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Pratajev / Der Raucher von Bolwerkow

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Das große Lesebuch von H. Makarios Oley Leseprobe Neuausgabe 2014 ISBN 978-3-934896-77-2 www.verlag-reiffer.de

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PratajevIII 2014 Umschlag

Dienstag, 29. Juli 2014 17:03:44

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H. Makarios Oley (Hg.)

Pratajev IIIDer Raucher von Bolwerkow

Das grosse Lesebuch

reiffer

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Holger Makarios Oley (Hg.)Pratajev III – Der Raucher von BolwerkowDas große Lesebuch

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Jörg Gründler

Fotos: Archiv der Pratajev-Gesellschaft e.V.

2. Auflage 2014, Originalausgabe© Verlag Andreas Reiffer 2009

Satz/Layout: Andreas ReifferLektorat: Frank Pichelstein Bröker, Manjoschka Gnatz und Max Lüthke

Druck und Weiterverarbeitung: docupoint GmbH, Magdeburg

ISBN 978-3-934896-77-2

Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meinewww.verlag-reiffer.dewww.facebook.com/verlagreiffer

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Einführung in die Welt Pratajevs ....................................................................... 7

Pratajevs Leben. Anekdoten und Anekdotisches Teil I ................................ 9

Medizinische Schriften Pratajevs Teil 1 – Dentale Epidemien .................... 16

Pratajevs Leben. Anekdoten und Anekdotisches Teil Ib ......................... 20

Das Werk Pratajevs Teil I – Lila Nina ............................................................. 23

Pratajevs Leben. Anekdoten und Anekdotisches Teil II ............................ 33

Die Bibliografie Pratajevs ................................................................................. 36

Das Werk Pratajevs Teil II – Der schwarze Stuhl ......................................... 39

Pratajevs Leben. Ein kurzer zeitlich nicht belegter Abriss Teil II b ......... 41

Das Werk Pratajevs Teil III – Medizinische Schriften und Gedichte ........... 44

Das Hauptwerk Pratajevs – Die Kriminalfälle des Igor Pavlowitsch .......... 55

Pratajevs Leben. Ein kurzer zeitlich nicht belegter Abriss Teil III .......... 109

Pratajevs Leben. Anekdoten und Anekdotisches Teil III ............................ 114

Briefwechsel mit Wallgold ............................................................................. 131

Das Werk Pratajevs Teil IV – Der Raucher von Bolwerkow ..................... 138

Pratajevs Leben. Anekdoten und Anekdotisches Teil IV .......................... 144

Schlusswort ........................................................................................................ 148

Biografische Übersicht nach Orten und Phasen ........................................... 150

Personen in Pratajevs Leben – Auszug ........................................................ 153

Inhaltsverzeichnis

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Fall 5Drei tote Pförtner

Im Institut herrschte große Aufregung. Alle drei Nachtpförtner lagen mit zerschmetterten Knochen im Treppenschacht und waren tot. Aufgeregt liefen die Mitarbeiter des Instituts für Lebensmittelimitate und Ersatz-stoffe durch das Haus. Der Direktor, Wawran Simofejewitsch Moglow, hatte das Treppenhaus abgesperrt, um den Tatort bis zum Eintreffen der Kriminalisten zu sichern.

»Sicher war es ein Unfall«, sagte er zu dem Chemiker Lokin, der me-chanisch nickte.

Die drei Pförtner galten als Säufer vor dem Herrn. Oft genug hatten sie sich nachts an den Beständen an technischem Alkohol vergriffen. Auch diesmal fehlte ein Kanister Sprit im Labor.

»Welcher Kommissar übernimmt die Ermittlungen?«, fragte Lokin seinen Chef, als die Tür aufgerissen wurde und Igor Pavlowitsch »Igor Pavlowitsch!«, brüllte. Mit stürmischem Schritt ging er auf den Direktor zu und begrüßte ihn überschwänglich. Pavlowitsch hatte gute Laune und so schlug er auch dem Chemiker Lokin freundlich auf die Schulter, ob-wohl er sonst nie die Untergebenen beachtete. Oft genug verhaftete er ja die in der Nähe stehenden Untergebenen vorsorglich, und Lokin dachte: »Uff, Glück gehabt, jetzt bloß nichts Falsches sagen.«

Dass die meisten Untergebenen unschuldig waren, klärte sich fast immer auf, aber die Tage im Gefängnis wurden vom Urlaub abgezogen, und das ist schon bitter.

