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  • Der Jazz und die PolitikSzenen einer problematischen Beziehung

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    Wrde der nchste Bundestag auschlielich von Jazzfans gewhltwerden, dann wrden die Parteien der Regierung Kohl an derFnf-Prozent-Klausel scheitern (CDU 2.3 % / FDP 2,8%), und imBundestag wren nur noch zwei Parteien vertreten: Die SPD wr-de mit 27.4% weiterhin die Oppositionsbank drcken, und dieGrnen, so sie denn wollten, die alleinige Regierungsverantwor-tung tragen, mit einem Stimmenanteil von 60.1%.

    Ist Jazz eine politische Musik?

    Was Fritz Schmcker"' in seiner empirischen Studie ber dasJazzkonzertpublikum herausfand, ist zwar nicht allerjngsten Da-tums (seine Erhebungen stammen von 1990), besttigt dafr je-doch ltere Untersuchungen, so da man von einer gewissenhistorischen Kontinuitt ausgehen kann. Dollase, Rsenberg undStoilenwere ermittelten 1976 im Jazzpublikum eine Dominanz deslinken Parteienspektrums von 87.1%, aufgeteilt in SPD 62,5%, DKP13.6% und Sonstige 6.9% (letzteres beinhaltete seinerzeit vor allemdie aus der 68er Bewegung hervorgegangen sog. K-Gruppen),Die FDP kam bei den Jazzanhngern damals auf 9.6.% und dieCDU auf 6.9%,

    Die Beziehungen zwischen Jazz und Politik manifestieren sich aufsehr unterschiedliche Art und Weise. Die eindeutige Dominanzlinker Positionen im Jazzpublikum, die zumindest fr die alte Bun-derepublik Deutschland galt, wird von den zitierten Autoren zwarfestgestellt, jedoch nicht interpretiert, geschweige denn erklrt,Aus gutem Grund, denn ber die Ursachen dieses hier eindeutignachweisbaren Zusammenhangs zwischen musikalischen Prfe-renzen und politischem Standort kann vorlufig in der Tat nur spe-kuliert werden. So knnte beispielsweise innerhalb der Jazzpraxis

    besonders ein Moment dafr ausschlaggebend sein, das sie frkonservative Geister suspekt und unerwnscht erscheinen lt:Das Unberechenbare, nicht Vorhersagbare jazzmusikalischer Im-provisation und die damit verbundene Mentalitt mgen fr denauf Ordnung und Sicherheit bedachten Konservativen eine laten-te Bedrohung darstellen. Improvisatoren marschieren nicht gut,und dies umso weniger, wenn sie dazu auch noch swingen, dennauch das Swingphnomen beinhaltet einen Versto gegen dasRegelma. Aber - wie gesagt: dies sind nicht mehr als sozialpsy-chologische Mutmaungen, denen es an empirischer Evidenzbislang mangelt.

    Eine zweite und leichter greifbare Beziehung zwischen Jazz undPolitik betrifft seine Funktion bzw. seine Funktionalisierung inner-halb eines bestimmten historischen, gesellschaftlichen oder politi-schen Kontextes, in welchem der Jazz zu einem Politikum wird.Jazz als Ganzes oder bestimmte Teilbereiche von ihm wardenpolitisch funktionalisiert, werden Ausdruck von etwas anderem,das in der jeweiligen Situation politisch besetzt ist, und zwar unab-hngig davon, ob dieser Jazz von seinen Urhebern politisch ge-meint oder von seinen Rezipienten politisch verstanden wird. DieStationen und Hintergrnde derartiger Politisierungen des Jazz,wie sie in Deutschland durch den Nationalsozialismus und - malmit negativen, mal mit positiven Vorzeichen - in der Sowjetuniondurch den Stalinismus erfolgten, wurden ausfhrlich untersucht.Ich verweise hier u.a, auf die Arbeiten von S. Frederic Starr, MikeZwerin, Michael H. Kater und Bernd Hoffmann.` 3'

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    Die politische Funktionalisierung des Jazz von auen, die sich ge-whnlich in seiner Diskreditierung oder Unterdrckung manifestier-te und die fr seine Urheber und Anhnger bekanntlich mituntersehr folgenreich sein konnte, steht nicht im Vordergrund meinesBeitrages, Mir geht es um seine Politisierung von innen, also um dieBestrebungen seiner Urheber, ihre Musik mit politischen Bedeu-tungen zu versehen, kurz gesagt um das, was man landlufig als"politisch engagierte Musik" bzw. im vorliegenden Fall als "politischengagierten Jazz" zu bezeichnen pflegt. Noch genauer gesagt,geht es mir um die Frage: Wie artikuliert sich politisches Engage-ment von Jazzmusikern in ihrer musikalischen Praxis?

