Meinung: Scheint dir Werden und Sein

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dasselbe oder etwas Verschiedenes?Etwas Verschiedenes, beim Zeus, antwortete

Prodikos.Hat nun nicht, fuhr ich fort, in den ersten Versen

Simonides gleich seine eigene Meinung ausgespro-chen, daß es schwer sei, in Wahrheit ein wackererMann zu werden?

Du hast recht, erwiderte Prodikos.Den Pittakos aber, sprach ich, tadelt er, indem

dieser nicht, wie Protagoras meint, dasselbe mitihm, sondern etwas anderes sagt. Denn nicht daserklärte Pittakos für das Schwierige, wacker zuwerden, wie Simonides, sondern es zu sein, unddas Werden und Sein ist nicht eins und dasselbe,Protagoras, wie hier unser Prodikos sagt. Wennaber dies nicht der Fall ist, dann ist auch Simonidesnicht mit sich selber im Widerspruche. Und viel-leicht möchte unser Prodikos dies mit vielen ande-ren nach Hesiodos dahin erklären, gut zu werdensei allerdings schwierig, denn vor die Tugend hät-ten die Götter den Schweiß gestellt; wäre manaber zu ihrem Gipfel gekommen, dann sei sieleicht, so schwer sie auch war, zu besitzen.

Als das Prodikos hörte, belobte er mich; Prota-goras aber sprach: Deine Rechtfertigung, Sokrates,hat einen noch großem Fehler, als der ist, den dudurch sie beseitigen willst.

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Da habe ich also, wie es scheint, sagte ich, etwasSchönes angerichtet und bin ein lächerlicher Arzt:um die Krankheit zu heilen, mache ich sie nochgrößer.

Ja, so verhält es sich, sprach er.Inwiefern denn aber? fragte ich.Es wäre, entgegnete er, ein großer Unverstand

vom Dichter, wenn er es für etwas so Geringfügi-ges erklärte, sich im Besitze der Tugend zu erhal-ten, was doch gerade das Allerschwerste ist, wiejedermann einräumt.

Nun, beim Zeus, versetzte ich darauf, zu rechtgelegener Stunde ist hier unser Prodikos bei unse-ren Verhandlungen zugegen. Es wird nämlich, lie-ber Protagoras, die Wissenschaft des Prodikosschon vor alters als eine Art von göttlicher Einge-bung bestanden haben, sei es nun, daß sie von Si-monides selber ausging oder auch noch älter ist. Duaber, obschon vieler andern Dinge kundig, bistdoch offenbar ihrer unkundig und nicht mit ihr ver-traut, wie ich als Schüler unseres Prodikos da. Undso scheinst du mir denn auch jetzt nicht zu erken-nen, daß dieses Schwer vielleicht Simonides garnicht so verstand wie du, sondern so, wie unserProdikos mich hinsichtlich des Gewaltig jedesmalzurechtweist, nämlich wenn ich zum Beispiel, umdich oder einen andern zu loben, sage: Protagoras

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ist ein weiser und gewaltiger Mann; wie er dannfragt, ob ich mich nicht scheue, etwas Gutes gewal-tig zu nennen - denn das Gewaltige, sagt er, istetwas Böses: wenigstens sagt niemand jemals: »Odes gewaltigen Wohlstands und des gewaltigenFriedens und der gewaltigen Gesundheit«, sondern:»O der gewaltigen Krankheit und des gewaltigenKrieges und der gewaltigen Armut«, indem jederdas Gewaltig für etwas Übles ansieht: - so nunverstehen vielleicht die Leute von Keos und Simo-nides unter dem Schwer das Beschwerliche unddaher nicht minder etwas Übles oder sonst etwas,was du nicht begreifst. Wir wollen also den Prodi-kos fragen: denn von ihm gebührt es sich über dieAusdrucksweise des Simonides Auskunft zu for-dern. Was verstand also, lieber Prodikos, Simoni-des unter dem Schwer?

Das, was beschwerlich ist, und somit etwasÜbles, erwiderte er.

Deshalb also tadelt er, fuhr ich fort, lieber Prodi-kos, auch den Pittakos, der da sagt Gut sein istschwer, als hätte er ihn sagen hören, daß es Be-schwerden und Übel mit sich bringt.

Ja, was glaubst du, lieber Sokrates, daß Simoni-des anderes meine, als dies, und daß er dem Pitta-kos vorhalten wolle, er verstehe als ein Lesbier undin ungriechischer Mundart Auferzogener die

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78Platon: Protagoras

Ausdrücke nicht gehörig zu unterscheiden?Hörst du wohl, Protagoras, sagte ich jetzt, un-

sern Prodikos? Weißt du etwas darauf zu erwidern?Und Protagoras antwortete: Weit gefehlt, daß es

so sich verhielte, mein Prodikos! Sondern ich binfest überzeugt, daß Simonides unter dem Schwereben das verstand, was wir anderen darunter verste-hen, nämlich nicht das, was etwas Übles ist, son-dern was nicht leicht ist, sondern nur durch großeAnstrengungen erreicht wird.

Nun, auch ich, sagte ich darauf, Protagoras,glaube, daß Simonides eben dies meint, und daßauch unser Prodikos das recht gut weiß und nurscherzt und, wie es scheint, dich auf die Probe stel-len will, ob du deine Behauptung auch zu verfech-ten imstande sein wirst; denn daß Simonides unterdem Schwer nichts Übles versteht, dafür ist gleichder folgende Ausspruch ein starker Beleg: er sagtnämlich:

Nur dem Gott gebührt diese Ehre...

Denn sicher, wenn er sagen wollte, es sei etwasÜbles darum, gut zu sein, würde er nicht hinten-drein behauptet haben, es komme dies allein einemGotte zu, und nur einem solchen diesen Vorzug zu-erkannt haben; denn sonst würde Prodikos den

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Simonides einen Frevler und nimmermehr einenKeer nennen. Aber was mir Simonides bei diesemLiede im Sinne gehabt zu haben scheint, will ichdir sagen, wenn du anders eine. Probe mit mir ma-chen willst, wie es bei mir in bezug auf das bestelltsei, was du »in Gedichten bewandert sein« nennst;wenn du aber lieber willst, so will ich es von dirhören.

Sprich, wenn du willst, Sokrates, sagte Protago-ras, als er mich so reden hörte. Prodikos und Hip-pias aber forderten mich sehr dringend dazu auf,und ebenso die übrigen.

So will ich denn nun, begann ich, euch meineAuffassung dieses Gedichtes zu entwickeln versu-chen.

Die wissenschaftliche Tätigkeit ist nämlich unterallen Hellenen am ältesten und verbreitetsten beiden Kretern und Lakedaimoniern, und Sophistengibt es am meisten bei ihnen zu Lande. Aber siewollen es nicht Wort haben und stellen sich unwis-send, damit es nicht offenbar werde, daß sie anWeisheit alle Hellenen übertreffen, gerade wie jeneSophisten, von denen Protagoras sprach, sonderndamit es den Anschein behalte, als wäre dies nur inder Schlacht und an Tapferkeit der Fall, indem sievon der Ansicht ausgehen, daß, würde man inne,worin eigentlich ihre Überlegenheit besteht, alle

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hierauf, auf die Weisheit, sich werfen würden. Nunaber haben sie, indem sie das geheimhalten, die La-konentümler in den andern Staaten getäuscht, unddiese zerschlagen sich die Ohren, um es ihnennachzutun, umwickeln ihre Arme mit Boxriemen,treiben eifrig Leibesübungen und tragen kurzeMäntel, als ob auf solchen Dingen das Überge-wicht der Lakedaimonier über die anderen Hellenenberuhte. Die Lakedaimonier aber, wenn sie einmalganz ungestört mit den bei ihnen heimischen So-phisten verkehren wollen und der Heimlichkeit beidiesem Verkehre überdrüssig geworden sind, neh-men Fremdenausweisungen vor und treiben jeneihre Nachäffer, und wenn sich sonst etwa ein Aus-länder bei ihnen aufhält, aus dem Lande und pfle-gen dann unbemerkt von allen Nichtspartanern denUmgang mit ihren Sophisten. Von ihren eignenjungen Leuten aber verstatten sie keinem, sich inandere Staaten zu begeben (und ebensowenig tunes die Kreter), damit sie die Weisheit nicht wiederverlernen, die sie zu Hause eingesogen haben. Undnicht bloß Männer sind es in diesen Staaten, diesich viel auf ihre Bildung zugute tun, sondern auchFrauen. Daß ich aber hiermit die Wahrheit sageund daß die Lakedaimonier zur wissenschaftlichenErkenntnis und zu ihrem Ausdrucke am meistenvorgebildet sind, mögt ihr aus folgendem

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abnehmen: Man wolle sich nur mit dem geringstender Lakedaimonier in ein Gespräch einlassen, sowird man finden, daß er zwar zunächst in dem, waser sagt, sich unbedeutend zeigt, sodann aber, wo esdie Sache gerade mit sich bringt, sofort wie ein ge-schickter Speerschütze einen bedeutungsvollen kur-zen und sinnreichen Ausspruch dazwischen wirft,so daß der, welcher sich mit ihm unterhält, wie einunverständiger Knabe gegen ihn erscheint. Ebendies nun haben von den Jetztlebenden wie von denAltvorderen manche eingesehen, daß die wahreNachahmung lakonischen Wesens sich weit mehrauf die Pflege des Geistes als auf die des Körperserstreckt, indem sie erkannten, daß die Fähigkeit,solche Aussprüche zu tun, nur einem vollkommendurchgebildeten Manne eigen ist. Zu diesen gehör-ten Thales aus Milet, Pittakos von Mytilene, Biasvon Priene, unser Landsmann Solon, Kleobulosvon Lindos, Myson von Chen, und als siebenterwurde zu ihnen der Lakedaimonier Chilon gerech-net. Diese alle waren Nacheiferer, Verehrer undSchüler der lakedaimonischen Bildung, und an denvon einem jeden herrührenden kurzen Denksprü-chen kann man erkennen, daß ihre Weisheit wirk-lich von der Art war. Und so hielten denn aucheben diese Männer eine Zusammenkunft und weih-ten in dieser als Erstlinge ihrer Weisheit dem

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Apollon für den Tempel zu Delphoi jene Inschrif-ten, die ja in aller Munde sind: Erkenne dichselbst! und Alles mit Maß!

