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Alfons Becker PÄPSTLICHE GERICHTSURKUNDEN UND PROZESSVERFAHREN ZUR ZEIT URBANS II. (1088-1099) „Verrechtlichung“ gilt als einer der charakteristischen Aspekte der hochmittelalter¬ lichen Kirchenreform seit etwa der Mitte des 11. Jahrhunderts. „Verrechtlichung“ deutet nicht nur Verschiebungen in dem besonderen Verhältnis von Theologie und Kanonistik an, verweist nicht nur auf die zunehmende Bedeutung des kanonischen Rechts für die Regierung der Kirche und Christenheit durch die Sedes Apostolica. „Verrechtlichung“ zeigt sich nicht zuletzt ganz alltäglich darin, daß nun immer öfter die verschiedensten Rechtsfragen und Streitigkeiten - und dabei nicht etwa nur die maiores causae1 - der europäischen Kirchen vor den Papst gebracht oder auch von den Päpsten selbst vor ihr Gericht gezogen und dort entschieden wurden. Diese Entwicklung hat ihre Spuren vor allem in der urkundlichen Überlieferung hinterlassen, in Gerichtsurkunden oder Judikaten, Mandaten, Vertragsurkunden sich einigender Prozeßparteien, in Privilegien, auch in erzählenden Quellen, besonders in Prozeßberichten. Die Gerichtsurkunden des 11. Jahrhunderts haben die histori¬ sche Forschung und speziell die Diplomatik nicht sonderlich interessiert2, zumal sie formal unscheinbar und wenig ausgeprägt waren, ihrer Zahl nach unbedeutend erschienen und inhaltlich zumeist historisch nur wenig belangvolle, eher geringfü¬ gige Angelegenheiten betrafen. Doch bringt der gesamte, im Zusammenhang mit Rechtsstreit, Prozeßverfahren und Gerichtsurteil stehende Überlieferungskomplex einschließlich der päpstlichen Gerichtsurkunden (Judikate und Judikatprivilegien), von denen übrigens für die Zeit Urbans II. mehr überliefert und erschließbar sind als gewöhnlich angenommen wird, vielfältige und keineswegs uninteressante historische Erkenntnisse. Dies gilt vielleicht weniger für die Diplomatik im engeren technischen Sinne, obwohl schon die formale Definierung einer Urkunde als Judikat oder Judikatprivileg für die Beurteilung der Echtheit wie auch des Rechtsinhalts des Dokuments von Nutzen sein kann. Darüber hinaus ergeben sich, wenn auch historische Umstände und Abläufe, Konfliktursachen und Urteilsfolgen, 1 Gregor VII., Reg. II, 55a, Dictatus Papae XXI (ed. E. Caspar, MGH Epp. Sei. II, 1 (Berlin 1925), S. 206. 2 Vgl. die knappen Bemerkungen etwa bei H. BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutsch¬ land und Italien Bd. 1, Berlin 1958, S. 78 und Bd. 2, S. 52, 80; J. V. PFLUGK-HARTTUNG, Die Bullen der Päpste, Gotha 1901 (ND Hildesheim 1976), S. 30 f.; Th. Hirschfeld, Das Gerichtswesen der Stadt Rom vom 8.-11. Jh., AUF 4 (1912), 419-562, bringt auch einige Beispiele von Papsturkunden, jedoch nichts zu Urban II.; D. GlRGENSOHN, Miscellanea Italiae Pontificiae, Nachr. Göttingen I, 4 (1974), S. 148. 39 Alfons Becker PÄPSTLICHE GERICHTSURKUNDEN UND PROZESSVERFAHREN ZUR ZEIT URBANS II. (1088-1099) „Verrechtlichung“ gilt als einer der charakteristischen Aspekte der hochmittelalter¬ lichen Kirchenreform seit etwa der Mitte des 11. Jahrhunderts. „Verrechtlichung“ deutet nicht nur Verschiebungen in dem besonderen Verhältnis von Theologie und Kanonistik an, verweist nicht nur auf die zunehmende Bedeutung des kanonischen Rechts für die Regierung der Kirche und Christenheit durch die Sedes Apostolica. „Verrechtlichung“ zeigt sich nicht zuletzt ganz alltäglich darin, daß nun immer öfter die verschiedensten Rechtsfragen und Streitigkeiten - und dabei nicht etwa nur die maiores causae 1 - der europäischen Kirchen vor den Papst gebracht oder auch von den Päpsten selbst vor ihr Gericht gezogen und dort entschieden wurden. Diese Entwicklung hat ihre Spuren vor allem in der urkundlichen Überlieferung hinterlassen, in Gerichtsurkunden oder Judikaten, Mandaten, Vertragsurkunden sich einigender Prozeßparteien, in Privilegien, auch in erzählenden Quellen, besonders in Prozeßberichten. Die Gerichtsurkunden des 11. Jahrhunderts haben die histori¬ sche Forschung und speziell die Diplomatik nicht sonderlich interessiert 2 , zumal sie formal unscheinbar und wenig ausgeprägt waren, ihrer Zahl nach unbedeutend erschienen und inhaltlich zumeist historisch nur wenig belangvolle, eher geringfü¬ gige Angelegenheiten betrafen. Doch bringt der gesamte, im Zusammenhang mit Rechtsstreit, Prozeßverfahren und Gerichtsurteil stehende Überlieferungskomplex einschließlich der päpstlichen Gerichtsurkunden (Judikate und Judikatprivilegien), von denen übrigens für die Zeit Urbans II. mehr überliefert und erschließbar sind als gewöhnlich angenommen wird, vielfältige und keineswegs uninteressante historische Erkenntnisse. Dies gilt vielleicht weniger für die Diplomatik im engeren technischen Sinne, obwohl schon die formale Definierung einer Urkunde als Judikat oder Judikatprivileg für die Beurteilung der Echtheit wie auch des Rechtsinhalts des Dokuments von Nutzen sein kann. Darüber hinaus ergeben sich, wenn auch historische Umstände und Abläufe, Konfliktursachen und Urteilsfolgen, 1 Gregor VII., Reg. II, 55a, Dictatus Papae XXI (ed. E. Caspar, MGH Epp. Sei. II, 1 (Berlin 1925), S. 206. 2 Vgl. die knappen Bemerkungen etwa bei H. BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutsch¬ land und Italien Bd. 1, Berlin 1958, S. 78 und Bd. 2, S. 52, 80; J. V. PFLUGK-HARTTUNG, Die Bullen der Päpste, Gotha 1901 (ND Hildesheim 1976), S. 30 f.; Th. Hirschfeld, Das Gerichtswesen der Stadt Rom vom 8.-11. Jh., AUF 4 (1912), 419-562, bringt auch einige Beispiele von Papsturkunden, jedoch nichts zu Urban II.; D. GlRGENSOHN, Miscellanea Italiae Pontificiae, Nachr. Göttingen I, 4 (1974), S. 148. 39

Päpstliche Gerichtsurkunden und Prozeßverfahren zur Zeit ... · Alfons Becker PÄPSTLICHE GERICHTSURKUNDEN UND PROZESSVERFAHREN ZUR ZEIT URBANS II. (1088-1099) „Verrechtlichung“

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Alfons Becker

PÄPSTLICHE GERICHTSURKUNDEN UND PROZESSVERFAHREN ZUR ZEITURBANS II. (1088-1099)

„Verrechtlichung“ gilt als einer der charakteristischen Aspekte der hochmittelalter¬lichen Kirchenreform seit etwa der Mitte des 11. Jahrhunderts. „Verrechtlichung“deutet nicht nur Verschiebungen in dem besonderen Verhältnis von Theologie undKanonistik an, verweist nicht nur auf die zunehmende Bedeutung des kanonischenRechts für die Regierung der Kirche und Christenheit durch die Sedes Apostolica.„Verrechtlichung“ zeigt sich nicht zuletzt ganz alltäglich darin, daß nun immeröfter die verschiedensten Rechtsfragen und Streitigkeiten - und dabei nicht etwanur die maiores causae1 - der europäischen Kirchen vor den Papst gebracht oderauch von den Päpsten selbst vor ihr Gericht gezogen und dort entschieden wurden.Diese Entwicklung hat ihre Spuren vor allem in der urkundlichen Überlieferunghinterlassen, in Gerichtsurkunden oder Judikaten, Mandaten, Vertragsurkunden sicheinigender Prozeßparteien, in Privilegien, auch in erzählenden Quellen, besondersin Prozeßberichten. Die Gerichtsurkunden des 11. Jahrhunderts haben die histori¬sche Forschung und speziell die Diplomatik nicht sonderlich interessiert2, zumal sieformal unscheinbar und wenig ausgeprägt waren, ihrer Zahl nach unbedeutenderschienen und inhaltlich zumeist historisch nur wenig belangvolle, eher geringfü¬gige Angelegenheiten betrafen. Doch bringt der gesamte, im Zusammenhang mitRechtsstreit, Prozeßverfahren und Gerichtsurteil stehende Überlieferungskomplexeinschließlich der päpstlichen Gerichtsurkunden (Judikate und Judikatprivilegien),von denen übrigens für die Zeit Urbans II. mehr überliefert und erschließbar sindals gewöhnlich angenommen wird, vielfältige und keineswegs uninteressantehistorische Erkenntnisse. Dies gilt vielleicht weniger für die Diplomatik im engerentechnischen Sinne, obwohl schon die formale Definierung einer Urkunde alsJudikat oder Judikatprivileg für die Beurteilung der Echtheit wie auch desRechtsinhalts des Dokuments von Nutzen sein kann. Darüber hinaus ergeben sich,wenn auch historische Umstände und Abläufe, Konfliktursachen und Urteilsfolgen,

1 Gregor VII., Reg. II, 55a, Dictatus Papae XXI (ed. E. Caspar, MGH Epp. Sei. II, 1 (Berlin 1925),S. 206.

2 Vgl. die knappen Bemerkungen etwa bei H. BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutsch¬land und Italien Bd. 1, Berlin 1958, S. 78 und Bd. 2, S. 52, 80; J. V. PFLUGK-HARTTUNG, Die Bullender Päpste, Gotha 1901 (ND Hildesheim 1976), S. 30 f.; Th. Hirschfeld, Das Gerichtswesen derStadt Rom vom 8.-11. Jh., AUF 4 (1912), 419-562, bringt auch einige Beispiele von Papsturkunden,jedoch nichts zu Urban II.; D. GlRGENSOHN, Miscellanea Italiae Pontificiae, Nachr. Göttingen I, 4(1974), S. 148.