    Ekkehard Jost (Giessen)

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  • Bevor ich zur Sache komme, erscheint allerdings noch ein kleinerExkurs zur historischen Bedeutung des hier angesprochenen The-mas am Platze. Was auf den ersten Blick wie eine systematische,d.h. berzeitlich bedeutsame Kategorie aussieht (politisches En-gagement im Jazz), bezeichnet in Wirklichkeit ein historischesPhnomen, verankert in einer relativ kurzen Zeitspanne . Es gehtim wesentlichen um die Zeit vom Ende der 50er bis zum Anfangder 70er Jahre, um jene Phase des historischen Prozesses also, alses in fast allen Sektoren politischen, gesellschaftlichen und kultu-rellen Lebens zu mehr oder minder radikalen Umwlzungen kam.Zwar gab es vereinzelte Manifestationen politischen Engage-ments im Jazz bereits vor dieser Phase (vor allem vor dem Hinter-grund der Rassismus-Problematik in den USA) und auch danach(z.B. fr die Rettung von Walen oder als Solidarittsbekundungenfr Bosnien), jedoch als musiksoziologisch relevantes Faktum mitsthetischen Konsequenzen konzentrierte sich dieses Phnomeneindeutig auf die 60er Jahre und stand im Zusammenhang miteinem tiefgreifenden Bewutseinswandel in weiten Teilen der 'jazzcommunity'. Einige Stichwrter dazu seinen genannt: Infragestel-len der Rolle des Entertainers, Versuche, die Produktionsmittel indie eigene Hand zu nehmen, in der Folge der schwarzen Emanzi-pationsbewegung Widerstand gegen Rassendiskriminierung imStudiogeschft und anderswo.

    Wie artikulierte sich dieser Wandel im politischen Bewutsein vonJazzmusikern in ihrer musikalischen Praxis? Darber, da Musik imallgemeinen und Jazz im speziellen an und fr sich nicht in derLage seien, allgemeinverstndliche politische Botschaften zutransportieren, auf konkrete Mistnde hinzuweisen oder wn-schenwerte Alternativen nahezulegen, besteht seit den heftigenund nicht selten polemisch gefhrten Diskussionen der spten60er Jahre weitgehende bereinstimmung, Die von der Musikgetragenen Bedeutungsgehalte sind prinzipiell ungegenstndlich.Sie weisen nicht ber sich hinaus, vermitteln nicht das Bild einerdinghaffen Realitt und vermgen allein aus sich heraus einesolche weder zu kritisieren noch zu preisen.

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    Um mehr oder minder konkrete auermusikalische Bedeutungentransportieren zu knnen, bedarf Musik also bestimmter Hilfsmittel.

    Dies knnen Titel sein oder auch Texte, verbale oder visuelleKommentare, Szenisches, bestimmte Formen der Auffhrungspra-xis oder der Einschlu von musikalischen Materialien, die durchihren Gebrauch bedeutungsmig bereits besetzt sind. Anhandeiniger Beispiele mchte ich dies im Folgenden zu veranschauli-chen versuchen.

    1958 spielte der Tenorsaxophonist Sonny Rollins fr das Label RIVER-SIDE eine LP unter dem Titel The Freedom Suite ein, (" Ein ver-gleichsweise unverfnglicher Titel, sollte man meinen. Fr Freiheitsind wir schlielich alle. Und mit dem seinerzeit sich allmhlichentfaltenden, des musikalischen Aufruhrs verdchtigen Free Jazz(den Namen gab es noch nicht) hatte diese Suite nichts zu tun.Dennoch waren die Proteste gegen diese Einspielung von seiteneiner konservativen Jazzpresse so vehement, da sich die FirmaRiverside entschlo, die LP aus dem Verkehr zu ziehen, um sie we-nig spter unter dem Albentitel Shadow Waltz erneut auf denMarkt zu bringen, Warum das Ganze? - Sonny Rollins war einschwarzer Musiker. Und das Wort 'freedom' im Mund eines Afro-Amerikaners wies offenbar ber sich selbst hinaus, signalisierte -vor dem Hintergrund der schwarzen Brgerrechtsbewegung ge-gen Rassismus und Unterdrckung - eine politische Stellungnah-me, kndete vom Eindringen politischen Denkens in die bis dahinfr heil und unpolitisch gehaltene Welt des Jazz. Alarmbereit-schaft unter den publizistischen Sittenwchtern der Jazzszeneschien somit geboten.