Igor Pavlowitsch kriegte sich vor Freundlichkeit gar nicht ein und schmeichelte dem Direktor mit Sätzen wie »Ihr neuer Vanillepudding aus Maismehl ist ja großartig!«, oder, »Dass Sie den Geschmack von Erdbee-ren in diese eklige Paste gezaubert haben, bewundernswert.«

Moglow war artig genug, sich für die Komplimente zu bedanken, und als Igor Pavlowitsch auf die Schnapsforschung kam, fiel ihm der eigent-liche Grund für seine Anwesenheit wieder ein.

»Holen Sie doch mal ein Probierfläschchen von diesem Branntwein-ersatz, dann sehen wir uns die Pracht genauer an.«

Mit Pracht waren die drei toten Pförtner gemeint, deren Witwen gera-de heulend im Nebenzimmer des Direktors saßen. Drei Tote mit einem Schlag, das war ganz nach Pavlowitschs Geschmack, nur das Gejammere

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der Frauen störte ihn und er ging, nachdem er hastig zwei Gläser Brannt-wein gekippt hatte, ins Nebenzimmer.

»Nun mal aufgepasst«, sagte er, »jammern hilft nichts und ganz so schlimm wird´s schon nicht sein. Wenn eure Männer dann weggeschafft worden sind, wäre es nicht schlecht, den Schmodder aufzuwischen, das kann man ja niemandem zumuten.«

Pavlowitsch ließ den Frauen Schnaps bringen und schloss die Tür.»Weiber«, sagte er zum Direktor, und sie gingen zum Treppenhaus.Igor Pavlowitsch betrachtete sich alles ganz genau. Im fünften Stock,

unterm Dach, fand er den gestohlenen Kanister. Ein Rest war noch drin, das erleichterte die Ermittlungen.

»Was ist das für Alkohol?«, fragte er Moglow.»Das ist reinster Melasse-Brand«, sagte dieser nicht ohne Stolz. »Führt

im unverdünnten Zustand zu schweren Schädigungen des Nervensys-tems«, fügte er noch hinzu.

Die im Erdgeschoss liegenden Pförtner hatten sich offensichtlich selbst in den Treppenschacht gestürzt, nachdem sie den Kanister fast geleert hatten. Igor Pavlowitsch überlegte fieberhaft, ob er irgendetwas übersehen hatte und ob er nicht doch noch jemanden verhaften könnte, fand jedoch nichts. Seine Laune verschlechterte sich.

»Drei Tote und kein Täter, da geht mir aber eine dicke Prämie durch die Lappen«, dachte er.

»Wo ist die Kantine, ich habe tierischen Hunger«, blaffte er in Rich-tung des Institutsleiters, der gerade die Assistentin Mascha tröstete.

»Ich zeig Ihnen den Weg«, sagte Moglow.Igor Pavlowitsch kramte noch in den Taschen der Toten nach ver-

wertbaren Hinweisen, aber es brachte nichts. Sichtbar enttäuscht ging er dem Direktor nach, welcher immer noch seine Assistentin tröstete.

»Na, so eine Gefühlsduselei ist aber auch ziemlich unerträglich«, dachte Pavlowitsch. Er war inzwischen wirklich auf dem Nullpunkt sei-ner Stimmung angelangt. Da hilft nur viel und fettes Essen.

Die Kantine war voll besetzt. Kein Platz war frei und es dachte auch niemand daran aufzustehen. Der Direktor kam mit zwei Tellern dampfenden Schweinebauchs, und Igor Pavlowitsch lief das Wasser im Munde zusammen. Aber er wollte sitzen, und zwar am Fenster. So ging er zu einem Tisch und nahm einem Arbeiter, der gerade den Löf-fel zum Munde führte, den Teller weg. Der Arbeiter Borjulnik schien noch nie etwas von Igor Pavlowitsch gehört zu haben, sonst hätte er

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sich die Bemerkung: »Was soll denn das jetzt für ein toller Witz sein?« verkniffen.

»Witz? Du sagtest Witz?«, fauchte Igor Pavlowitsch. »Wenn du nicht sofort aufstehst, kannst du deine Suppe bei gesiebter Luft löffeln.«

Borjulnik stand auf, rempelte dabei aber den Kommissar zielgerichtet an, so dass sich Schweinebauch und Krautsuppe auf Igor Pavlowitschs Latz ergossen. Lautes Gejohle kam von den Nachbartischen, und der In-stitutsdirektor sah mit Bestürzung aus der Ferne zu. Geistesgegenwärtig rannte er zu Pavlowitsch, gerade als dieser mit fettverschmierter Hand seine Dienstwaffe ziehen wollte. Mit den Worten: »Nein, Herr Pavlo-witsch, bitte nicht schießen!«, versperrte er den Weg, so dass Borjulnik in der inzwischen aufgeregten Menge untertauchen konnte.