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Alfons Becker

PÄPSTLICHE GERICHTSURKUNDEN UND PROZESSVERFAHREN ZUR ZEITURBANS II. (1088-1099)

„Verrechtlichung“ gilt als einer der charakteristischen Aspekte der hochmittelalter¬lichen Kirchenreform seit etwa der Mitte des 11. Jahrhunderts. „Verrechtlichung“deutet nicht nur Verschiebungen in dem besonderen Verhältnis von Theologie undKanonistik an, verweist nicht nur auf die zunehmende Bedeutung des kanonischenRechts für die Regierung der Kirche und Christenheit durch die Sedes Apostolica.„Verrechtlichung“ zeigt sich nicht zuletzt ganz alltäglich darin, daß nun immeröfter die verschiedensten Rechtsfragen und Streitigkeiten - und dabei nicht etwanur die maiores causae 1 - der europäischen Kirchen vor den Papst gebracht oderauch von den Päpsten selbst vor ihr Gericht gezogen und dort entschieden wurden.Diese Entwicklung hat ihre Spuren vor allem in der urkundlichen Überlieferunghinterlassen, in Gerichtsurkunden oder Judikaten, Mandaten, Vertragsurkunden sicheinigender Prozeßparteien, in Privilegien, auch in erzählenden Quellen, besondersin Prozeßberichten. Die Gerichtsurkunden des 11. Jahrhunderts haben die histori¬sche Forschung und speziell die Diplomatik nicht sonderlich interessiert2 , zumal sieformal unscheinbar und wenig ausgeprägt waren, ihrer Zahl nach unbedeutenderschienen und inhaltlich zumeist historisch nur wenig belangvolle, eher geringfü¬gige Angelegenheiten betrafen. Doch bringt der gesamte, im Zusammenhang mitRechtsstreit, Prozeßverfahren und Gerichtsurteil stehende Überlieferungskomplexeinschließlich der päpstlichen Gerichtsurkunden (Judikate und Judikatprivilegien),von denen übrigens für die Zeit Urbans II. mehr überliefert und erschließbar sindals gewöhnlich angenommen wird, vielfältige und keineswegs uninteressantehistorische Erkenntnisse. Dies gilt vielleicht weniger für die Diplomatik im engerentechnischen Sinne, obwohl schon die formale Definierung einer Urkunde alsJudikat oder Judikatprivileg für die Beurteilung der Echtheit wie auch desRechtsinhalts des Dokuments von Nutzen sein kann. Darüber hinaus ergeben sich,wenn auch historische Umstände und Abläufe, Konfliktursachen und Urteilsfolgen,

1 Gregor VII., Reg. II, 55a, Dictatus Papae XXI (ed. E. Caspar, MGH Epp. Sei. II, 1 (Berlin 1925),S. 206.

2 Vgl. die knappen Bemerkungen etwa bei H. BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutsch¬land und Italien Bd. 1, Berlin 1958, S. 78 und Bd. 2, S. 52, 80; J. V. PFLUGK-HARTTUNG, Die Bullender Päpste, Gotha 1901 (ND Hildesheim 1976), S. 30 f.; Th. Hirschfeld, Das Gerichtswesen derStadt Rom vom 8.-11. Jh., AUF 4 (1912), 419-562, bringt auch einige Beispiele von Papsturkunden,jedoch nichts zu Urban II.; D. GlRGENSOHN, Miscellanea Italiae Pontificiae, Nachr. Göttingen I, 4(1974), S. 148.

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Geschäftsgang und Überlieferung oft nur unvollkommen und lückenhaft zumVorschein kommen, doch Aufschlüsse über Streitgegenstände, die manchmal garnicht so belanglos gewesen sind, über Verfahren, Instanzen und Intervenienten,Streitparteien, Richter und sonstige beteiligte Personen und Gruppen, dabei auchüber Itinerar und Umgebung des Papstes, ferner über Argumentationen undBeweismaterial, Art der Rechtsfindung, Urteile und ihre Durchsetzbarkeit, Rechts¬grundsätze, Rechtsziele und ihre Verwirklichung, Ineinanderwirken von Gewohn-heits- und Privilegienrecht, kanonischem und römischem Recht, auch über dieRechtsbeziehungen der kirchlichen Stände untereinander (zwischen Mönchen undKanonikern, zwischen Bischöfen, Klöstern und Kanonikergemeinschaften),schließlich über zeitgenössische Vorstellungen von kirchlichen Ämtern, Rechtenund Aufgaben. Das zunehmende Hineinwirken des reformerisehen Papsttums in dieRegionen und Stände der lateinischen Kirche und Christenheit, Veranlassungen,Methoden und Rechtfertigungen für dieses Hineinwirken werden sichtbar. Die fürderartige Arbeitsergebnisse erforderlichen, umfassend systematischen und verglei¬chenden Untersuchungen der Judikate und der sie umgebenden komplexen Quel¬lenüberlieferung kann hier nicht vorgenommen werden, es muß beim Aufzeigeneiniger Grundzüge und der Skizzierung einiger charakteristischer Beispiele blei¬ben.

Versucht man eine Klassifizierung des Quellenmaterials, so treten zwei Hauptkate¬gorien von Papsturkunden hervor: Judikate und Judikatprivilegien, die freilich nichtimmer ganz vorbehaltlos voneinander zu unterscheiden sind.

Die Judikate3, eigentlich Urteilsverkündungen mit meist knappen, manchmalausführlicheren Aufzeichnungen über Streitfälle, Prozeßverfahren und deren Ent¬scheidung durch Schlichtung, Einigung der Parteien oder richterliches Urteil, sindformal nicht starr festgelegt, sondern recht variabel; sie sind zumeist in subjektiver,manchmal in objektiver4 Form abgefaßt und haben ein einfaches Kompositions¬schema: Sie beginnen in der Mehrzahl mit der üblichen Papstintitulatio, habenvielfach gleich eingangs eine unterschiedlich formulierte Actum-Datierung, dieProzeß und Urteil betrifft (mit chronologischen und geographischen Angaben zurzeitweiligen Reiseregierung des Papstes), öfters noch zusätzlich eine Ausstellungs¬datierung am Schluß, an Sanctio oder Beurkundungsbefehl anschließend. Manch¬

3 Sie werden in Urbans II. Kanzlei gelegentlich als decretum bezeichnet, z. B. in JL 5519 für Erzb.Rudolf v. Tours (MlGNE PL 151, 386); JL 5561, die Union der Bistümer Orange und St.-Paul-Trois-Chateaux betreffend (PL 151, 417, besserer Text in Gail. Christ. Noviss. 6 (Orange), Nr.58 col. 32 ff.); JL 5658 für die Kanoniker von St.-Semin zu Toulouse (An. Jur. Pont. 10, 553), auchals littera, z. B. in 5716 für Montecassino (MlGNE, PL 151, 517); JL 5591 an Klerus und Volk vonRomans (P. Giraud, Essai historique sur l’abbaye de St.-Bamard ... de Romans 1, Lyon 1856, S. 19Nr. 8), oder als scriptum, wie in der Judikatsbestätigung für den Abt von Montierneuf, JL 5642 (An.Jur. Pont. 10, 546, F. Villard, Recueil des documents relatifs à l’abbaye de Montierneuf de Poitiers1076-1319, Arch. Hist, du Poitou 59, Poitiers 1973, S. 43).

4 JL 5588 von 1095 im Streit zwischen dem Bischof von Maguelonne und dem Abt von Aniane(MlGNE, PL 151 431 f.; J. Rouquette - A. Villemagne, Bullaire de l’église de Maguelonne 1(Montpellier 1911), S. 22 Nr. 7); JL 5663 von 1095 im Kongregationsstreit zwischen dem Abt vonMontmajour-lez-Arles und Abt Richard von St. Victor zu Marseille (W. Wiederhold, Papsturkun¬den in Frankreich 4, Nachr. Göttingen 1907, S. 58 Nr. 3).

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Geschäftsgang und Überlieferung oft nur unvollkommen und lückenhaft zumVorschein kommen, doch Aufschlüsse über Streitgegenstände, die manchmal garnicht so belanglos gewesen sind, über Verfahren, Instanzen und Intervenienten,Streitparteien, Richter und sonstige beteiligte Personen und Gruppen, dabei auchüber Itinerar und Umgebung des Papstes, ferner über Argumentationen undBeweismaterial, Art der Rechtsfindung, Urteile und ihre Durchsetzbarkeit, Rechts¬grundsätze, Rechtsziele und ihre Verwirklichung, Ineinanderwirken von Gewohn-heits- und Privilegienrecht, kanonischem und römischem Recht, auch über dieRechtsbeziehungen der kirchlichen Stände untereinander (zwischen Mönchen undKanonikern, zwischen Bischöfen, Klöstern und Kanonikergemeinschaften),schließlich über zeitgenössische Vorstellungen von kirchlichen Ämtern, Rechtenund Aufgaben. Das zunehmende Hineinwirken des reformerisehen Papsttums in dieRegionen und Stände der lateinischen Kirche und Christenheit, Veranlassungen,Methoden und Rechtfertigungen für dieses Hineinwirken werden sichtbar. Die fürderartige Arbeitsergebnisse erforderlichen, umfassend systematischen und verglei¬chenden Untersuchungen der Judikate und der sie umgebenden komplexen Quel¬lenüberlieferung kann hier nicht vorgenommen werden, es muß beim Aufzeigeneiniger Grundzüge und der Skizzierung einiger charakteristischer Beispiele blei¬ben.

Versucht man eine Klassifizierung des Quellenmaterials, so treten zwei Hauptkate¬gorien von Papsturkunden hervor: Judikate und Judikatprivilegien, die freilich nichtimmer ganz vorbehaltlos voneinander zu unterscheiden sind.

Die Judikate 3, eigentlich Urteilsverkündungen mit meist knappen, manchmal

ausführlicheren Aufzeichnungen über Streitfälle, Prozeßverfahren und deren Ent¬scheidung durch Schlichtung, Einigung der Parteien oder richterliches Urteil, sindformal nicht starr festgelegt, sondern recht variabel; sie sind zumeist in subjektiver,manchmal in objektiver4 Form abgefaßt und haben ein einfaches Kompositions¬schema: Sie beginnen in der Mehrzahl mit der üblichen Papstintitulatio, habenvielfach gleich eingangs eine unterschiedlich formulierte Actum-Datierung, dieProzeß und Urteil betrifft (mit chronologischen und geographischen Angaben zurzeitweiligen Reiseregierung des Papstes), öfters noch zusätzlich eine Ausstellungs¬datierung am Schluß, an Sanctio oder Beurkundungsbefehl anschließend. Manch¬

3 Sie werden in Urbans II. Kanzlei gelegentlich als decretum bezeichnet, z. B. in JL 5519 für Erzb.Rudolf v. Tours (MlGNE PL 151, 386); JL 5561, die Union der Bistümer Orange und St.-Paul-Trois-Chateaux betreffend (PL 151, 417, besserer Text in Gail. Christ. Noviss. 6 (Orange), Nr.58 col. 32 ff.); JL 5658 für die Kanoniker von St. -Semin zu Toulouse (An. Jur. Pont. 10, 553), auchals littera, z. B. in 5716 für Montecassino (MlGNE, PL 151, 517); JL 5591 an Klerus und Volk vonRomans (P. Giraud, Essai historique sur l’abbaye de St.-Bamard ... de Romans 1, Lyon 1856, S. 19

Nr. 8), oder als scriptum, wie in der Judikatsbestätigung für den Abt von Montierneuf, JL 5642 (An.Jur. Pont. 10, 546, F. Villard, Recueil des documents relatifs à l’abbaye de Montierneuf de Poitiers1076-1319, Arch. Hist, du Poitou 59, Poitiers 1973, S. 43).

4 JL 5588 von 1095 im Streit zwischen dem Bischof von Maguelonne und dem Abt von Aniane(MlGNE, PL 151 431 f.; J. Rouquette - A. Villemagne, Bullaire de l’église de Maguelonne 1

(Montpellier 1911), S. 22 Nr. 7); JL 5663 von 1095 im Kongregationsstreit zwischen dem Abt vonMontmajour-lez-Arles und Abt Richard von St. Victor zu Marseille (W. Wiederhold, Papsturkun¬den in Frankreich 4, Nachr. Göttingen 1907, S. 58 Nr. 3).

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mal jedoch finden sich Actum und Datum am Schluß des Judikats5. Häufig, aberkeineswegs regelmäßig, folgt der Intitulatio eine Inscriptio, die zeigt, daß Judikatefür bestimmte Empfänger oder Empfängergruppen, Prozeßparteien oder auch sonstvom Urteil Betroffene, ausgestellt wurden, während manche Judikate nur mit einerganz allgemeinen Notificationsformel versehen waren6.