    In meiner Sozialgeschichte des Jazz in den USA' beschrieb ichdiese Episode und kam zu dem Schlu, da bloe Titelgebungenein fragwrdiges Mittel seien, Musik mit einer dezidierten politi-schen Botschaft zu versehen, da man - wie das Beispiel verdeut-licht - bereits durch die bloe Vernderung des Titels die inten-dierte Botschaft jederzeit entschrfen, wenn nicht gar aufhebenknne. Stephan Richter setzt sich in seiner Schrill Zu einer sthetikdes Jazz' mit meiner Argumentation auseinander und gelangtnach einer wortreichen, aber wenig berzeugenden Analyse desStckes zu dem Schlu: "Rollins Freedom Suite ist keine Musik berFreiheit, (...) sondern sie ist eine Definition von Freiheit, sie ist Frei-heit".' Wie aber soll das vor sich gehen? Richter: "Das Trio vonFreedom Suite befindet sich auf der Kreuzung der Wege von Tra-dition nach Innovation und von Komposition nach Improvisation:

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  • Dort definiert Rollins Freiheit als Kulturwert, dort geht eine Gruppevon Individualisten miteinander um."

    Unter den verschiedenen Manahmen, die seit Ende der 50erJahre von Jazzmusikern zur Vermittlung politischer Botschaftenergriffen wurden, bestand die am hufigsten vorgenommene inder Titelgebung ihrer Stcke. Es war - und ich bleibe dabei - zu-gleich auch die anfechtbarste Manahme, denn die Beziehun-gen zwischen den Titeln und den musikalischen Gestaltungsmit-teln waren nicht selten vllig beliebig. So konnte es durchaus vor-kommen, da einer freien Kollektivimprovisation im seinerzeit bli-chen Powerplay-Stil nachtrglich Titel aufgeklebt wurden wieL'imperialisme est un Tigre en papier oder La bourgeoisie periranoyee dons les eaux glacees du calcul egoisfe`e', oder da einefreundlich-friedliche Komposition von Charles Mingus die ber-schrift Free Cell Block F, Tis Nazi U,SA.`9' erhielt. Die von Mingus imCovertext zitierte Erklrung, er wolle mit derartigen Titeln "die Leu-te zum Nachdenken anregen", ist akzeptabel, das sthetischeProblem lst sie nicht.

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    Zu den gelufigsten Mitteln, Jazz mit einer politischen Botschaft zuversehen, gehrt - ebenso wie im Rock, in der Liedermachermusikund in der akademischen Neuen Musik - die Verwendung vonTexten, Analog zur Betitelung eines Stckes stellt sich auch hier dieFrage nach der Korrespondenz zwischen musikalischen Aus-drucksmitteln und Text. Gibt es Entsprechungen zwischen derstrukturellen Beschaffenheit oder dem affektiven Charakter derMusik und dem Textinhalt? Vermag das eine das andere zu stt-zen oder zu verdeutlichen? Oder durchkreuzen bzw. widerspre-chen sich beide? Handelt es sich um eine bewute Verfremdungdes einen durch das andere, oder liegt lediglich ein willkrlichesZusammenfgen unterschiedlicher Bedeutungsebenen zu einemheterogenen Gebilde vor?