Weshalb nun erwähne ich dies? Weil dies dieArt und Weise war, in welcher unsere Alten philo-sophierten, nämlich eine gewisse lakonische Kürze.Und so ging denn auch jener Ausspruch des Pitta-kos, hoch erhoben von den Weisen, von Munde zuMunde: Gut sein ist schwer. Simonides also, eifer-süchtig auf der Weisheit Ruhm, gedachte, daß,wenn er diesen Ausspruch wie einen berühmtenWettkämpfer zu Boden werfe und überwältige, erselbst sich einen berühmten Namen unter seinenZeitgenossen erwerben würde. Gegen diesen Aus-spruch also, und indem er in dieser Absicht ihmnachstellte und ihn zunichte zu machen suchte, hater das ganze Lied gedichtet, wie mir dies ganz klarist.

Laßt es uns also alle mit einander darauf anse-hen, ob ich recht habe: Gleich der Anfang diesesGedichtes würde ja widersinnig erscheinen, wenner bloß sagen wollte, es sei schwierig, ein braverMann zu werden, und dann dennoch jenes Wohlgesetzt hätte. Denn dasselbe ist offenbar ganzzwecklos eingeschoben, wenn man nicht annimmt,Simonides trete damit gleichsam streitend gegenden Ausspruch des Pittakos auf. Indem nämlich

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Pittakos sagt: Schwer ist es, ein braver Mann zusein, erklärt er dagegen: Nein, aber wohl es zuwerden, Pittakos, ist in Wahrheit schwer; dennnicht muß man verbinden in Wahrheit werden einbraver Mann, und nicht hierauf bezieht er das inWahrheit, als wenn es einige gäbe, die wirklichbrav, und andere, die es auch, aber nicht in Wirk-lichkeit sind; denn das wäre offenbar abgeschmacktund des Simonides nicht würdig; sondern man mußeine Versetzung des in Wahrheit im Gedichte an-nehmen, so daß wir den Ausspruch des Pittakosuns etwa so denken, als ob dieser selbst redete undSimonides ihm antwortete, indem der erstere sagte:O Menschen, schwer ist es, wacker zu sein, undder letztere ihm erwiderte: Pittakos, du hast Un-recht, denn nicht es zu sein, aber wohl zu werdenein wackerer Mann, an Haupt und Gliedern undGeiste kraftvoll, der jeglichen Tadels bar undledig ist, ist in Wahrheit schwer. Auf diese Weiseerscheint das Wohl mit Grund eingeschoben unddas in Wahrheit richtig vorangestellt. Auch allesFolgende zeugt dafür, daß es so gemeint sei: dennausführlich ließe es sich zwar auch an jedem ein-zelnen Gedanken nachweisen, wie vortrefflich dasLied gedichtet ist, denn es ist durchaus ebenso an-mutig durchgeführt als sorgfältig angelegt; indes-sen würde es zu weit führen, es in dieser Weise

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84Platon: Protagoras

durchzugehen, und nur die Anlage und seinenZweck im großen und ganzen will ich erörtern, umdarzutun, daß sich vorzugsweise eine Widerlegungdes Ausspruches des Pittakos durch das Ganze hin-durchzieht.

Nachdem nämlich der Dichter in kurzem, um esin schlichter Rede auszudrücken, den Satz aufge-stellt hat: schon ein wackrer Mann zu werden, ist inWahrheit schwer, wenn auch wenigstens auf eineZeitlang möglich; jedoch, wenn man es gewordenist, in dieser Beschaffenheit zu verharren und es zusein, was du, Pittakos, für schwer hältst, das istvielmehr unmöglich und übersteigt menschlicheKräfte, und nur einem Gotte gebührt dieser Vor-zug, - so fährt er fort:

... jedoch der Mensch - der entgehet dem Fehltrittnicht,

Wenn ratlos das Schicksal zu Boden ihn wirft.

Wen nun wirft wohl das Mißgeschick ratlos zuBoden, zum Beispiel bei der Leitung eines Schif-fes? Offenbar nicht den Unkundigen, denn dieserliegt stets darnieder. So wie nun niemand den be-reits Liegenden niederwirft, wohl aber einmal dennoch Stehenden, so daß man ihn dadurch zum Lie-gen bringt, so kann auch wohl einmal ein

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85Platon: Protagoras

Mißgeschick ratlos den Wohlberatenen zu Bodenwerfen, den stets Ratlosen aber nicht. Denn auchden Steuermann kann ein plötzlich ihn überfallen-der gewaltiger Sturm ratlos machen und den Land-mann plötzlich eintretende schlechte Witterung,und ähnlich kann es dem Arzte ergehen. Ebenso istbei dem braven Manne die Möglichkeit vorhanden,schlecht zu werden, wie auch von einem anderenDichter mit den Worten bezeugt wird:

Ist doch ein wackerer Mann bald schlecht, baldwieder auch edel;

bei dem schlechten aber nicht, sondern diesermuß es notwendig immer sein. Daher der Wohlbe-ratene, der Verständige und Brave, wenn ein Miß-geschick ihn ratlos darniederwirft, dem Fehltrittenicht entgehen kann. Wenn also du, o Pittakos,sagst, daß es schwer sei, trefflich zu sein, so ist inWahrheit vielmehr schon es zu werden schwer,aber doch noch möglich, - unmöglich dagegen, esimmer zu sein.

Denn jedermann, dem 's gelinget, ist gut,Und schlecht, wem es mißlingt.

Was verschafft uns nun aber ein solches

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86Platon: Protagoras

Gelingen, und wodurch wird man gut und tüchtigzum Beispiel in den Elementarkenntnissen? Offen-bar doch nur durch das Erlernen derselben. Undwodurch gelingt es jemandem, ein guter Arzt zuwerden? Offenbar doch nur dadurch, daß er dieKranken behandeln lernt. Und schlecht, wem esmißlingt. Wer wird nun ein schlechter Arzt? Offen-bar zunächst nur der, der überhaupt ein Arzt ist,und sodann auch nur der gute Arzt, denn der kannauch ein schlechter werden; wir aber, die der Arz-neikunst Unkundigen, dürften niemals durch einMißlingen weder zu Ärzten noch zu Baumeisternnoch zu sonst etwas der Art werden; wer aber über-haupt dadurch nicht zum Arzte werden kann, derkann offenbar dadurch auch nicht zum schlechtenArzte werden. So kann auch der gute und braveMann auch wohl einmal schlecht werden, indem erdurch Alter oder durch Drangsal oder Krankheitoder durch sonst einen Unfall der Einsicht beraubtwird - denn hierin allein hat jegliche schlechteHandlungsweise ihren Grund -: der Schlechte da-gegen kann niemals schlecht werden, denn er ist esbereits: sondern wenn er schlecht werden soll, somuß er zuvor gut gewesen sein. Daher denn auchdiese Stelle des Gedichtes darauf zielt, daß es nichtmöglich ist, stets ein guter Mensch zu sein und zubleiben, wohl aber es zu werden, so jedoch, daß

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87Platon: Protagoras

eben darum ein und derselbe Mensch auch wieder-um schlecht wird.

Und am längsten beharrt, wen lieben die ew'genGötter.

Dies alles also ist gegen den Pittakos gesagt, wiedie folgenden Verse des Liedes noch deutlicher zei-gen. Es heißt dort nämlich:

Nimmer Unmögliches zu erspähen, drum werd' ichmich mühn,

Niemals an eiteler Hoffnung Trug meine flüchtigenTage setzen und umsonst

Nach dem Manne späh'n ganz ohn' jeglichen Tadel,soweit nur Männer die Erde nährt.

Jedoch treff' ich den einst, so künd' ich ihn euch.

So nachdrücklich und durch das ganze Gedichthindurch zieht er gegen den Ausspruch des Pittakoszu Felde.

Drum lob' ich, ja lieb' ich jeglichen, derNur Schmachvolles nicht übt'Will'gen Sinns; mit dem Schicksal kämpft auch ein

Gott vergebens.