Datierungen, Beurkundungsanordnung7 und Adressen sowie die gelegentlich deut¬licher erkennbare Überlieferungsart einzelner Stücke stützen wohl die folgenden,freilich nur hypothetischen Vermutungen über den Kanzleigeschäftsgang in solchenAngelegenheiten: Im Anschluß an die Urteilsverkündung (zum Zeitpunkt derActum-Datierung) wird das Judikat niedergeschrieben und, gegebenenfalls nachVerlesung vor der Gerichts- oder auch Konzilsversammlung8, durch den Kanzlerausgestellt (Datum per manumf aber bei Ausstellung und Zustellung des Urteilsverfuhr man anscheinend nicht einheitlich nach gleichem Schema.

Der zunächst rein arbeitshypothetisch angenommene „Idealfall“: Zustellung desUrteils in je einem Exemplar an die Prozeßparteien und Archivierung durchEintragung ins päpstliche Register, ließ sich mit den bisher aufgetauchten Belegennur an einem Beispiel wahrscheinlich machen - am Judikat Urbans II. JL 5653 von1096 im Konflikt zwischen Burgos und Toledo, den O. Engels anhand der

5 JL 5654 von 1096 im Streit zwischen den Klöstern Figeac und Conques (MlGNE, PL 151, 469); JL5658 von 1096, eine stark dem Typus des Judikatprivilegs angenäherte Sonderform des Judikats imStreit zwischen Bischof von Toulouse und Kanonikern von St.-Semin (An.-Jur. Pont. 10, 551 ff.):Acta est huiusmodi negotii definitio . scriptum et relectum est praesentibus . . ., Datum apud Vallem

Flavinianum etc.; einleitende Actum-Datierung z. B. im Judikat liber den Streit zwischen Bischof vonPaestum und Abtei La Cava vom Sept. 1089: Anno dom. incarn. 1089, indict. 12, mense sept. Cum inMelfino concilio . . ., folgt Prozeßbericht (D. GlRGENSOHN, Miscellanea Italiae Pontificiae 1, Nachr.Göttingen I, 4 (1974), S. 190 Nr. 2); It. Pont. 8, 353 Nr. 31 von 1092 im Konflikt zwischen Erzbischofvon Salerno und Herzog Roger von Apulien: Anno ab incarn. dom. nostri J. Chr. 1093 (1092), menseAugusto, indict. 15, dum in palatio s. Salernitani episcopii esset domnus Urbanus II papa . . ., inobjektiver Formulierung (J. V. PFLUGK-HARTTUNG, Acta Pontificum Romanorum inedita, Tübingen1881-86, Bd. 2, 149 Nr. 184). ln subjektiver Abfassungsform: JL 5470 aus Tarent 1092 im Streitzwischen St.-Aubin zu Angers und Abtei Vendôme: Anno dom. incarn. 1093 (1092), pontificatusnostri V., indict. I, cum essemus in provincia Calabriae . . ., mit Schlußdatierung: Data Tarenti, VIIIkal. decembr. (Ch. Métais, Cartulaire de l’abbaye card. de la Trinité de Vendôme, Bd. 2, Paris 1894,S. 70 Nr. 343).

6 Vgl. u. a. JL 5561 (Bistümer Orange-Tricastin): Ad praesentium notitiam et futurorum memoriam nonlatere volumus . . . (s. oben Anm. 3); JL 5663 (Montmajour-lez-Arles und St. Victor zu Marseille, wieAnm. 4); JL 5708 (Erzb. von Salerno und Abtei La Cava): Omnibus Christi fidelibus. Notum vobisesse volumus ..., Pflugk-Harttung, Acta 2, 165 Nr. 199.

7 Judikat von 1089 im Streit Paestum - La Cava (ed. GlRGENSOHN wie Anm. 5): nostre auctoritatislitteris precepimus designari; JL 5588 von 1095 (wie Anm. 4): dominus papa Urbanus hancdefinitionem scribi jussit scriptamque sigillo apostolicae sedis firmavit. - Vgl. auch die Judikate JL5625 (Charroux - Ham), JL 5633 (St. Martin zu Tours - Cormery), JL 5716 (Montecassino - S. Mariade Cingla) oder JL 5654 (Figeac - Conques): nos .. . definitionis huius ordinem . , . nostri nominis

litteris adnotari, et sigilli nostri praecepimus impressione firmari (MlGNE, PL 151, 469). EineScriptumzeile ist allerdings bei Judikaten nur ganz selten überliefert, so in JL 5519 (Rom 1094) imProzeß Tours - Dol und in JL 5716 (Rom 1098) im Prozeß Montecassino - S. Maria de Cingla; inbeiden Fällen schrieb der römische Scriniar Petrus.

8 JL 5658 für St.-Semin, Toulouse (vgl. Anm. 5); JL 5540, päpstliche Bestätigung eines Restitutions¬aktes des Grafen Raimund von Toulouse für die Abtei St.-Gilles in Form eines Judikats vom 18. Febr.1095, das wenig später vor dem Konzil in Piacenza (Anfang März 1095) nochmals verlesen undbestätigt wurde: relecta vero et confirmata in concilio . . ., MlGNE, PL 151, 399 f.

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mal jedoch finden sich Actum und Datum am Schluß des Judikats5 . Häufig, aberkeineswegs regelmäßig, folgt der Intitulatio eine Inscriptio, die zeigt, daß Judikatefür bestimmte Empfänger oder Empfängergruppen, Prozeßparteien oder auch sonstvom Urteil Betroffene, ausgestellt wurden, während manche Judikate nur mit einerganz allgemeinen Notificationsformel versehen waren6

.

Datierungen, Beurkundungsanordnung7 und Adressen sowie die gelegentlich deut¬licher erkennbare Überlieferungsart einzelner Stücke stützen wohl die folgenden,freilich nur hypothetischen Vermutungen über den Kanzleigeschäftsgang in solchenAngelegenheiten: Im Anschluß an die Urteilsverkündung (zum Zeitpunkt derActum-Datierung) wird das Judikat niedergeschrieben und, gegebenenfalls nachVerlesung vor der Gerichts- oder auch Konzilsversammlung8

, durch den Kanzlerausgestellt (Datum per manumf aber bei Ausstellung und Zustellung des Urteilsverfuhr man anscheinend nicht einheitlich nach gleichem Schema.

Der zunächst rein arbeitshypothetisch angenommene „Idealfall“: Zustellung desUrteils in je einem Exemplar an die Prozeßparteien und Archivierung durchEintragung ins päpstliche Register, ließ sich mit den bisher aufgetauchten Belegennur an einem Beispiel wahrscheinlich machen - am Judikat Urbans II. JL 5653 von1096 im Konflikt zwischen Burgos und Toledo, den O. Engels anhand der

5 JL 5654 von 1096 im Streit zwischen den Klöstern Figeac und Conques (MlGNE, PL 151, 469); JL5658 von 1096, eine stark dem Typus des Judikatprivilegs angenäherte Sonderform des Judikats imStreit zwischen Bischof von Toulouse und Kanonikern von St.-Semin (An.-Jur. Pont. 10, 551 ff.):Acta est huiusmodi negotii definitio . scriptum et relectum est praesentibus . . ., Datum apud VallemFlavinianum etc.; einleitende Actum-Datierung z. B. im Judikat liber den Streit zwischen Bischof vonPaestum und Abtei La Cava vom Sept. 1089: Anno dom. incarn. 1089, indict. 12, mense sept. Cum inMelfino concilio . . ., folgt Prozeßbericht (D. GlRGENSOHN, Miscellanea Italiae Pontificiae 1, Nachr.Göttingen I, 4 (1974), S. 190 Nr. 2); It. Pont. 8, 353 Nr. 31 von 1092 im Konflikt zwischen Erzbischofvon Salerno und Herzog Roger von Apulien: Anno ab incarn. dom. nostri J. Chr. 1093 (1092), menseAugusto, indict. 15, dum in palatio s. Salernitani episcopii esset domnus Urbanus II papa . . ., inobjektiver Formulierung (J. V. PFLUGK-HARTTUNG, Acta Pontificum Romanorum inedita, Tübingen1881-86, Bd. 2, 149 Nr. 184). ln subjektiver Abfassungsform: JL 5470 aus Tarent 1092 im Streitzwischen St.-Aubin zu Angers und Abtei Vendôme: Anno dom. incarn. 1093 (1092), pontificatusnostri V., indict. I, cum essemus in provincia Calabriae . . ., mit Schlußdatierung: Data Tarenti, VIIIkal. decembr. (Ch. Métais, Cartulaire de l’abbaye card. de la Trinité de Vendôme, Bd. 2, Paris 1894,S. 70 Nr. 343).

6 Vgl. u. a. JL 5561 (Bistümer Orange-Tricastin): Ad praesentium notitiam et futurorum memoriam nonlatere volumus . . . (s. oben Anm. 3); JL 5663 (Montmajour-lez-Arles und St. Victor zu Marseille, wieAnm. 4); JL 5708 (Erzb. von Salerno und Abtei La Cava): Omnibus Christi fidelibus. Notum vobisesse volumus ..., Pflugk-Harttung, Acta 2, 165 Nr. 199.

7 Judikat von 1089 im Streit Paestum - La Cava (ed. GlRGENSOHN wie Anm. 5): nostre auctoritatislitteris precepimus designari; JL 5588 von 1095 (wie Anm. 4): dominus papa Urbanus hancdefinitionem scribi jussit scriptamque sigillo apostolicae sedis firmavit. - Vgl. auch die Judikate JL5625 (Charroux - Ham), JL 5633 (St. Martin zu Tours - Cormery), JL 5716 (Montecassino - S. Mariade Cingla) oder JL 5654 (Figeac - Conques): nos .. . definitionis huius ordinem . , . nostri nominislitteris adnotari, et sigilli nostri praecepimus impressione firmari (MlGNE, PL 151, 469). EineScriptumzeile ist allerdings bei Judikaten nur ganz selten überliefert, so in JL 5519 (Rom 1094) imProzeß Tours - Dol und in JL 5716 (Rom 1098) im Prozeß Montecassino - S. Maria de Cingla; inbeiden Fällen schrieb der römische Scriniar Petrus.

8 JL 5658 für St.-Semin, Toulouse (vgl. Anm. 5); JL 5540, päpstliche Bestätigung eines Restitutions¬aktes des Grafen Raimund von Toulouse für die Abtei St.-Gilles in Form eines Judikats vom 18. Febr.1095, das wenig später vor dem Konzil in Piacenza (Anfang März 1095) nochmals verlesen undbestätigt wurde: relecta vero et confirmata in concilio . . ., MlGNE, PL 151, 399 f.