    Zu den bekanntesten und meines Erachtens zugleich gelungen-sten Beispielen fr eine Synthese von politisch engagiertem Textund Musik gehren die von Charles Mingus gegen die rassistischePolitik des Sdstaaten-Gouverneurs Orval Faubus gerichteten

    Fables of Faubus aus dem Jahre 1960. 00' Das Stck enthlt einebittere verbale Anklage, gesttzt durch einen auerordentlichaggressiven, streckenweise auch ironischen Darbietungsgestus,und ist durchsetzt mit zahlreichen musikalischen Zitaten, die aufdie Person und das geographische Umfeld des Gouverneurs Fau-bus Bezug nehmen. Ich habe mich diesem Stck anderenortsausfhrlicher gewidmet

    sund will daher hier nicht weiter darauf

    eingehen. Hinweisen mchte ich Jedoch auf eine sehr lesenswer-te Publikation jngeren Datums, die sich ausschlielich mit Mingus'Fables of Faubus auseinandersetzt, wobei in die Analyse nicht nurdie berhmten Original Fables of Faubus, sondern darber hinausvier weitere, live eingespielte Versionen einbezogen wurden. DasBuch heit L'Amerique de Mingus und stammt aus der Feder vonDidier Levallet (Jazzmusiker/Kontrabassist) und Denis-ConstantMartin (ein Afrikanist, der unter dem Pseudonym Denis Constantauch ein Buch ber Reggae verffentlicht hat). 2'

    Soviel zur Verwendung politisch engagierter Texte im Jazz. DerVollstndigkeit halber sei auf einige weitere Beispiele zumindesthingewiesen:

    - Max Roach/Abbey Lincoln:The Freedom Now Suite (1960)

    - Archie Shepp:

    Malcolm, Malcolm, semper Malcolm (1965)Money Blues und Things have got to change (1971)The Cry of My People (1972)

    - Eddie Gale Stevens:Ghetto Music (1968).

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    Das berhmteste (und fast ist man geneigt zu sagen: populrste)Beispiel fr das Eindringen politischen Engagements in den Jazzstellt die 1970 unter der Leitung des Bassisten Charlie Haden ein-gespielte LP Liberation Music dar, "3' Whrend der Vorbereitungenzu diesem Beitrag kramte ich mir mein altes, etwas abgeschabtesExemplar der Liberation Music aus dem Regal. Vom Cover-Photoschaute mich die Creme der jungen New Yorker Jazz-Avantgardevon einst an, aufgereiht unter einem Transparent, das von denbeiden Hauptakteuren, Charlie Haden und Carla Bley, emporge-halten wurde - mit einem seltsam zwiespltigen Ausdruck von

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  • Trotz und Unsicherheit zugleich. LIBERATION MUSIC ORCHESTRAsagte das Transparent, mehr nicht. Immerhin war es rot, eine Far-be, der damals, ein Jahr nach der Wahl Richard Nixons zum Pr-sidenten der USA , mehr als der bliche Signalcharakter zukam.

    Anders als Roach, Mingus oder Shepp hafte Haden auf den un-mittelbaren Bedeutungsgehalt von Texten verzichtet und stattdes-sen zu einem musikalischen Material gegriffen, das sich dem Hrermittelbar, auf dem Umweg ber das Gedchtnis erschlo oderdoch zumindest potentiell erschlieen konnte. Den Kern der Li-beration Music bilden sozialistische Kampflieder aus dem spani-schen Brgerkrieg, daneben - als Ouvertre - das Einheitsfronfliedvon Hanns Eisler sowie der im Rahmen der amerikanischen Br-gerrechtsbewegung bekannt gewordene Prostestsong We ShallOvercome.

    Die dem von Haden verwendeten thematischen Materialien in-newohnende politische Tendenz war an den historischen Kontextgebunden, in welchem dieses Material entstanden war und indem es sich zum sinntragenden sthetischen Objekt entwickelthatte. Mit anderen Worten: Die (politische) Bedeutung dieser Mu-sik hatte sich durch deren Gebrauch innerhalb eines bestimmtenVerwendungszusammenhangs etabliert. Die Dekodierung ihrespolitischen Gehalts durch den Hrer war damit an die Kenntnisdieses ursprnglichen Verwendungszusammenhangs gebunden.Wer diesen Zusammenhang nicht kannte, war schwerlich in derLage herauszufinden, worin das politische Anliegen Hadens be-stand und ob er berhaupt eines hatte. Charlie Haden drfte sichder Problematik seines Unternehmens bewut gewesen sein undder Tatsache, da nicht alle (oder eher wenige) seiner Hrer denhistorisch-politischen Kontext seines thematischen Materials kann-ten und somit (mglicherweisel) zu einer Dechiffrierung seinespolitischen Anliegens In der Lage waren, denn er fgte seinerSchallplatte einen ausfhrlichen Kommentar hinzu, in dem ernach einer Erluterung der Bedeutung der einzelnen Titel undThemen zu folgendem Schlu kommt:

    The music in this album is dedicated to creating a better world; a world withoutwar and killing, without racism, without poverty and exploitation; a world wheremen of all governments realize the vital importance of life and strive to protect

    rather than destroy it. We hope to see a new society of enlightment and wisdomwhere creative thought becomes the most dominant force in all people's lives."