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88Platon: Protagoras

Auch dies ist gegen eben diesen Ausspruch ge-bildet. Denn so ununterrichtet war Simonides nicht,daß er hätte sagen können, er lobe jeden, der nuraus freiem Antriebe nicht Böses tue, als ob es über-haupt Leute gäbe, die solches freiwillig täten. Dennich bin so ziemlich der Überzeugung, daß kein ein-sichtiger Mann daran denkt, es fehle irgend einMensch aus Absicht oder begehe etwas Schändli-ches oder Schlimmes aus freier Wahl, sondern daßalle wohl wissen, daß jedermann, welcher derglei-chen begeht, es unvorsätzlich tut. Und so sagt dennauch Simonides nicht, daß er deren Lobredner sei,die nur aus eigenem Antriebe nichts Böses tun,sondern auf sich selber bezieht er dies Will'genSinns. Er meinte nämlich, daß ein geistig und sitt-lich wohlgebildeter Mann oft sich selbst Zwangantue, jemandes Freund und Lobredner zu werden,wie zum Beispiel wem es, wie oft, begegne, daßsich Mutter, Vater oder Vaterland, und was sonstvon dieser Art ist, ungerecht gegen ihn erwiesen.Denn wenn die Schlechten so etwas beträfe, sosähen sie es gewissermaßen gern, breiteten es rechtdurch ihren Tadel aus und führten Klage über dieSchlechtigkeit ihrer Eltern oder ihres Vaterlandes,damit die Leute ihnen nicht deren Vernachlässi-gung zum Vorwurfe machten und zur Schande an-rechneten, tadelten daher auch jene über die

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Gebühr und gesellten zu den unvermeidlichen Miß-helligkeiten auch noch die selbstgewählten hinzu;die Guten dagegen suchten es zu verbergen undtäten sich selber den Zwang an, trotzdem sie zuloben. Und wenn sie wirklich über ein von ihrenEltern oder ihrem Vaterlande erlittenes Unrecht inZorn gerieten, so suchten sie sich doch selbst wie-der zu beruhigen und versöhnlich zu stimmen,indem sie sich noch überdies den Zwang antäten,die Ihrigen zu lieben und zu loben. Oft aber, glaubeich, erachtete auch Simonides selber es für nötig,einen Tyrannen oder einen anderen Menschen vondiesem Schlage zu loben und zu preisen, nicht ausfreiem Antriebe, sondern mit Zwang. Daher sagt erdenn auch folgendes zu Pittakos: Ich, o Pittakos,tadle dich nicht darum, weil ich tadelsüchtig bin,denn:

Ich hab' mein Gnüg' dran,Ist nur einer nicht schlecht,Allzu lässigen Sinns, des Rechts bar, das Staaten

erhält; und ist nur gesund sein Kern,Tadl' ich ihn nicht, denn nimmer zum Tadel geneiget

mein Herz sei!Ist der Toren Geschlecht ja unzählig doch stets,

so daß, wenn jemand seine Lust am Tadeln hat,

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er reichen Stoff dazu an ihnen finden würde.

Alles wahrlich ist schön, dem Schand' nur nichtgesellt ist.

Dies meint er nicht so, als ob er behaupten woll-te: »Alles wahrlich ist weiß, dem nichts Schwarzesbeigesellt ist«, denn das wäre in vielen Fällen lä-cherlich; sondern er läßt sich auch das Mittelmä-ßige ohne Tadel gefallen. »Und nicht«, sagt er,»suche ich einen Mann, ganz ohn' jeglichen Tadel,soweit nur Männer die Erde nährt; jedoch treff'ich den einst, so künd' ich ihn euch. Das heißt: ichwerde somit niemanden als einen solchen loben,sondern ich habe durchaus mein Genüge daran,wenn einer nur die Mitte hält und nicht geradezuschlecht handelt; drum lob' ich, ja lieb' ich jegli-chen« - und hier bedient er sich der Mundart derMytilenaier, weil er diese Worte an den Pittakosrichtet: »drum lob' ich, ja lieb' ich jeglichenwill'gen Sinns, der nur Schmachvolles nicht übt';es gibt aber auch Leute, die ich nicht willigenSinns liebe und lobe. Auch dich also, Pittakos,würde ich, wenn du auch nur einigermaßen haltbarund wahr sprächest, niemals tadeln: nun du aberüber die wichtigsten Dinge in großem Irrtum bistund doch die Wahrheit zu verkünden wähnst, tadle

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ich dich dieserhalb.«In dieser Absicht, Prodikos und Protagoras, -

damit schloß ich - scheint mir Simonides diesesGedicht verfaßt zu haben.

Und Hippias sagte: Gut, Sokrates, scheinst zwarauch du mir dies Lied erklärt zu haben; jedochhabe auch ich noch einen Vortrag darüber bereit,der sich hören läßt, und den ich euch halten will,falls es euch recht ist.

Da aber versetzte ihm Alkibiades: Ja, aber einanderes Mal, lieber Hippias: jetzt ist es vielmehr inder Ordnung, daß, wie Protagoras und Sokrates miteinander übereingekommen sind, entweder, wennder erstere noch weiter fragen will, der letztere zuantworten, oder, wenn er vielmehr ihm antwortenwill, dieser zu fragen hat.

Darauf sagte ich denn: Ich für mein Teil stelle esdem Protagoras anheim, welches von beidem ihmlieber ist. Doch gefällt es ihm, so lassen wir dieLieder und Gedichte ruhen; worüber ich dich aberzuerst fragte, lieber Protagoras, darüber möchte ichgern in der Untersuchung mit dir zu Ende kommen.Mir scheint nämlich die Unterhaltung über Gedich-te große Ähnlichkeit zu haben mit den Trinkgela-gen unbedeutender und ungebildeter Menschen.Denn ähnlich machen es diese, indem sie, weilwegen ihres Mangels an Bildung außerstande, sich

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durch sich selbst und durch ihre eigene Stimme undUnterredung beim Becher zu unterhalten, für einenhohen Preis die fremde Stimme der Flöte mietenund dadurch die Flötenspielerinnen teuer machenund sich nur durch deren Mund mit einander zu un-terhalten wissen. Wo aber geistig und sittlich gebil-dete Trinkgenossen versammelt sind, da wirst duweder Flötenspielerinnen noch Tänzerinnen nochLautenschlägerinnen sehen, sondern wahrnehmen,wie sie sich selber Manns genug dazu sind, sichohne jene Possen und Spielereien mit ihrem eige-nen Munde zu unterhalten, indem sie mit Anstandwechselseitig reden und zuhören, und wenn sieauch noch so stark dem Weine zugesprochenhaben. So nun haben auch solche Zusammenkünfte,wie die unsere hier, wenn sie Männer für sich ge-wonnen haben, wie die meisten von uns zu seinsich rühmen, keine fremde Stimme und keine Dich-ter nötig, die man über das, was sie meinen, nichtweiter befragen kann, und bei welchen daher, dameistens von denen, welche sie in ihren Reden an-führen, die einen dies und die andern jenes für denwahren Sinn des Dichters erklären, beide Teile sichüber einen Gegenstand streiten, den sie doch nichtzur Entscheidung zu bringen imstande sind; son-dern man wird in solchen Zusammenkünften der-gleichen Unterhaltung beiseite lassen und diese

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vielmehr aus eigenen Mitteln führen und seine ei-genen gegenseitigen Gedanken prüfen oder prüfenlassen. Ein solches Verfahren scheint mir das nach-ahmungswürdigere für uns beide, so daß auch wirdie Dichter beiseite legen und mit unseren aus unsselber geschöpften Gedanken gegen einander auf-treten, um so die Wahrheit und uns selber zu erpro-ben. Und willst du noch weiter fragen, so bin ichbereit, dir Antwort zu geben: oder wenn du lieberwillst, so stehe du mir Rede, um den Gegenstand,dessen Erörterung wir inzwischen abgebrochenhaben, zu Ende zu führen!

Auf diese und andere ähnliche Äußerungen vonmeiner Seite erklärte sich Protagoras nicht darüber,was von beidem er tun wolle. Da sagte denn Alki-biades, auf den Kallias hinblickend: Lieber Kallias,scheint dir auch jetzt noch Protagoras recht zu han-deln, indem er nicht geneigt ist, sich darüber zu er-klären, ob er Bescheid geben will oder nicht? Mirwenigstens scheint dies nicht recht zu sein. Entwe-der setze er daher die Unterredung fort, oder er er-kläre, daß er nicht dazu geneigt ist, damit wir wis-sen, wie wir mit ihm daran sind, und damit dann.Sokrates sich mit einem andern unterreden könne,oder wer sonst Lust dazu hat.

Durch diese Worte des Alkibiades und die Bittendes Kallias und auch der anderen Anwesenden

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ward Protagoras, wie es mir wenigstens vorkam,beschämt und ließ sich endlich zur Fortsetzung desGespräches bewegen, indem er mich aufforderte,ihn zu fragen, da er zu antworten bereit sei.