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handschriftlichen Überlieferung eingehend dargestellt hat9. Formal und inhaltlicherweist sich die Urkunde zweifellos als Judikat, mit dem Urban II. einige zunächstnoch vorläufige Entscheidungen zur Steuerung der wechselhaften und konfliktrei¬chen Entwicklung der Kirchenorganisation in Spanien getroffen hat. Die hand¬schriftliche Überlieferung legt die Annahme nahe, daß der Bischof Gomez vonBurgos, zu dessen Gunsten das Urteil lautete, das wohl nicht zu Unrecht alsOriginal angesehene Judikat (im Kathedralarchiv zu Burgos) erhielt, während mandem Erzbischof Bernhard von Toledo vermutlich eine gleichzeitige, ebenfalls inSt.-Gilles hergestellte Kopie mitgab. Im Kathedralarchiv von Toledo finden sichdavon freilich zwar nur spätere, wie manche anderen Toletaner Papsturkunden ausden päpstlichen Registern abgeschriebene Kopien, aber diese, wie im übrigen aucheine römische Überlieferung des Judikats in der Biblioteca Vallicelliana, gebeneinen wertvollen Hinweis auf Urbans II. Register mit dem Vermerk: „in regestodomini Urbani II in nono libro in secunda parte“. Das Judikat wurde also, wieschon Engels angenommen hat, in seiner Originalfassung ins Register eingetragen.Die Frage der Registereintragung weiterer Judikate Urbans II. soll hier nichterörtert werden, weil derzeit über wenig befriedigende Vermutungen kaum hinaus¬zukommen ist. Doch sei ein anderes Beispiel für Doppelausfertigung eines Judikatsfür die Streitparteien mit wahrscheinlicher Registereintragung erwähnt: UrbansJudikat JL 5470 von 1092 in einem Besitzstreit zwischen den Klöstern St.-Aubin zuAngers und Ste.-Trinité in Vendôme10. Die letzte Phase des langwährendenKonflikts spielte sich in mehrtägigen Verhandlungen vor dem päpstlichen Gerichtin Süditalien ab, wo in der letzten, urteilfindenden Sitzung (am 20. Nov. 1092 inAnglona) vor dem Papst, einigen Kardinälen sowie römischen und normannischenAdeligen als Richtergremium die Delegationen (unter Leitung ihrer jeweiligenPrioren) aus St.-Aubin als Kläger und aus Vendôme als Beklagte auftraten. DerPapst kam schließlich nicht so sehr zu einem förmlichen Urteil, sondern imInteresse des Nutzens beider Parteien (utriusque utilitati providentes) mehr zueinem Schlichtungs- und Vermittlungsspruch, den die Prozeßgegner akzeptiertenund auf dessen Grundlage sie einen Vertrag (pactum, concordia et pax) schlossen,mit gegenseitigen Verzicht- und Investiturakten vor dem Papst (in manus nostras).

9 JL 5653. St.-Gilles 1096 Juli 15, D. Mansilla, La documentación pontificia hasta Inocencio III(965-1216), Mon. Hisp. Vat. Sección Registros I, Roma 1955, S. 55 f. Nr. 37; Ders., La doc. pont. delarchivo de la catedral de Burgos, Hispania Sacra 1 (1948), S. 147 Nr. 4; J. M. Garrido Garrido,Documentación de la catedral de Burgos (804-1183), in: Fuentes Medievales Castellano-Leonesas 13,Burgos 1984 Nr. 61; F. J. HERNÁNDEZ, Los cartularios de Toledo, in: Mon. Eccles. Toletan. Hist.,Ser. 1 Regesta et inventaria historica 1, Madrid 1985 Nr. 544. - O. Engels, Papsttum, Reconquistaund spanisches Landeskonzil, AHC 1 (1969), S. 48 f. und 241 ff.; P. Rabikauskas, Die römischeKuriale in der päpstlichen Kanzlei, Miscell. Hist. Pont. 20 (1958), S. 128; L. Santifaller, Saggio diun elenco dei funzionari, Bullettino dell’Ist. Stör. Ital. 56 (1940), S. 462 f.

10 JL 5470, Tarent 1092 Nov. 24, Ch. METAIS, Cartulaire (wie Anm. 5), S. 70 und 77 ff., BOUQUET,Rec. Hist. 14, 85 ff., sowie A. Bertrand DE BROUSSILLON, Cartulaire de Pabbaye de St.-Aubind'Angers, Bd. 2 (Angers 1903), S. 223 ff. Nr. 737 ff., alle mit ausführlichen Prozeßberichten ausHandschriften in St.-Aubin und Vendóme; dazu Judikat Paschalis’ II. JL 6459 (Benevent 1115 Mai25) für den Abt von St.-Aubin, BOUQUET, 14,88 und MlGNE PL 163,382. — Th. Ruinart, Vita B.Urbani II cap. 117 (MlGNE PL 151, 102 f.); vgl. auch J. Ramackers, Papsturkunden in FrankreichNF 6, Abh. Göttingen 3.F.. Nr. 41 (1958), S. 38; Rabikauskas, Kuriale, S. 128 und Santifaller,Saggio, S. 446 (wie Anm. 9); H. Meinert, Die Fälschungen Gottfrieds von Vendóme, AUF 10(1928), S. 292.

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handschriftlichen Überlieferung eingehend dargestellt hat9 . Formal und inhaltlicherweist sich die Urkunde zweifellos als Judikat, mit dem Urban II. einige zunächstnoch vorläufige Entscheidungen zur Steuerung der wechselhaften und konfliktrei¬chen Entwicklung der Kirchenorganisation in Spanien getroffen hat. Die hand¬schriftliche Überlieferung legt die Annahme nahe, daß der Bischof Gomez vonBurgos, zu dessen Gunsten das Urteil lautete, das wohl nicht zu Unrecht alsOriginal angesehene Judikat (im Kathedralarchiv zu Burgos) erhielt, während mandem Erzbischof Bernhard von Toledo vermutlich eine gleichzeitige, ebenfalls inSt.-Gilles hergestellte Kopie mitgab. Im Kathedralarchiv von Toledo finden sichdavon freilich zwar nur spätere, wie manche anderen Toletaner Papsturkunden ausden päpstlichen Registern abgeschriebene Kopien, aber diese, wie im übrigen aucheine römische Überlieferung des Judikats in der Biblioteca Vallicelliana, gebeneinen wertvollen Hinweis auf Urbans II. Register mit dem Vermerk: „in regestodomini Urbani II in nono libro in secunda parte“. Das Judikat wurde also, wieschon Engels angenommen hat, in seiner Originalfassung ins Register eingetragen.Die Frage der Registereintragung weiterer Judikate Urbans II. soll hier nichterörtert werden, weil derzeit über wenig befriedigende Vermutungen kaum hinaus¬zukommen ist. Doch sei ein anderes Beispiel für Doppelausfertigung eines Judikatsfür die Streitparteien mit wahrscheinlicher Registereintragung erwähnt: UrbansJudikat JL 5470 von 1092 in einem Besitzstreit zwischen den Klöstern St. -Aubin zuAngers und Ste. -Trinité in Vendôme 10 . Die letzte Phase des langwährendenKonflikts spielte sich in mehrtägigen Verhandlungen vor dem päpstlichen Gerichtin Süditalien ab, wo in der letzten, urteilfindenden Sitzung (am 20. Nov. 1092 inAnglona) vor dem Papst, einigen Kardinälen sowie römischen und normannischenAdeligen als Richtergremium die Delegationen (unter Leitung ihrer jeweiligenPrioren) aus St.-Aubin als Kläger und aus Vendôme als Beklagte auftraten. DerPapst kam schließlich nicht so sehr zu einem förmlichen Urteil, sondern imInteresse des Nutzens beider Parteien (utriusque utilitati providentes) mehr zueinem Schlichtungs- und Vermittlungsspruch, den die Prozeßgegner akzeptiertenund auf dessen Grundlage sie einen Vertrag (pactum , concordia et pax) schlossen,mit gegenseitigen Verzicht- und Investiturakten vor dem Papst (in manus nostras).

9 JL 5653. St.-Gilles 1096 Juli 15, D. Mansilla, La documentación pontificia hasta Inocencio III(965-1216), Mon. Hisp. Vat. Sección Registros I, Roma 1955, S. 55 f. Nr. 37; Ders., La doc. pont. delarchivo de la catedral de Burgos, Hispania Sacra 1 (1948), S. 147 Nr. 4; J. M. Garrido Garrido,Documentación de la catedral de Burgos (804-1183), in: Fuentes Medievales Castellano-Leonesas 13,Burgos 1984 Nr. 61; F. J. HERNÁNDEZ, Los cartularios de Toledo, in: Mon. Eccles. Toletan. Hist.,Ser. 1 Regesta et inventaria historica 1, Madrid 1985 Nr. 544. - O. Engels, Papsttum, Reconquistaund spanisches Landeskonzil, AHC 1 (1969), S. 48 f. und 241 ff.; P. Rabikauskas, Die römischeKuriale in der päpstlichen Kanzlei, Miscell. Hist. Pont. 20 (1958), S. 128; L. Santifaller, Saggio diun elenco dei funzionari, Bullettino dell’Ist. Stör. Ital. 56 (1940), S. 462 f.

10 JL 5470, Tarent 1092 Nov. 24, Ch. METAIS, Cartulaire (wie Anm. 5), S. 70 und 77 ff., BOUQUET,Rec. Hist. 14, 85 ff., sowie A. Bertrand DE BROUSSILLON, Cartulaire de Pabbaye de St.-Aubind'Angers, Bd. 2 (Angers 1903), S. 223 ff. Nr. 737 ff., alle mit ausführlichen Prozeßberichten ausHandschriften in St.-Aubin und Vendóme; dazu Judikat Paschalis’ II. JL 6459 (Benevent 1115 Mai25) für den Abt von St.-Aubin, BOUQUET, 14,88 und MlGNE PL 163,382. — Th. Ruinart, Vita B.Urbani II cap. 117 (MlGNE PL 151, 102 f.); vgl. auch J. Ramackers, Papsturkunden in FrankreichNF 6, Abh. Göttingen 3.F.. Nr. 41 (1958), S. 38; Rabikauskas, Kuriale, S. 128 und Santifaller,Saggio, S. 446 (wie Anm. 9); H. Meinert, Die Fälschungen Gottfrieds von Vendóme, AUF 10(1928), S. 292.

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Die so erreichte Streitschlichtung galt jedoch als Urteil (sententia, nostraedecisionis sententia), welches innerhalb von 30 Tagen nach Rückkehr der Delega¬tionen in ihre Klöster von den dortigen Äbten zu befolgen, praktisch auszuführenwar. Deshalb wurde den Abordnungen der Prozeßparteien je ein Judikatsexemplaran die Adresse der beiden Äbte mitgegeben, und je ein Judikat findet sich dennauch in den Klosterarchiven von St.-Aubin und Vendöme (heute in Departemental-archiven). Beide Stücke galten früher als Originale (Ch. Metais), man wird aberwohl eher mit B. de Broussillon, Santifaller und Ramackers das Original im KlosterSt.-Aubin und eine gleichzeitig in Tarent von der päpstlichen Kanzlei hergestellte„amtliche“ Abschrift in der Abtei Vendöme zu sehen haben. Laut Prozeßberichtwurden die Judikate nach Rückkehr der Delegationen tarn in Vindocinensi quam inS. Albani capitulo vor den Äbten und Mönchen verlesen und danach dieUrteilsbestimmungen vollzogen. Die Eintragung des Judikats ins Register UrbansII. ist nicht sicher nachzuweisen, aber als Paschalis II. später auf Betreiben AbtGottfrieds von Vendöme nochmals in dieser Sache zu urteilen hatte, zog er UrbansJudikat von 1092 - vielleicht doch aus den päpstlichen Registern - heran: Expraedecessoris nostri...Urbani II papae litteris intelleximusn; er zitierte es sach¬lich-inhaltlich genau und bestätigte es in seinem eigenen Judikat von 1115.Vermutlich hat man damals bei der wachsenden Zahl von Gerichtsverfahren dieEintragung gerade von Judikaten ins päpstliche Register ziemlich konsequentvorgenommen, da sie sich als sehr nützlich erwies, besonders bei lang dauerndenund später wieder auflebenden Streitigkeiten und Prozessen, und vor allem alszuverlässiges Beweismittel gegenüber dem Zeugenbeweis durch Beschwörungunsicherer, angefochtener oder nicht (mehr) vorhandener Urkunden, den man

gelegentlich akzeptierte11 12.Die meisten übrigen Judikate geben für Erkenntnisse über den Kanzleigeschäfts¬gang nichts her. Wahrscheinlich haben nicht in allen Fällen beide ProzeßgegnerJudikate erhalten, und was in Urbans II. (verlorenes) Register eingetragen wurde,wissen wir nicht. Gelegentlich scheint es, als hätte nur der Prozeßgewinner einJudikat erhalten, während die unterlegene Partei sich mit einer Judikatsmitteilungoder Urteilsbestätigung begnügen mußte, wie z. B. im Dependenzstreit zwischen

11 JL 6459, Benevent 1115 Mai 25 (Bouquet 14,88; MlGNE PL 163, 382).12 JL 5475, Judikatmandat im Metropolitanprozeß Tours-Dol 1093 (MlGNE PL 151,359) und JL 5519

Judikat im gleichen Prozeß 1094, wobei jedoch für Urban II. die Erbringung des ordentlichenUrkundenbeweises durch Konsultieren des Registers seines Vorgängers Gregors VII. maßgebend war:Quaesita est in registro b. Gregorii papae VII. Et ita omnino sicut audieramus inventa (MlGNE PL151,386). - JL 5561 Judikat im Bistumsprozeß Orange-Tricastin (St.-Paul-Trois-Chäteaux) 1095:Eidesleistung betr. Existenz und Echtheit einer nicht vorgelegten Urkunde (Gail. Christ. Noviss. 6,Orange (1916), Nr. 58 col. 32 ff.); JL 5658, Judikat im Streit zwischen Bischof von Toulouse undKanonikern von St.-Semin: Die Kanoniker beschwören die Echtheit einer vom Bischof angefochtenenPapsturkunde, welche ihre Rechtsansprüche stützt (An. Jur. Pont. 10,551).