»So ein dummes Schwein!«, brüllte Pavlowitsch in Richtung des un-tergetauchten Borjulnik und schmiss zwei Stück Schweinebauch in die Menge. Moglow versuchte, Igor Pavlowitsch zu beruhigen und versprach ihm ein opulentes Mahl auf Kosten des Instituts.

»Was würden Sie gern essen, Herr Kriminalkommissar?«, fragte er Pavlowitsch, während sie in die Direktion gingen.

»Ein Schwein, wie bei meiner Mutter. Und alle Institutsmitarbeiter müssen anwesend sein und mitessen. Morgen Mittag auf dem Hof. Ich werde mir anhand der Kaubewegungen ein Bild über die Mörder der Nachtpförtner machen.«

Der Institutsdirektor schluckte.»Wieso Mörder? Sie haben doch bestätigt, dass es sich wahrscheinlich

um einen tragischen Unfall handelt«, bedrängte er Igor Pavlowitsch.»Schweig, Moglow. Die Untersuchung führe ich, und ich kann meine

Meinung auch ändern. Und überhaupt, seien Sie froh, dass Sie so glimpf-lich davonkommen.«

Moglow sagte nun nichts mehr. Igor Pavlowitschs Magen knurrte be-drohlich, ein sicheres Zeichen, dass sich seine Meinung geändert hatte.

Die Leichen waren abtransportiert, die Witwen hatten gewischt, Igor Pavlowitsch war gegangen. Das Treppenhaus blieb abgesperrt und der Institutsdirektor Moglow rief sämtliche Mitarbeiter zu einer Versamm-lung in die Kantine.

»Liebe Mitarbeiter«, begann er, »Morgen wird auf dem Hof ein Schwein gebraten, und Igor Pavlowitsch, der leitende Kriminalkommis-sar, wird aus den Kaubewegungen den oder die Mörder der Pförtner ermitteln. Ich weiß, das ist eine ungewöhnliche Methode und ich bin sehr

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skeptisch, ob sie zum Erfolg führt. Falls sich jemand etwas vorzuwerfen hat, so sollte er es mir vorher sagen. Ich werde Herrn Pavlowitsch um Milde bitten, denn ich bin immer noch überzeugt, dass die tragische Sa-che ein Unfall war.«

Der Institutsdirektor entließ seine Untergebenen und mit aufgereg-tem Gemurmel gingen die Arbeiter nach draußen.

Mord. Mord in meinem Institut.Moglow stützte den Kopf in die Hände. Er war verzweifelt, denn

sollte Igor Pavlowitsch seine Ankündigung wahr machen, warf das ein denkbar schlechtes Licht auf das Institut. Man würde Untersuchungen einleiten, Prüfungen vornehmen und möglicherweise kostete das den Kopf des Direktors. Mit trüben Gedanken schlich Moglow nach Hause. Fieberhaft überlegte er, wie das drohende Schicksal von seinem geliebten Institut abgewendet werden könnte. Aber es gab keine Lösung. Pavlo-witsch war zu mächtig in seiner Position, er konnte alle zerquetschen, auch ihn.

»Moglow, lass die Finger davon, dann geht der Kelch vielleicht an dir vorüber«, dachte er und wäre fast noch in ein Auto gelaufen.

Es war der Dienstwagen von Igor Pavlowitsch, am Steuer saß das Lehrlingsmädchen Nina. Das wusste Moglow aber nicht, und so konnte er Pavlowitsch auch nicht an den Karren fahren.

Am nächsten Tag stand die Belegschaft auf dem Hof und sah dem Schweinebrater bei der Arbeit zu. Man wartete auf Igor Pavlowitsch, doch dieser kam, wie angekündigt, erst gegen Mittag. Herzlich begrüßte er den Direktor und als er den Schweinebrater erblickte, strahlte sein Gesicht vor Freude. Es war derselbe Schweinebrater wie zu Hause bei seiner Mutter! Sie fielen sich um den Hals. Die Laune Igor Pavlowitschs schien gut zu sein, was den Direktor voreilig zu einer kleinen Hoffnung verleitete, aber der nächste Satz des Kommissars machte diese zunichte.