So begann ich denn: Lieber Protagoras, glaubenur nicht, daß ich in irgend einer andern Absichtmich mit dir zu unterreden. wünsche, als um das,worüber ich selber gerade in Ungewißheit bin,genau zu erforschen. Ich bin nämlich der Meinung,daß Homeros mit vollem Rechte sagt:

Wo zween wandeln zugleich, da bemerket der einund der andre;

denn so sind wohl wir Menschen insgesamt ge-schickter zu jeder Tat, Rede und Entschließung;

Doch der einzelne, ob er bemerket,

geht alsbald umher und sucht, bis er jemandentrifft, dem er es mitteilen und mit dem er sich seinerSache gehörig versichern kann; und so möchtedenn auch ich deshalb mich lieber mit dir als mitjedem anderen unterreden, weil ich glaube, daß dusowohl alle anderen Gegenstände am besten zu er-forschen verstehest, über welche einem verständi-gen Manne nachzudenken natürlich ist, als auch

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namentlich die Tugend. Denn von wem sollte ich essonst glauben, als von dir? Hältst du doch nichtbloß dich selber für geistig und sittlich tüchtig, wiees auch andere für ihre Person ganz wackere Män-ner gibt, die aber keinen anderen dazu heranzubil-den verstehen, sondern du vielmehr bist sowohl fürdein Teil ein trefflicher Mann, als auch andere dazuzu machen imstande, und du hegst ein solches Ver-trauen zu dir selbst, daß, während andere dieseKunst geheim halten, du unverhohlen dich selbstvor allen Hellenen zu ihr bekannt und dir selberden Namen eines Sophisten beigelegt und so dichförmlich als einen Lehrer der Bildung und Tugendangekündigt, auch zumeist hierfür Bezahlung inAnspruch genommen hast. Wie sollte man alsonicht dich herbeiziehen zur Erforschung dieserDinge und dich befragen und sie dir vortragen?Man kann nicht anders. Und so wünsche ich dennauch jetzt, daß du die Fragen, welche ich vorhinüber diese Gegenstände an dich richtete, dir aufsneue von Anfang an vergegenwärtigen und sodannweiter mit mir erwägen mögest. Es handelte sichaber, denke ich, dabei darum: ob Weisheit, Beson-nenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeitnur fünf Namen für eine einzige Sache sind, oderob jedem dieser Ausdrücke ein eigentümlichesWesen und eine Tätigkeit zugrunde liegt, welche

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ihren besonderen Wirkungskreis für sich und alseinen von dem aller anderen verschiedenen hat. Dunun behauptetest, es seien das nicht bloße Namenfür eins und dasselbe, sondern jeder derselben be-zeichne eine besondere Art von Tätigkeit, und dieseTätigkeiten alle seien Teile der Tugend, und zwarnicht so, wie die Teile des Goldes einander unddem Ganzen, zu welchem sie gehören, ähnlich sind,sondern so, wie die Teile des Gesichts sowohl demGanzen, dem sie angehören, als auch unter sich un-ähnlich sind und jeder seinen besonderen Wir-kungskreis hat. Wenn du daher noch derselbenMeinung darüber bist wie damals, so sage es, wenndu aber irgendwie einer anderen Meinung bist, soerkläre dich darüber; denn ich mache dir durchauskeinen Vorwurf daraus, wenn du dich jetzt irgend-wie anders äußerst, da es mich gar nicht wundemsollte, wenn du dich damals nur, um mich auf dieProbe zu stellen, so ausgesprochen hättest.

Nun, so erkläre ich dir denn, sagte er, Sokrates,daß dies alles Teile der Tugend sind, und daß vierderselben einander ziemlich ähnlich, die Tapferkeitaber gar weit von ihnen allen verschieden ist. Unddaß ich recht habe, wirst du aus folgendem erken-nen: Du wirst viele Menschen finden, welchehöchst ungerecht, gottlos, zügellos und unverstän-dig und dabei doch ganz ausnehmend tapfer sind.

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Halt, sprach ich, denn was du da sagst, verdientallerdings Erwägung. Hältst du die Tapfern fürkühn oder für etwas anderes?

Ja, sogar für bereit, immer darauf loszugehen,erwiderte er, und zwar bei Dingen, an welche diemeisten Leute sich nicht zu gehen getrauen.

Wohlan, fuhr ich fort, die Tugend erklärst du füretwas Löbliches und Schönes und trittst eben des-halb, weil du sie für ein solches hältst, als ihr Leh-rer auf?

Ja, und zwar für das Allerschönste, versetzte er,denn sonst müßte ich von Sinnen sein.

Wie nun, fragte ich weiter, ist ein Teil davon un-schön und nur ein anderer Teil schön, oder ist sienicht vielmehr ganz und gar schön und löblich?

Gewiß ganz und gar, und zwar in solchemGrade, als nur möglich.

Kennst du nun Menschen, welche sich kühn indie tiefsten Wasserbehälter hinunterbegeben?

Jawohl, die Taucher.Eben weil sie es verstehen, oder aus irgend einer

andern Ursache?Weil sie es verstehen.Und was für Leute kämpfen kühn zu Rosse? Die

des Reitens Kundigen oder Unkundigen?Die ersteren.Und welche kämpfen im Fußgefecht mit den

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leichten Schilden? Die, welche sich auf dieseKampfweise verstehen, oder die, welche sich nichtdarauf verstehen?

Wiederum die ersteren. Und ebenso sind auch inallen anderen Stücken, wenn du darauf hinaus-willst, setzte er hinzu, die Kundigen kühner als dieNichtkundigen, und diese selbst sind, nachdem siees wurden, kühner, als bevor sie es waren.

Hast du aber schon Leute gesehen, fuhr ich fort,die aller dieser Dinge unkundig waren und dochkühn an jedes derselben herangingen?

Allerdings, versetzte er, und zwar sehr kühn.Also sind kühne Leute von diesem Schlage wohl

auch tapfer?Dann, erwiderte er, wäre freilich die Tapferkeit

etwas Unschönes und Tadelnswertes, denn solcheMenschen sind nicht recht bei Sinnen.

Ei, was sagtest du denn, entgegnete ich, von denTapfern? Nicht, daß sie mit den Kühnen einerleiseien?

Ja, das behaupte ich auch noch, versetzte er.Und dennoch, sagte ich, zeigen die in dieser Art

Kühnen sich nicht als tapfer, sondern als sinnlos?Und nach deiner frühem Behauptung sind wiederdie Einsichtigsten auch die Kühnsten und als sol-che folglich auch die Tapfersten? Und nach diesemletzteren Satze wäre die Weisheit und Einsicht

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denn doch wohl Tapferkeit?Nicht richtig, entgegnete er, wiederholst du das,

Sokrates, was ich gesagt und dir geantwortet habe.Gefragt von dir, ob die Tapfern kühn sind, habe ichdas zugegeben; ob aber auch die Kühnen tapfersind, danach wurde ich nicht gefragt, und wenn dumir vorhin diese Frage vorgelegt hättest, so würdeich erwidert haben: Nicht alle. Daß aber die Tap-fern kühn seien, dieses mein Zugeständnis hast dunicht im mindesten widerlegt. Ferner tust du dar,daß die Einsichtigen kühner sind, als da sie esselbst noch nicht waren und als andere Unkundige,und meinst, danach treffe die Weisheit mit der Tap-ferkeit in eins zusammen. Wenn du auf diese Weiseweiter schließen wolltest, könntest du am Endeauch glauben, die Körperstärke sei Weisheit. Dennwenn du zunächst, in dieser Alt weiter vorgehend,mich fragtest, ob die Starken auch etwas auszurich-ten vermöchten, so würde ich es bejahen, und wenndann weiter, ob die des Ringens Kundigen mehrdarin auszurichten vermögen als die dessen Nicht-kundigen, und, nachdem sie es gelernt, selber mehr,als bevor dies der Fall war, so würde ich auch daszugestehen; und wenn ich dann dies getan, sokönntest du mit eben demselben Schlußverfahrendartun, daß meinem Zugeständnisse zufolge dieWeisheit auch körperliche Stärke sei. Ich gebe aber

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auch hier keineswegs zu, daß die, welche körper-lich etwas auszurichten vermögen, alle stark vonKörper sind, wohl aber, daß die, welche stark sind,alle etwas auszurichten vermögen. Denn die Fähig-keit und die Stärke halte ich nicht für dasselbe;sondern jene entspringt nach meiner Meinung auchaus Kenntnis und Geschick oder auch aus Rasereioder irgend einem Affekte: die Stärke dagegen istteils Naturgabe, teils verdankt man sie der richtigenAusbildung und Behandlung des Körpers. Undebenso gebe ich auch in unserem Falle nicht zu,daß Kühnheit und Tapferkeit eins und dasselbeseien, so daß zwar wirklich alle Tapfern auch kühnsind, aber nicht alle Kühnen auch tapfer; sondernKühnheit entspringt im Menschen auch aus Übung,so wie auch aus irgend einem Affekte oder aus Ra-serei, gerade so wie die Fähigkeit, körperlich etwasauszurichten, Tapferkeit aber aus natürlicher Anla-ge und richtiger Pflege und Ausbildung des Gei-stes.

Hältst du aber nicht dafür, sprach ich, lieber Pro-tagoras, daß es den Menschen teils gut und teilsübel im Leben ergeht?

Er bejahte.Scheint dir nun das erstere bei einem Menschen

der Fall zu sein, welcher unter Betrübnis undSchmerzen sein Leben hinbringt?

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Er sagte nein.Wie aber, wenn er nach einem angenehmen

Leben seine Tage beschloß: scheint es dir dannnicht, daß es ihm im Leben gut ergangen ist?

Ich sollte meinen, erwiderte er.Somit ist also ein Leben voll Freude und An-

nehmlichkeit etwas Gutes, ein unangenehmes aberetwas Übles.

Wenigstens, meinte er, wenn man an dem Edlenund Schönen in diesem Leben seine Freude gefun-den hat.

Wie, Protagoras? Hältst denn auch du, wie diegroße Menge, einen Teil des Angenehmen für ver-werflich und einen Teil des unangenehmen für gutund heilsam? Ich meine nämlich, ob es nicht, in-wiefern angenehm, insoweit auch etwas Gutes ist,nämlich soweit es nicht etwas ihm Entgegengesetz-tes zur Folge hat; und auf der andern Seite wiederdas Unangenehme, ob es nicht, inwiefern unange-nehm, auch vom Übel ist?