    Ein wesentliches Merkmal und zugleich eines der wichtigsten Ver-dienste der Liberation Music war, da dort der Rckgriff auf einassoziationsstillendes, gleichsam im Sinne von Zitaten eingesetztesthematisches Material keineswegs zum musikalischen Rckschrittfhrte. Denn trotz ihrer traditionellen Elemente, die fr die Ver-mittlung der politischen Botschaft Hadens letztlich die entschei-denden waren, blieb die Liberation Music zeitgenssischer Jazz imbesten Sinne, mit all seinen Ungereimtheiten und seinen - gegeneine klassische, auf innere Geschlossenheit insistierende sthetikgerichteten - Widersprchen. Eine Produktion wie Hadens Libera-tion Music blieb in den USA die Ausnahme. Der Versuch einerWiederbelebung des Konzepts durch Haden im Jahre 1983 wirktegegenber dem Elan der ersten Einspielung wie ein schaler, mh-sam aufpolierter Abglanz,"

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    Rckgriffe auf historische, politisch besetzte Materialbestnde undihre freejazzmusikalische Verarbeitung wurden besonders in Euro-pa zu einer hufig gebten Praxis, wobei vor allem die Musik vonEisler als Materialreservoir fungierte. Ich erinnere in diesem Zu-sammenhang an Arbeiten von Hannes Zerbe und dem Duo Rei-ner Goebbels/Alfred Hardt. Da hierzulande gerade die MusikEislers eine starke Anziehungskraft auf die Free Jazz-Generationder frhen 70er Jahre ausbte, hing sicherlich nicht zuletzt damitzusammen, da das Publikum, das dieser Free Jazz in jener Zeitprimr ansprach, im wesentlichen ein studentisches war, welchesdie politische 'message' der Eislerschen Lieder mehr oder mindermhelos entziffern konnte und dessen musikalisch-weltanschauli-chen Bedrfnissen diese Musik entsprach.

    Nicht immer fand der durch die gesellschaftlichen Entwicklungender 60er Jahre stimulierte Bewutseinswandel auf so ernsthafteWeise wie bei Hannes Zerbe oder Goebbels und Ha rth seinenNiederschlag. Auch die mit der Studentenbewegung sich ausbrei-tende Haltung des Anti-Autoritren, Respektlosen, Frechen, dieTendenz zum Happening und zur Persiflage begann hie und da

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  • die Gestaltungsmittel des Jazz zu durchdringen. Ein herausragen-der Vertreter dieser letztgenannten Tendenz war der StuttgarterPianist und Komponist Wolfgang Dauner, der zu Anfang der 70erJahre nicht nur mit seinem 'Oratorium' Der Urschrei die miserablesoziale Situation des Jazz anprangerte (im Chor der Musiker aller-dings mit der optimistischen Refrainzeile "Wir sitzen am lngerenHebei, wir machen die Musik"), sondern der auch das Publikumdiverser Jazzfestivals durch Happenings verunsicherte, in denenmit Lichteffekten oder im Dunklen gespielt wurde, Musiker nacktauffraten oder im Saal herumwanderten, die Bhne mit Toiletten-papier drapierten und das Publikum mit Tchern verhllten, 1969spielte Dauner unter dem Titel Fr eine erstaunliche Schallplatte

    die er rund 700, auf dem Cover namentlich genanntenPersonen widmete (ich habe die Ehre, dazuzugehren, untermeinem damaligen 'nom de guere' Dr, Jam Jost). Der Covertextder Dauner-LP enthlt unter anderem die folgenden Hinweise:

    "Es war geplant (aber aus technischen und finanziellen Grnden noch nichtausfhrbar) [...1, diese Platte aus e- oder rauchbarem Stoff herzustellen [...1und schlielich, da sich die Platte beim ersten Abspielen automatisch ver-nichtet."