»Eigentlich wollte ich heute drei Menschen des Mordes überführen, aber ich lasse Gnade vor Recht ergehen und werde nur zwei verhaften.«

Mit gekonntem Schwung hieb er die Schnauze des Schweins ab, und die Mitarbeiter des Instituts mussten essen. Igor Pavlowitsch lief die Rei-hen ab.

»Deutlicher kauen« oder »Nicht mit offenem Mund ketschen« waren seine gelegentlichen Anweisungen. Bedrohliche Spannung lag über dem Hof. Pavlowitsch hatte noch zwei junge Milizionäre mitgebracht, die nun darauf warteten, die Verdächtigen zu ergreifen. Einige ließen vor Angst

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das Fleisch fallen, aber sofort war Igor Pavlowitsch zur Stelle und sagte: »Nicht schummeln, das kann böse Folgen haben.«

Hastig wurde das Fleisch wieder aufgehoben und in den Mund ge-schoben.

Igor Pavlowitsch selbst langte ordentlich zu und das Fett troff ihm vom Kinn. Er war wirklich guter Dinge und zum Spaß zeigte er immer mal mit dem Finger auf einen Mitarbeiter, der vor Schreck leichenblass wurde. Zwölf mal machte er dieses Spiel, ehe er laut verkündete: »So, jetzt wird es ernst. Ich habe mir ein genaues Bild gemacht und werde nun die Mörder der drei Pförtner verhaften.«

Er rief die Milizionäre und den Institutsdirektor zu sich und sagte zu den Angestellten: »Ein grausames Verbrechen ist geschehen. Zwei von euch haben die Pförtner heimtückisch in den Treppenschacht gestoßen, als diese vom gestohlenen Schnaps benebelt waren. Die zwei erwartet nun die gerechte und harte Bestrafung. »

Igor Pavlowitsch stellte sich breitbeinig hin zeigte mit dem Finger auf zwei Personen und sagte: »Du und du!«

Blitzschnell griffen die Milizionäre zu, konnten jedoch nicht verhin-dern, dass einer der beiden, Nowokarow, der Melassepresser, die Flucht ergriff. Er kam nicht weit, denn ein Schuss aus Igor Pavlowitschs Dienst-waffe streckte ihn nieder. Ein Volltreffer in den Kopf, Nowokarow war sofort tot. Der zweite Täter hieß Jalbochadze und war Fassreiniger.

»Abführen«, sagte Pavlowitsch und an die anderen Institutsmitarbei-ter gewandt: »An die Arbeit! Der Fall ist erledigt.«

Nowokarow wurde zugedeckt und der sich heftig wehrende Jal-bochadze in das Gefängnisauto gezerrt.

»Ich bin doch unschuldig«, schrie er markerschütternd.Igor Pavlowitsch rief zu dem Fassreiniger: »Quatsch, schuldig ist je-

der. Und heute warst du dran.«Fassungslos stand der Institutsdirektor neben Igor Pavlowitsch. Er

verkniff sich, zu sagen, dass hier Unrecht geschah, denn einem Igor Pavlowitsch machte man ungestraft keine Vorhaltungen. Wie Recht Mo-glow damit hatte, erfuhr er Sekunden später, als Igor Pavlowitsch zu ihm sagte: »Moglow, eigentlich warst du der Dritte, aber dein Einfall, den original Schweinebrater meiner Mutter zu organisieren, der war zu gut. Ich danke dir herzlich für deine Aufmerksamkeit und werde Deine Akti-vitäten im Protokoll würdigen. Du wirst sehen, da springt für dich sogar noch ein Orden raus.«

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Igor Pavlowitsch ließ den bestürzten Institutsdirektor stehen, denn im Dienstwagen wartete das Lehrlingsmädchen Nina.

»Gut gegessen, gut gelaunt«, rief er durch das heruntergekurbelte Fenster.

»Lass uns baden fahren«, sagte Nina. Igor Pavlowitsch grinste.

Noch heute gehen die Schweinebrater ihrem Handwerk nach. Die noch lebenden (!!!) Schweine werden nun aller-dings auf dem Moped transportiert, nicht wie zu Igor Pavlo-witschs Zeiten auf dem Pferdekarren. Schweinebrater sind sehr beliebt und eine gern genommene Abwechslung im Liebesleben der Bäuerinnen.