Ich weiß nicht, Sokrates, versetzte er, ob ich sounbedingt, wie du die Frage stellst, antworten darf,daß alles Angenehme auch etwas Gutes und allesUnangenehme auch vom Übel ist; sondern mirscheint es nicht nur in bezug auf die jetzige Frage,sondern auch als Grundsatz meines ganzen Lebenssicherer, zu antworten, daß von dem Angenehmen

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102Platon: Protagoras

ein Teil nicht gut, und ebenso von dem Schmerzeein Teil kein Übel, ein anderer aber von dieser Be-schaffenheit und ein dritter keins von beiden, wederetwas Gutes, noch etwas Schlimmes ist.

Angenehm aber, sprach ich, nennst du dochwohl das, was mit Annehmlichkeit verbunden istoder diese hervorruft?

Gewiß, erwiderte er.Meine Frage, ob etwas, inwiefern angenehm,

nicht auch etwas Gutes ist, läuft darauf hinaus, obnicht die Annehmlichkeit oder Freude selber einGut ist.

Untersuchen wir es, lieber Sokrates, wie du jaimmer zu sagen pflegst, und wenn es sich dann er-gibt, daß dieser Satz mit der Vernunft überein-stimmt und so das Angenehme und Gute wirklichals einerlei erscheint, so treten wir ihm bei; wo abernicht, dann erklären wir uns gegen ihn.

Willst du denn, fragte ich ihn, diese Untersu-chung leiten, oder soll ich es tun?

Dir kommt es zu, antwortete er, denn du hast jadiesen Gegenstand auf die Bahn gebracht.

Wohlan, begann ich, sollte es uns wohl nicht auffolgende Weise offenbar werden? Wie, wenn je-mand einen Menschen nach seinem äußeren Anse-hen, sei es in bezug auf seine Gesundheit oder ir-gend eine andere Verrichtung seines Körpers,

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untersuchen sollte und, wenn dieser ihm dann seinGesicht und seine Vorderarme gezeigt hätte, zu ihmsagen würde: »Wohlan, entblöße mir auch dieBrust und den Rücken, und laß sie mich sehen,damit ich dich genauer untersuchen kann«, - soverlange auch ich etwas Ähnliches in bezug auf un-sere Untersuchung. Nachdem ich gesehen habe,daß du so, wie du sagst, über das Gute und Ange-nehme denkst, halte ich es für nötig, etwa so zusprechen: Wohlan, Freund Protagoras, enthülle mirauch darüber deine Gedanken: wie denkst du vonder Erkenntnis? Hast du auch über sie dieselbe An-sicht wie die Mehrzahl der Menschen, oder eine an-dere? Dieser Mehrzahl nämlich scheint es mit ihrso zu stehen, daß sie nichts Starkes, Leitendes undGebietendes sei; kurz, nicht als etwas von dieserArt betrachten sie sie, sondern sie meinen, daß oft,auch wenn Erkenntnis dem Menschen einwohne,doch nicht sie ihn leite, sondern etwas anderes,bald Leidenschaft und bald Lust oder Unlust, zu-weilen auch Liebe und oftmals Furcht, indem siedie Erkenntnis so recht eigentlich als eine Sklavinbetrachten, welche sich von allen anderen Seelen-zuständen umherzerren und schleppen läßt. Hegstnun auch du eine ähnliche Meinung von ihr, oderscheint es dir, daß sie etwas Edles und Schönes seiund fähig, den Menschen zu beherrschen, und daß,

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104Platon: Protagoras

wenn jemand nur das Gute und Böse richtig er-kannt hat, er dann auch von nichts dazu vermochtwerden kann, irgend etwas anderes zu tun, als wasdie Erkenntnis ihm gebietet, sondern daß vielmehrdie vernünftige Einsicht hinreiche, dem Menschenzu helfen?

Wohl scheint es mir so zu sein, wie du sagst, lie-ber Sokrates, antwortete er, und es würde auch,wenn für irgend jemanden, für mich schimpflichsein, wenn ich nicht Weisheit und Erkenntnis fürdas mächtigste von allen menschlichen Dingen er-klären wollte.

Das ist schön und wahr von dir gesprochen, ver-setzte ich.

Nun weißt du aber doch, daß die Mehrzahl derMenschen mir und dir nicht glaubt, sondern be-hauptet, daß viele, obschon sie das Bessere kennen,es doch nicht tun wollen, da sie es doch könnten,sondern dem zuwider handeln. Und alle, die ich jedanach gefragt habe, was wohl die Ursache hiervonsei, meinten, wer so handle, der tue es, weil er sichvon der Lust oder Unlust besiegen oder von irgendeiner der Regungen, welche ich vorhin nannte, be-herrschen lasse.

Stellen doch, denke ich, lieber Sokrates, warseine Antwort, die Leute auch über viele andereDinge unrichtige Behauptungen auf.

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Wohlan, so versuche denn mit mir, den Leuteneine richtigere Überzeugung beizubringen und siedarüber zu belehren, was für ein Zustand in Wirk-lichkeit derjenige ist, den sie als ein ›den LüstenUnterliegen‹ bezeichnen, infolgedessen sie dasBessere unterließen, da sie es doch tun könnten.Denn wenn wir ihnen etwa sagen wollten: »Ihr habtnicht recht, liebe Leute, sondern seid im Irrtum«, sokönnten sie leicht uns fragen: »Ja, Protagoras undSokrates, wenn das, was uns da widerfährt, nichtheißt ›der Lust erliegen‹, wie heißt es denn, undwie nennt ihr es? Teilt uns das mit!«

Aber was brauchen wir denn, Sokrates, auf dieMeinung der Leute Rücksicht zu nehmen, die dochnur darauf los reden, wie es ihnen gerade einfällt?

Ich glaube, antwortete ich, es wird uns das vonNutzen dabei sein, um zu ermitteln, wie sich dochdie Tapferkeit zu den übrigen Teilen der Tugendverhält. Wenn du also dabei bleiben willst, wie wireben beschlossen haben, mich die Untersuchungleiten zu lassen, wie ich glaube, daß sie am bestenzur Klarheit gedeihen werde, so überlasse dichauch meiner Führung; gefällt es dir aber nicht, sowill ich, wenn es dir recht ist, die ganze Untersu-chung aufgeben.

Nein, sagte er, du hast recht: führe sie nur aus,wie du begannest!

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106Platon: Protagoras

Wenn sie also, fuhr ich fort, uns wieder fragten:»Wofür erklärt denn ihr das, was wir ein Bezwun-genwerden von den Lüsten nannten?« - so würdeich für mein Teil ihnen so antworten: »Höret denn!Ich und Protagoras, wir wollen euch zu erklärenversuchen. Ihr meint doch, liebe Leute, daß euchdabei so etwas widerfahre, daß ihr euch zum Bei-spiel oft von der Lust nach Speise, Trank und Lie-besgenuß überwältigen laßt und so, auch wenn ihrsie als etwas Schlechtes erkennt, euch dennoch ihrhingebt?« Sie würden es zugestehen, und wir beidewürden sie dann weiter fragen: »Inwiefern haltetihr denn aber etwas von diesen Dingen fürschlimm? Etwa sofern jedes derselben für den Au-genblick diese Lust gewährt und angenehm ist,oder sofern etwas von ihnen für die FolgezeitKrankheiten hervorruft oder Verarmung und ähnli-che Übel zuwege bringt? Oder sollte es gar, wennes auch für die Folge nichts der Art, sondern nurFreude und Genuß herbeiführt, dennoch etwasSchlimmes sein, eben weil es in jedem Betrachtund nichts als Freude bereitet?« Glauben wir wohl,lieber Protagoras, daß sie da etwas anderes erwi-dern würden, als daß es nicht um der augenblickli-chen Lust selber willen, die es hervorbringt, etwasSchlimmes ist, sondern um seiner späteren Folgenwillen, wenn dies Krankheiten und anderes der Art

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sind?Ich glaube wohl, versetzte Protagoras, daß die

Menge so antworten wird.»Was nun aber Krankheiten bewirkt, bewirkt

doch eben damit auch Unlust, und mit der Armutist es ebenso?« Auch das würden sie, denke ich,einräumen.

Protagoras stimmte bei.»Also scheint euch, ihr Leute, wie auch ich und

Protagoras behaupten, dies aus keiner anderen Ur-sache etwas Schlimmes zu sein, als weil es in Un-lust endet und anderer Annehmlichkeiten beraubt?«Auch das würden sie wohl zugeben.

So schien es uns beiden.Wenn wir sie nun dann wieder nach dem Entge-

gengesetzten fragten: »Ihr Leute, die ihr anderer-seits wieder behauptet, das Gute könne auch unan-genehm sein, meint ihr damit nicht solche Dingewie die Leibesübungen, Kriegszüge und die vonden Ärzten durch Brennen, Schneiden, Arzneimittelund Hungerkuren bewirkten Heilungen und denktvon ihnen, daß sie beiderlei Beschaffenheit an sichtragen?« - so würden sie wohl auch dies bejahen.

So dünkte es auch dem Protagoras.»Nennt ihr sie denn insofern gut und heilsam, als

sie für den Augenblick die größten Leiden undSchmerzen verursachen, oder insofern, als für die

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Folgezeit aus ihnen Gesundheit, körperliche Tüch-tigkeit und Wohlgestalt oder Errettung des Staates,sowie Bereicherung und Herrschaft desselben überandere Staaten hervorgeht?« Auch damit, sollte ichdenken, würden sie einverstanden sein.

Er stimmte bei.»Nun, dann sind auch diese Dinge aus keinem

anderen Grunde etwas Gutes, als weil sie in Lustund Entfernung und Abwendung von Leid endigen.Oder wißt ihr einen anderen Gesichtspunkt anzuge-ben, unter welchem ihr sie gut und heilsam nennt,als den von Lust und Leid?« Sie würden, meineich, keinen anzuführen wissen.