    zungen kam. Was heute in dieser Hinsicht passiert, sind Ausnah-men von der Regel, festgemacht an kologischen Problemenoder an politisch-menschlichen Katastrophen. Ich selbst habe inmeiner Arbeit als Jazzmusiker wiederholt politische Themen auf-gegriffen, besonders in meinen Weimarer Balladen," 6' Gegenwr-tig sind wir im Begriff, mit der deutsch-italienischen FormationTRANSALPIN EXPRESS ORCHESTRA ein Programm mit jazzmig ausge-deuteten politischen Musiken aus 5 Jahrhunderten aufzufhren.Aber dies dient letzlich eher der Vergegenwrtigung unserer ei-genen musikkulturellen Tradition und weniger der Formulierungeiner konkreten politischen Aussage. Denn ber die Wirkung die-ser Musik innerhalb einer weitgehend entpolitislerten Kulturszenemachen wir uns nicht allzu viele Illusionen.

    Was auf den ersten Blick nach einem bloen Jux aussah, ent-puppte sich auf den zweiten als ein in Satire verkleidetes Manifest.Die LP Fr ist eine Attacke gegen musikalische Stagnation undgegen jede stilistische Festlegung. Die Schallplatte als Inbegriffder Verdinglichung von Musik gehrt zu diesem Programm, dassich des weiteren mit der tendenziellen Einfltigkeit von Beatmu-sik, dem freudlosen Gestus mittelmiger E-Avantgarde und demhohlen Geschwtz pseudowissenschaftlicher Musikpublizistik aus-einandersetzt und sich brigens vor allem musikalisch artikuliert,und dies auf eine - wie ich meine - recht geistreiche und frecheArt und Weise.

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    Die Ehe zwischen dem Jazz und der Politik ist - wie gesagt - einzeitbedingtes Phnomen, gebunden an eine bestimmte Phasedes historischen Prozesses, in der es sowohl im gesellschafflichenund politischen Leben wie auch im Jazz zu gewaltigen Umwl-

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  • Anmerkungen

    (1) Fritz Schmcker: Das Jazzkonzertpublikum. Das Profil einer kulturellenMinderheit im Zeitvergleich. Mnster 1993, S. 164 ff.

    (2) Rainer Dollase, Michael Rsenberg und Hans J. Stollenwerk: DasJazzpublikum. Zur Sozialpsychologie einer kulturellen Minderheit. Mainz1978.

    (3) vgl.:S. Frederick Starr: Red and Hot The Fate of Jazz in the Soviet Union.New York 1983;Mike Zwerin: La Tristesse de Saint Louis, Swing unter den Nazis. Wien1988;Michael H. Kater: Different Drummers. Jazz in the Culture of NaziGermany, New York 1992;Bernd Hoffmann: Der un- heimliche Widerstand. Jugendkultur im Rezep-tionsschatten einer kollektiven Entlastungsstrategie. In: Theo Musli (Hg.):Jazz und Sozialgeschichte. Zrich 1994, S. 83 - 96.

    (4) Riverside Records RS 3010.(5) Ekkehard Jost: Sozialgeschichte des Jazz in den USA. Hofheim 1991,

    S. 188 if.(6) Stephan Richter: Zu einer sthetik des Jazz. Frankfurt 1995, S. 180 if.(7) a.a.O. S. 187.(8) vgl. die LP Intercommunal Music, die der franzsische Pianist Frangois

    Tusques u.a. gemeinsam mit Sunny Murray und Alan Shorter fr Shandar(SR 10010) einspielte.

    (9) Charles Mingus: Changes. Atlantic 1975.(10) Die bekannteste Version befindet sich auf der LP Mingus Presents

    Mingus. Candid CD 9005.(11) vgl. Sozialgeschichte, a.a.O., S. 190 f.(12) Didier Levallet und Dennis-Constant Martin: L'Amerique de Mingus. Paris

    1991.(13) Charlie Haden: Liberation Music. Impulse AS 9183.(14) Charlie Haden/Carla Bley: The Ballad of the Fallen. ECM 1248.(15) Wolfgang Dauner: Fr. Calig Records CAL 30603.(16) Ekkehard Jost Ensemble: Weimarer Balladen. Fish Music FM 004 CD.

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