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Anekdoten und Anekdotisches Teil III

Im FreibadWie bereits zu lesen war, kam es bei Pratajevs Erscheinen zu tumultar-tigen Zuständen. Auch im Freibad des Dörfchens Kolsnowo-Parputsk kam es im Sommer 1953, genauer am 23. August, zu einem schlimmen Zwischenfall. Pratajev und sein stattliches Gefolge verbrachten den Som-mer jenes Jahres oft in diesem Freibad. Sie saßen versonnen im Schatten eines Birkenhaines am Rande des Freibades und lauschten verzückt den Gitarren von Ilja Duktschupsnow und Anatoli Prumski. Dazu rauch-te man Zigaretten, welche mit grusinischem Tee gestopft waren. Diese Zigaretten waren eine Spezialanfertigung für Pratajev und seine Freun-de, hergestellt von der Firma Berjolnik in Kolsnowo-Parputsk und nur dort zu haben. Man vermutet, dass Pratajev in erster Linie deswegen den Sommer 1953 in diesem Dorf verbrachte.14

Die Berjolnik-Zigaretten waren also sehr begehrt, und nicht wenige von Pratajevs »Freunden« suchten die Nähe des Dichters nur, um an diese Zigaretten zu gelangen. Einige der Badegäste, die nicht zu Prata-jevs Gefolge gehörten, sammelten die weggeworfenen Kippen auf. Ein neidisches Raunen ging durch die Menge, sobald einer einen etwas län-geren Stummel gefunden hatte. Stolz setzte sich der Glückliche dann ins Strandrestaurant und rauchte vor den Augen der anderen Badegäste seinen Fund auf.

Pratajev bemerkte natürlich die gierigen Blicke der Schwimmbadbe-sucher. Besonders Frauen aller Altersgruppen drückten sich in der Nähe des Birkenhaines herum. Sei es, um eine der begehrten Teezigaretten zu erhaschen oder um allgemein Pratajevs Aufmerksamkeit zu erregen, po-sierten sie aufreizend vor seinem Lager. Selbstverständlich hatte Pratajev kein Interesse an diesen Frauen. Einige waren schon weit über sechzig, doch sie standen beim Flirten ihren jüngeren Geschlechtsgenossinnen in nichts nach. Zudem stammten sie alle aus der näheren Umgebung und Kolsnowo-Parputsk war berüchtigt für seine nicht gerade ansehnlichen bärtigen Frauen. Manchmal taten die Frauen Pratajev leid und er lächelte ihnen zu. Manchmal schnipste er auch eine Zigarette in ihre Richtung.

14 Wahrscheinlich ist der Ausdruck »Im Tee sein« auf diese Zigaretten zurückzuführen und wahrscheinlich waren sie doch mit etwas anderem als grusinischem Tee gestopft.

Das Leben Pratajevs

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Dann entbrannte ein kurzer Kampf, denn sofort kam eine Rotte männ-licher Badegäste und nahm derjenigen, welche die Teezigarette gefangen hatte, diese wieder ab. Die Rotte ging dann unter wildem Gekeife der Frauen ins Strandrestaurant, wo die Zigarette gemeinsam genüsslich auf-geraucht wurde. Die Frauen mussten draußen bleiben.

Irgendwann wurde Prumski das Treiben zu bunt und er forderte Pra-tajev auf, etwas zu unternehmen. Ilja Duktschupsnov spielte gerade die Ballade vom einsamen Bademädchen in Gorkowo, und die junge Sänge-rin Galina Petrowskaja trällerte dazu in ihrem Lerchensopran. Pratajev zog eine neue Schachtel Teezigaretten aus dem Gepäck und öffnete sie vor aller Augen. Bewegung kam in die Meute der Frauen. Blitzschnell warf Pratajev eine Handvoll Zigaretten ins Wasser, und die Menge stürz-te sich gierig in die Fluten.

Vom Strandrestaurant her klang tierisches Gebrüll. Die Männer sprangen in wilder Hast über die Brüstung und kraulten zu den Frau-

Auch bei Kindern waren die Berjolnik-Zigaretten äußerst beliebt. Die hier abgebildete Gruppe Jungs hatte Pratajev ange-bettelt, angeblich, um die Zigaretten ihnen Müttern zu bringen, die große Verehrerinnen des Dichters wären. Pratajev fiel auf den Schwindel herein und schenkte jedem der Jungen eine ganze Schachtel, die noch am gleichen Tag aufgeraucht wurde.