Auch ich glaube es nicht, sagte Protagoras.»Folglich geht ihr der Lust nach als einem Guten

und flieht die Unlust als ein Übel?«So schien es auch ihm.»Ja, ihr nehmt eben nur dies zum Maße des

Übels, die Unlust, und ebenso die Lust zum Maßedes Guten, da ja das Gefühl der Freude selber nacheuch eben nur dann und insoweit vom Übel seinsoll, wenn es größerer Annehmlichkeiten beraubt,als es selber mit sich bringt, oder Unannehmlich-keiten nach sich zieht, welche größer sind als die inihm enthaltene Lust. Denn wenn ihr in irgend einerandern Beziehung oder mit Hinblick auf irgend einanderes Ziel dies Gefühl selber also bezeichnet, so

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würdet ihr diese Gesichtspunkte auch uns anzuge-ben vermögen; dazu aber werdet ihr eben nicht im-stande sein.«

Auch ich glaube es nicht, sagte Protagoras.»Findet nun aber nicht beim Gefühle des

Schmerzes und der Trauer selber wiederum ganzdasselbe Verhältnis statt? Denn auch dann nenntihr dieses Gefühl als solches etwas Gutes, wenn esentweder größere Unanehmlichkeiten als die in ihmenthaltenen beseitigt, oder aber Annehmlichkeiten,welche den gegenwärtigen Schmerz überwiegen,zur Folge hat. Denn sähet ihr die Sache aus einemanderen Gesichtspunkt als dem genannten an, sowürdet ihr ihn wiederum auch angeben können,und das werdet ihr eben nicht vermögen.«

Du hast recht, sagte Protagoras.»Wenn ihr aber dann«, fuhr ich fort, »liebe

Leute, die Gegenfrage an mich richten wollet:›Weshalb erörterst du denn nur diesen Punkt soausführlich und nach so vielen Seiten hin?‹ - sowürde ich erwidern: Haltet mir das zugute! Dennerstens ist es nicht leicht, das eigentliche Wesendes Zustandes aufzuzeigen, den ihr als ein ›den Lü-sten Erliegen‹ bezeichnet; sodann aber beruht gera-de hierauf dieser ganze Nachweis. Indessen steht eseuch frei, auch jetzt noch eure Behauptung zurück-zunehmen, wenn ihr noch etwas anderes als gut

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anzugeben wisset denn die Lust, und als übel etwasanderes denn die Unlust. Oder genügt es euch, euerLeben in schmerzloser Freude hinzubringen? Wenndies der Fall ist, und wenn ihr kein anderes Gutoder Übel zu nennen wißt, als was hierauf hinaus-läuft, so höret weiter: Ich sage euch nämlich, daß,wenn dies sich so verhält, eure Behauptung lächer-lich wird, daß oft der Mensch, obwohl er dasSchlechte als solches erkennt, es dennoch ausübe,da ihm doch freistünde, es zu unterlassen, weil ervon seinen Lüsten sich hinreißen und betäubenläßt, und ebenso die andere Behauptung, daß er,obwohl er weiß, was gut ist, es dennoch nicht tunwill wegen der Lust des Augenblickes, welcher ernicht zu widerstehen vermag.«

Daß dies nämlich wirklich lächerlich ist, wirdsich deutlich zeigen, wenn wir nunmehr uns nichtferner vielerlei Benennungen bedienen, nämlich derdes Angenehmen und Unangenehmen und desGuten und Schlechten, sondern da sich gezeigt hat,daß dies nur zweierlei ist, es auch nur mit zweiNamen benennen, zuerst mit gut und schlecht unddann wieder mit angenehm und unangenehm. Nachdieser Festsetzung nun wollen wir sagen, daß derMensch, obgleich er das Schlechte als solches er-kannt, es dennoch ausübt, und wenn uns dann je-mand fragt: »Aus welchem Beweggrund?« - so

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werden wir erwidern: »Weil er nicht zu widerste-hen vermag.« - »Wem denn?« wird jener uns dannweiterfragen; wir aber dürfen jetzt nicht mehrsagen: »Der Lust«, denn an die Stelle dieses Na-mens ist jetzt ein anderer getreten, der des Guten.Wir also antworten jenem und sagen: »Weil ernicht zu widerstehen vermag.« - »Wem denn?«fragt er, und wir, beim Zeus, müssen antworten:»Dem Guten.« Wenn nun etwa der, welcher unsfragt, ein Spötter ist, so wird er uns auslachen undsprechen: »Da erzählt ihr mit fürwahr von einemlächerlichen Beginnen, daß jemand etwas Böses,obschon er es als solches erkennt und weiß, daß eres nicht tun müßte, dennoch tun sollte, weil er demGuten nicht widerstehen kann. Etwa«, wird ersagen, »indem in euren Augen das Gute daran vomSchlechten überwogen wird? Oder soll es doch dasletztere überwiegen?« Offenbar werden wir dannantworten müssen: »Weil es vom Schlechten über-wogen wird«, denn sonst hätte der, von dem wirsagen, daß er den Lüsten erlegen sei, ja eben nichtsBöses damit begangen, »Inwiefern«, dürfte jenerfortfahren, »kann denn aber das Gute überhauptvom Schlimmen oder das Schlimme vom Gutenüberwogen werden? Doch wohl in keinem anderenBetracht als wenn das eine größer und das anderekleiner, oder wenn des einen mehr und des anderen

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weniger ist?« Und wir werden nichts anderes alsdies anzugeben vermögen. »Somit«, wird er sagen,»meint ihr offenbar unter diesem Nichtwiderstehen-können: für ein geringeres Gute ein größeres Übelin den Kauf nehmen.« - So steht es also damit. Be-dienen wir uns nun wieder der anderen Ausdrücke,angenehm und unangenehm, für dieselben Gegen-stände. Der Mensch also tut, - vorhin sagten wir:das Schlimme, nun aber wollen wir sagen: das Un-angenehme, mit dem Bewußtsein, daß es unange-nehm ist, weil er sich von dem damit verbundenenAngenehmen überwältigen läßt, welches doch vondem Unangenehmen daran überwogen wird. Wel-che andere Abwägung der Lust gegen die Unlustaber gibt es, als das stärkere oder geringere Maßder einen oder der anderen, das heißt, als die Ab-schätzung, welche von beiden größer oder kleiner,reichlicher oder dürftiger, von höherem oder niede-rem Grade sei? Denn wollte jemand einwenden:»Aber, mein guter Sokrates, das augenblicklichAngenehme ist doch sehr verschieden von dem fürdie Folgezeit Angenehmen und Unangenehmen«, -so würde ich erwidern: »Aber doch wohl durchnichts anderes, als durch Lust und Unlust; weißt dunoch sonst einen Unterschieds Drum, wie ein imAbwägen erfahrener Mann, lege das Angenehmeund Unangenehme zusammen und das Nahe und

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Ferne mit einander auf die Waagschale, und dannerkläre dich, auf welcher Seite das Übergewicht ist,und wenn du dann Angenehmes gegen Angenehmeswägst, so mußt du stets das Größere und Zahlrei-chere wählen; wenn aber Unangenehmes gegen Un-angenehmes, das Geringere und Kleinere: wennendlich Angenehmes gegen Unangenehmes, somußt du, wenn das letztere vom ersteren überwo-gen wird, sei es das Nahe von dem Fernen oder dasFerne von dem Nahen, dieser Handlungsweisenachgehen; die aber, bei welcher das Gegenteil derFall ist, mußt du vermeiden. Nicht wahr, es verhältsich«, würde ich sagen, »doch wohl nicht andersdamit, ihr Leute?« - und ich bin gewiß, daß siesich nicht anders würden zu erklären vermögen.

So schien es auch dem Protagoras.»Da sich dies nun so verhält, so beantwortet mir

folgendes«, werde ich fortfahren: »Erscheineneurem Gesichte dieselben Größen in der Nähe grö-ßer und in der Ferne kleiner, oder nicht?« Sie wer-den es bejahen. »Und ist es nicht mit der Dicke undder Zahl ebenso? Und erscheinen euch nicht diegleichen Laute in der Nähe stärker und in der Ferneschwächer?« Auch das würden sie bejahen. »Wennnun unsere Wohlfahrt darauf beruhte, daß wir dasüberwiegend Große ausführten und wählten, dasKleine aber vermieden und nicht ausführten, worin

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würde dann das Heil unseres Lebens zu findensein? In der Meßkunde oder in dem Einflusse desScheines? Oder würde nicht der letztere uns irre-führen und bewirken, daß wir oft dieselben Gegen-stände von oberst zu unterst kehren und unser Tunund unsere Wahl des Großen und Kleinen bereuten,die Meßkunst dagegen dieses Trugbild zunichtemachen und durch Offenbarung des Wahren unsereSeele bei dem Wahren erhalten und so ihr Ruheund unserem Leben Heil bringen?« Würden nichtdie Menschen zugeben, daß in diesem Falle dieMeßkunst unsere Wohlfahrt begründe, oder würdensie dasselbe in irgend einer andern Kunst suchenwollen?