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Die so erreichte Streitschlichtung galt jedoch als Urteil (sententia, nostraedecisionis sententia), welches innerhalb von 30 Tagen nach Rückkehr der Delega¬tionen in ihre Klöster von den dortigen Äbten zu befolgen, praktisch auszuführenwar. Deshalb wurde den Abordnungen der Prozeßparteien je ein Judikatsexemplaran die Adresse der beiden Äbte mitgegeben, und je ein Judikat findet sich dennauch in den Klosterarchiven von St.-Aubin und Vendöme (heute in Departemental-archiven). Beide Stücke galten früher als Originale (Ch. Metais), man wird aberwohl eher mit B. de Broussillon, Santifaller und Ramackers das Original im KlosterSt.-Aubin und eine gleichzeitig in Tarent von der päpstlichen Kanzlei hergestellte„amtliche“ Abschrift in der Abtei Vendöme zu sehen haben. Laut Prozeßberichtwurden die Judikate nach Rückkehr der Delegationen tarn in Vindocinensi quam inS. Albani capitulo vor den Äbten und Mönchen verlesen und danach dieUrteilsbestimmungen vollzogen. Die Eintragung des Judikats ins Register UrbansII. ist nicht sicher nachzuweisen, aber als Paschalis II. später auf Betreiben AbtGottfrieds von Vendöme nochmals in dieser Sache zu urteilen hatte, zog er UrbansJudikat von 1092 - vielleicht doch aus den päpstlichen Registern - heran: Expraedecessoris nostri...Urbani II papae litteris intelleximusn ; er zitierte es sach¬lich-inhaltlich genau und bestätigte es in seinem eigenen Judikat von 1115.Vermutlich hat man damals bei der wachsenden Zahl von Gerichtsverfahren dieEintragung gerade von Judikaten ins päpstliche Register ziemlich konsequentvorgenommen, da sie sich als sehr nützlich erwies, besonders bei lang dauerndenund später wieder auflebenden Streitigkeiten und Prozessen, und vor allem alszuverlässiges Beweismittel gegenüber dem Zeugenbeweis durch Beschwörungunsicherer, angefochtener oder nicht (mehr) vorhandener Urkunden, den mangelegentlich akzeptierte

11

12 .

Die meisten übrigen Judikate geben für Erkenntnisse über den Kanzleigeschäfts¬gang nichts her. Wahrscheinlich haben nicht in allen Fällen beide ProzeßgegnerJudikate erhalten, und was in Urbans II. (verlorenes) Register eingetragen wurde,wissen wir nicht. Gelegentlich scheint es, als hätte nur der Prozeßgewinner einJudikat erhalten, während die unterlegene Partei sich mit einer Judikatsmitteilungoder Urteilsbestätigung begnügen mußte, wie z. B. im Dependenzstreit zwischen

11 JL 6459, Benevent 1115 Mai 25 (Bouquet 14,88; MlGNE PL 163, 382).12 JL 5475, Judikatmandat im Metropolitanprozeß Tours-Dol 1093 (MlGNE PL 151,359) und JL 5519Judikat im gleichen Prozeß 1094, wobei jedoch für Urban II. die Erbringung des ordentlichenUrkundenbeweises durch Konsultieren des Registers seines Vorgängers Gregors VII. maßgebend war:Quaesita est in registro b. Gregorii papae VII. Et ita omnino sicut audieramus inventa (MlGNE PL151,386). - JL 5561 Judikat im Bistumsprozeß Orange-Tricastin (St.-Paul-Trois-Chäteaux) 1095:Eidesleistung betr. Existenz und Echtheit einer nicht vorgelegten Urkunde (Gail. Christ. Noviss. 6,Orange (1916), Nr. 58 col. 32 ff.); JL 5658, Judikat im Streit zwischen Bischof von Toulouse undKanonikern von St.-Semin: Die Kanoniker beschwören die Echtheit einer vom Bischof angefochtenenPapsturkunde, welche ihre Rechtsansprüche stützt (An. Jur. Pont. 10,551).

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den Klöstern Charroux und Ham13. Im Metropolitanstreit zwischen Tours und Dolerhielt der Erzbischof von Tours, für dessen Metropolitanrechte über Dol der Papstentschieden hatte, ein Judikat, das am Schluß in eine feierliche Palliumexhortatiomit Pallium-Segenswunsch übergeht; der unterlegene Bischof von Dol bekam sehrwahrscheinlich gar nichts, zumal er bei dem entscheidenen Gerichtstermin ohnekanonisch anerkannte Entschuldigung gefehlt hatte. Aber den vom Urteil unmittel¬bar betroffenen Bischöfen der Bretagne wurde ein Judikatmandat übersandt, mitdem ihnen der Prozeß kurz dargelegt, Beachtung des Urteils und Gehorsamgegenüber ihrem Metropoliten in Tours befohlen wurde14.

Nicht nur formal charakteristisch, sondern naturgemäß von rechtlicher Bedeutungsind bei Judikaten die Hinweise auf und die Nennung von (delegierten) Richtern,Beratern, Zeugen und Zustimmenden, sowie Unterschriften der Zeugen und der anGericht und Urteil Beteiligten. Dabei kommen Formulierungen wie praesentibus,astantibus, considentibus unterschiedliche funktionelle und juristische Bedeutungzu. Obwohl die mitwirkenden Gruppen und Personen (Kardinale, Bischöfe, Äbte,römischer und auswärtiger Adel, Judices usw.) sozusagen für die Gerechtigkeit desUrteils und die Stabilität der dabei festgelegten Rechtsverhältnisse mitgarantieren,scheinen diese Erwähnungen und Unterzeichnungen bei Abfassung der Judikatenicht konsequent und systematisch vorgenommen worden zu sein, auch ist wohlnicht immer alles vollständig überliefert; nur selten können etwa zeitgenössischeBerichte von seiten der Prozeßparteien oder andere urkundliche und erzählendeQuellen etwas weiterhelfen. Wie wichtig das Zeugnis mitwirkender oder auch nur„anwesender“ Personen werden konnte, zeigt ein ganz am Ende von Urbans II.Pontifikat noch im April 1099 begonnener, erst von Paschalis II. 1113 abgeschlos¬sener Prozeß zwischen dem Erzbischof von Benevent und dem Bischof von Troia.Bei der Verhandlung vor Paschalis II. kam der Bischof von Troia durch dieVerschleppungstaktik seines Gegners in Bedrängnis und Beweisnot und rief nundie Personen, die seinerzeit am Verfahren und an der vorläufigen EntscheidungUrbans II. mitgewirkt hatten und von denen zudem einige an der Gerichtssitzungvon 1113 teilnahmen, namentlich auf, sich doch zu erinnern und entsprechendes

13 Urban II. hatte für Unterordnung des Klosters Ham unter die Abtei Charroux entschieden mit seinemJudikat JL 5625 Tours 1096 März 21 (An. Jur. Pont. 10,542, ohne Adresse, doch als Kopie im Besitzder Abtei Charroux). Der Abt von Ham erhielt nur eine ganz knappe Bestätigung der durch das Urteilfestgelegten Rechtslage, JL 5626 (Vestri monasterii statum , , ., An. Jur. Pont. 10,543, PFLUGK-HART-tung, Acta 1,66 Nr. 71) in Kopie sowohl in Charroux als auch in Paris, Bibi. Nat. überliefert. FürCharroux stellte Urban ebenfalls noch im März 1096 ein großes Privileg aus, in dessen Besitzliste dieabbatia que dicitur Ham (Diöz. Therouanne) bestätigt wurde (JL 5627, An. Jur. Pont. 10,558).

14 Judikat für Tours JL 5519, Rom 1094 Apr. 5 (MlGNE PL 151,385 ff.); Judikatmandat JL 5520, Rom1094 Apr. 11 (MlGNE PL 151,387 f.). Auch die in Judikatform redigierte päpstliche Bestätigung derRestitutionen des Grafen von Toulouse-St. Gilles an die Abtei St.-Gilles JL 5540 (Migne, PL151,399 f., Cremona 1095 Febr. 18: Notum sit omnibus), adressiert: Universis per Gothicamprovinciam fidelibus, war offensichtlich für „Betroffene“ bestimmt, u. a. besonders für Vasallen desGrafen, die etwas aus dem restituierten Rechts- und Besitzkomplex zu Lehen hatten und dies nunihrerseits huius decreti tenore cognito umgehend restituieren sollten; auch deshalb wohl ließ man dieUrkunde dann noch auf dem Konzil in Piacenza erneut verlesen und bestätigen, vgl. oben Anm. 8.

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den Klöstern Charroux und Ham 13. Im Metropolitanstreit zwischen Tours und Dol

erhielt der Erzbischof von Tours, für dessen Metropolitanrechte über Dol der Papstentschieden hatte, ein Judikat, das am Schluß in eine feierliche Palliumexhortatiomit Pallium-Segenswunsch übergeht; der unterlegene Bischof von Dol bekam sehrwahrscheinlich gar nichts, zumal er bei dem entscheidenen Gerichtstermin ohnekanonisch anerkannte Entschuldigung gefehlt hatte. Aber den vom Urteil unmittel¬bar betroffenen Bischöfen der Bretagne wurde ein Judikatmandat übersandt, mitdem ihnen der Prozeß kurz dargelegt, Beachtung des Urteils und Gehorsamgegenüber ihrem Metropoliten in Tours befohlen wurde 14 .