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en. Einige konnten nicht schwimmen, doch in ihrer Gier ließen sie sich einfach mit ins Wasser reißen. Die beiden Rettungsschwimmer hatten plötzlich alle Hände voll zu tun.

Im Wasser entbrannte eine erbarmungslose Schlacht. Die Frauen dachten, die Zigaretten retten zu können, indem sie sie in ihre Badean-züge stopften. Doch auch da waren sie nicht sicher vor dem Zugriff der Männer. Der See war schwarz vor Leibern.

Anatoli Prumski stellte sich auf den Sprungturm. Er stimmte das Lied »Und der See trat über die Ufer« an. Laut rezitierte Pratajev neben ihm den Text, während die Petrovskaja rhythmisch spitze Schreie ausstieß und Ilja Duktschupsnov mit den Klanghölzern den Takt klapperte.

Im Sanitätszimmer der Badeanstalt von Kolsnowo-Parputsk verteilte die Firma Berjolnik gratis Teezigaretten an die Opfer.

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Makarios, eigentl. Holger Oley, geb. Zürner, später Möbius, wurde am 29.11.1959 in Leipzig geboren. Schulbildung bis zur 11. Klasse, nach Rauswurf aus dem Thomas-Gymnasium (damals EOS Thomas) erlernte Makarios den Beruf eines Offsetdruckers in der Offizin Andersen Nexö.

1984 Mitbegründer der Punk-Band Die Zucht, aus welcher sich 1986 die Underground-Legende Die Art entwickelte. Als sog. »Andere Band« präg-te Die Art, deren Sänger und Texter Makarios ist,

den Sound der Wendezeit entscheidend mit. Songs wie »Das Schiff«, »Wide Wide World« oder »Sie Sagte« erreichten Kultstatus und sind aus dem Programm der Band nicht mehr wegzudenken. Bislang erschienen offiziell 13 Studio-Alben. Neben seinem musikalischen Schaffen, zu dem auch das Projekt Samt-marie um die Band Goldeck zählt, beschäftigt sich Makarios vor allem literarisch, veröffentlichte mehrere Lyrik-Bände und »entdeckte« den russischen Dichter Pratajev. 1997 erschien das erste Heft zum Thema, heute eine gesuchte Rarität. 2003 gründete Makarios mit seinem Freund Frank »Pichelstein« Bröker die Band The Russian Doctors, um die Tex-te Pratajevs auch musikalisch umzusetzen. Bislang veröffentlichten The Russian Doctors sieben Alben.

Dank unD Gruss

Makarios bedankt sich bei allen, die für das Erscheinen dieses Buches gekämpft haben, insbesondere bei Dr. Frank Bröker Pichelstein samt Frau Doctor Manja, bei Andreas Reiffer (Wallgold II jun.) und bei Gattin Ginette.Er grüßt Vincentina Oley & Hoffmann, die Mitglieder und Ehrenmit-glieder der Pratajev-Gesellschaft Leipzig e.V., Thomas Bartsch und die Poffler, Die Art, Prumskibeat und Goldeck samt Samtmarie.Ein besonderer Dank geht an André Kudernatsch, ohne den Pratajev nie an die Öffentlichkeit gedrungen wäre.

Foto: Frank Förster

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reiffer www.verlag-reiffer.de

Pratajev | Medizin und Fetisch

Das neue Buch um und über den legendären russischen Dichter S.W. Pratajev beleuchtet vor allem seine Ambitionen, sich auf medizinisches Terrain vorzuwa-gen. Da fundiertes Wissen für ihn nie eine Rolle spielte, glänzte er mit obskuren Heilmethoden und eigens dafür geschaffenen Krankheitsbildern. Doch damit nicht genug. Auch die dunkle Seite der menschlichen Gelüste, heute als »Fetisch« bezeichnet, gehörte zu Pratajevs Betätigungsfeld. Was uns heute in Lack und Leder spektakulär erscheint, hat in eher harmlosen Spielen Pratajevs und seiner Freunde seinen Ursprung.

Der immer größer werdenden Anhängerschaft Pratajevs schenken Nachlassver-walter Makarios Oley und Herausgeber Frank Bröker ein Buch, welches basses Erstaunen hervorruft und allen Freunden des schwarzen Humors eine festliche Lektüre sein wird.

H. Makarios Oley: Pratajev | Medizin und FetischHerausgegeben von Frank Bröker2014, Broschur, 14 x 21 cm, 152 S., ISBN 978-3-934896-86-4

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