Nein, sondern in der Meßkunst, räumte er ein.»Wie aber, wenn auf der Wahl des Geraden und

Ungeraden das Heil unseres Lebens beruhte, näm-lich darauf, in welchem Falle wir mit Fug undRecht das Mehr und in welchem das Minder zuwählen hätten, sei es daß dabei jedes von beidenmit sich selber oder beide unter einander zu ver-gleichen ständen, und mögen sie nahe oder fernesein, - was würde da das Wohl unseres Lebens be-gründen? Nicht auch eine Gattung von Erkenntnis?Und zwar auch eine Art der Meßkunst, sofern jaauch diese Kunst das Überschreiten eines bestimm-ten Maßes oder Zurückbleiben hinter demselben

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zum Gegenstände hat? Und da sie dabei auf Gera-des und Ungerades sich bezieht, kann es da eineandere als die Rechenkunst sein?« Das sollen unsdie Leute wohl zugestehen, oder nicht?

Auch Protagoras war dieser Ansicht.»Gut denn, ihr Leute; da wir nun aber erkannten,

daß auf der richtigen Wahl zwischen Lust und Un-lust das Heil unseres Lebens beruht, und zwar inbezug auf das Mehr oder Weniger, Größer oderKleiner, Näher oder Ferner derselben, erscheint danicht zuvörderst auch diese als eine Meßkunst, dasie ja ein Erwägen des Übertreffens oder Zurück-bleibens oder endlich des Gleichschwebens vonbeiden gegen einander ist?«

Notwendigerweise.»Wenn aber als eine Meßkunst, dann doch auch

wohl als eine Kunst und Wissenschaft?«Auch das werden die Leute zugeben.»Von welcher Art nun diese Kunst und Wissen-

schaft ist, das; wollen wir ein andermal untersu-chen. Daß sie aber ein Wissen ist, dies genügtschon zu der Beweisführung, welche ich und Prota-goras in bezug auf den Gegenstand eurer an uns ge-stellten Frage zu liefern haben. Ihr fragtet aber,wenn es euch erinnerlich ist, als wir beide mit ein-ander dahin übereinkamen, daß nichts mächtigersei als die Erkenntnis, sondern vielmehr, wo sie nur

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vorhanden sei, da trage sie auch stets den Siegdavon wie über die Lust so über alles andere, ihrdagegen behauptetet, oft siege die Lust auch überden der Erkenntnis teilhaftigen Menschen, und wireuch das nicht zugaben, - da, sage ich, stelltet ihrdie Frage: ›Aber, Protagoras und Sokrates, wenndieser Vorgang nicht ein der Lust Unterliegen ist,was ist er denn sonst, und wie erklärt ihr ihn? Sagetuns das!‹ Wenn wir euch nun damals sogleich er-widert hätten: ›Es ist Unwissenheit‹, so würdet ihruns verlacht haben; tut ihr das aber nun, so verlachtihr damit zugleich euch selber. Denn auch ihr habteingestanden, daß diejenigen, welche bei der Wahlzwischen Lust und Unlust fehlen, das heißt abernunmehr, zwischen dem Guten und Schlechten,dies aus Mangel an Erkenntnis tun, und zwar nichtbloß so im allgemeinen an Erkenntnis, sondern ge-nauer, wie ihr noch ferner zugestanden habt, anMeßkunde. Eine in Ermangelung des Wissens fehl-greifende Handlungsweise aber, das wißt ihr auchwohl selber, geht aus Unwissenheit hervor. Darinalso besteht es, wenn man der Lust unterliegt, inder gröbsten Unwissenheit, als deren Arzt sich Pro-tagoras ausbietet und auch Prodikos und Hippias.Weil ihr es aber für etwas anderes als Unwissenheithaltet, so vertraut ihr weder euch selbst noch eureSöhne den Lehrern dieses Faches, hier unseren

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Sophisten, an, als ob die Sache sich nicht lehrenlasse, sondern ihr hängt am Gelde und mögt es die-sen Männern nicht geben, und ihr verwahrlost soeure häuslichen und öffentlichen Angelegenheiten.«

So ungefähr würden wir den Leuten geantwortethaben. Nun aber frage ich nächst dem Protagorasauch euch, Hippias und Prodikos - denn auch ihrmögt an der Untersuchung teilnehmen -, ob icheuch recht zu haben oder im Irrtum zu sein scheine.

Im höchsten Grade schien allen das Gesagtewahr zu sein.

Ihr gesteht also zu, fuhr ich fort, daß das Ange-nehme gut ist und das Unangenehme vom Übel.Unseres Prodikos Wortunterscheidungen aber ver-bitte ich mir dabei; denn ob du es angenehm odererfreulich oder ergötzlich nennen willst, oder wo-nach und wie sonst es dir zu nennen genehm ist,mein bester Prodikos, nenne es immerhin so in dei-ner Antwort auf das, was ich zu wissen wünsche!

Da lachte denn Prodikos und gab mir recht, undebenso auch die anderen.

Wie aber, ihr Männer, steht es nun hiermit? Sindnicht alle auf ein kummerfreies und angenehmesLeben hinarbeitenden Handlungen schön und lo-benswert? Und wenn dies, sind sie dann auch gutund ersprießlich?

Sie stimmten bei.

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Wenn also, fuhr ich fort, das Angenehme gut ist,so tut niemand, obwohl er weiß oder glaubt, daßanderes besser ist als das, was er tut, und auch aus-führbar, dennoch dies letztere, da er doch das Bes-sere tun konnte, noch ist das Unvermögen, sich sel-ber zu widerstehen, etwas anderes als Unwissen-heit, und das Vermögen, sich selber zu beherr-schen, etwas anderes als Weisheit.

So schien es ihnen allen mit mir.Wie nun weiter? Unter Unwissenheit versteht ihr

doch so ungefähr dies: eine irrige Meinung hegenund sich täuschen über die wichtigsten Dinge?

Auch dem stimmten alle bei.Also nicht wahr? fuhr ich fort: zu dem Schlech-

ten entschließt sich niemand freiwillig, noch auchzu dem, was er für etwas Schlechtes hält, und nichtliegt es allem Anscheine nach in der Natur desMenschen, das ergreifen zu wollen, was er für bösehält, anstatt des Guten; wenn er aber gezwungenist, von zwei Übeln eines zu wählen, so wird nie-mand das größere vorziehen, solange ihm die Wahldes kleineren freisteht?

Alles dies fand allgemeine Beistimmung unteruns.

Und weiter, fuhr ich fort: ihr kennt doch etwas,was ihr Besorgnis und Furcht nennt, und denkteuch doch darunter eben dasselbe wie ich? - Um

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deinetwillen, Prodikos, gebrauche ich beide Aus-drücke. Ich verstehe darunter nämlich die Erwar-tung eines Übels: mögt ihr diese nun Furcht oderBesorgnis nennen?

Protagoras und Hippias meinten: Ja, das seiFurcht und Besorgnis; Prodikos hingegen meinte,Besorgnis sei es wohl, aber nicht Furcht.

Nun, sagte ich, Prodikos, darauf kommt nichtsan, vielmehr nur hierauf: wenn das Vorige wahr ist,wird da irgend ein Mensch das ergreifen wollen,wovor er besorgt ist, wenn ihm auch das freisteht,wovor er keine Besorgnis hegt? Oder ist dies nichtnach dem Zugestandenen unmöglich? Denn wovorsich jemand fürchtet, davon ist eingestanden, daßer es für etwas Übles hält, und daß sich zu dem,was er für ein solches hält, niemand freiwillig ent-schließen noch es wählen werde.

Auch dieser Meinung waren alle.Auf Grund dieser Annahme, fuhr ich fort, Prodi-

kos und Hippias, mag denn unser Protagoras dieRichtigkeit seiner vorhin gegebenen Antwort ver-teidigen: ich meine nicht die, welche er ganz imAnfange gab, indem er behauptete, daß es fünfTeile der Tugend gebe, und daß von ihnen kein ein-ziger dem anderen gleiche, sondern ein jeder seinebesondere Eigentümlichkeit habe. Nicht diese, son-dern eine spätere Behauptung habe ich im Auge:

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Nachher nämlich räumte er ein, daß vier derselbeneinander ziemlich ähnlich seien; aber eine vonihnen sei wesentlich von den übrigen verschieden,nämlich die Tapferkeit. Und dafür, sagte er, werdemir folgendes zum Beweise dienen: »Du wirst, So-krates, Menschen finden, die höchst gottlos, unge-recht, zügellos und unverständig, aber dabei dochsehr tapfer sind; daraus wirst du abnehmen, daß dieTapferkeit sich sehr von den übrigen Teilen der Tu-gend unterscheidet.« Ich nun wunderte mich gleichdamals außerordentlich über diese Antwort, undmeine Verwunderung stieg, je weiter ich in dereben abgeschlossenen Erörterung mit euch vor-drang. Ich fragte ihn also, ob er die Tapferen auchfür kühn halte. »Ja, sogar für bereit, immer daraufloszugehen«, erwiderte er. Erinnern du dich, lieberProtagoras, daß du diese Antwort gabst?

Er räumte es ein.Wohlan, fuhr ich fort, sage uns denn nun, worauf

sind denn die Tapferen nach deiner Meinung immerloszugehen bereit? Etwa auf eben das, worauf auchdie Feigen?

Nein, antwortete er.Also auf etwas anderes?Ja, sagte er.Nämlich die Feigen auf das Ungefährliche und

die Tapferen auf das, wobei Gefahr zu fürchten ist,

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nicht wahr?So sagen wenigstens die Leute, lieber Sokrates.Du hast recht, bemerkte ich. Aber nicht das will

ich wissen, sondern was nach deiner eigenen An-sicht die Tapfern zu wagen bereit sind? Etwa dasGefährliche, indem sie es für gefährlich halten undmithin fürchten, oder das Ungefährliche?