Nicht nur formal charakteristisch, sondern naturgemäß von rechtlicher Bedeutungsind bei Judikaten die Hinweise auf und die Nennung von (delegierten) Richtern,Beratern, Zeugen und Zustimmenden, sowie Unterschriften der Zeugen und der anGericht und Urteil Beteiligten. Dabei kommen Formulierungen wie praesentibus,astantibus, considentibus unterschiedliche funktionelle und juristische Bedeutungzu. Obwohl die mitwirkenden Gruppen und Personen (Kardinale, Bischöfe, Äbte,römischer und auswärtiger Adel, Judices usw.) sozusagen für die Gerechtigkeit desUrteils und die Stabilität der dabei festgelegten Rechtsverhältnisse mitgarantieren,scheinen diese Erwähnungen und Unterzeichnungen bei Abfassung der Judikatenicht konsequent und systematisch vorgenommen worden zu sein, auch ist wohlnicht immer alles vollständig überliefert; nur selten können etwa zeitgenössischeBerichte von seiten der Prozeßparteien oder andere urkundliche und erzählendeQuellen etwas weiterhelfen. Wie wichtig das Zeugnis mitwirkender oder auch nur„anwesender“ Personen werden konnte, zeigt ein ganz am Ende von Urbans II.Pontifikat noch im April 1099 begonnener, erst von Paschalis II. 1113 abgeschlos¬sener Prozeß zwischen dem Erzbischof von Benevent und dem Bischof von Troia.Bei der Verhandlung vor Paschalis II. kam der Bischof von Troia durch dieVerschleppungstaktik seines Gegners in Bedrängnis und Beweisnot und rief nundie Personen, die seinerzeit am Verfahren und an der vorläufigen EntscheidungUrbans II. mitgewirkt hatten und von denen zudem einige an der Gerichtssitzungvon 1113 teilnahmen, namentlich auf, sich doch zu erinnern und entsprechendes

13 Urban II. hatte für Unterordnung des Klosters Ham unter die Abtei Charroux entschieden mit seinemJudikat JL 5625 Tours 1096 März 21 (An. Jur. Pont. 10,542, ohne Adresse, doch als Kopie im Besitzder Abtei Charroux). Der Abt von Ham erhielt nur eine ganz knappe Bestätigung der durch das Urteilfestgelegten Rechtslage, JL 5626 (Vestri monasterii statum , , ., An. Jur. Pont. 10,543, PFLUGK-HART-tung, Acta 1,66 Nr. 71) in Kopie sowohl in Charroux als auch in Paris, Bibi. Nat. überliefert. FürCharroux stellte Urban ebenfalls noch im März 1096 ein großes Privileg aus, in dessen Besitzliste dieabbatia que dicitur Ham (Diöz. Therouanne) bestätigt wurde (JL 5627, An. Jur. Pont. 10,558).

14 Judikat für Tours JL 5519, Rom 1094 Apr. 5 (MlGNE PL 151,385 ff.); Judikatmandat JL 5520, Rom1094 Apr. 11 (MlGNE PL 151,387 f.). Auch die in Judikatform redigierte päpstliche Bestätigung derRestitutionen des Grafen von Toulouse-St. Gilles an die Abtei St.-Gilles JL 5540 (Migne, PL151,399 f., Cremona 1095 Febr. 18: Notum sit omnibus), adressiert: Universis per Gothicamprovinciam fidelibus, war offensichtlich für „Betroffene“ bestimmt, u. a. besonders für Vasallen desGrafen, die etwas aus dem restituierten Rechts- und Besitzkomplex zu Lehen hatten und dies nunihrerseits huius decreti tenore cognito umgehend restituieren sollten; auch deshalb wohl ließ man dieUrkunde dann noch auf dem Konzil in Piacenza erneut verlesen und bestätigen, vgl. oben Anm. 8.

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Zeugnis abzulegen. Dazu kam es denn auch, und dies wurde zur entscheidenenWende des ganzen Prozesses15.

Diese Beobachtungen müssen genügen, damit noch einige Bemerkungen zu denJudikatprivilegien angefügt werden können. In den Judikatprivilegien16, Papstur¬kunden, die im Zusammenhang mit Prozeß und Urteil ausgestellt wurden, fließenFormelemente aus Judikaten und Privilegien zusammen, wobei das eigentlichCharakteristische ist, daß das im Urteil fixierte Recht als Privileg verliehen wird.Vielleicht wollte man dieses Recht in der eben geläufigen Privilegienform„sanktionieren“ und „festschreiben“, wie denn auch in diesen Urkunden Sanctionegativa und positiva nicht fehlen. Die formale Gestaltung ist auch bei denJudikatprivilegien recht freizügig, wenngleich die sonst üblichen Privilegienfor¬meln zumeist überwiegen. Der Judikatseinfluß zeigt sich naturgemäß in derNarratio (mit einem mehr oder weniger ausführlichen Bericht über Streitfall,Prozeß und Urteil), in der Dispositio (die auf das Urteil Bezug nimmt), zuweilen inder Formulierung der gerade hier vielgestaltigen Arenga17. Auch Hinweise aufMiturteilende und Zeugen sind zu finden, jedoch weniger als in den Judikaten;vielmehr ist alles stärker auf die Privilegierung ausgerichtet.

Gelegentlich sind von einem Verfahren sowohl Judikat als auch Judikatprivilegüberliefert: Im Prozeß zwischen Bischof Isarn von Toulouse und den Kanonikernvon St.-Sernin um den Anteil des Bischofs an den Kircheneinkünften führten dieletzten Verhandlungen während des Konzils in Nîmes am 11. Juli 1096 zum Urteil,worüber am 20. Juli in St.-Gilles das Judikat (zu Gunsten von S.-Sernin) ausgestellt

15 Ausführlicher Bericht im Judikat Paschalis’II. It. Pont. 9,373 Nr. 19, Ferentino 1 113 Oct. 16, ed.P. Kehr, Papsturkunden in Benevent und der Capitanata, Nachr. Göttingen 1898, S. 66 Nr. 7.

16 Sie werden in Urbans Kanzlei zuweilen eindeutig als Privilegien bezeichnet, so in JL 5446, It. Pont.9,375 Nr. 7 von 1091 für den Bischof von Monopoli, in der Frage der Organisation der BistümerBrindisi und Monopoli praesentis privilegii pagina (MtGNE PL 151,328); JL 5600 von 1095 für denErzbischof Hugo von Lyon, aufgrund des vor dem Konzil in Clermont gefällten Urteils betreffend denPrimat von Lyon in der gallischen Kirche (Migne PL 151,438); JL 5635, It. Pont. 8,153 Nr. 138 von1096 für den Abt von St.-Maur-de-Glanfeuil im Prozeß gegen das Kloster St.-Maur-des-Fosses, ed. H.Bloch, The schism of Anacletus II and the Glanfeuil forgeries of Peter the Diacon of Montecassino,Traditio 8 (1952) S. 229 ff, Nr. 5 b, nach dem Original, in dem neben der erwähnten Privilegienformeinoch die Bezeichnung constitutio zu lesen ist; beide Termini auch im Judikatprivileg für Tournus JL5622 (vgl. Anm. 21). - Auch findet sich die Benennung decretum, so in JL 5648a von 1096 für dieKleriker von St.-Caprais zu Agen in ihrem Rechtsstreit mit den Kathedralkanonikern von St.-Etiennein Agen: huius decreti pagina (W. WIEDERHOLD, Papsturkunden in Frankreich 7, Nachr. Göttingen1913, S. 38 Nr. 5); JL 5659 von 1096 für die Abtei St.-Gilles (MlGNE PL 151,477), offensichtlich imZusammenhang mit dem Judikat JL 5540, vgl. Anm. 8 und 14. Alle diesen Urkundentypuscharakterisierenden Termini gehören zum üblichen Privilegienformular.

17 Sie ist gelegentlich kanonistisch ausgeprägt und von rechtstheoretischen Grundsatzformulierungenbestimmt, wie in JL 5546 Sacrorum canonum für Monopoli (MlGNE PL 151,328), mit derFeststellung, daß alle wichtigen Rechtssachen der Kirchen dem Gericht des Apostolischen StuhlesVorbehalten seien (Dict. Papae XXI), vgl. dazu Judikat JL 5519 Sanctorum canonum im KonfliktTours-Dol (Anm. 14). Auch JL 5600 Ex apostolicae sedis debito für Hugo von Lyon (Anm. 16) wärehier zu nennen, während JL 5648a Apostolicae sedis für St.-Caprais (Anm. 16) mehr den Formen derPrivilegienarengen angenähert ist; charakteristische Privilegienarengen haben JL 5622 Piae postulatiovoluntatis für Tournus (Anm. 21) und JL 5660 Sicut injusta poscentibus für St.-Sernin in Toulouse(MlGNE PL 151,478). Eine nicht zuletzt von Urbans II. Itinerar her bestimmte Heiligenarenga eröffnetJL 5635 für St.-Maur in Glanfeuil: Beatissimum Christi confessorem Maurum , , , (Anm. 16).

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Zeugnis abzulegen. Dazu kam es denn auch, und dies wurde zur entscheidenenWende des ganzen Prozesses 15 .

Diese Beobachtungen müssen genügen, damit noch einige Bemerkungen zu denJudikatprivilegien angefügt werden können. In den Judikatprivilegien 16

, Papstur¬kunden, die im Zusammenhang mit Prozeß und Urteil ausgestellt wurden, fließenFormelemente aus Judikaten und Privilegien zusammen, wobei das eigentlichCharakteristische ist, daß das im Urteil fixierte Recht als Privileg verliehen wird.Vielleicht wollte man dieses Recht in der eben geläufigen Privilegienform„sanktionieren“ und „festschreiben“, wie denn auch in diesen Urkunden Sanctionegativa und positiva nicht fehlen. Die formale Gestaltung ist auch bei denJudikatprivilegien recht freizügig, wenngleich die sonst üblichen Privilegienfor¬meln zumeist überwiegen. Der Judikatseinfluß zeigt sich naturgemäß in derNarratio (mit einem mehr oder weniger ausführlichen Bericht über Streitfall,Prozeß und Urteil), in der Dispositio (die auf das Urteil Bezug nimmt), zuweilen inder Formulierung der gerade hier vielgestaltigen Arenga 17 . Auch Hinweise aufMiturteilende und Zeugen sind zu finden, jedoch weniger als in den Judikaten;vielmehr ist alles stärker auf die Privilegierung ausgerichtet.

Gelegentlich sind von einem Verfahren sowohl Judikat als auch Judikatprivilegüberliefert: Im Prozeß zwischen Bischof Isarn von Toulouse und den Kanonikernvon St.-Sernin um den Anteil des Bischofs an den Kircheneinkünften führten dieletzten Verhandlungen während des Konzils in Nîmes am 11. Juli 1096 zum Urteil,worüber am 20. Juli in St.-Gilles das Judikat (zu Gunsten von S.-Sernin) ausgestellt

15 Ausführlicher Bericht im Judikat Paschalis’II. It. Pont. 9,373 Nr. 19, Ferentino 1 113 Oct. 16, ed.P. Kehr, Papsturkunden in Benevent und der Capitanata, Nachr. Göttingen 1898, S. 66 Nr. 7.

16 Sie werden in Urbans Kanzlei zuweilen eindeutig als Privilegien bezeichnet, so in JL 5446, It. Pont.9,375 Nr. 7 von 1091 für den Bischof von Monopoli, in der Frage der Organisation der BistümerBrindisi und Monopoli praesentis privilegii pagina (MtGNE PL 151,328); JL 5600 von 1095 für denErzbischof Hugo von Lyon, aufgrund des vor dem Konzil in Clermont gefällten Urteils betreffend denPrimat von Lyon in der gallischen Kirche (Migne PL 151,438); JL 5635, It. Pont. 8,153 Nr. 138 von1096 für den Abt von St.-Maur-de-Glanfeuil im Prozeß gegen das Kloster St.-Maur-des-Fosses, ed. H.Bloch, The schism of Anacletus II and the Glanfeuil forgeries of Peter the Diacon of Montecassino,Traditio 8 (1952) S. 229 ff, Nr. 5 b, nach dem Original, in dem neben der erwähnten Privilegienformeinoch die Bezeichnung constitutio zu lesen ist; beide Termini auch im Judikatprivileg für Tournus JL5622 (vgl. Anm. 21). - Auch findet sich die Benennung decretum, so in JL 5648a von 1096 für dieKleriker von St.-Caprais zu Agen in ihrem Rechtsstreit mit den Kathedralkanonikern von St.-Etiennein Agen: huius decreti pagina (W. WIEDERHOLD, Papsturkunden in Frankreich 7, Nachr. Göttingen1913, S. 38 Nr. 5); JL 5659 von 1096 für die Abtei St.-Gilles (MlGNE PL 151,477), offensichtlich imZusammenhang mit dem Judikat JL 5540, vgl. Anm. 8 und 14. Alle diesen Urkundentypuscharakterisierenden Termini gehören zum üblichen Privilegienformular.