Das letztere hat sich soeben, versetzte er, in dei-ner Auseinandersetzung als unmöglich ergeben.

Auch darin, sagte ich, hast du recht. Daher geht,wenn es damit seine Richtigkeit hat, niemand aufdas los, was er fürchtet und für gefährlich hält, dasich ja herausgestellt hat, daß das sogenannte Sich-nichtbeherrschenkönnen vielmehr Unkunde ist.

Er stimmte bei.Aber auf das, wozu sie guten Mut haben, gehen

hinwiederum alle los, die Feigen so gut wie dieTapfern, und insoweit gehen beide auf dasselbe los.

Aber, lieber Sokrates, es ist ja einander doch ge-rade entgegengesetzt das, woran die Feigen, unddas, woran die Tapferen gehen. So sind, um gleichein Beispiel anzuführen, die einen in den Krieg zuziehen bereit, die anderen aber nicht.

Indem es, fragte ich, in ihn zu ziehen schön undlobenswert oder aber schimpflich ist?

Das erstere, entgegnete er.Nun, wenn es schön ist, so ist es auch gut, wie

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wir im vorigen zugestanden haben; denn daß alleHandlungen von der ersteren Beschaffenheit auchdie letztere an sich tragen, darüber sind wir über-eingekommen.

Du hast recht, und auch ich war stets dieser An-sicht.

Und zwar mit allem Fuge, versetzte ich. Aberwelche von beiden ziehen nach deiner Ansicht nichtgerne in den Krieg, da es doch schön, lobenswertund gut ist?

Die Feigen, war seine Erwiderung.Nicht wahr, fuhr ich fort, wenn es löblich, schön

und gut ist, so ist es auch angenehm?Darüber wenigstens sind wir übereingekommen,

entgegnete er.Sind denn trotz besseren Wissens die Feigen

nicht zu dem bereit, was doch das Lobenswürdi-gere und Schönere, Bessere und Angenehmere ist?

Auch wenn wir das zugeben wollten, antworteteer, würden wir unsere früheren Zugeständnisse wie-der umstoßen.

Wie steht es denn aber mit dem Tapferen? Gehtder etwa nicht auf das Schönere, Bessere und An-genehmere aus?

Notwendig, erwiderte er, muß man das zugeste-hen.

Überhaupt also ist wohl die Furcht der Tapferen,

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wenn sie eine solche hegen, doch keine tadelns-werte und sittlich unschöne, und ebensowenig derMut und die Kühnheit, welche sie besitzen?

Richtig, sagte er.Wenn aber dies nicht, so wohl schön und löb-

lich?Er gestand es zu.Wenn aber schön und löblich, so auch gut?Ja.Im Gegenteil aber, die Furcht, welche die Feigen

hegen, ist sittlich häßlich und tadelnswert, undebenso der Mut und die Kühnheit, welche durchAffekt und Raserei erzeugt werden?

Er räumte es ein.Entspringt aber dieser tadelnswerte und unsittli-

che Mut aus irgend einem anderen Grunde als ausUnverstand und Unwissenheit?

Nein, nur hieraus, sagte er.Wie nun, fuhr ich fort, nennst du das, was die

Feigen eben zu dem macht, was sie sind, Feigheitoder Tapferkeit?

Feigheit nenne ich es, erwiderte er.Sind sie nun aber nicht offenbar feig aus Un-

kunde dessen, was wirklich zu fürchten ist?Allerdings, versetzte er.Diese Unkenntnis also ist es recht eigentlich,

welche sie zu dem macht, was sie sind?

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Er gestand es zu.Nun gabst du aber eben zu, daß die Feigheit es

ist, welche sie hierzu macht.Er konnte es nicht leugnen.Und so wäre denn die Unkenntnis dessen, was

furchtbar und was nicht zu fürchten ist, Feigheit?Da nickte er mir nur noch Beistimmung zu.Und Tapferkeit, fuhr ich fort, ist nun doch das

Gegenteil der Feigheit?Er bejahte.Und die Kenntnis dessen, was furchtbar und was

nicht zu fürchten ist, ist ebenso das Gegenteil vonder Unkenntnis hiervon?

Auch hier noch nickte er wenigstens.Diese Unkenntnis aber war Feigheit?Hier kostete es ihn schon große Überwindung,

auch nur noch durch Nicken seine Zustimmung zugeben.

Und so ist denn Tapferkeit von dieser Unkennt-nis das Gegenteil und mithin die Kenntnis dessen,was furchtbar und was nicht furchtbar ist?

Hier konnte er sich auch nicht mehr überwindenzuzunicken und schwieg.

Da sprach ich denn: Was heißt das, Protagoras?Du sagst auf meine Frage weder ja noch nein?

Bringe du, antwortete er, nur die Sache allein zuEnde!

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Laß mich, bat ich, nur noch eine Frage an dichrichten, ob es dir nämlich noch, wie zuvor, mancheMenschen zu geben scheint, die sehr unverständigund doch zugleich sehr tapfer sind?

Mir scheint es bloße Rechthaberei von dir, So-krates, sprach er, daß ich dir immer Antwortengeben soll. Ich will dir daher den Gefallen tun undsage also, daß nach unserer früheren Übereinkunftmir dies unmöglich erscheint.

Wahrlich nein, versetzte ich, sondern in keineranderen Absicht tue ich alle diese Fragen, als umzu erforschen, welches die Eigenschaften und derWirkungskreis der Tugend und was sie selber alssolche ist. Denn ich weiß, daß, wenn dies ins klarekäme, dann vor allem auch das ins Licht tretenwird, worüber jeder von uns beiden in einem lan-gen Vortrage sich verbreitet hat, indem ich behaup-tete, die Tugend lasse sich nicht lehren, du aber,das sei der Fall. Und nun kommt es mir vor, als obder jetzige Ausgang unserer Verhandlungen wie einMensch uns tadle und verspotte und, wenn er Spra-che bekäme, sagen würde: »Ihr seid wunderlicheLeute, Sokrates und Protagoras! Du, der du zuvorbehauptetest, die Tugend lasse sich nicht lehren,bist jetzt bemüht, gerade das Gegenteil zu bewei-sen, indem du zu zeigen suchst, daß alles, so Ge-rechtigkeit wie Besonnenheit und Tapferkeit, ein

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Wissen sei, auf welche Weise ja die Tugend offen-bar allermeist etwas Lehrbares sein würde. Viel-mehr, wenn diese, wie Protagoras behaupten will,etwas anderes als Erkenntnis wäre, so würde sie of-fenbar sich durch Unterricht nicht mitteilen lassen:nun aber sie sich ganz und gar als eine solche erge-ben sollte, worauf du, Sokrates, hinarbeitest, müßtees sonderbar zugehen, wenn dies nicht der Fall seinsollte. Mit Protagoras aber wieder, welcher vorhinihre Lehrbarkeit annahm, hat es jetzt ganz das Aus-sehen, als ob er das Gegenteil dartun wolle, daß siebeinahe eher für alles andere gelten dürfe als fürErkenntnis, denn auf diese Weise würde sie ebennichts weniger als ein lehrbarer Gegenstand sein.«Indem nun ich, Freund Protagoras, dergestalt allesin einer ganz schrecklichen Verwirrung sehe, sodaß das Unterste zu oberst gekehrt wird, bin ichbereit, allen erdenklichen Eifer daran zu wenden,um die Sache ins klare zu bringen, und so möchteich denn, daß wir nach Beendigung dieser Erörte-rung zu der Frage selber, was die Tugend an sichist, übergingen und dann erst von neuem untersuch-ten, ob sie sich lehren lasse oder nicht, damit unsnicht etwa jener Epimetheus durch Täuschung irre-leite, ebenso wie er uns nach deiner Erzählung auchbei der Verteilung unbedacht gelassen hat. Es hatmir daher auch in dieser deiner Dichtung

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Prometheus besser gefallen als Epimetheus; (heißtdoch auch Prometheus ›Vorbedacht‹ und Epime-theus ›Nachbedacht‹;) und indem ich es mit ihmhalte und auf die Regelung meines ganzen Lebensgleich im voraus Bedacht nehme, beschäftige ichmich mit allen diesen Dingen und möchte sie, wenndu wolltest, wie ich auch gleich anfangs erklärte,am liebsten gemeinsam mit dir durchforschen.

Da sagte Protagoras: Lieber Sokrates, ich lobedeinen Eifer und deine Durchführung des Gesprä-ches. Glaube ich doch, auch sonst kein schlechterMensch, am allerwenigsten aber neidisch zu sein,und so habe ich mich denn auch über dich schongegen viele dahin ausgesprochen, daß ich von allendenen, mit welchen ich in Berührung komme, dicham meisten hochschätze, vor allem unter denen, diegleichen Alters mit dir sind; und so erkläre ichdenn auch, daß es mich nicht wundern sollte, wenndu einst unter den Männern genannt werden wirst,denen ihre Weisheit einen berühmten Namen er-warb. Aber über diese Gegenstände wollen wir,wenn es dir recht ist, ein andermal sprechen! Jetztaber ist es Zeit, uns auch einmal zu etwas anderemzu wenden.

Gut, sagte ich, so wollen wir es machen, wenndu meinst.

Denn auch für mich ist es schon längst Zeit,

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dahin zu gehen, wovon ich sprach, und nur demschönen Kallias zu Gefallen bin ich hier geblieben.

Nachdem wir so mit einander geredet und einan-der zugehört hatten, trennten wir uns.