17 Sie ist gelegentlich kanonistisch ausgeprägt und von rechtstheoretischen Grundsatzformulierungenbestimmt, wie in JL 5546 Sacrorum canonum für Monopoli (MlGNE PL 151,328), mit derFeststellung, daß alle wichtigen Rechtssachen der Kirchen dem Gericht des Apostolischen StuhlesVorbehalten seien (Dict. Papae XXI), vgl. dazu Judikat JL 5519 Sanctorum canonum im KonfliktTours-Dol (Anm. 14). Auch JL 5600 Ex apostolicae sedis debito für Hugo von Lyon (Anm. 16) wärehier zu nennen, während JL 5648a Apostolicae sedis für St.-Caprais (Anm. 16) mehr den Formen derPrivilegienarengen angenähert ist; charakteristische Privilegienarengen haben JL 5622 Piae postulatiovoluntatis für Tournus (Anm. 21) und JL 5660 Sicut injusta poscentibus für St.-Sernin in Toulouse(MlGNE PL 151,478). Eine nicht zuletzt von Urbans II. Itinerar her bestimmte Heiligenarenga eröffnetJL 5635 für St.-Maur in Glanfeuil: Beatissimum Christi confessorem Maurum , , , (Anm. 16).

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wurde, und am 22. Juli stellte der Papst in Avignon das Judikatprivileg für dieKanoniker von St.-Sernin aus, das trotz weitgehender Übereinstimmung mit demJudikat keineswegs etwa eine Kopie davon, sondern eine eigene, neue Urkundeist18. Vielleicht steht diese auffallende Doppelbeurkundung innerhalb weniger Tagein Zusammenhang mit der offenbar sehr entschiedenen Intervention zweier wichti¬ger Persönlichkeiten, des Erzbischofs Guido von Vienne und seines Bruders, desErzbischofs Hugo von Besançon, zu Gunsten des Bischofs von Toulouse währenddes Prozesses in Nîmes und ihrer heftigen Opposition gegen Urbans Urteil für dieKanoniker19.

Von Urbans II. Judikatprivilegien sei hier besonders seine Urkunde für St.-Maur deGlanfeuil erwähnt, weil sie, zumal in ihrer von H. Block edierten Originalüberlie¬ferung, ein gutes Typenbeispiel ist20.

Nicht so unmittelbar erweist sich Urbans II. Privileg für St.-Philibert zu Tournusvom März 1096 als Judikatprivileg. Zwar bezieht sich der Papst in der Besitzbestä¬tigung sehr deutlich auf einen Besitzstreit, der vor dem Konzil in Tours 1096verhandelt und durch päpstliches Urteil entschieden wurde, und bestätigt der Abteidie damit fixierten Besitzverhältnisse; interessanter ist jedoch eine judikatartigeAufzeichnung darüber, eine Prozeßakte vermutlich aus Tournus, welche denStreitfall, den Prozeß, Begründungen und Argumentationen beschreibt und die amGericht Beteiligten, darunter Persönlichkeiten De Palatio, d. h. Mitglieder derrömischen Kurie nennt. Außerdem hat Calixt II. in einem Privileg für Tournus von1121 die von Urban in Tours getroffene Entscheidung ausdrücklich erwähnt und

18 Das Judikat JL 5658 Factum est (vgl. Anm. 5, beste Ed.: C. Douais, Cartulaire de l'abbaye deSt.-Sernin de Toulouse, Paris-Toulouse 1887, S. 475 Nr. 3, nach dem Original (mit Rota: S. Petrus S.Paulus Urbanus papa II, Umschrift: + Legimus. Firmamus. Amen.) im DépartementalarchivFlaute-Garonne, aus dem Besitz von St.-Sernin), hat keine Adresse; es zeigt, daß der entscheidendeGerichtstermin vor der gesamten Konzils Versammlung in Nîmes stattfand, das Urteil dann geschrie¬ben und vor einem kleineren Gerichtsgremium verlesen und einige Tage später vom Kanzler alsJudikat datiert und herausgegeben wurde. - Das Judikatprivileg JL 5660 Sicut injusta, an dieKanoniker adressiert (Migne PL 151,478; Douais, Cart. S. 194), nach W. Wiederhold, Papstur¬kunden in Frankreich 7, Nachr. Göttingen 1913, S. 21 und SANTIFALLER, Saggio (Anm. 9), S. 463 f.,ebenfalls Original im gleichen Départementalarchiv, wiederum aus dem Fonds St.-Sernin, ist teilweiseauch Weiheprivileg (aus Anlaß der Kirchweihe durch Urban II. am 24. Mai 1096), geht aber von demKonflikt der Kanoniker mit dem Bischof und von dem päpstlichen Urteil aus.

19 Nach späterer Schilderung Guidos - mittlerweile Calixt II. - während des Konzils in Toulouse 1119hätte Urban 1096 in Nîmes zumindest während der Anwesenheit dieser beiden Erzbischöfe (nobispraesentibus!) seinen Standpunkt nicht durchsetzen können und er hätte nach Konzilschluß den imProzeß erfolgreichen Kanonikern immerhin doch befohlen, dem Bischof von Toulouse auf Lebenszeiteinen Anteil aus den Einkünften der Kirche von St.-Sernin zu gewähren, den Bischof Isam denn auchbekommen habe (Mansi, Concil. 20, 939-942).

20 JL 5635 (Anm. 16): Auf die den heiligen Maurus feiernde Heiligenarenga folgen eine knappe Skizzeder Klostergeschichte und der Prozeßbericht (beginnend mit der Klageerhebung anläßlich von UrbansII. Besuch in Glanfeuil während der Frankreichreise), Darlegung des beim Gerichtstermin vor demKonzil in Tours gefundenen Urteils (nämlich Lösung aus der Unterordnung unter St.-Maur-des-Fossésund Verselbständigung unter eigenem Abt, abbas cardinalis), womit das Judikat in ein Privileg mitVerleihung und Bestätigung weiterer Rechte übergeht.

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wurde, und am 22. Juli stellte der Papst in Avignon das Judikatprivileg für dieKanoniker von St.-Sernin aus, das trotz weitgehender Übereinstimmung mit demJudikat keineswegs etwa eine Kopie davon, sondern eine eigene, neue Urkundeist 18 . Vielleicht steht diese auffallende Doppelbeurkundung innerhalb weniger Tagein Zusammenhang mit der offenbar sehr entschiedenen Intervention zweier wichti¬ger Persönlichkeiten, des Erzbischofs Guido von Vienne und seines Bruders, desErzbischofs Hugo von Besançon, zu Gunsten des Bischofs von Toulouse währenddes Prozesses in Nîmes und ihrer heftigen Opposition gegen Urbans Urteil für dieKanoniker 19 .

Von Urbans II. Judikatprivilegien sei hier besonders seine Urkunde für St.-Maur deGlanfeuil erwähnt, weil sie, zumal in ihrer von H. Block edierten Originalüberlie¬ferung, ein gutes Typenbeispiel ist20 .

Nicht so unmittelbar erweist sich Urbans II. Privileg für St.-Philibert zu Tournusvom März 1096 als Judikatprivileg. Zwar bezieht sich der Papst in der Besitzbestä¬tigung sehr deutlich auf einen Besitzstreit, der vor dem Konzil in Tours 1096verhandelt und durch päpstliches Urteil entschieden wurde, und bestätigt der Abteidie damit fixierten Besitzverhältnisse; interessanter ist jedoch eine judikatartigeAufzeichnung darüber, eine Prozeßakte vermutlich aus Tournus, welche denStreitfall, den Prozeß, Begründungen und Argumentationen beschreibt und die amGericht Beteiligten, darunter Persönlichkeiten De Palatio, d. h. Mitglieder derrömischen Kurie nennt. Außerdem hat Calixt II. in einem Privileg für Tournus von1121 die von Urban in Tours getroffene Entscheidung ausdrücklich erwähnt und

18 Das Judikat JL 5658 Factum est (vgl. Anm. 5, beste Ed.: C. Douais, Cartulaire de l'abbaye deSt.-Sernin de Toulouse, Paris-Toulouse 1887, S. 475 Nr. 3, nach dem Original (mit Rota: S. Petrus S.

Paulus Urbanus papa II, Umschrift: + Legimus. Firmamus. Amen.) im DépartementalarchivFlaute-Garonne, aus dem Besitz von St.-Sernin), hat keine Adresse; es zeigt, daß der entscheidendeGerichtstermin vor der gesamten KonzilsVersammlung in Nîmes stattfand, das Urteil dann geschrie¬ben und vor einem kleineren Gerichtsgremium verlesen und einige Tage später vom Kanzler alsJudikat datiert und herausgegeben wurde. - Das Judikatprivileg JL 5660 Sicut injusta, an dieKanoniker adressiert (Migne PL 151,478; Douais, Cart. S. 194), nach W. Wiederhold, Papstur¬kunden in Frankreich 7, Nachr. Göttingen 1913, S. 21 und SANTIFALLER, Saggio (Anm. 9), S. 463 f.,ebenfalls Original im gleichen Départementalarchiv, wiederum aus dem Fonds St.-Sernin, ist teilweiseauch Weiheprivileg (aus Anlaß der Kirchweihe durch Urban II. am 24. Mai 1096), geht aber von demKonflikt der Kanoniker mit dem Bischof und von dem päpstlichen Urteil aus.

19 Nach späterer Schilderung Guidos - mittlerweile Calixt II. - während des Konzils in Toulouse 1119hätte Urban 1096 in Nîmes zumindest während der Anwesenheit dieser beiden Erzbischöfe (nobispraesentibus!) seinen Standpunkt nicht durchsetzen können und er hätte nach Konzilschluß den imProzeß erfolgreichen Kanonikern immerhin doch befohlen, dem Bischof von Toulouse auf Lebenszeiteinen Anteil aus den Einkünften der Kirche von St.-Sernin zu gewähren, den Bischof Isam denn auchbekommen habe (Mansi, Concil. 20, 939-942).

20 JL 5635 (Anm. 16): Auf die den heiligen Maurus feiernde Heiligenarenga folgen eine knappe Skizzeder Klostergeschichte und der Prozeßbericht (beginnend mit der Klageerhebung anläßlich von UrbansII. Besuch in Glanfeuil während der Frankreichreise), Darlegung des beim Gerichtstermin vor demKonzil in Tours gefundenen Urteils (nämlich Lösung aus der Unterordnung unter St.-Maur-des-Fossésund Verselbständigung unter eigenem Abt, abbas cardinalis), womit das Judikat in ein Privileg mitVerleihung und Bestätigung weiterer Rechte übergeht.

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bestätigt21. Noch von Santifaller als Original registriert, von Rabikauskas dagegenals Fälschung verworfen, dürfte Urbans II. Urkunde für Tournus, die in ihremFormular als Judikatprivileg zur Beanstandung keinen Anlaß gibt, aufgrund desÜberlieferungszusammenhanges, in dem sie steht, und aufgrund des paläographi-schen Befundes wohl als „Originalnachbildung“ anzusehen sein, deren Herstellermit der Hinzufügung der Papstunterschrift höchst wahrscheinlich etwas des Gutenzu viel getan hat22.

In dem lang sich hinziehenden Streit zwischen den Erzbischöfen von Lyon undSens um die Anerkennung des gallischen Primats von Lyon sind naturgemäß an derKurie Rechtsdokumente auch judikatartigen Charakters entstanden, so zunächst,unmittelbar nach dem Konzil von Clermont 1095, ein großes Judikatprivileg fürErzbischof Hugo von Lyon23. Auf eine knappe, betont kanonistisch formulierteArenga über die in der Amtspflicht des Apostolischen Stuhles und der Autorität deskanonischen Rechts gründende päpstliche Richteraufgabe folgt ein ausführlicherBericht über den Prozeß, beginnend mit der Klage Hugos von Lyon vor dem Konzil(,generale concilium nennt es Urban II.) bis hin zum Urteil (ex totius synodi favoreet judicio). Die Urteilsverfügung verwandelt sich mit ihrer Bestätigung durch denPapst in ein Primatsprivileg für den Erzbischof von Lyon. Gegenüber Sens konntedas Urteil zu Lebzeiten des dortigen Erzbischofs jedoch nicht durchgesetzt werden,so daß beim Amtsantritt seines Nachfolgers die Sache erneut verhandelt werdenmußte. Damals gab Urban II. in einem judikatähnlichen Schreiben dem Erzbischofvon Lyon eine Art Zwischenbericht über die Entwicklung seit 1095, den derzeiti¬gen Stand des Verfahrens und die augenblickliche Rechtslage24.

Die vielerlei judikatähnlichen Sonderformen von Papsturkunden25 mit rechts- undkirchengeschichtlich oft interessanten Mitteilungen können hier nicht weiter erör¬tert werden. Nur eine sei abschließend noch angezeigt, weil gerade auch ihreformale Definierung als Judikatprivileg die angezweifelte Echtheit durchaus stützenkann und weil sie Zeugnis davon gibt, welche konkrete Bedeutung im Einzelfall derprogrammatische Reformbegriff Liberias Ecclesiae annehmen konnte: Urbans

21 Urban II. JL 5622 für die Abtei Toumus, 1096 März 20 (vollständige Edition: P. F. CHIFFLET,Histoire de l’abbaye royale et de la ville de Tournus, Dijon 1664, S. 335 f., dazu Prozeßakte, ebda.,S. 333 f.: ex antiquo apographo); Calixt II. JL 6905 für Toumus, 1121 März 18 (MlGNE PL163,1208 f. und CHIFFLET, a.a.O., S. 407).

22 JL 5622, Paris Archives Nationales L 222 n. 3; Santifaller, Saggio, S. 458 und Rabikauskas,Kuriale, S. 105 f., 108 f. (wie Anm. 9).

23 JL 5600, Clermont 1095 Dez. 1 (BOUQUET, 14, 715 f., MlGNE PL 151,438), interessant u. a. fürProzeßverfahren, Mitwirkung des Konzils, Entscheidungsgrundlagen für das Urteil, Sanktionen,Vorbehalt päpstlichen Rechts.

24 JL 5788, Rom 1099 April 24 (MlGNE PL 151,543 f., BOUQUET 14,735); die Urkunde beginnt wie einJudikat (Pro querela . . .) und enthält mit eingehender Darstellung der päpstlichen Verhandlungsfüh¬rung auch die Namensnennung der am laufenden Verfahren Beteiligten.

25 Judikatmandate wie JL 5731 an Bischof Hugo von Grenoble; JL 5713 an Anso, den Herrn vonBenevent (mit dem Auftrag, bei Durchsetzung eines päpstlichen Urteils zu helfen); JL 5522 an denErzbischof von Reims und seine Suffragane; auch Judikatbestätigungen wie JL 5642 für den Abt vonMontiemeuf in Poitiers.

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bestätigt21 . Noch von Santifaller als Original registriert, von Rabikauskas dagegenals Fälschung verworfen, dürfte Urbans II. Urkunde für Tournus, die in ihremFormular als Judikatprivileg zur Beanstandung keinen Anlaß gibt, aufgrund desÜberlieferungszusammenhanges, in dem sie steht, und aufgrund des paläographi-schen Befundes wohl als „Originalnachbildung“ anzusehen sein, deren Herstellermit der Hinzufügung der Papstunterschrift höchst wahrscheinlich etwas des Gutenzu viel getan hat22 .

In dem lang sich hinziehenden Streit zwischen den Erzbischöfen von Lyon undSens um die Anerkennung des gallischen Primats von Lyon sind naturgemäß an derKurie Rechtsdokumente auch judikatartigen Charakters entstanden, so zunächst,unmittelbar nach dem Konzil von Clermont 1095, ein großes Judikatprivileg fürErzbischof Hugo von Lyon23 . Auf eine knappe, betont kanonistisch formulierteArenga über die in der Amtspflicht des Apostolischen Stuhles und der Autorität deskanonischen Rechts gründende päpstliche Richteraufgabe folgt ein ausführlicherBericht über den Prozeß, beginnend mit der Klage Hugos von Lyon vor dem Konzil(,generale concilium nennt es Urban II.) bis hin zum Urteil (ex totius synodi favoreet judicio). Die Urteilsverfügung verwandelt sich mit ihrer Bestätigung durch denPapst in ein Primatsprivileg für den Erzbischof von Lyon. Gegenüber Sens konntedas Urteil zu Lebzeiten des dortigen Erzbischofs jedoch nicht durchgesetzt werden,so daß beim Amtsantritt seines Nachfolgers die Sache erneut verhandelt werdenmußte. Damals gab Urban II. in einem judikatähnlichen Schreiben dem Erzbischofvon Lyon eine Art Zwischenbericht über die Entwicklung seit 1095, den derzeiti¬gen Stand des Verfahrens und die augenblickliche Rechtslage24 .

Die vielerlei judikatähnlichen Sonderformen von Papsturkunden25 mit rechts- undkirchengeschichtlich oft interessanten Mitteilungen können hier nicht weiter erör¬tert werden. Nur eine sei abschließend noch angezeigt, weil gerade auch ihreformale Definierung als Judikatprivileg die angezweifelte Echtheit durchaus stützenkann und weil sie Zeugnis davon gibt, welche konkrete Bedeutung im Einzelfall derprogrammatische Reformbegriff Liberias Ecclesiae annehmen konnte: Urbans

21 Urban II. JL 5622 für die Abtei Toumus, 1096 März 20 (vollständige Edition: P. F. CHIFFLET,Histoire de l’abbaye royale et de la ville de Tournus, Dijon 1664, S. 335 f., dazu Prozeßakte, ebda.,S. 333 f.: ex antiquo apographo); Calixt II. JL 6905 für Toumus, 1121 März 18 (MlGNE PL163,1208 f. und CHIFFLET, a.a.O., S. 407).

22 JL 5622, Paris Archives Nationales L 222 n. 3; Santifaller, Saggio, S. 458 und Rabikauskas,Kuriale, S. 105 f., 108 f. (wie Anm. 9).

23 JL 5600, Clermont 1095 Dez. 1 (BOUQUET, 14, 715 f., MlGNE PL 151,438), interessant u. a. fürProzeßverfahren, Mitwirkung des Konzils, Entscheidungsgrundlagen für das Urteil, Sanktionen,Vorbehalt päpstlichen Rechts.

24 JL 5788, Rom 1099 April 24 (MlGNE PL 151,543 f., BOUQUET 14,735); die Urkunde beginnt wie einJudikat (Pro querela . . .) und enthält mit eingehender Darstellung der päpstlichen Verhandlungsfüh¬rung auch die Namensnennung der am laufenden Verfahren Beteiligten.

25 Judikatmandate wie JL 5731 an Bischof Hugo von Grenoble; JL 5713 an Anso, den Herrn vonBenevent (mit dem Auftrag, bei Durchsetzung eines päpstlichen Urteils zu helfen); JL 5522 an denErzbischof von Reims und seine Suffragane; auch Judikatbestätigungen wie JL 5642 für den Abt vonMontiemeuf in Poitiers.

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Judikatprivileg von 1098 für den Bischof Robert von Messina26. Die Liberiasecclesiae meae, die der Bischof in einer Art Rechtsverfahren vor Urban II. vomGrafen Roger von Sizilien einfordert, scheinen die Beteiligten recht verschiedenar¬tig verstanden und interpretiert zu haben: Der Bischof wohl als größere Rechtssi¬cherheit und Eigenständigkeit im normannischen Kirchenhoheitssystem, der Grafjedoch bewußt ganz eng auf juristische Unverletzlichkeit der Person begrenzt, derPapst mit seinen fließenden und Möglichkeiten offen lassenden Bestätigungsformu¬lierungen wahrscheinlich doch im allgemeinen Sinn der „gregorianischen“Reform.

26 It.Pont. 10,338 Nr. 20 (JL-.-) Dum exercitu, Capua 1098 Juni 9, ed. P. Kehr, Papsturkunden inSizilien, Nachr. Göttingen 1899, S. 310 Nr. 1, der „die Frage nach der Echtheit . . . noch offen“ ließ,während H. W. Klewitz, Studien über die Wiederherstellung der römischen Kirche in Süditaliendurch das Reformpapsttum, in: ders.: Reformpapsttum und Kardinalkolleg, Darmstadt 1957, S. 128(im Anschluß an E. Caspar und E. Jordan) die Urkunde für echt hielt. S. Fodale, Comes et LegatusSiciliae, Palermo 1970, S. 65, spricht jedoch wieder von „autenticità fortemento sospetta“.Demgegenüber besteht C, D. Fonseca, Le istituzioni ecclesiastiche dell’ Italia Meridionale, in:Ruggero il gran conte, Fonti e Studi del Corpus Membranarum Italicarum 12, Roma 1977, S. 53 ff.,mit einer auf politische und ekklesiologische Aspekte gerichteten Inhaltsinterpretation sicher zu Rechtauf der Echtheit des Dokuments. Von der formalen Seite her kann diese Urkunde als Sonderformeines Judikatpriviiegs jedenfalls ohne Zweifel als echt gelten; aber auch inhaltlich ist sie einezuverlässige und sehr aufschlußreiche Quelle.

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Judikatprivileg von 1098 für den Bischof Robert von Messina26 . Die Liberiasecclesiae meae, die der Bischof in einer Art Rechtsverfahren vor Urban II. vomGrafen Roger von Sizilien einfordert, scheinen die Beteiligten recht verschiedenar¬tig verstanden und interpretiert zu haben: Der Bischof wohl als größere Rechtssi¬cherheit und Eigenständigkeit im normannischen Kirchenhoheitssystem, der Grafjedoch bewußt ganz eng auf juristische Unverletzlichkeit der Person begrenzt, derPapst mit seinen fließenden und Möglichkeiten offen lassenden Bestätigungsformu¬lierungen wahrscheinlich doch im allgemeinen Sinn der „gregorianischen“Reform.

26 It.Pont. 10,338 Nr. 20 (JL-.-) Dum exercitu, Capua 1098 Juni 9, ed. P. Kehr, Papsturkunden inSizilien, Nachr. Göttingen 1899, S. 310 Nr. 1, der „die Frage nach der Echtheit . . . noch offen“ ließ,während H. W. Klewitz, Studien über die Wiederherstellung der römischen Kirche in Süditaliendurch das Reformpapsttum, in: ders.: Reformpapsttum und Kardinalkolleg, Darmstadt 1957, S. 128(im Anschluß an E. Caspar und E. Jordan) die Urkunde für echt hielt. S. Fodale, Comes et LegatusSiciliae, Palermo 1970, S. 65, spricht jedoch wieder von „autenticità fortemento sospetta“.Demgegenüber besteht C, D. Fonseca, Le istituzioni ecclesiastiche dell’ Italia Meridionale, in:Ruggero il gran conte, Fonti e Studi del Corpus Membranarum Italicarum 12, Roma 1977, S. 53 ff.,mit einer auf politische und ekklesiologische Aspekte gerichteten Inhaltsinterpretation sicher zu Rechtauf der Echtheit des Dokuments. Von der formalen Seite her kann diese Urkunde als Sonderformeines Judikatpriviiegs jedenfalls ohne Zweifel als echt gelten; aber auch inhaltlich ist sie einezuverlässige und sehr aufschlußreiche Quelle.

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